Elementarschaden - Roland Spranger - E-Book

Elementarschaden E-Book

Roland Spranger

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Beschreibung

Privatdetektiv Thorsten Kulik wird von einer Versicherung beauftragt, Blitzunfälle mit Personenschaden zu untersuchen. Er trifft auf merkwürdige Blitzopfer: Einen Einsiedler mit Alien-Kontakt. Eine durchgeknallte Rock-Band. Eine komplette Fußballmannschaft. Währenddessen muss Thorstens Kompagnon Ralf das Tagesgeschäft aufrechterhalten: Ehebruch, Schwarzarbeit, Nachbarschaftskriege. Die Arbeit wird für die Detektive unangenehm, als ein Stalker anfängt, ein bösartiges Spiel mit ihnen zu treiben. Immer ist ihr Gegner einen Schritt voraus. Die beiden Ermittler leben zunehmend gefährlich. Als Thorsten Annika trifft, wird die Situation noch chaotischer. Nach einem Blitztreffer hat sie das Gedächtnis verloren: An guten Tagen kann Annika sich nicht an die Namen ihrer Kinder erinnern - an schlechten Tagen weiß sie nicht, dass sie Kinder hat. Thorsten interessiert sich ein bisschen zu sehr für Annika. Im besten Fall unprofessionell … Elementarschaden vorprogrammiert. Der neue Roman von Roland Spranger, ausgezeichnet für "Kriegsgebiete" mit dem Friedrich-Glauser-Preis 2013 in der Sparte "Bester Kriminalroman".

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Seitenzahl: 300

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Roland Spranger

ELEMENTARSCHADEN

Roman

EDITION 211

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.

Copyright © 2013 byEDITION 211, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH

Lektorat: Eva Weigl

Satz/Layout: Martina Stolzmann

E-Book: Mirjam Hecht

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

ISBN 978-3-95669-010-5

www.bookspot.de

Zitat

When shall we three meet again?

In thunder, lightning, or in rain?

Macbeth, William Shakespeare

Erdbebensicher

Ein Büro mit viel Glas. Getönte Scheiben. Aussicht auf eine unspektakuläre Straße, zu der man sich kein Ereignis vorstellen kann. Nicht mal einen Ehestreit möchte man in so einer Straße führen.

Passt zu einer Versicherung, dachte Thorsten, als er an Doktor Fleischers Schreibtisch Platz genommen hatte. Apathische Gegend ohne erhöhtes Risiko.

In mehreren kleinen Glasvitrinen schwebten an fast unsichtbaren Nylonfäden detailgetreue Flugzeugmodelle. Die gut aussehende Sekretärin hatte zu dünnen Kaffee gebracht. Aber nur einen Hauch zu dünn. Und die Sekretärin eine Nuance zu blond.

»Warum lässt die Versicherung das gerade jetzt überprüfen?«, fragte Thorsten. »Jeder weiß, dass es aufgrund des Klimawandels viel mehr Gewitter gibt als früher.«

Doktor Fleischer lehnte sich entspannt in seinem repräsentativen Chefsessel zurück. Dabei schaute er Thorsten durch eine Designerbrille an, die sicher so viel kostete wie ein Kleinwagen.

»Stimmt«, sagte Doktor Fleischer. »Die Elementarschäden nehmen zu. Genau genommen hat sich die Zahl der Blitzeinschläge in den letzten fünfzehn Jahren fast verdoppelt. Zwanzig Prozent am Gesamtschadenaufkommen in der Hausratversicherung entfallen auf Überspannungsschäden durch Blitzeinschlag.«

»Na also.«

»Allerdings waren fünfzig Prozent der Schadensmeldungen bei Blitz- und Überspannungsschäden nicht plausibel. Wahrscheinlich liegt die Dunkelziffer weitaus höher.«

»Und jetzt kommen die Herren in den erdbebensicheren Versicherungshochhäusern auf die Idee, dass bei den Körperschäden der unentdeckte Versicherungsbetrug ebenfalls relevant sein könnte«, kombinierte Thorsten.

»Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob unser Gebäude erdbebensicher ist.«

»Ich würde es wissen wollen.«

Thorsten sah sich das Modell eines Airbus A 320 an, der sich in einer der Glasvitrinen in einem bedenklichen Sinkflug befand.

Doktor Fleischer legte seine Handflächen auf den Schreibtisch und neigte sich nach vorn. Seine Augenbrauen hoben sich. »Tatsächlich ist die Bearbeitung eines Blitzunfalls mit Personenschaden sehr anspruchsvoll. Viele Opfer weisen keine oder kaum äußerliche Anzeichen auf. Hautverbrennungen werden beispielsweise nur in einem Drittel der Fälle beobachtet. Wegen des hohen Hautwiderstands durchdringt ein Großteil der Energie nicht den Körper, sondern wird an der Oberfläche in den Boden weitergeleitet. Am gefährlichsten ist der direkte Treffer: Der Strom fährt häufig durch den Kopf und hinterlässt Wundmale an den Füßen, aber nicht immer. Außer dem direkten Treffer unterscheidet man nach derzeitigem Wissensstand noch vier weitere Energieübertragungsmechanismen. Ebenso vielseitig sind die Verletzungen, die durch einen Blitzschlag verursacht werden. Es kommt vor, dass Gelenke aus den Pfannen gehebelt werden, weil sich die Körpermuskulatur krampfartig zusammenzieht, aber selten sind die Auswirkungen so eindeutig. Schmerzen. Lähmungen. Konzentrationsstörungen. Persönlichkeitsveränderungen. Viele Beeinträchtigungen tauchen erst nach Wochen oder Monaten auf.«

»Ich verstehe schon. Angesichts dieses unübersichtlichen Szenarios haben Sie Angst vor der Fantasie Ihrer Versicherten.«

Doktor Fleischer drückte die Fingerspitzen gegeneinander und lehnte sich gelassen an die nach modernsten ergonomischen Erkenntnissen geformte Lehne des Chefsessels. »Wissen Sie, wie viel ein Mensch statistisch wert ist?«

Thorsten zuckte vorsichtig mit den Schultern.

