Kriegsgebiete - Roland Spranger - E-Book
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Roland Spranger

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Beschreibung

Daniel gerät während seines Afghanistan-Einsatzes in einen Hinterhalt. Einige der Soldaten, für die er als Hauptfeldwebel verantwortlich ist, sterben. Wieder zu Hause leidet er an einer posttraumatischen Belastungsstörung, an der auch seine Ehe zerbricht. Seitdem kampiert er im Garten, dort verbringt er seine Tage und Nächte auf einer Ledercouch vor einem kaputten Fernseher. Unterbrochen wird sein eintöniges Dasein nur von einem harten Trainingsprogramm, das er sich selbst auferlegt hat, Besuchen beim Psychotherapeuten und betreuten Treffen mit seiner Tochter Lea. Da geschehen in seinem Umfeld mehrere grausame Morde. Von der Polizei verdächtigt, beginnt er auf eigene Faust zu recherchieren, wer hinter den Verbrechen steckt. Oder ist er tatsächlich der Mörder? Ist er wirklich so schizophren, dass ein Teil seiner Persönlichkeit Verbrechen begeht, an die sich der andere Teil nicht erinnern kann? Ein packender Thriller vor dem aktuellen Hintergrund weltweiter Krisenherde und den psychischen Belastungen der Soldaten, die Extremes erleben müssen. Ausgezeichnet mit dem Friedrich-Glauser-Preis 2013 in der Sparte "Bester Kriminalroman"!

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Seitenzahl: 235

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Roland Spranger

KRIEGSGEBIETE

Thriller

Edition 11

Prolog

Provinz Kunduz (Afghanistan)

Serpentine für Serpentine tasteten sich die drei Mowag Eagle talwärts. Langsam. So langsam, dass die Fahrer jeden Stein auf der Piste nach seinen wahren Absichten befragen konnten. Selbst dem afghanischen Dreck war nicht zu trauen. Das ganze Land war minenverseucht. Daniel wusste, dass die Panzerung des Eagle okay war, um vor leichteren Sprengladungen zu schützen. Bei stärkeren Detonationen war sie nicht okay genug. Vor Explosionen schützte man sich sowieso am besten, indem man sie großräumig umfuhr.

Von der Passstraße aus betrachtet, erinnerten die kaugummiweich geformten Berge an eine absichtsvoll idyllisch gestaltete Modelleisenbahnlandschaft. Daniel hatte Lust, kleine Plastikmännchen in die menschenleere Szenerie zu stellen. Ohne humanitäre Hilfe und ohne militärischen Auftrag. Plastikmännchen eben.

In Dorfnähe gingen die unbefestigten Serpentinen in eine befestigte Schotterpiste über. Nach einer Haarnadelkurve öffnete sich das Tal gastfreundschaftlich. Ein beschauliches Mosaik aus gepflegt bewirtschafteten Feldern. Friedlich. Verdächtig also. Dem Frieden durfte man in diesem Land nie trauen. Trotzdem wenig Möglichkeiten für einen Hinterhalt. Daniel beruhigte der Blick aus den kugelsicheren Fenstern des Eagle IV. Der Schweiß brannte in seinen Augen.

Innenraumtemperatur deutlich über vierzig Grad. Die Schutzweste ließ kaum Luftzirkulation zu. Schwere Titanplatten und Kevlarfasern. Hielten angeblich sogar Maschinengewehrbeschuss aus. Daniel war nicht gerade erpicht darauf, die Weste einem Praxistest zu unterziehen. Wie die meisten seiner Kameraden. Klar, ein paar Durchgeknallte gab’s immer, die bereit waren, im Alleingang die Welt zu retten. Oder wenigstens jede Menge Taliban umzunieten. Kampflüstern. Kriegsgeil. Irgendwas mit fehlgeleiteter Sexualität. Und ein bisschen zu sehr durch Call Of Duty sozialisiert. Zu diesen Typen hielt Daniel den größtmöglichen Abstand, weil sie gefährlich waren. Im Ernstfall vergaßen sie alle taktischen Maßnahmen, die ihnen während ihrer Ausbildung eingeimpft worden waren. Und dann ist es ziemlich scheiße, wenn du zu dicht danebenstehst.

Todessehnsucht hatte keiner seiner Kameraden. Sterben hört auf, romantisch zu sein, nachdem man es zum ersten Mal live gesehen hat. Ohne Regisseur und passende Beleuchtung. Die Schutzwesten sollten verhindern, dass man plötzlich in den Tunnel schwebte, um anschließend im Jenseits zu landen. Oder im Nichts. Oder bei einer Wiedergeburt. Dafür nimmt man das bisschen Schwitzen gern in Kauf. Daniel wollte nichts weiter als eine stinklangweilige Überlandfahrt mit anschließendem Personentransport. Ohne irgendeine Möglichkeit, zum Helden zu werden. Ohne die Ausrüstung unter Gefechtsbedingungen zu testen. Und hey!, dachte Daniel, das ist eine Sicherheits- und Aufbaumission, kein Kampfeinsatz. Er besann sich auf seine Rolle als aktiver Beifahrer. Routiniert drückte er einige Tasten des Bordcomputers.

»Noch vier Kilometer bis zum Zielpunkt«, sagte Daniel.

»Was macht der Doc eigentlich in dieser Bauernhütte?«, fragte Pöhlmann von der Rückbank.

