Elfenzeit 6: Zeiterbe - Uschi Zietsch - E-Book

Elfenzeit 6: Zeiterbe E-Book

Uschi Zietsch

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Beschreibung

Das Ende aller Welten naht! Die Elfenzwillinge Rian und David werden trotz Verbot auf eine Reise in die Vergangenheit geschickt, zum Zeitpunkt einer bedeutenden Sonnenfinsternis. Der Untergang sämtlicher Welten droht, und es scheint nur noch einen zu geben, der dies verhindern kann: Merlin! Der seit Jahrhunderten im Bannschlaf gefangene Magier soll befreit werden, um die Gegenwart zu retten. - Premiere des exklusiv neu verfassten 11. Romans! - Unterdessen hat es Nadja nach Island verschlagen, dem Land aus Feuer und Eis. Odin selbst will sie davor bewahren, mit in den Untergang gerissen zu werden. Denn auf dem Idafeld hoch in den Sphären treten alle an: Elfen, Walküren, Eisriesen, Einherier und wie sie alle heißen. Zehntausende rüsten sich zur letzten Schlacht, denn der Fenriswolf wird erweckt und Ragnarök zieht auf. Zwei umfangreiche Romane in einer Ausgabe – Spannung pur! Geh mit auf die große Reise um die Welt, lerne berühmte Städte kennen, springe von Kontinent zu Kontinent und erfahre die wahre Geschichte der vielen mythischen Helden, Götter und Schöpfer. Band 6 von 10 der größten Urban-Fantasy-Saga.

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Seitenzahl: 766

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Inhalt

Titelseite

Die Autoren:

Impressum

Karte

Was bisher geschah

Dramatis personae

Roman 11 Merlins Rückkehr

Prolog

1. Reise nach Rennes

2. Den Feind im Nacken

3. La Porte des Secrets

4. Kobolde auf Abwegen

5. Das Schloss der Dunklen Königin

6. Verfolger im Nacken

7. Nimues See

8. Bandorchus Ausflug

9. Der magische Wall

10. Die letzte Drohung

11. Salziger Nebel

12. Elfenspiele

13. Die Strafe

14. Gesucht und nicht gefunden

15. Das Portal

16. Der Wald von Brocéliande

17. Die Überfahrt

18. Eine nagende Frage

19. Auf den Spuren der Tochter

20. Die Herrin der Korrigans

21. Späte Erkenntnis

22. Von Heimweh und Angst

23. Merlins Grab

24. Die Sonnenfinsternis

25. Späte Rache

26. Tiefer Schlaf

27. Quell der Ewigen Jugend

28. Tal ohne Wiederkehr

29. Eloise

Epilog

Roman 12 Ragnarök

1. Der Attentäter

2. Mitternachtssonne

3. Der Anschlag

4. Isländischer Geburtstag

5. Der Schrei nach Vergeltung

6. Der fremde Reiter

7. Fanmórs Rache

8. Der Amerikaner und der Schotte

9. Der Pantalone

10. Der Weg nach Asgard I

11. Der Weg nach Asgard II

12. Die Forderung

13. Der Kampf beginnt

14. Der Wolf

15. Weltendämmerung

16. Der Sohn des Frühlingszwielichts

17. Die Innamorati

18. Schneefall

Epilog

Anhang

Wie es weitergeht …

Titelseite

Jana Paradigi Uschi Zietsch
Elfenzeit
Band 6
Zeiterbe
Das Ende aller Welten naht!

Die Elfenzwillinge Rian und David werden trotz des Tabus auf eine Reise in die Vergangenheit geschickt, zum Zeitpunkt einer bedeutenden Sonnenfinsternis. Der Untergang sämtlicher Welten droht, und es scheint nur noch einen zu geben, der dies verhindern kann: Merlin!

Der seit Jahrhunderten im Bannschlaf gefangene Magier soll von ihnen befreit werden, um die Gegenwart zu retten. Aber wo befindet er sich?