»Nach dem klassischen Humankapitalansatz liegt man schnell im sechs- oder sogar siebenstelligen Bereich.«

»Humankapitalansatz?«

»Man berechnet, was ein Mensch bis zum Renteneintritt noch verdient hätte. Also, nach seinem bedauerlichen frühzeitigen Ableben. Oder der Erwerbsunfähigkeit.«

»Ist das nicht zynisch?«

»Es ist die positivere Variante. Zerlegt man einen Menschen in seine chemischen Bestandteile, erhält man einen Materialwert von deutlich unter fünf Euro.«

»Tatsächlich?«

»Sauerstoff. Kohlenstoff. Stickstoff. Alles andere nur in Spuren enthalten. Unser Körper ist nichts Besonderes. Ein ausrangiertes Handy ist mehr wert.«

»Ich habe mein altes Handy zum Recycling gegeben.«

Doktor Fleischer schaute Thorsten in die Augen und wurde offiziell: »Ich möchte, dass Sie eine Reihe von Personen überprüfen, die wir des Versicherungsbetrugs verdächtigen.«

Thorsten nahm einen sehr entspannten Schluck Kaffee. Sein Gesprächspartner sollte die Entspanntheit spüren können.

»Und warum übernehmen nicht Ihre hauseigenen Schadenregulierer die Untersuchungen?«

»Ich sage Ihnen vermutlich nichts Neues, Herr Kulik, aber Sie haben ein paar Möglichkeiten der Wahrheitsfindung, die unsere Angestellten nicht nutzen können.«

»Ich gehe mal davon aus, dass Sie an nichts Illegales denken. Folter lehne ich auch persönlich ab.«

»Gut, dass Sie sich trotz Ihres Gewerbes den Sinn für Humor bewahrt haben«, antwortete Doktor Fleischer trocken. »Im fortgeschrittenen Stadium Ihrer Ermittlungen, wenn es um gerichtsverwertbare Erkenntnisse geht, erhalten Sie von unseren Mitarbeitern die nötige Unterstützung.«

Thorsten sah sich das Modell einer Cessna an. Die Fäden, an denen das zweimotorige Flugzeug aufgehängt worden war, konnte man kaum erkennen. Thorsten nickte. »Ich nehme den Auftrag gerne an. Zu meinen üblichen Konditionen.«

»Sehr gut. Die relevanten Unterlagen übergibt Ihnen meine Assistentin. Und jetzt entschuldigen Sie mich. Ich habe noch einen Termin.«

Während sie sich die Hände schüttelten, fragte Thorsten mit einem Blick auf die Vitrinen: »Sammeln Sie Modellflugzeuge?«

»Nur die abgestürzten Maschinen, für die wir versicherungstechnisch aufkommen mussten«, antwortete Doktor Fleischer.

Bevor Thorsten die Modellflugzeuge zählen konnte, wurde er von der blonden Sekretärin nach draußen gebracht. Sie verabschiedete ihn mit einem Lächeln, für das sie sich auf jeden Fall eine Gehaltserhöhung verdient hätte. Es war ein übertarifliches Lächeln mit zur Seite geneigtem Kopf und viel Zahnschmelz. Thorsten fragte sie nicht nach ihrer privaten Telefonnummer. Auf jeden Fall professionell. Er war stolz auf sich.

AHA, dachte ich mir

Thorsten beobachtete Grubers Anwesen mit einem Fernglas, das nach den Angaben des Herstellers wegen seiner Vielseitigkeit keine Wünsche des anspruchsvollen Sport- und Naturfreunds offenließ. Er selbst hatte keine besonderen Anforderungen bezüglich der Vielseitigkeit eines Fernglases. Ihm genügte es, größer zu sehen, was weit weg war. Um beim Blick durch die Linse nicht seekrank zu werden, stützte Thorsten seine Ellbogen auf einem Felsen ab, auf dem Goethe sich schon einmal niedergelassen hatte. Angeblich hatte der Dichterfürst hier sogar eine Zeichnung angefertigt. Landschaft vermutlich. Goethe waren Fotoapparate unbekannt gewesen. Thorsten schoss eine Fotoserie von Gruber, während dieser minutenlang nackt mit ausgebreiteten Armen im Garten stand. Dann ging Thorsten einen gewundenen Pfad nach unten. Einer Befragung entgegen. Er selbst bevorzugte die BezeichnungInterview.

Vorsichtig öffnete Thorsten ein wackliges Gartentor, das sich mit einem widerwilligen Quietschen über den Eindringling beschwerte. Wie stille Wächter ragten mannshohe Disteln bis weit in den Fußweg zu Grubers Haus. Um dem stachelbewehrten Griff der Blätter zu entgehen, arbeitete sich Thorsten unter Verrenkungen den Pfad entlang. Der Wunsch nach einer Machete kam in ihm auf. Erschwert wurde die Expedition zur Haustür durch die vielen auf dem Pflaster verstreuten Fotos. Thorsten versuchte, auf keines der Bilder zu treten. Auf Zehenspitzen sprang er in einem Meer aus Fotopapier von einer kleinen Insel zur nächsten. Als Kind hatte er eine Zeit lang versucht, sich auf dem Pausenhof fortzubewegen, ohne die Fugen zwischen den Pflastersteinen zu berühren. Ein paar seiner besonders fiesen Klassenkameraden hatten das schließlich mitbekommen und ihn zum bevorzugten Ziel ihrer Erniedrigungsanstrengungen auserkoren. In den folgenden Wochen hatte er sich während der Pausen in einer wenig benutzten Toilette neben dem Werkraum eingesperrt. Natürlich war das Versteck irgendwann aufgeflogen. Ab diesem Zeitpunkt mied er die Toilette, weil er gerade dort seinen Mitschülern schutzlos ausgeliefert war. Einmal machte er sich in die Hose und seine Mutter war daraufhin zu einem Gespräch von seiner Klassenlehrerin eingeladen worden. So ein Scheiß fällt einem immer ein, wenn man es nicht brauchen kann, dachte Thorsten. Man konnte den Scheiß aus der Kindheit nie brauchen.

Die Bilder auf dem Gehweg zu Grubers Haus waren anscheinend achtlos hingeworfen worden, jedenfalls konnte Thorsten kein Muster erkennen. Landschaften, Aktfotos von Männern und Frauen, Sonnenuntergänge, exotische wie einheimische Flora und Fauna sowie Schnappschüsse, die offensichtlich vom Fernseher abfotografiert worden waren. Auf keinem der Fotos war Gruber zu sehen. Ein fragmentarisches Lebenspuzzle ohne den Hauptdarsteller. Seltsam für einen Typen, der gerne nackt im Garten steht. Auf dem Rückweg würde er die Bildmotive noch einmal genauer in Augenschein nehmen, nahm Thorsten sich vor. Vor der Eingangstür des alten Bauernhauses drehte er sich noch einmal um. Eine Berufskrankheit. Dann klingelte er.