»Tee trinken«, antwortete Timo, während er einem Schlagloch auswich. »Hier trinkst du ständig Tee, wenn du mit den Einheimischen in Kontakt kommst. Wenn du keinen Tee magst, dann musst du so tun als ob.«

»Ich kann Tee nicht vertragen«, antwortete Kunz. Ein kurzer Blick in den Rückspiegel genügte, um zu erkennen, dass Kunz tatsächlich schon beim Gedanken an Tee kreidebleich geworden war. An der Strecke oder am Fahrzeug konnte es nicht liegen. Bei Patrouillenfahrten hatten sie schon Pisten überwunden, auf denen das Fahrzeug so durchgeschüttelt wurde, dass die Insassen Gefahr liefen, mit dem Kopf gegen den Fahrzeugrahmen zu knallen. Und im Gegensatz zum Dingo, mit dem sie vorher durch die beschissene afghanische Infrastruktur gurken mussten, war der Eagle sehr geräumig und hatte eine echte Stoßdämpfung. Im Dingo mit seiner sehr sehr sehr weichen Federung konnte man schnell mal seekrank werden.

»Hey«, fragte Daniel, »verträgst du echt keinen Tee?«

»Darauf reagiere ich irgendwie allergisch. Mir wird schlecht und ich bekomme kleine Pusteln am ganzen Körper.«

»Von jeder Teesorte oder nur von bestimmten?«, wollte Pöhlmann wissen.

»Von jeder.«

Daniel zuckte mit den Schultern.

»Vielleicht irgendein traumatisches Erlebnis in deiner Kindheit.«

»Ohne Tee kommst du in diesem Land nicht durch«, bekräftigte Timo noch einmal kopfschüttelnd seinen Standpunkt.

»Ich könnte kotzen, wenn ich bloß an Tee denke.«

»Dann hör auf dran zu denken, bevor dir was aus dem Gesicht fällt und der ganze Eagle danach stinkt«, kommentierte Timo trocken, während er seine Aufmerksamkeit einem Maultiertreiber am Wegrand schenkte.

»Nur ein Maultiertreiber«, sagte Daniel.

»Ja«, antwortete Timo, während er im Rückspiegel sah, wie der Einheimische samt seinem schwer bepackten Lasttier von einer Staubwolke verschluckt wurde.

Daniel hatte Timo bereits während der gemeinsamen Ausbildung kennengelernt. In der Zwischenzeit waren sie beide schon seit fünf Monaten in Afghanistan. Jeder von ihnen zum zweiten Mal. Timo war einer, auf den man sich verlassen konnte. Der sich auch in Stresssituationen nicht so schnell aus der Ruhe bringen ließ. Die Jungs auf dem Rücksitz waren frisch. Sven Kunz trug in der Freizeit Fan-Shirts von Bayern München. Angeblich, weil er der Meinung war, dass sie zur Völkerverständigung beitrugen. Alexander Pöhlmann hatte Daniel in der vergangenen Woche vor einem Poker-Abend erklärt, wie man das Spiel berechnet, dann aber doch zwanzig Euro verloren. Auf den Vordersitzen waren die Cowboys und auf der Rückbank die Greenhorns. Daniel entwickelte väterliche Gefühle und erklärte den beiden, warum der Militärarzt bei einem Einheimischen Tee trank.

»Der Afghane ist auch Arzt. Er will in seinem Dorf eine Arztpraxis aufbauen. Das ist ein mutiger Mann. Gelegentlich bringt unser Doc seinem Kollegen abgelaufene Medikamente und uraltes Verbandsmaterial vorbei. Humanitärer Auftrag.«

»Und dafür braucht es drei Fahrzeuge mit zwölf Soldaten?«, fragte Pöhlmann.

Timo drehte die Augen so weit nach oben, bis das Weiß der Augäpfel die Oberhand gewann.

»Die Scheißtaliban haben was gegen den humanitären Auftrag«, erklärte Timo genervt. »Eigentlich haben sie gegen fast alles was. Die sind voll auf Dschihad.«

Daniel drehte sich zu den Greenhorns um.

»Wisst ihr, was der Dschihad ist?«

»Ist das die Hundert-Euro-Frage?«, wollte Kunz wissen.

Pöhlmann sagte: »Ich hab mal gelesen, dass auf die Märtyrer zweiundsiebzig Jungfrauen im Paradies warten. Also, zweiundsiebzig für jeden.«

Timo lachte. »Pass bloß auf, dass du nicht den Glauben wechselst. Scheiß asymmetrische Kriegsführung!«

Daniels Finger flogen über die Tastatur des Bordcomputers. Routiniert, aber nervös. Hoffentlich werde ich zu Hause die Nervosität wieder los, dachte er. Niemand folgte ihnen. Sie waren das letzte Fahrzeug der aus drei Eagle bestehenden Kolonne. Die Nachhut war ein potenzielles Angriffsziel. Eigentlich war jedes Fahrzeug ein potenzielles Angriffsziel. Je nach Taktik. Die einen schießen zuerst auf die Vorhut, um die Kolonne zu stoppen. Die anderen auf den letzten Wagen, um die Vorderleute in Panik zu versetzen und so in einen Hinterhalt oder eine Minenfalle zu treiben. Oder man zerfetzt mit einer Rakete das mittlere Fahrzeug, um das komplette Chaos anzurichten. In einem Guerillakrieg ist alles irgendwie gut, solange du der Angreifer bist.

Daniels Nacken schmerzte unter dem Gewicht der Schutzweste. Eigentlich war es okay zu spüren, wie der Schutz mit dem eigenen Schweiß verklebt, aber dazu kam noch das Gewicht der Munition und der Batterien. Keiner macht sich eine Vorstellung davon, wie viel Strom ein moderner Soldat verbraucht. Navigations-, Funk-, Nachtsicht- und Wärmebildzielgeräte. Man schleppt die ganze digitale Kriegsführung mit sich herum. Auch ohne Schutzweste erkannte man die Veteranen daran, dass sie leicht nach vorne gebeugt durchs Feldlager schlurften. Und vor den Duschen und im Fitnessraum nicht drängelten. Die alten Hasen waren auch nicht genervt, wenn die Internetverbindung sich mal wieder verabschiedet hatte, während die Neuen gestresst waren, weil Facebook auch ohne sie weiter am Leben war. Früher oder später würden es die Greenhorns auch noch lernen. Im Krieg gewöhnte man sich ans Warten. Zuerst war der Krieg eine Friedensmission, aber auch für eine Friedensmission brauchst du zuallererst Geduld. Damals gab es weniger Anschläge und Beschuss durch Raketen, aber mehr Minen. Zehn Millionen hatten allein die Sowjets liegen lassen, als sie den Kommunismus am Hindukusch verteidigten. Bösartige Artefakte des real existierenden Sozialismus. Verwittert, aber tödlich. Wenn man erst mal checkt, dass man jeden Tag sterben kann, ist Warten noch nicht mal die schlechteste Option.