Unterdessen hat es Nadja nach Island verschlagen, dem Land aus Feuer und Eis. Odin selbst will sie davor bewahren, mit in den Untergang gerissen zu werden. Denn auf dem Idafeld hoch in den Sphären treten alle an: Elfen, Walküren, Eisriesen, Einherier und wie sie alle heißen. Zehntausende rüsten sich zur letzten Schlacht, denn der Fenriswolf wird erweckt und Ragnarök zieht auf.

Mitten in den vernichtenden Kampf hinein erklingt der Schrei eines Neugeborenen: Der Sohn des Frühlingszwielichts, die letzte Hoffnung auf Frieden …

Die Autoren:

Jana Paradigi lebt und schreibt in Österreich, sie schreibt erfolgreich in verschiedenen Genres, unter anderem auch für die Endzeit-Saga MADDRAX. www.janaparadigi.de

Uschi Zietsch

Impressum

Dieser Titel ist auch als Paperback erschienen. Bildmaterial: kellepics/Stefan Keller Gestaltung und Logo: Michael Steinmann Agentur Die Karte schuf Dirk Schulz Lektorat und Redaktion: Uschi Zietsch Handlungsrahmen und Serienkonzept: Uschi Zietsch © dieser überarbeiteten und erweiterten Ausgabe 2020 by Fabylon Verlag www.fabylon.de eMail: [email protected] Originalausgabe. Alle Rechte vorbehalten. ISBN: 978-3-946773-28-3

Karte

Was bisher geschah

Die Dunkle Königin Bandorchu ist frei, die Grenzen des Schattenlands offen. Bei dem ersten Aufeinandertreffen zwischen Bandorchu und Fanmór am Zeitgrab von Newgrange endet der Kampf unentschieden – die Menschenwelt muss geschützt werden, damit das Gefüge nicht auseinanderbricht, und die Dunkle Königin hat noch nicht genug Macht und zu wenige Kämpfer, um bis zum Äußersten zu gehen. Die beiden Herrscher trennen sich unversöhnt. Bandorchu macht sich mit ihren Anhängern auf den Weg, ein neues Schloss zu errichten – wo, weiß niemand.

Während der Wirren hat der Getreue Nadja Oreso entführt. Bereits hochschwanger, wird sie Gefangene des Elfenmaharadschas von Jangala und Opfer der Eifersucht seiner ersten Frau, die ihr viele Prüfungen auferlegt, bis sie die vermeintliche Rivalin endlich freigibt. Sie öffnet Nadja ein Tor – doch wohin?

David darf sich nicht auf die Suche nach Nadja machen, sondern erhält den Auftrag, seine Schwester Rian nach Frankreich zu begleiten, zum See von Nimue.

Unterdessen heften Lan-an-Schie, bekannt als Anne Lanschie, und ihr nunmehr zum Vampir gewordener Gefährte Robert Waller sich an die Fersen der beiden mörderischen Verbündeten Saul Tanner und Darby O’Gill/Alebin.

Mit diesem Band wird ein bedeutender Wendepunkt der Serie erreicht. Nichts wird danach mehr so sein, wie es war …

Dramatis personae

Nadja Oreso steht im Brennpunkt der Geschehnisse. Ihre Bedeutung in der heraufziehenden Götterdämmerung ist unermesslich – für alle Welten und alle magischen Wesen, seien es nun Elfen, Dämonen oder Götter.

Talamh, der Sohn des Frühlingszwielichts, wird mitten in die Götterdämmerung hinein geboren – und die Welten stehen still.

Merlin ist eng mit der Artussage verbunden. Als Königsmacher bekannt, der das zerrissene Land einen will, weiß man so gut wie nichts über ihn. Über seine Mutter gibt es verschiedene Annahmen und noch mehr über seinen Vater. Man ist sich nicht einmal sicher, ob er ein Mensch ist.

Nimue, die Herrin vom See, Hüterin des Schwertes Excalibur, ist unter vielen weiteren Namen und Bezeichnungen bekannt. Die Ziehmutter von Lancelot ist untrennbar mit der Artussage verbunden.