Gruber trug mittlerweile einen pinkfarbenen Trainingsanzug. Der Reißverschluss der Jacke war offen. Darunter lugte ein blaues Grateful-Dead-Shirt hervor. Gruber hatte seine wenigen verbliebenen grauen Haarsträhnen zu einem Pferdeschwanz gebunden. Vermutlich sollten die ruinösen Überreste einer irgendwann mal vorhandenen Frisur das Hippie-Image des Fünfundsechzigjährigen unterstreichen.

»Thorsten Kulik. Die Versicherung schickt mich, um Ermittlungen in Ihrem Versicherungsfall durchzuführen«, sagte Thorsten ohne Umschweife.

Mürrisch bat Gruber Thorsten herein. Als Erstes fielen Thorsten die Fressnäpfe mit Katzenfutter auf. Sofort musste er niesen. Außerdem stellte sich Juckreiz an den Unterarmen ein. In der Küche schenkte Gruber Kaffee ein und stellte eine Tasse mit Comic-Motiv vor Thorsten auf den Tisch. Sesamstraße. Das orange Gesicht Ernies auf knallgelbem Untergrund. Der Kaffee schmeckte nicht mal schlecht.

»Warum sagen Sie mir überhaupt, dass die Versicherung Sie schickt?«, fragte Gruber.

»Fair Play«, antwortete Thorsten.

»Fair Play?«

»Ja, ich bin dafür. Sie nicht?«

»Ich finde, Detektive sollten verdeckte Ermittlungen durchführen.«

»Wer sagt, dass ich das nicht gemacht habe?« Thorsten zog Fotos einer früheren Observation aus der Jackentasche und schob sie über den Küchentisch.

Gruber legte die Abzüge wie eine Patience vor sich ab. Er kratzte sich am Kinn. Die weißen Bartstoppeln knisterten wie ein schlecht eingestellter Radiosender.

»Beim Wäscheaufhängen sehe ich scheiße aus.«

»Beim Wäscheaufhängen sieht jeder scheiße aus.«

»Darf ich die Kamera sehen?«

Thorsten legte die kleine silberfarbene Kamera vor Gruber auf den Holztisch. Der Alte nahm sie in beide Hände und musterte sie eingehend von allen Seiten. Enttäuscht legte er sie auf den Tisch zurück.

»Sieht aus wie ein ganz normaler Fotoapparat.«

»Es ist ein ganz normaler Fotoapparat. Was hatten Sie erwartet?«

»Ein riesiges, sehr neugieriges Teleobjektiv. Ich hab auch eine Digitalkamera. Hier, sehen Sie.«

Gruber holte einen winzigen Fotoapparat aus seiner Hosentasche.

»Schön flach. Trage ich immer bei mir.«

»Ich weiß. Ihr Hobby ist nicht zu übersehen, wenn man Sie besucht.«

»Haben Sie was dagegen, wenn ich ein Foto von Ihnen mache?«

»Eigentlich schon.«

Das Blitzlicht blendete Thorsten. Unweigerlich schloss er die Augen, obwohl er lieber keine Reaktion gezeigt hätte. Der Alte hielt die Kamera mit ausgestreckten Armen und begutachtete die Aufnahme kritisch auf dem Display.

»Digital sehen Sie noch blasser aus als in echt.«

»Es gibt Persönlichkeitsrechte«, antwortete Thorsten.

»Sie müssen es ja am besten wissen, Herr Kulik.« Lachend betätigte der Alte noch einmal den Auslöser. »Ich habe keine Angst vor Fotos«, sagte Gruber. »Man kann sich nicht davor schützen. Fotos sind allgegenwärtig, vor allem die schlechten. Seit man keine Filme mehr belichtet, sondern jeden Scheiß digital auf Datenträgern speichern kann, knipsen alle wie blöd in der Gegend herum. Wie ein aufgeschreckter Schwarm Fotoidioten.«

Gruber startete eine Fotoserie.

Obwohl ihn das Blitzlichtgewitter blendete, sah sich Thorsten möglichst ungerührt in der Küche um, während der Alte ein Foto nach dem anderen von ihm machte. Das Haus war aufgeräumter, als es der Garten vermuten ließ.

»Ich habe Ihre Nachbarn befragt«, sagte Thorsten beiläufig.

»Das können keine besonders ausufernden Ermittlungen gewesen sein. Ich hab ja nur drei Nachbarn.«

»Ja, Sie wohnen ziemlich abgelegen.«

»Nicht abgelegen genug. Dieses Land hat eine zu hohe Bevölkerungsdichte. Was sagen meine lieben Nachbarn denn so?«

»Alle das Gleiche. Dass Sie verrückt sind.«

Der Alte lachte. »Wenn alle das Gleiche sagen, stimmt’s wahrscheinlich.« Gruber trank einen Schluck Kaffee. Als er mit der Unterlippe die Tasse berührte, musste er wieder lachen. Ungebremst prustete Gruber in die Tasse. Blubbernd gab der Kaffee Antwort. Ein Kaffeerinnsal suchte sich einen Weg durch die schneeweißen Bartstoppeln am Kinn und tropfte auf sein blaues Grateful-Dead-Shirt. Thorsten trank ebenfalls von seinem Kaffee.

»Nach dem ersten Unfall waren Sie noch in der Lage, in Ihrem Beruf zu arbeiten«, sagte Thorsten ruhig.

»Tatsächlich? An einen Beruf kann ich mich überhaupt nicht mehr erinnern.«

»Sie waren Direktor einer Sparkasse.«

»Erstaunlich. In der Zwischenzeit habe ich bereits am Ausgang des Einkaufszentrums vergessen, ob ich Wechselgeld bekommen habe.«

»An das Einkaufszentrum erinnern Sie sich aber?«

»Ja, ich werde immer am Ausgang angehalten.«

»Nach meinen Recherchen sind Sie in den letzten zwei Jahren siebzehn Mal beim Ladendiebstahl erwischt worden.«

»Echt? Da haben Sie’s. Mein Gedächtnis ist so schlecht, dass ich mich jedes Mal gleich bescheuert anstelle. Immerhin kann ich jetzt meine eigenen Ostereier verstecken.«

»Das tun Sie tatsächlich. Ihre Nachbarn haben Sie beobachtet.«

»Denen scheint wirklich nichts zu entgehen.«

»Es fällt eben auf, wenn ein nackter Mann am Weihnachtsabend bunte Eier in den Schnee legt. Wofür brauchen Sie das überdimensionale Xylofon im Garten?«

»Na, wofür wohl? Ich halte damit Kontakt zu den Außerirdischen.«

»Und antworten die Außerirdischen?«

»Ja. Aber ich vergesse ihre Botschaften sofort wieder. Meine Gehirnzellen sind ziemlich porös. Wollen Sie noch Kaffee?«