»Märtyrer sind zwar Vollidioten, aber wenigstens fühlen sie sich gut, wenn sie ins Gras beißen«, sagte Timo. Er beschleunigte den Eagle, um seine Aussage zu unterstreichen. Alle Insassen konnten den Turbo in ihren Eingeweiden spüren.

»Märtyrer müssen keine Angst haben.«

Daniel hatte das Gefühl, darauf etwas antworten zu müssen. Als Hauptfeldwebel. Er wollte seinem Führungsanspruch gerecht werden. Die Moral aufrechterhalten. Ohne zu lügen.

»Angst ist ein die Sinne schärfender Schutzmechanismus, der in Gefahrensituationen ein angemessenes Verhalten einleitet«, sagte Daniel. »Das ist Evolution. Ohne unsere Angst wären vielleicht Hyänen die Krone der Schöpfung.«

»Du hast was gegen Hyänen, oder?«, fragte Timo.

Pöhlmann beugte sich vom Rücksitz nach vorn und sagte: »Ich hab gelesen, dass bei den Hyänen die Weibchen dominant und die Männchen untergeordnet sind.«

»Und?«, fragte Kunz.

»Nichts und. Ich hab’s irgendwo gelesen.«

»Glaubst du, Hyänen haben keine Angst?«

»Keine Ahnung. Es sind Tiere.«

»Wir sind doch auch so was wie Tiere.«

»Klar. Du bist Bayern-Fan.«

Auf der Rückbank entstand eine kleine Rangelei.

»Aufhören!«, befahl Daniel. »Sonst patrouilliert ihr morgen bei vierzig Grad im Schatten mit euren Fan-Schals.«

Nach einer weiteren Kurve war die kleine Fahrzeugkolonne im Talgrund angekommen. Der Weg führte schnurgerade zu dem kleinen Dorf, in dem sie zwei Stunden vorher Doktor Dietrich, den Feldarzt, abgesetzt hatten. Gemessen an europäischen Verhältnissen erschien die Bezeichnung Dorf für ein paar zusammengewürfelte Lehmhütten an einem Bach vielleicht etwas hochgegriffen, aber in der Umgebungskarte waren die ärmlichen Behausungen als mittelgroße Ansiedlung eingezeichnet. Daniel konzentrierte sich auf den Bordcomputer, um seine Aufmerksamkeit nicht absacken zu lassen. Er wusste, dass Wachsamkeit die beste Lebensversicherung eines jeden Soldaten war, aber sie ließ zu leicht nach. Man musste sie gelegentlich nachladen.

Auf dem Rücksitz stritten sich die beiden Greenhorns darüber, wer der nächste deutsche Fußballmeister werden würde. In Afghanistan hatte Daniel irgendwann aufgegeben, sich für Fußball zu interessieren. Die Taliban hatten das mit Entwicklungshilfe-Geldern gebaute Stadion in Kabul dazu missbraucht, um ihr Barbarentum zu zelebrieren. Das Fußballtor als Galgen. Erschießungen direkt auf dem Elfmeterpunkt. Öffentliche Amputationen im Mittelkreis.

»Können wir nicht Musik hören?«, fragte Kunz.

»Nein«, antwortete Timo.

»Die Amis hören in ihren Fahrzeugen dauernd Musik.«

»Die schießen dann auch Kameramänner tot, weil sie glauben, die Kameras seien Raketenwerfer. Musik schadet der Konzentration. Vor allem die Diskussionen darüber, was als Nächstes gehört wird. Bei mir gibt’s keine Musik.«

Daniel nahm sein Fernglas und suchte das Areal ab. Nichts Verdächtiges. Als Nächstes konzentrierte er sich auf das Haus des afghanischen Arztes. Das Haus lag friedlich am Ortseingang des kleinen Dorfes. Er war trotzdem unzufrieden.

»Kannst du irgendwo ein Nirvana-T-Shirt sehen?«

»Meinst du damit das buddhistische Glaubenskonzept oder die Band?«, fragte Timo.

»Die Band. Das Plattencover mit dem Baby im Schwimmbad. Aufgebügelt auf ein schwarzes T-Shirt.«

»Ich glaube nicht, dass das viele Afghanen tragen.«

»Ich habe mit dem Doc verabredet, dass er es raushängen soll, wenn alles okay ist.«

»Also ’ne Privatabsprache. Und ich dachte schon, Band-T-Shirts wären Bestandteil einer optimierten ISAF-Vorgehensweise.«

Timo beugte sich nach vorne über das Lenkrad.

»Ich seh’ kein schwarzes Shirt. So eine Straße gilt in der Heimat als unwegsames Gelände, da kann ich mich nicht auch noch um Textilien kümmern.«

»Hast du gerade Heimat gesagt?«

»Ja. Stört dich das?«

»Nein. Ich hab noch nie Heimat gesagt. Das ist alles.«

Daniel drehte sich zur Rückbank um.

»Seht ihr irgendwo ein schwarzes Nirvana-Shirt? Ich meine die Band.«

Kunz und Pöhlmann streckten die Hälse.