Rhiannon/Rian Bonet wird als Heilerin gebraucht, doch sie stößt an die Grenzen ihrer Macht.

Dafydd/David Bonet weiß noch nicht, ob er seine Seele, die Nadja ihm geschenkt hat, weiterwachsen lassen soll oder sich angesichts des nahenden Krieges in der Anderswelt auf seine elfischen Wurzeln besinnen soll.

Pirx trägt seit Sizilien ein schreckliches Geheimnis mit sich herum, das ihn quält.

Der Grogoch, genannt Grog, trägt ebenso schwer an dem Geheimnis, das ihn zum Schweigen verdammt.

Edmond Halley, 8.11.1656-25.1.1742, war Astronom, Mathematiker, Kartograph, Geophysiker und Meteorologe. Er hat in Oxford studiert und bereits mit 21 Jahren eine Methode zur Bestimmung der Planeten publiziert. Als fortschrittlicher Wissenschaftler, Multitalent und Entdecker könnte er sich unter den Strenggläubigen eine Menge Feinde gemacht haben. Sein Name ist heute noch geläufig durch den von ihm erstmals entdeckten Halleyschen Kometen. Er ist mit Newton seit 1684 bekannt.

Sir Isaac Newton, 4.1.1643-31.3.1727, ist aus der Mathematik und Physik nicht mehr wegzudenken, dazu war er auch noch Alchemist, Naturforscher und vieles andere. Er hat in Cambridge studiert und gelehrt.

Der Getreue steht im Dienst Bandorchus, obwohl er sie mit Nadjas Entführung hintergangen hat. Seine wahren Motive sind weiterhin ebenso unbekannt wie seine Identität.

Der Kau und Cor, der Spriggans – die beiden sind auch nach dem Fall des Schattenlands Helfer des Getreuen, boshafte Geschöpfe, die sich um niemanden scheren.

Die Innamorati:

Fabio Oreso/Fiomha Samtmund, Nadjas Vater, hat sich einst eine Seele wachsen lassen und ist zum Menschen geworden, um seine seit mehr als zweitausend Jahren ewige Liebe Julia, die Wandernde Seele, zu finden und mit ihr zusammenzuleben.

Julia Oreso/ Donna Letitia, die Wandernde Seele. Niemand weiß, wie alt sie ist und wie viele Leben sie geführt hat. Es ist daher besser, sich nicht mit ihr anzulegen.

Bandorchu, die Dunkle Königin, ist frei – und dabei, die Menschenwelt zu erobern.

Regiatus, der Cervide, wird einen unendlichen Schmerz erleiden.

Die Blaue Dame, Herrscherin des Loch Ness, kämpft für Nadja.

Ainfar, der Tiermann, ist an den Hof der Crain zurückgekehrt.

Gofannon, der dickliche alte Gott ist immer noch Fanmórs Bóon unterworfen und hofft endlich auf seine Freiheit.

Robert Waller wurde durch Annes Biss zu ihrem Gefährten – er ist nun ein Vampir mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Er ist einzigartig, genau wie Anne.

Anne Lanschie/Lan-an-Schie hat sich zum ersten Mal in ihrem langen Leben einen Gefährten erschaffen.

Tom Bernhardt

Roman 11 Merlins Rückkehr

Jana Paradigi

Prolog

Sonntag, 14. April 1715

Flor schritt mit blinder Sicherheit durch den nachtschwarzen Wald. Es war Neumond. Der kleine, fahlweiße Himmelstrabant hatte sich zwischen Sonne und Erde geschoben und zeigte den Menschen seine dunkle Seite.