»Nur, wenn noch welcher übrig ist. Einen neuen brauchen Sie nicht aufsetzen.«

»Ich bin zwar bescheuert, aber Kaffee mache ich immer genug.«

Thorsten beobachtete, ob Gruber auf dem Weg zur Kaffeemaschine das richtige Bein nachzog. Rechts. Das passte, konnte aber auch antrainiert sein. Gruber nahm zitternd die Glaskanne von der Wärmeplatte des Kaffeeautomaten. Thorsten rechnete jeden Moment damit, dass der Alte sie fallen ließ. Entweder ist das Zittern echt, dachte Thorsten, während er seine Tasse nach vorne schob, oder es ist verdammt gut gespielt. Gruber schüttete schwungvoll einen Schwall heißen Kaffee halb in die Tasse und halb auf Thorstens rechte Hand. Thorsten zog den Arm zurück. Er schaffte es gerade so, nicht aufzuschreien. Der Alte sah ihn aufmerksam an.

»Entschuldigung«, sagte er, während er ihm eine Küchenrolle reichte. Thorsten riss ein Papiertuch ab und wischte sich über die Haut, die an manchen Stellen eine ungesunde rote Färbung annahm. Eigentlich sollte ich die Hand unter kaltes Wasser halten, dachte Thorsten, aber ein entgegengesetzter Impuls zwang ihn, vor seinem Gegenüber so zu tun, als sei er unverletzlich. Kontrolle war wichtig in seinem Gewerbe.

»Tragen Sie eine Pistole?«, fragte Gruber.

»Nein.«

»Detektive sollten eine Pistole tragen.«

»Sherlock Holmes trägt auch keine Pistole.«

»Natürlich tut er das. Detektiv Rockford trägt keine Pistole, aber nur, weil das zu seinen Bewährungsauflagen gehört.«

»Genau genommen bewahrt er die Waffe in einer Kaffeedose auf. Erzählen Sie mir von den Unfällen.«

»Alle vier Treffer?«

»Ich habe Zeit.«

»Also, das volle Programm. Sie wissen natürlich, dass ich damit noch weit vom Guinness-Buch-Rekord entfernt bin. Der erste Blitz traf mich vor einem Discounter. Aus heiterem Himmel. Normalerweise werde ich mitleidig angeschaut, wenn ich das erzähle. Es gibt Menschen, die sich über einem Supermarkt-Parkplatz keinen heiteren Himmel vorstellen können, aber ich gehöre nicht dazu. Der Blitz war schon eine mächtige Überraschung. Als ich wieder zu mir kam, lagen meine Schuhe ein paar Meter entfernt und von meinem Körper stiegen Rauchschwaden auf. Ich wusste nicht, was geschehen war, aber die Schwaden gaben mir zu denken. Später habe gelesen, dass die Entladungen bei einem Gewitter bis zu fünfzehn Kilometer weit ausgreifen können. Natürlich fühlt man sich besonders ungerecht behandelt, wenn man von einem Blitz getroffen wird, während über einem noch die Sonne scheint. Nichtsahnend trägst du eine Tüte mit Katzenfutter, kurze Hosen und ein Grateful-Dead-Shirt und dann macht es PFFFT.«

»War es das?«

»Wie bitte?«

»War es das T-Shirt, das Sie anhaben?«

»Nein, nein, ich hab mir danach ein ganzes Dutzend gekauft. In verschiedenen Farben. Ich trage nichts anderes mehr.«

»Warum?«

»Ich weiß nicht.«

Thorsten spürte, dass der passende Moment gekommen war, um auf Überrumpelungstaktik zu setzen.

»Haben Sie nach dem ersten Blitz beschlossen, die Versicherung zu betrügen – oder war der erste Blitz auch nur eine Erfindung?«

Gruber lachte wieder. Er schien ehrlich belustigt zu sein. Lachen klang schnell gekünstelt, wusste Thorsten. Entweder spielte der Alte ihm wirklich nichts vor oder er hatte es zu einiger Kunstfertigkeit gebracht.

»Aber wo denken Sie hin? Ich bin doch kein Betrüger. Allerdings muss ich gestehen: Je länger man über Gerechtigkeit nachdenkt, desto mehr hält man sie für eine Erfindung. Jedenfalls, wenn man im Lotto gewonnen hat oder vom Blitz getroffen wurde. Sie wissen ja sicher, wie es mit der Wahrscheinlichkeit eines solchen Unfalls ausschaut. In meinem rechten Bein verkümmern seither die Muskeln. Eine ganze Zeit lang glaubte ich, der Einkaufswagen wäre schuld gewesen. Dass das Metall den Blitz angezogen hat. Später hab ich begriffen, dass es an mir liegt. Die ganze bösartige Spannung in der Atmosphäre greift nach mir. Der zweite Blitz traf mich beim Telefonieren mit dem Handy. Seitdem telefoniere ich nicht mehr, wenn es gewittert, obwohl mir ein Gutachter der Versicherung hinterher weismachen wollte, dass es nicht gefährlich ist. Telefonieren Sie bei Gewittern? Glauben Sie mir: Sie sollten es nicht tun. Vor allem, wenn Sie kein schnurloses Telefon haben. Der Strom sucht sich einen Weg vom Ohr zum Erdboden. Das Ohr wird dabei verdammt heiß. Als hätte man es in die Mikrowelle gelegt. Im Hirn zerstört der Blitz dann wahllos Zellen. Der eine ist komplett gaga. Beim nächsten fällt das Atemzentrum aus und er geht hops, wenn ihn nicht irgendjemand die verdammten zwanzig Minuten wiederbelebt, bis der Rettungswagen da ist. Wenn der Rettungswagen rechtzeitig kommt, liegt er hinterher wahrscheinlich im Koma. Ich hab durch den zweiten Blitz nur meine Konzentrationsfähigkeit verloren. Das kommt relativ häufig vor. Und ehrlich gesagt – es hätte mich schlimmer erwischen können. Tatsächlich kam es schlimmer. Der dritte Blitz traf mich durch das geöffnete Fenster meines Autos. Ich weiß schon, was Sie denken. Klar, ich war auch davon ausgegangen, dass ich in einem Auto sicher bin, weil es wie ein Faradayscher Käfig funktioniert. Die Energie wird an der Außenhülle abgeleitet, sodass man im Innenraum geschützt ist. Manchmal fangen Reifen zu brennen an. Oder Autoradios werden an die Rückscheibe katapultiert. Und man darf um Gottes willen nicht mit einem Autotelefon … Sie wissen schon. Tun Sie das niemals. Ich war stehen geblieben, um mir durch das geöffnete Fenster das Gewitter anzusehen. Die gelb leuchtenden Hagelwolken. Die Regenschauer, die ein paar Kilometer von mir entfernt niedergehen. Die Blitze, die Donner für Donner näher kommen. Ich zähle, wie viel Zeit zwischen dem Blitz und dem Donner vergeht. Elf. Zwölf. Dreizehn. Vor mir flirrt die Luft. Der Wind hält den Atem an. Wahrscheinlich finden Sie es vollkommen idiotisch, durch ein geöffnetes Autofenster ein Gewitter zu beobachten. Aber glauben Sie mir: In meiner Situation will man den Feind kennen. Der Blitz schlug mir direkt in den Mund. Ich konnte jeden Zahn einzeln spüren. Als würde ich von innen auseinandergenommen. Hinterher musste ich monatelang lernen, Haferbrei zu schlucken und meine Zehen zu bewegen. Das Betriebssystem vollkommen zerschossen. Die einfachsten Tätigkeiten waren mir unvertraut. Dagegen war mein vierter Blitz vollkommen unspektakulär. Er traf mich direkt vor der Haustür. Gerade als ich aufsperren wollte. AHA, dachte ich mir.«