Während die armseligen Lehmhütten immer näher kamen, versuchte Daniel, mit dem Funkgerät Kontakt zu Bundeswehrarzt Doktor Dietrich aufzunehmen. Nur Rauschen.

»Keine Reaktion«, sagte Daniel.

»Manchmal blockiert der Störsender der Eagle unsere eigenen Funkgeräte«, antwortete Timo. »Eins von beiden sollte mal ausgetauscht werden.«

Daniel drehte sich um.

»Und?«

»Ich seh’ kein Nirvana-Shirt. Nicht mal ein Bayern-Trikot, obwohl es die überall auf der Welt gibt«, antwortete Kunz.

»Scheiße, das gefällt mir nicht.«

Das erste Fahrzeug der Kolonne war bereits sehr nah am Haus.

»Fahr langsamer«, befahl Daniel.

Sofort ging Timo vom Gas.

Daniel hielt das Funkgerät sehr nah vor die Lippen. Er sprach sehr deutlich.

»Hier Adler 3. Auf keinen Fall aussteigen.«

Die beiden vorderen Fahrzeuge stoppten im Hof des Anwesens.

»Halt an.«

Timo bremste. Sie kamen etwa hundert Meter vom Haus entfernt zum Stehen.

»Hier Adler 2.«

Die Stimme von Leutnant Göller. Durch das Funkgerät klang sie genau so blechern, als würde man von Angesicht zu Angesicht mit ihm sprechen.

»Was gibt’s?«

»Kein Funkkontakt zum Doc.«

»Wahrscheinlich hat er das Funkgerät abgestellt. Er hasst die Dinger.«

Daniel konnte die zwei Eagle vor dem Haus stehen sehen. Er hatte ein schlechtes Gefühl bei dem Anblick, aber mit Intuition konnte er Göller auf keinen Fall kommen.

»Ich hab mit dem Doc ausgemacht, dass er ein Nirvana-Shirt raushängt, wenn alles in Ordnung ist.«

»Meinen Sie die Band?«

»Ja, die Band. Ein schwarzes Shirt mit einem Baby im Schwimmbad. Das Baby taucht einem Geldschein hinterher.«

Knacken im Funkgerät. Ein paar Sekunden später meldete sich Göller wieder.

»Hier gibt’s keine Kleidung. Außerdem haben die Taliban etwas gegen Musik. Jemand mit klarem Verstand macht die doch nicht mit einem Nirvana-Shirt auf sich aufmerksam.«

»Wir sollten Verstärkung rufen.«

»Warum?«

»Das schaut nicht gut aus.«

Wieder vergingen ein paar lange Sekunden.

»Okay, wir warten erst mal ab. Bleiben Sie in Position.«

Daniel starrte auf die beiden vor dem Haus parkenden Eagle.

»Wahrscheinlich hat er das T-Shirt einfach vergessen«, sagte Timo, während er sich über das Lenkrad beugte. »Würde ihm ähnlich sehen.«

Daniel war ein Meister des Wartens. Jetzt war er das erste Mal in einer Situation, in der Warten unangenehm wurde.

»Sollen wir nicht einfach rausgehen?«, fragte Kunz.

»Und was machen wir dann?«, fragte Timo.

»Wir erkunden die Gegend.«

»Tolle Idee. Sag mir Bescheid, wenn du auf Taliban triffst.«

»Wir können doch nicht einfach nichts machen.«

»Wenn du erst mal lang genug hier bist, geht das ganz gut.«

»Ich geh auf keinen Fall raus. Oder nur, wenn es unbedingt sein muss«, sagte Pöhlmann. Er sah sich hektisch um. »Hört sich vielleicht feige an.«

»Ist schon in Ordnung«, beruhigte ihn Daniel.

»Ein Eagle IV bietet neun Quadratmeter Schutz«, pflichtete ihm Timo bei. »Perfekter Schutz gegen Handfeuerwaffen und Minen. Zumindest, wenn die Minen nicht allzu dick sind. Ich steig auch nur aus, wenn es unbedingt sein muss.«

Sie starrten auf das Haus. Auf die Fahrzeuge mit den ISAF-Kennzeichen daneben.

»Ein Bier wäre nicht schlecht«, sagte Timo.

»Ein Bier wäre definitiv gut«, antwortete Daniel.

»Wie lange stehen wir schon hier?«

»Zwei Minuten.«

»Mir kam’s länger vor.«

Daniel sah sich um. Die Landschaft war immer noch irgendwie weich, aber er begann, sie zu verachten. Das Funkgerät meldete sich zu Wort.

»Wir gehen jetzt raus.«

»Warum?«, fragte Daniel. Kurz danach war ihm die Frage schon peinlich.

»Weil wir Soldaten sind, Hauptfeldwebel«, antwortete Leutnant Göller. »Wir holen Doktor Dietrich ab. Und wenn er unsere Hilfe braucht, dann helfen wir ihm. Sie bleiben vorerst, wo Sie sind und warten meine weiteren Befehle ab.«

Göllers Stimme hörte sich so an, als beabsichtige der Leutnant, dem durchgeknallten Hauptfeldwebel nach der Rückkehr ins Feldlager den Arsch so weit aufzureißen, dass Paranoia erst gar nicht mehr aufkam.

»Der wird nicht mehr dein Freund«, kommentierte Timo.

»Kann schon sein.«

Die beiden Türen auf der Beifahrerseite des mittleren Einsatzfahrzeugs wurden geöffnet. Drei bewaffnete Soldaten stiegen aus. Vorsichtig. Sie sicherten sich nach allen Richtungen ab. Sahen sich um. Im nächsten Moment wurden sie von einem mächtigen Feuerball verschlungen. Der vordere Teil des Hauses stürzte ein. Ein Pilz aus Rauch und Staub.