Die Unwissenden verkrochen sich in solchen Stunden in ihren Häusern. Von der Furcht getrieben, das Böse könnte aus den Schatten steigen und sich ihre Seelen einverleiben. Weil sie Sünder waren. Sie alle. Das zumindest wollte die christliche Kirche ihnen glauben machen. Um die natürliche Wahrheit zu verschleiern. Um die Magie zu unterdrücken, die in jedem einzelnen steckte. Eine Macht, die einem neben der sichtbaren eine viele größere Welt offenbarte. Eine, die dem glaubenden Geist erlaubte, mit dem Universum zu tanzen!

Für Flor war diese Nacht der vollkommenen Dunkelheit ein Moment, um zusammen mit den anderen neue Energie zu tanken. Etwas Großes stand bevor. Und dies war die Stunde, in der es beginnen würde.

Das wuchernde Moos auf den Schiefersteinen dämpfte die Schritte. Flor konnte die feuchte Kühle durch die dünnen Ledersohlen spüren. Nach der langen Winterruhe war die Natur dabei, sich unter einer wärmer werdenden Sonne aufzurichten. Neue Triebe verströmten ihren süßen Duft, als Zeichen, dass sie für die Insekten im Tausch Nektar bereithielten. Selbst der Boden hatte eine intensive erdig-würzige Note.

Falter schwirrten zwischen den mächtigen, alten Stämmen des Waldes auf und ab, hin und her gerissen zwischen der Sehnsucht nach dem Mond und den Verlockungen auf der Erde.

Flor lauschte dem leisen Zirpen, Surren und Brummen. Dem Klappern und Ächzen der Bäume, wenn sie von den Windböen getragen und geschaukelt wurden. Eine Symphonie der Nacht, heilige Musik und sakrale Einstimmung für das anstehende Ritual.

Ohne Zögern, beseelt von göttlichem Urvertrauen, lief Flor weiter durch den Wald, den Pfad entlang bis zum Versammlungsplatz. An dieser Stelle öffnete sich das Gehölz und formte eine kleine Lichtung. Der Quell ewiger Jugend plätscherte leise im Hintergrund. Doch auch hier hüllte der Neumond alles in tiefes mattschwarzes Dunkel.

Flor hielt inne, konzentrierte sich, sandte die Sinne über den engen Schutzradius des Körpers hinaus, um Ausschau nach den anderen zu halten. Allein die Körperwärme verriet sechs weitere Personen, die in einem Halbkreis standen. Sie waren vollzählig.

Auch die Wartenden schienen Flor bemerkt zu haben. Es raschelte, als jemand sich bewegte. Der heranwehende Geruch von Pech und verdicktem Öl drängte den Duft des Waldes zurück. Die Zeremonie nahm ihren Anfang.

Als die vorbereitete Glut auf die Feuerstelle geschüttet wurde, stoben grellweiße Funken auf und ließen die Umrisse der anderen erkennen. Die erste Fackel wurde entzündet und auf dem vorbereiteten Ständer angebracht, gefolgt von zwei weiteren.

Jetzt erst erkannte Flor, dass auf dem Boden die heilige Schutz-Sigille mit einer breiten Spur aus Salz aufgebracht worden war. Ein Kreis als stilisiertes Bildnis des Schlangeneis durchbrochen von zwei parallelen Linien, die für das Zweiersymbol des Mondes standen.

Flor griff nach dem Amulett unter dem Kapuzengewand, um nicht den Mut zu verlieren. Jedes Mitglied besaß solch ein Kleinod mit einer ganz eigenen Sigille, um die persönlichen Fähigkeiten zu verstärken. Ein Geschenk, das man zur Weihe erhielt. Damit wurde der eigene Weg innerhalb der Gildengemeinschaft festgelegt.

Flor hatte sich für jenen entschieden, der Wissen und auch Gefahr mit sich brachte. Ein Weg, der innige Gefolgschaft verlangte. Treue, Gehorsam und Mut. Die Courage, ein Opfer zu bringen, wenn es nötig war und mit dem Leben für die Werte und das Überleben der Gemeinschaft einzustehen. Diese Nacht würde die Erneuerung des Schwurs fordern. Und mehr.