»AHA? Sie haben AHA gedacht?«

»Ja. AHA.«

»Und der Schock?«

»Man gewöhnt sich an den Schock.«

»Der Schock kann tödlich sein.«

»Ich sag ja: Man gewöhnt sich daran.«

***

Beim Öffnen blieb die Haustür mit einem lauten Seufzer an den alten, unebenen Bodenplatten aus Granit hängen. Gruber zerrte heftig an der Klinke, bis die Tür ruckartig nachgab. Thorsten kniff reflexartig die Augen zusammen, als Sonnenlicht in den dunklen Flur fiel. Gleich danach umhüllte ihn die Hitze eines überambitionierten Junitags. Eine schwarze Katze wuselte durch seine Beine. Reflexartig hatte Thorsten das Bedürfnis, sich an den Unterarmen zu kratzen.

»So ist das mit alten Häusern. Sie werden bucklig. Sinken langsam unter ihrer Last zusammen«, sagte Gruber.

»Neue Häuser haben nur ein paar Jahrzehnte Lebenserwartung«, antwortete Thorsten.

»Stimmt. Die Grundschule unten im Dorf wurde letztes Jahr abgerissen. Ein Siebzigerjahre-Bau. Eigentlich wurde sie nicht abgerissen, sondern vorsichtig abgetragen.«

»Zurückgebaut kann man auch sagen.«

»Zurückgebaut. Wie nennt man das noch mal, wenn man sprachlich was beschönigt?«

»Euphemismus.«

»Die Schule war von oben bis unten asbestverseucht. Schon ein komischer Gedanke, dass die Kinder da drin jahrzehntelang nicht nur vom Lehrplan verseucht wurden. Die Bauarbeiter trugen Atemgeräte und Schutzanzüge. Das war ungefähr zur gleichen Jahreszeit wie jetzt. Die Arbeiter müssen geschwitzt haben wie die Schweine.«

Während Thorsten nach draußen in den Garten ging, blieb der Alte im Türrahmen stehen.

»Sie haben sicher Verständnis dafür, dass ich Sie nicht bis zum Gartentor begleite. Wenn man vier Mal vom Blitz getroffen wurde, begibt man sich nicht einfach ohne Sicherheitsvorkehrungen nach draußen.«

»Es ist sonnig.«

»Ich falle nicht mehr auf jeden Bluff herein.«

Thorsten suchte die Lücken zwischen den Fotos und balancierte zu den Überresten eines Gartenzauns. Nur noch wenige schiefe Latten wehrten sich dagegen, einen steilen Abhang nach unten zu rutschen. Weit unten im Tal schlängelte sich ein Fluss durch eine Landschaft, die von hier oben nach Google Earth aussah. Das Sonnenlicht ließ den Fluss unnatürlich blau wirken. Zwei Kanus glitten durchs Wasser. Lachen stieg von ihnen auf, als würde es zu nichts gehören. Als wäre es extra eingespielt. Thorsten spürte, dass seine Augen plötzlich tränten, dann presste sich explosionsartig Druck in die Stirnhöhle. Im nächsten Moment wurde er von einem Niesanfall durchgeschüttelt. Niesen. Immer und immer wieder. Er hatte das Gefühl zu platzen. Wenn der Körper zerfetzt, kannst du dich nicht wehren, wusste Thorsten. Nachdem er sich geschnäuzt hatte, suchte er nach der Ursache der allergischen Reaktion. Die gelb blühenden Pflanzen, die überall am Hang wuchsen, waren die Hauptverdächtigen. Schnell entfernte sich Thorsten ein paar Schritte von ihnen.

»Ist das Ginster?«

Gruber nickte.

»Ich wusste gar nicht, dass der so hoch oben wächst. Haben Sie den angepflanzt?«

»Nein, der wächst wild. Nährstoffarmer Boden, das mag der Ginster. Ich finde, er hat ein Gelb, mit dem nicht einmal der Löwenzahn mithalten kann.«

»Ich bin gegen Ginster allergisch.«

»Schade.«

»Genau genommen bin ich gegen fast alles allergisch, was wächst. Von der Natur mal abgesehen, haben Sie aber eine tolle Wohnlage.«

»Sogar eine gesegnete Wohnlage. Hinter dem Haus führt der Jakobsweg vorbei.«

»Ich dachte, der wäre in Spanien.«

»Nur das letzte Stück. Durchs restliche Europa verzweigt er sich wie ein Netz. Ich verkaufe Heiligenbildchen an die Pilger.«

»Kommen viele Pilger vorbei?«

»Zwei oder drei.«

»Am Tag oder in der Woche?«

»Im Monat. Die meisten starten erst in den Pyrenäen. Mehr kriegt man in vier Wochen Urlaub nicht unter. Hätte ich der Versicherung den Nebenerwerb angeben müssen?«

»Ich glaube nicht.«

Thorsten ging zurück zur Haustür, um sich zu verabschieden. Gruber zog aus der Brusttasche seines Hemds ein kleines Kärtchen und streckte es Thorsten entgegen. »Hier, nehmen Sie. Das werden Sie brauchen.« Auf Hochglanzpapier tobte ein Gewittersturm um einen betenden römischen Soldaten. »Der heilige Donatus, Schutzheiliger gegen Blitzeinschläge.«

Thorsten musterte das Bild.