Exakt gleichzeitig trafen der Knall und die Druckwelle auf den Eagle. Die Insassen wurden durchgeschüttelt. Bis auf die Knochen.

»Scheiße!«, schrie Daniel. »Gib Gas.«

»Das ist eine Scheißidee«, keuchte Timo, während er das Gaspedal durchdrückte und der Turbo den Eagle zu einem Kriegsschauplatz katapultierte.

Daniel versuchte hektisch, über Funk Kontakt mit dem Feldlager aufzunehmen.

»Ich fahr da nicht rein«, sagte Timo und blieb etwa zwanzig Meter vor dem Haus stehen.

Daniel hatte mittlerweile Verbindung mit dem Feldlager. Der Funker klang gelangweilt, als er sich meldete. Vielleicht hatte er sich gerade die Nägel manikürt oder an sich rumgespielt. Wenn man selbst in Lebensgefahr ist, erscheinen einem alle Personen lethargisch, die in Sicherheit sind. Vielleicht, weil vor dir das Leben in der falschen Geschwindigkeit abläuft. Sand prasselte wie ein Graupelschauer auf die Windschutzscheibe. Uniformfetzen wehten aus der Staubwolke. Sehr klein. Verbrannt. Zu hoher Input für ein unvorbereitetes Hirn. Das ist das Wesen des Terrors, dass er dich unvorbereitet trifft, sogar wenn du mit ihm rechnest.

Unter dem Kriegsnebel konnte Daniel abgerissene Gliedmaßen sehen. Und überall Blut. Die Augen von Leutnant Göller starrten ihn an. Der Kopf lag ohne Körper im Dreck. Arschloch, dachte Daniel, während er seine Magensäure hinunterschluckte. Macht sich nach einer Fehlentscheidung einfach so vom Acker. Jetzt war Daniel als Hauptfeldwebel der befehlshabende Mannschaftsdienstgrad. Die Verantwortung vereinfachte zielgerichtetes Denken nicht.

»Wir haben Verluste! Wir brauchen hier dringend Verstärkung!«, schrie Daniel so laut ins Mikro, dass es den schläfrigen Funker im Feldlager aus den Kopfhörern katapultieren musste. 

»Kein Funkkontakt mit Adler 1. Kannst du was sehen?«

Timo schüttelte den Kopf.

Jetzt bloß nicht ausbooten, dachte Daniel.

Hinten wurde eine Tür aufgerissen. Kunz stürzte mit dem Sturmgewehr in der einen und mit einer Pistole in der anderen Hand am Eagle vorbei.

Bevor Daniel einen Befehl geben konnte, klappte hinter ihm die andere Tür auf. Direkt neben ihm stand Pöhlmann mit der Waffe im Anschlag. 

Idioten, schoss es Daniel durch den Kopf.

Die zwei Greenhorns rannten geduckt am Wagen vorbei.

Ein zweiter Sprengsatz explodierte. Die Druckwelle presste Daniel in seinen Sitz. Er spürte seinen Bauch, die Lungen, wie nach einem mächtigen Faustschlag. Sofort das Pfeifen in den Ohren. Kunz wurde gegen die Windschutzscheibe katapultiert und rutschte von der Motorhaube des Eagle neben die Beifahrertür. Daniel riss das G36 aus der Halterung und öffnete die Tür. Unter ihm zuckte der Körper von Kunz. Sein Gesicht war vollkommen verschwunden. Trotzdem gurgelte und röchelte noch irgendwas aus ihm. Daniel machte einen großen Schritt über den sich schüttelnden Körper. Der trägt kein Bayern-Trikot mehr, dachte Daniel, und schämte sich im nächsten Moment. Gedanken schossen unkontrolliert durch seine Synapsen. Besser man dachte nichts im Krieg, aber gerade wenn man höchste Konzentration braucht, macht das Hirn, was es will. Pöhlmann lag in den Resten des Hauses. Sein rechtes Bein war vollkommen zerfetzt. Er schrie wie ein Tier. Vielleicht wie eine Hyäne. Dabei riss er die Augen weit auf. So, als wollten die Augen aus ihren Höhlen treten und sich an irgendwas festklammern. Daniel zog seinen Gürtel aus der Hose, um das Bein abzubinden, aber er zögerte. Das Gewebe war vollkommen zerfetzt. Er wusste nicht, wo er noch etwas hätte abbinden sollen. In diesem Moment wurden sie unter Beschuss genommen. Die Geschosse knallten links und rechts in die Reste des Hauses. Daniel zog den Gürtel so fest es ging um den Gewebematsch, der von Pöhlmanns Bein übrig geblieben war. Dann riss er das Schnellfeuergewehr hoch und jagte ein halbes Magazin in einem umfassenden Rundumschlag auf die umliegenden Hügel. So kontrolliert war er immerhin noch, nicht ein ganzes Magazin zu verschießen. Daniel wusste nicht, wo der Feind war – er wusste nur, dass es ihn gab.

Durch die Staubwolke kam Timo herangestürzt. Er feuerte wild, um Daniel und dem laut schreienden Pöhlmann Feuerschutz zu geben.

»Spar dir die Munition!«, befahl Daniel. »Wir müssen durchhalten, bis die Kampfhubschrauber da sind.«

»Wir haben keine Kampfhubschrauber.«

»Die Amis haben welche.«

Wieder feindlicher Beschuss.

Timo und Daniel feuerten Schulter an Schulter zurück. 

Dann gingen sie in die Hocke und wechselten die Magazine. Rechts von ihnen ebenfalls Schüsse. Mündungsfeuer. Überlebende aus Adler 1. Beruhigend, dass es andere Überlebende gab.

Timo rannte zurück zum Auto, um einen weiteren Hilferuf abzusetzen. Von der Beifahrerseite aus angelte er sich das Mikrofon des Funkgeräts.

Pöhlmanns Körper zitterte. Zu viel Blut. Immer noch zu viel Blut.