Niemand sprach, als die Mitglieder sich im Kreis aufstellten. Sieben Geweihte für sieben Zacken eines Heptagramms. Mit Hilfe von Erde, Wasser, Feuer, Luft, Energie, Geist und Seele würden sie um göttlichen Beistand bitten und die Ahnen anrufen, sich ihrem Ansinnen anzuschließen. Eine Erneuerung stand bevor. Die kosmische Konvergenz, für die sie auserwählt worden waren. Die Zeit war gekommen. Die Prophezeiung würde sich erfüllen.

Gemeinsam intonierten die sieben Wächterseelen die uralten Worte, während der Mond sein Gesicht verbarg. Als es nach sieben mal sieben Strophen endete, griff Flor nach dem vorbereiteten Beutel, entknotete das Lederband und zog es auseinander.

Ein Mitglied nach dem anderen warf sein Opfer in die Glut. Als Letztes war Flor an der Reihe. Die Kräuter und Pflanzenteile verdampften unter vielfachem Zischen und gaben ihren innewohnenden Geist frei.

Am Ende trat Cormae vor an die Feuerstelle und zückte den Zeremoniendolch. Das Zeichen für die anderen, ebenfalls vorzutreten. Noch immer brannten die Gaben auf der Glut und hoben sich in schlanken Rauchschwaden empor. Das überbordende Geruchsgemenge raubte Flor schier den Atem. Die Welt begann zu schwanken.

Einen Augenblick lang flimmerte die Wirklichkeit. Dann war da Cormaes Hand, die Flor fest am Arm packte und ins Hier und Jetzt zurückholte. Ein Mitglied nach dem anderen ergriff den Dolch, krempelte den Ärmel der Kutte hoch und nährte das Ritual mit Blut.

Erneut stimmte Cormae sakrale Ferse an, Beschwörungsformel und zugleich Gebet. Eine Danksagung für die Gnade, die die Bürde mit sich brachte. Dann war es soweit. Cormae beugte sich vor und flüsterte Flor den zugedachten Auftrag ins Ohr.

1. Reise nach Rennes

Dublin, Irland

David und Rian saßen in der Abflughalle von Gate 418 am Dublin Airport und warteten auf ihren Flieger nach Rennes. Sie folgten einem Ruf, den sie nicht ignorieren konnten. Ob sie wollten oder nicht.

Nadja war indes immer noch verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Alles in David schrie danach, sich unverzüglich auf die Suche nach ihr zu machen. Doch es ging nicht. Noch nicht. Der Dame vom See schlug man keine Bitte ab, egal wie groß oder klein sie sein mochte.

Die Regeln der Anderswelt waren in solchen Dingen unmissverständlich und streng. Obwohl sich Davids stückchenweise gewachsene Seele nach Nadja verzehrte, er sich sorgte und nichts mehr als ihre Unversehrtheit und Nähe herbeiwünschte, war die elfische Seite seines Selbst noch immer an die Sippe der Sidhe Crain gebunden. Ihren Regeln hatte er unbedingt zu gehorchen. Deshalb waren sie auf dem Weg nach Frankreich.

Nimue, Viviane, Herrin vom See, Hüterin der Quelle oder Königin des Wassers, wie sie in den verschiedenen Welten gerne genannt wurde, gehörte zu den Alten und Erhabenen. Eine göttergleiche Fee, so geheimnisvoll und unergründlich, dass selbst die Crain nicht viel über sie wussten. Bis auf jene Geschichten, die sich auch die Menschen in Mythen, Märchen und Liedern erzählten.

Vor langer Zeit hatte Nimue es gewagt, in die Geschicke Britanniens einzugreifen. Als Hüterin des Schwertes Excalibur hatte sie viele der Fäden gezogen, war Mitwisserin und Mitwirkende in jenem Drama gewesen, das König Artus und die Tafelrunde zu einer Legende hatte werden lassen. Unter anderem, weil sie Lancelot in ihrem sagenumwobenen Reich im See aufgezogen hatte.