»Ein römischer Soldat?«

»Freiwillig würde ich während eines Gewitters nie so viel Metall am Körper tragen wollen.«

Immer darauf bedacht, auf keines der auf dem Fußweg liegenden Fotos zu treten und keine der ausladenden Disteln zu streifen, balancierte Thorsten zurück zum Auto. Von einem Moment auf den anderen überkam ihn ein höchst unprofessioneller Impuls, dem er trotzdem einfach nachgab. Thorsten drehte sich zu Gruber um und sagte: »Danke für das Heiligenbild.«

»Schon gut. Haben Sie noch irgendwelche Fragen?«

»Sollte ich?«

»Columbo hat immer noch eine Frage, nachdem er sich eigentlich schon verabschiedet hat.«

»Warum haben Sie die Fotos auf dem Fußweg verstreut?«

»Weil es mir im Haus mit ihnen zu eng ist. Immerfort wollen sie mit mir reden.«

»Ich lass mich nicht gerne verarschen.«

»Nein, natürlich nicht. Ich will nur meine Nachbarn schocken.«

Detektive sollten keine gelben Krawatten tragen

Die alte Gründerzeit-Mietskaserne verströmte schon von außen einen desolaten Charme. An der Hauswand hatten Wetter und Abgase jahrzehntelang den sowieso schon dürftigen früheren Glanz abgenagt. Über die ursprüngliche Farbe triumphierte ein unidentifizierbares Grau. An vielen Stellen war der Putz widerstandslos abgefallen. Die meisten Fenster waren blind vom Kondenswasser, das sich zwischen den undichten Doppelscheiben der dilettantisch nachgerüsteten Thermofenster gebildet hatte.

Die türkischen Hausbesitzer hatten sich mit dem Kauf finanziell übernommen. Sie sparten sogar daran, die Glühbirne im Eingangsbereich zu ersetzen, die schon vor Wochen durchgebrannt war. In der Silvesternacht waren die Briefkästen von einem Pyromanen mit einer Ladung Feuerwerkskörper gesprengt worden. Thorsten hatte mittlerweile einen Edelstahlbriefkasten bei einer Internet-Auktion ersteigert und neben die zerfetzten und ausgebrannten anderen Briefkästen gehängt. Der Edelstahlbriefkasten wirkte neben den Ruinen wie ein Angeber, aber als Unternehmer war Thorsten auf seriöses Auftreten bedacht. Aus diesem Grund hatte er sein Büro eigentlich schon längst in ein ansprechenderes Umfeld verlegen wollen, aber das Preis-Leistungs-Verhältnis war unschlagbar. Genau genommen war die Leistung nicht so besonders, aber die Miete war billig.

Vor der Eingangstür zum Büro stand ein Aprikosen-Bonsai in einer blau glasierten, runden Schale. Thorsten hob die Schale hoch und trug sie mit weit von sich gestreckten Armen in den Hinterhof. Trotz der gebotenen Vorsicht musste er noch lange niesen, nachdem er die Pflanze in die Restmülltonne geworfen hatte. So wie er es mit allen Bonsais machte, die seinen Lebensweg kreuzten.

Eigentlich war das Büro zu groß für zwei Personen, die sich an zusammengeschobenen Schreibtischen gegenübersaßen. Der Vormieter war ein Fahrlehrer gewesen, der hier seinen Theorieunterricht abgehalten hatte, bis er Insolvenz anmelden musste. Thorsten war ihm kurz begegnet, als er die Wohnung besichtigte. Die hohen Spritkosten, hatte der Fahrlehrer achselzuckend gesagt. Und dann die Scheidung. Zu viel aus dem Geschäftsvermögen entnommen.

Eva fand die Ausstattung des Detektivbüros von Anfang an absolut geschmacklos und total unpraktisch. Vor allem die überdimensionierten Schreibtische, die Thorsten nur gekauft hatte, weil sie ein bisschen den Ungetümen ähnlich sahen, an denen die Detektive des Film noir saßen. Marlowe. Spade.

Wo ist Platz für die Tastatur?, hatte Eva gefragt. Ein Hauch von Design wäre nicht schlecht. Die Dinger kann man nicht mal dann schön finden, wenn man einen abseitigen Geschmack hat. Evas Widerstand hatte Thorsten erst recht ermutigt, die Schreibtische zu kaufen. Und deshalb saßen Ralf und er jetzt an diesen monströsen Holzbauwerken. Natürlich war die Entscheidung für die beiden Schreibtische irrational gewesen. Idiotisch, könnte man auch sagen. Aber so war es nun einmal: Die Schreibtische waren da und Eva war weg.

Der schwüle Junitag klatschte seine Luftfeuchtigkeit wie ein nasses Handtuch in den Morgen. Thorsten schwitzte. Er schämte sich für seine Achselhöhlen. Und konnte Rinnsale auf seinem Rücken spüren. Wahrscheinlich veranlagungsbedingt. Er hatte sich wegen seiner übermäßigen Schweißproduktion schon mal durchchecken lassen. Alles okay. Und im Grunde ein Zeichen für einen gut funktionierenden und leistungsfähigen Körper. Trotzdem scheiße. Die Flecken unter den Armen fallen erst dann nicht mehr auf, wenn das ganze Shirt durchgeschwitzt ist. Thorsten hatte eine dauerhafte Lösung durch Schweißdrüsenabsaugung in Erwägung gezogen, bis ihm klar wurde, dass die Kosten eines solchen Eingriffs in keinem Verhältnis zu seinen Geschäftseinnahmen standen. Außerdem mochte er seine Schweißdrüsen irgendwie.

Thorsten zog seine Schreibtischschublade auf. Vermutlich eine Übersprunghandlung. Eine ungeordnete Ansammlung von Klebeband-Abrollern, Feuerzeugen, CDs, Kleingeld, Büroklammern, Visitenkarten, antiseptischen Salben und allem anderen, das man vermutlich irgendwann noch brauchen konnte. Keine Knarre. In amerikanischen Filmen öffnen Privatdetektive ihre Schreibtischschublade, um eine Pistole rauszuholen. Thorsten knallte die Schublade mit viel Schwung wieder zu. Die amerikanischen Waffengesetze waren scheiße. Dauernd ballerten irgendwelche Leute anderen im Kino, im Einkaufszentrum, auf offener Straße in den Kopf.