Daniel suchte in Pöhlmanns zerfetztem Bein nach einer Hauptschlagader, die er zudrücken konnte. Zunächst fand er keine. Bis er sich zwang hinzuschauen. Er quetschte das Gefäß mit Daumen und Zeigefinger zusammen.

So fühlen sich Sicherheits- und Aufbaumissionen an, dachte Daniel.

Timo war hinter der Panzerung des Eagle in Deckung gegangen. Auf der Beifahrertür leuchtete das grüne ISAF-Logo mit der Aufschrift Hilfe & Kooperation in paschtunischen Schriftzeichen.

»Ich werde nicht in Afghanistan sterben!«, brüllte Timo.

»Ich auch nicht«, flüsterte Daniel. Mit aller Gewalt drückte er Pöhlmanns Hauptschlagader zusammen, aber immer noch strömte Blut über seine Hand. Einschüsse links und rechts von ihm. Gesteinsbrocken trafen ihn an der Schulter und am Kinn. Pöhlmann hatte die Augen weit aufgerissen. Daniel versuchte, Pöhlmanns Blick zu erwidern, bis er es einfach nicht mehr aushielt.

Hof, Regierungsbezirk Oberfranken (Deutschland), ein Jahr später

Dienstag

Daniel saß entspannt im Regenmantel auf der Ledercouch. Jedenfalls so entspannt, wie er konnte. Wie immer bereitete es Mühe, locker zu sein. Und nicht abgesichert. Die Arme auf der Rückenlehne ausgebreitet. Der warme Frühlingsregen klopfte auf seine geschlossenen Augenlider. Seit Afghanistan wusste Daniel Regen zu schätzen. Und alle anderen unbeständigen Wetterlagen in gemäßigten Klimazonen. Dass sich das launische Aprilwetter dieses Jahr bis weit in den Mai hielt, gefiel ihm. Daniel fuhr mit den Fingerspitzen über das Leder. Die Feuchtigkeit fühlte sich gut an. Organisch. Als gäbe es keinen Staub, der sich zwischen ihn und die Couch schieben könnte. Staub war woanders.

Das Quietschen des Gartentors. Es müsste längst einmal geölt werden. Daniel erkannte am Rhythmus der Schritte den Besucher. Er hätte die Augen geschlossen halten können, aber er öffnete sie. Sicherheitshalber. Einen Mangel an Sicherheit konnte er nicht akzeptieren. Er sah Maik auf dem Trampelpfad durch die kniehohen Brennnesseln kommen. Die Hände in den Hosentaschen vergraben. Und die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Wasser tropfte von den Haarspitzen, die unter der Kapuze hervorlugten. Ihm schien der Regen nicht halb so viel Spaß zu machen wie Daniel. Beide nickten sich kurz zu, dann setzte sich Maik wortlos neben seinen Freund auf die Ledercouch. Eine Zeit lang schwiegen beide und starrten den großen, leblosen Plasma-Fernseher an, der vor ihnen im Gras stand.

»Glaub mir«, sagte Maik schließlich, »das Programm wäre auch mit einem funktionstüchtigen Fernsehapparat nicht besser. Ständig wird irgendein Superstar, ein Topmodell oder eine andere Dumpfbacke gesucht. Zombies, die sich von ein paar Arschlöchern vorschreiben lassen, wie ihr Leben auszuschauen hat.«

»Ich glaube, Leben kann man bei Zombies nicht sagen. Die sind doch schon tot. Untot.«

Maik dachte kurz nach.

»Vielleicht würde dir das sogar Spaß machen.«

»Was? Untot sein?«

Bin ich doch, dachte Daniel.

»Fernsehen«, antwortete Maik. »Immerhin hast du als Zuschauer die Macht, die ganzen Casting-Monster sofort wieder zurück in den Hades des Vergessens zu treiben, wenn du eine SMS schickst.«

»Und was sollte mir daran Spaß machen?«

»Das Vergessen.«

Maik starrte weiter auf den Flachbildschirm, während Daniel seinen Blick wandern ließ. Antrainierte Routine. Immer aufmerksam bleiben. Der Garten war verwildert. Sah ein bisschen so aus, als würde Dornröschen schon ein paar Jahre in einem Einfamilienhaus mit Zinkdach und Solaranlage schlafen. Am Anfang hatten sich ein paar Nachbarn beschwert wegen des Unkrauts, das andere Grundstücke infiltrierte. Seit alle wussten, dass Daniel Deutschland am Hindukusch verteidigt hatte, verhielten sie sich ruhig. Vielleicht aus Respekt. Oder weil sie Angst hatten. Immerhin war Daniel kampferprobt. Und gut ausgebildet. Oder weil sich die Nachbarn eingestanden hatten, dass ein paar Opfer erbracht werden müssen, wenn die Demokratie verteidigt wird. Das Zusammenleben mit Unkraut beispielsweise.

»Die Couch hält unserem Klima erstaunlich gut stand«, sagte Maik.

»Ich weiß nicht, was du gegen unser Klima hast.«

»Nichts. Es ist halt da.«

»Das ist Leder. Leder braucht Feuchtigkeit.«

»Kommt vielleicht auf die Menge an. Kann Leder schimmeln?«

»Keine Ahnung. Warten wir’s ab.«

»Also, die Schaumstofffüllung schimmelt bestimmt früher oder später.«

Maik versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden, aber das Feuerzeug kapitulierte vor dem Regen. Statt einer Flamme gab es nur ein nerviges Klack-Klack-Klack-Geräusch von sich. Seufzend packte Maik das Feuerzeug zurück in die Tasche. Er lehnte sich mit der unangezündeten Zigarette im Mundwinkel zurück. Langsam weichte das Papier durch und die ganze Zigarette bog sich melancholisch nach unten.

»Der Flachbildschirm ist auf jeden Fall im Arsch«, sagt Maik.

»Das Programm ist angeblich scheiße.«

»Stimmt schon.«

»Er ist immer noch dekorativ.«

»Ja, Panasonic hat ein gutes Design.«

Daniel und Maik starrten beide auf den Fernseher. Wenn man nebeneinander auf einer Couch sitzt, schaut man unweigerlich früher oder später auf den Bildschirm, selbst wenn er defekt ist. Maik nahm die durchgeweichte Zigarette aus dem Mundwinkel, strich sie glatt und versuchte, sie zurück in die Packung zu stecken. Nach mehreren gescheiterten Anläufen warf er die kaputte Zigarette in den Nachbargarten.

»Die Stehlampe ist auch hinüber«, sagte Maik.

»Auch dekorativ. Hier draußen vielleicht sogar dekorativer als im Wohnzimmer.«

»Hasst du die Stehlampe?«

»Warum sollte ich die Stehlampe hassen?«

»Wenn ich mich recht erinnere, hat sie Melanie gekauft. Bei Ikea.«

»Ich hab nichts gegen Schweden, nicht mal was gegen Ikea. Und den anderen Namen wollten wir hier nicht mehr erwähnen.«

»Aber den Namen gibt’s.«

»Ja, den Namen gibt’s.«

»Glaubst du ernsthaft, es fiele dir leichter, sie zu vergessen, wenn wir ihren Namen nicht mehr sagen?«

»Nein. Glaube ich nicht.«

Die beiden Männer glotzten noch eine Weile in den Regen. Maik ließ den Niederschlag über sich ergehen. Daniel war zufrieden mit ihm. Der Regen tat so, als wäre kein Daniel da.

»Was hast du heute noch vor?«, fragte Maik.

»Das Dienstagsprogramm.«

Jeden Tag ein festgelegtes Programm. Das war Daniel wichtig. Montags eine Fahrradtour zu einem stillgelegten Steinbruch. Von oben sahen die verrosteten Überbleibsel der Maschinen so klein aus, als würden Ameisen damit arbeiten. An den freigelegten Felsen Kletterversuche. Dienstags der Besuch beim Psychologen. Posttraumatische Belastungsstörung. Reden, obwohl Daniel Gesprächen nicht vertraute. Damit konnte man sich verraten. Anschließend joggen zu den Fischteichen im Norden. Mittwochs sein kleiner Privat-Triathlon. Mit dem Rad zum Naherholungsgebiet. Anschließend ein Lauf um den See. Schwimmen bei jedem Wetter, solange der See nicht zugefroren war. Eine Handvoll Spaziergänger hatte ihn bei seinem Versuch, eine zwanzig Zentimeter dicke Eisschicht mit seinem NATO-Kampfmesser aufzuklopfen, blöd angeglotzt. Um sechzehn Uhr das von der psychologischen Beratungsstelle betreute Treffen mit seiner Tochter Lea. Am Donnerstag ein Geländelauf südlich im Wald. Parcoursmäßig immer den schwierigsten Weg mit Klettereinlagen, Sprüngen und anderen Gelegenheiten für Knochenbrüche. Ein paar Mal hatte er sich schon üble Prellungen zugezogen, aber Frakturen konnte er bisher vermeiden. Am Freitag Hallenbad mit Sauna. Beim Schwitzen stellte sich Daniel immer vor, wie das ganze Gift aus ihm entwich. Am Samstag zum Wochenmarkt mit dem Fahrrad. Regionale Anbieter. Gesundes Essen. Falls noch Platz im Rucksack war, anschließend einen Abstecher in die Stadtbücherei. Abends der Versuch, in die Kneipe zu gehen. Das klappte nicht immer. Zu viele Personen an einem Ort waren ein perfektes Ziel für Attentäter. Wenn er es doch fertigbrachte, sich an einen Tresen zu stellen, konnte er meist seinem Gesprächspartner nicht folgen, weil er immer mit einem Ohr bei den anderen Gästen war. Die Gesprächsfetzen umschlangen sich und irgendwann gab es einen Knoten. Am Sonntag ein Lauf zur Burgruine am Kornberg. Immerhin siebzehn Kilometer östlich. Luftlinie. Genau genommen südöstlich. Daniel hatte es sich zur Aufgabe gemacht, innerhalb einer Woche alle Himmelsrichtungen abzudecken. Hin und zurück war die Burgruine fast Marathondistanz. Luftlinie konnte man nicht laufen, weil sich immer ein Hindernis fand. Eine anspruchsvolle Strecke mit vielen Steigungen, von denen man sich auch beim Bergablaufen nicht wirklich erholen konnte. Vor allem, wenn man die Strecke kannte. Bergab dachte man ununterbrochen an den nächsten Anstieg. Am Sonntagabend nach dem Duschen ins Kino. Nur gewaltfreie Filme. An romantische Komödien musste Daniel sich erst einmal gewöhnen. Ständig Brautkleider. Ständig eine Hauptdarstellerin, die nicht sexy war. Wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hatte, ging es. Obwohl das Kino vermintes Gelände war. Bei jedem Rascheln einer Popcorn-Tüte zuckte Daniel zusammen. Zu viel Popcorn um ihn herum. Zu viele Menschen. Unkontrolliert. Selbst im großen Saal mit viel Beinfreiheit. Orte, an denen sich Menschen treffen, waren ein bevorzugtes Anschlagsziel. Der Kinobesuch war Teil der Therapie. Der Angstpatient, also ich, dachte Daniel, muss sich mit den angstauslösenden Reizen konfrontieren. Doktor Hamann fragte zu Beginn jeder Sitzung nach dem Kino.