Ralf betrat das Büro und hängte sein Designer-Jackett auf einen Kleiderbügel an der Garderobe. Liebevoll strich er es glatt. Seine Liebe für teure Klamotten war offensichtlich. Sie hatten sich vor fünf Jahren bei einer Maßnahme zur beruflichen Wiedereingliederung kennengelernt. Thorsten war nach seinem Kulturjournalismus-Studium, Praktikantenstellen bei diversen Tageszeitungen und einer mehrjährigen Tätigkeit als Redakteur bei einer Computerspiele-Zeitschrift wieder mal arbeitslos gewesen war. Genau wie Ralf Ebert, der, nachdem er den Friseurberuf wegen diverser Allergien aufgeben musste, bereits mehrere von der Arbeitsagentur finanzierte Lehrgänge hinter sich hatte: Schweißen/Bürokaufmann/Altenpflege – und zum fünften Mal das SeminarWie bewerbe ich mich richtig?. Gelegentlich verdiente er sich im Wach- und Objektschutz etwas dazu. Seine Größe und die füllige Statur waren die optimalen Voraussetzungen, um bei Rockfestivals Fans vom Stagediving und Bierbecherwerfen abzuhalten. Vielleicht hatte Ralf bei dieser Tätigkeit seine Liebe zu klassischer Musik entdeckt. Bei einer Currywurst, die mit Zwiebelhaube in sehr viel Ketchup schwamm, hatten Thorsten und Ralf den Entschluss gefasst, eine Detektei zu gründen. Da der Berufsbegriff »Detektiv« in Deutschland nicht geschützt ist, kann jeder Loser ein Detektivbüro aufmachen. Sie hatten vor, diese Gelegenheit beim Schopf zu packen. Zuallererst einigten sich die beiden Teilhaber auf ihr künftiges Logo: einen heulenden Wolf im nachempfundenen Stern eines US-Marshals. Eilig wurden damit Briefköpfe, Visitenkarten und Feuerzeuge bedruckt. Die Leuchtreklame wurde leider schon kurz nach Inbetriebnahme von irgendwelchen betrunkenen, Steine schmeißenden Jugendlichen zerstört und aus finanziellen Erwägungen nie mehr ersetzt. Die unzähligen Aufkleber, die Thorsten und Ralf auf öffentlichen Toiletten, an Ampeln und Mülltonnen anbrachten, hielten sich deutlich länger. Nachdem sie immer wieder gefragt worden waren, was das Logo bedeuten sollte, dachten sie sich eine Geschichte dazu aus, in deren Mittelpunkt die Jagdweise des Wolfs stand. Einer Spur folgen. Dem Geruch. Seiner Nase vertrauen. Dem Instinkt. Sich dem Beutetier nähern und dann schnell an den ungeschützten Stellen zubeißen. Die Mongolen leiteten ihre Herkunft vom Wolf ab und die Irokesen verehrten ihn als Totemtier.In dieser Tradition stehen wir!, beteuerten die Detektive auf ihrer Homepage, die für diese pathetischen Behauptungen ein bisschen zu billig zusammengebastelt war.

Damals, als Thorsten und Ralf Currywurst gegessen hatten, glaubten sie, dass Thorstens Kenntnisse in diversen Kampfsportarten (erst Karate seit dem neunten Lebensjahr, später Ju-Jutsu) und Ralfs Erfahrung bei Sicherheitsfirmen (Volksfeste/Open-Air-Festivals/Fußballstadien) ihnen nutzen würden. Tatsächlich half beides wenig im Berufsalltag eines Detektivs, der weit weniger körperorientiert war, als man angesichts seiner medialen Aufbereitung in Fernsehserien und Hollywood-Filmen erwarten durfte. Genau genommen waren sie vollkommen planlos an die Umsetzung ihrer Geschäftsidee gegangen. Wirklich effizient war nur die finanzielle Spritze, mit der Thorstens Eltern der Unternehmensgründung Leben eingehaucht hatten. Ohne diesen Zuschuss hätte die Detektei die knochentrockene Anfangsphase sicher nicht überstanden. Thorsten besuchte seine Eltern noch seltener, seit er in ihrer Schuld stand. Mama und Papa hatten ihn von klein auf gefördert und wollten immer wissen, wie es lief. »Nicht besonders« zu sagen brachte er nicht übers Herz, weil es erstens: seine Eltern in Sorge versetzen und zweitens: seinem eigenen Ego voll aufs Maul geben würde. Außerdem war Thorsten ein mieser Lügner. So mies, dass er live damit hätte auftreten können. Mit Schweißausbruch, Pupillenzucken und den ganzen anderen körperlichen Nebenwirkungen. Deshalb fuhr er nur zu seinen Eltern, wenn es unvermeidbar war. Geburtstag Mutter, Geburtstag Vater, Weihnachten.

Ralf ließ sich schwerfällig in seinen Schreibtischstuhl fallen und brachte seine ganze Körperfülle in die entspannte Angriffsposition, die nur dicken Menschen zur Verfügung steht.

»Und wie war es in der Einsiedelei?«

»Er wurde mehrmals vom Blitz getroffen. Angeblich.«

»Glaubst du dem Alten?«

»Ich hab die Blitzeinschläge abgefragt. Kommt hin. Er verkauft Heiligenbildchen. Zum Abschied hat er mir eins geschenkt.« Thorsten holte das Heiligenbildchen aus seiner Brieftasche und schob es über seine Tischplatte auf Ralfs Schreibtisch.

»Wer ist das?«

»Der heilige Donatus.«

»Lass mich raten. Er ist ein Schutzheiliger, an den du während eines Gewitters deine Stoßgebete senden kannst.«

»Gut kombiniert.«

»Das Unwetter im Hintergrund ist ziemlich gut gemalt.«

»Donatus war ein römischer Heerführer. Der Feind hatte ihn umzingelt. Die Lage war aussichtslos, seine Legion am Verdursten. Zusammen mit anderen christlichen Soldaten betete er um Regen. Prompt zog ein Unwetter auf und es regnete wolkenbruchartig. Die Römer hatten genug zu trinken und die Blitze zerstörten das Lager der Feinde.«

»Coole Werbeaktion vom lieben Gott.«

Ralf gab Thorsten das Bild zurück.

»Wo verkauft Gruber seine Heiligenbildchen?«

»Sein Haus liegt direkt am Jakobsweg.«

»Ich dachte, der ist in Spanien?«

»Fränkischer Jakobsweg. Europa ist durchzogen von Jakobswegen, seit Pilgern in ist.«

»Der Alte will uns verarschen«, stellte Ralf unmissverständlich fest.