Außerdem jeden Abend ein langes Telefongespräch mit Timo. Seit ihrer gemeinsamen Zeit in Afghanistan war der Kontakt nie abgerissen. Sie waren sich wichtig. Zuviel miteinander erlebt, um es anderen Menschen erklären zu können. Anderen, die nicht dabei gewesen waren.

Maik stand auf.

»Ich finde es wichtig, dass du eine geregelte Tagesstruktur hast«, sagte er.

Daniel schaute Maik skeptisch an.

»Hört sich an, als wäre ich ein Pflegefall. Für Demenzkranke ist Tagesstruktur wichtig.«

»Für alle ist Tagesstruktur wichtig«, antwortete Maik, als wäre er ein überzeugter Verfechter geregelten Lebens.

»Sagt der Meister aufgeräumten Daseins. Was steht auf deinem Dienstagsprogramm?«

»Du weißt, dass ich es lieber ein bisschen spontan angehe. Spontaneität ist meine Ordnung. Später muss ich noch ein paar Pakete zur Post bringen.«

Maik war Mitte vierzig und vertickte Vinyl-Schallplatten über diverse Auktionsplattformen im Internet. Deshalb trieb er sich regelmäßig in Secondhandläden, bei Wohnungsauflösungen und auf Flohmärkten herum, um den Leuten ein paar Schmuckstücke abzuluchsen, deren Wert unerkannt geblieben war. Er jagte Schnäppchen, die viel zu billig abgegeben wurden. Oder am besten gleich gratis. Am allerliebsten erwarb er ganze Schallplattensammlungen. Da war immer was dabei. Die meisten wollen irgendwann, dass Platz wird in ihrem Leben. Wenn es so weit ist, verkaufen sie als Erstes die Plattensammlung. Vinyl hat ein ganz schönes Gewicht. Maik trug es bereitwillig weg. Um es anschließend an Fetischisten zu verticken, die bereit waren, für die Original-Heros-LP von David Bowie einen dreistelligen Betrag zu investieren. Früher hatte Maik auch mit CDs gehandelt, aber seit jeder Hirni mit ein paar Mausklicks Musik aus dem Internet saugen konnte, war der Markt zusammengebrochen. Dank seines Wochenplans wusste Daniel, dass es ein Freitag gewesen sein musste, als Maik mit einem teuren Rum und Cola zu ihm kam und mit feierlicher Stimme proklamierte: »Das Zeitalter des digitalen Tonträgers ist vorbei!« Anschließend folgte ein gepflegtes Cuba-Libre-Besäufnis, das einen Schlussstrich unter Maiks Aktivitäten auf dem CD-Markt zog.

»Ich hab heute achtzig Euro eingenommen mit einer Picture-Vinyl-Platte von Rammsteins Fühle mich«, sagte Maik stolz.

»Was ist auf dem Bild?«

»Ein Typ, ich glaub, ein Samurai. Er verprügelt eine Frau, mollig. Er schlägt ihr auf den nackten Arsch.« Maik zögerte. »Sie hat eine Tüte über dem Kopf. Tut mir leid.«

»Was tut dir daran leid?«

»Das mit der Tüte.«

Daniel verdrehte die Augen.

»Ich war ein Deutscher in Afghanistan, okay? Kein Ami in einem irakischen Folterknast.«

»Tut mir leid. Ich wollte dich nicht aufregen.«

»Du regst mich nicht auf«, schrie Daniel.

»Entschuldigung. Wenn man an eine Papiertüte denkt, die über den Kopf eines nackten Menschen gezogen wurde, hat man immer die Bilder aus Abu Ghraib im Kopf. Die Soldatin mit einem Gefangenen an der Hundeleine. Darauf hat Rammstein spekuliert. Auf die Bilder. Gutes Marketing.«

»Als Melanie noch nicht den Computer aus dem Haus geschleppt hatte, spielte ich am liebsten Civilization. Das war gut für mich. Ich war schon immer ein Geschichts-Fan. Zocken und Geschichte passt für mich. Weltwunder bauen. Hängende Gärten. Pyramiden. Freiheitsstatuen. Eine Nation von der Steinzeit bis zum Weltraumflug führen.«

»Ja, und wie kommst du jetzt da drauf?«, fragte Maik.

»Wegen dem Samurai. Meine Lieblingszivilisation waren die Japaner. Staatsoberhaupt: Tokugawa. Während des Tokugawa-Shogunats entfaltete Bushido, der Verhaltenskodex der Samurai, seine größte Blüte.«

»Du hast eindeutig zu viel Discovery Channel gesehen, als der Fernseher noch nicht durchgeweicht war.«

»Ein wahrer Samurai sollte frei von jeder Angst sein und keinen Grund haben, krampfhaft am Leben festzuhalten. Für ihn ist es gleich, ob heute oder morgen sein letzter Tag ist. Seine Bereitschaft zu töten sollte ebenso gefestigt sein wie seine Bereitschaft, selbst in den Tod zu gehen.«   

Maik nickte.

»Gegen mich hast du Civilization aber mit den Ägyptern gespielt.«

»Damit es schneller geht.«

»Du hast meine ersten Siedlungen mit einem einzigen Streitwagen plattgemacht, weil die Ägypter auffrisierte Streitwagen mit einer fiesen Spezialfähigkeit hatten.«

»Das mit der Spezialfähigkeit hätte ich dir fairerweise sagen sollen. Allerdings stationiert man auch immer einen Krieger zum Schutz der Städte, da hast du gepennt.«

»Ich muss jetzt gehen. Die Rammstein-Platte verschicken.«

Maik stand auf. Mitten in den Brennnesseln drehte er sich noch mal um. Er lächelte und hob die Hand zum Gruß. Der Regen war unnachgiebig. Maiks Kleidung klebte an der Haut und ließ ihn noch dünner aussehen. Er sah vollkommen lächerlich aus. Daniel musste laut lachen. Maik schien sich darüber zu freuen. Er winkte stärker.

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