»Ich weiß nicht.« Thorsten überlegte kurz, was er mit dem Heiligenbild machen sollte. Er steckte es zurück in die Brieftasche. »Ein bisschen viel Aufwand für einen Versicherungsbetrug.«

Ralf wippte in seinem Schreibtischstuhl. Thorsten hatte einen Moment lang Zweifel, ob die billige Büroausstattung auf das Körpergewicht seines Assistenten ausgelegt war. Aber immerhin war der Stuhl TÜV-geprüft. An das Siegel auf dem Karton konnte er sich genau erinnern.

»Erinnerst du dich an den Investment-Banker, der vom Auto überfahren wurde?«, fragte Ralf. »Hinterher hat sich rausgestellt, dass man ihn nicht nur von vorn, sondern auch im Rückwärtsgang überrollt hatte.«

»Der brauchte Geld, weil seine Börsenspekulationen das Vermögen seiner Ehefrau aufgefressen hatten. Deshalb hat er sich sicherheitshalber zwei Mal von ihr überfahren lassen. Gruber hat keinerlei finanzielle Probleme. Er hat noch nicht mal eine Frau.«

»Das sind ja nur Indizien dafür, dass er ein besonders ausgekochter Hund sein muss.«

»Du bist ein Menschenfeind.«

»Noch was?«

»Deine Krawatte ist scheiße.«

»Hör mal: Auf meine Krawatte lass ich nichts kommen.«

»Die Pastelltöne schauen irgendwie Achtzigerjahre-mäßig aus …«

Ralf holte einen kleinen Handspiegel aus seiner Schreibtischschublade.

»Das ist retro.«

»Aber auf eine Art, wie es die Achtziger nie gegeben hat.«

»Die Krawatte wertet meine heutigen Ermittlungen auf jeden Fall auf. Warum muss eigentlich immer ich die Ehebruch-Geschichten übernehmen, während du die superinvestigativen Akte-X-Fälle bekommst?«

»Du bist verheiratet …«

»Kommt noch was?«

»Du bist besser in Ehe und ihren Brüchen.«

»Jetzt verschaffst du dir mit deiner Beziehungsunfähigkeit auch noch einen Vorteil.«

»Ralf, ganz ehrlich: Die Krawatte ist furchtbar.«

»Und was bitte gefällt dir daran nicht?«

»Sie ist gelb. Damit geht es schon mal los. Detektive sollten keine gelben Krawatten tragen. Sie sollten unauffällig sein.«

»Soll ich so heruntergekommen rumlaufen wie du, seit Eva nicht mehr auf dich achtet?«

»Arschloch.«

Ralf legte den Handspiegel zurück in seine wohlgeordnete Schreibtischschublade. »Tut mir leid«, sagte er. »Ehebruch-Observierungen nerven mich. Die Schlampe fickt mit einem anderen. Das ist ja ganz klar. Ich weiß nicht, warum das ihr Ehemann unbedingt genau wissen will.«

»Damit er Gewissheit hat.«

»Was denn für eine Gewissheit? Dass seine Frau genau die Schlampe ist, für die er sie immer gehalten hat?«

»Das ist unser Job.«

»Scheißjob. Ich schlag mir die Nacht um die Ohren und die Therapeuten der beiden verdienen sich in einer Dreiviertelstunde pro Woche dumm und dämlich.«

»Bei uns erfahren sie nur etwas über den jeweils anderen.«

»Und was erfahren sie beim Therapeuten?«

»Die Wahrheit über sich.«

»Schwachsinn.«

Ralf nahm ein Blatt von seinem Schreibtisch und hielt es Thorsten entgegen. Dabei beugte er sich so weit nach vorn, wie sein Bauch es zuließ. Das Fettgewebe und die Tischplatte befanden sich bereits in einem heftigen Widerstreit.

»Hier, das könnte dich interessieren.«

Thorsten nahm das Blatt und las den Ausdruck einer Mail.

»Und dem verletzten Teil folgt, wie er pflegt, der Ruf der Schuld – allein die Wahrheit künden wird Gottes Rache, die den Argen schlägt.«

»Was ist das? Ein Songtext von Rammstein?«

»Die Göttliche Komödie.«

»Die Göttliche Komödie?Ich dachte, die sei gut.«

»Sie ist gut. Sie gehört zum Kanon des Abendlandes.«

»Will uns da jemand einschüchtern?«

»Ich weiß nicht.«

»Davon lasse ich mir keine Angst machen. Drohgebärden beeindrucken mich selbst dann nicht, wenn sie gebildet daherkommen.«

Thorsten schob den Ausdruck über den Schreibtisch zurück in Ralfs Richtung.

»Was steht auf deinem Tagesprogramm?«, fragte Ralf.

»Ich gehe auf den Fußballplatz.«

Es gibt von allem ein Video

»Wir Trainer sind geschult, wissen Sie«, sagte Güttler. Er ging so sportlich in die Hocke, wie man es von einem Endvierziger in einem Trainingsanzug mit dem AufdruckKeine Macht den Drogenerwarten durfte. Über der Schanktheke, die Buchenholz und Gemütlichkeit erfolglos zu imitieren versuchte, war nur noch sein schütterer Haarschopf zu sehen.

Thorsten schaute sich im Vereinsheim um. Glasvitrinen mit Pokalen, die edel wirken wollten, aber irgendwie nuttig daherkamen. Urkunden mit schlecht gezeichneten Fußballern beim Zweikampf oder beim Torschuss. Darunter war handschriftlich die Platzierung bei einem Turnier eingetragen. Die Siegerurkunden erstrahlten in goldenen Rahmen. Die meisten Turniersiege lagen allerdings schon ein paar Jahrzehnte zurück. Die Urkunden, auf denen hintere Platzierungen dokumentiert wurden, waren deutlich in der Mehrheit. Ungeliebt steckten sie in rahmenlosen Bildhaltern. Ganze Verlierergenerationen waren rahmenlos.

Die gegenüberliegende Seite des Raums wurde von einem mehr als zwei Meter hohen elektronischen Dart-Gerät beherrscht. Am Boden davor die Überreste zweier Klebebänder. Eines in etwa drei Metern, eines in etwa fünf Metern Entfernung. Gleich neben der Eingangstür stand ein Schaukasten mit einem Modell des Vereinsgeländes. An der Wand dahinter waren eine Handvoll Farbfotos angepinnt, die alle Bauabschnitte der Renovierung des Vereinsheims vor fünf Jahren dokumentierten. Vorher musste es wirklich hässlich gewesen sein. Auch jetzt war es noch hässlich, aber auf eine rustikalere Art.

Freudestrahlend tauchte Güttler wieder hinter der Theke auf und drückte Thorsten eine Broschüre in die Hand. »Ich sag ja, wir sind geschult«, betonte der Trainer noch einmal.