Seit jenen längst vergangenen Tagen war sie nicht mehr gesehen worden, weder bei den Menschen noch in der Anderswelt. Bis vor kurzem hatte kaum jemand mit Sicherheit sagen können, ob sie überhaupt noch lebte. Bis die Blaue Dame David und Rian die Botschaft ihrer Schwester überbracht hatte.

Dennoch überraschte es David ganz und gar nicht, dass Nimue die Zeit überdauert hatte und weiterhin, wenn auch aus größerer Entfernung, Anteil an den Geschicken der Menschenwelt nahm. Doch warum würde ein so mächtiges Wesen Rian bitten, ihr mit heilkundiger Hand beizustehen? Litt auch sie an dem Verlust der Unsterblichkeit? Oder erhoffte sie sich anderweitig Unterstützung?

Und was hatte der Ruf um Hilfe damit zu tun, dass den Worten der Blauen Dame zufolge jemand versuchte, Merlin zu wecken?

»Hör auf, missmutig vor dich hin zu starren. Das steht dir nicht«, sagte Rian und grinste ihn von der Seite an. Ihre immerwährende Fröhlichkeit war Fluch und Segen zugleich. Wie schmal der Grat dazwischen sein konnte, merkte David besonders, seit er sich mit menschlichen Gefühlen herumschlagen musste. Stück für Stück weckte die wachsende Seele in ihm Gemütszustände, die mal verwirrend, mal ungewohnt berührend und manchmal auch schrecklich nervig waren.

»Ich halte diese Warterei einfach nicht aus«, gab er mit knurrigem Unterton zurück. »Wer weiß, was Nadja gerade alles durchmacht, seit der Getreue sie entführt hat.«

»Du sagst es! Wir wissen es nicht. Weder, wie es ihr geht, noch, wo sie steckt. Also geh nicht immer gleich vom Schlimmsten aus«, erwiderte seine Schwester.

Eine Tonband-Stimme vermeldete, dass der Aer Lingus Flieger EI1011 nun zum Einsteigen bereit sei und das Boarding in wenigen Augenblicken beginnen würde.

»Nadja wird sich wie immer wacker schlagen. Wenn der Getreue sie Bandorchu vor die Füße hätte werfen wollen, hätte er in Newgrange die perfekte Gelegenheit dazu gehabt. Doch er hat es vorgezogen, mit Nadja zu verschwinden. Warum? Das werden wir bald erfahren.«

»Gleich wäre mir lieber«, sagte David.

Sie standen auf, reihten sich in die Warteschlange ein, zeigten ihre Bordkarten und stiegen unbehelligt ins Flugzeug. Mit ihrem natürlichen Charme und etwas Elfenmagie hatte Rian ihnen zwei Plätze in der ersten Klasse besorgt. Vielleicht um wieder gut zu machen, dass David genau genommen ihretwegen zu dieser Mission gezwungen worden war. Als Begleiter und Beschützer seiner Zwillingsschwester. Denn die besonderen Heilkünste, nach denen die Dame vom See verlangte, waren allein Rians Metier. Aber vielleicht wurde Davids Schwert für das benötigt, was angeblich mit Merlin geschah … ob es stimmte, dass jemand versuchte, den Zauberer aus seinem Bannschlaf zu wecken? Wie sollte das möglich sein, da niemand zu wissen schien, wo Merlins Körper lag?

Nach dem Start des Fliegers entspannte sich David ein wenig. Er wusste sein kurzes Schwert wohlversorgt in der Gepäckablage über ihm. Die Menschen konnten es natürlich nicht als solches erkennen – nicht einmal in dem Moment bei der Sicherheitskontrolle, wenn der Scanner es anzeigte. Technik konnte nicht so leicht überlistet werden, Menschenaugen hingegen schon.

Der Blick auf die fedrig-weiße Wolkendecke unter ihm vermittelte ein Gefühl von Geborgenheit und schenkte gleichzeitig einen Hauch von Zuversicht.

Es wurde Zeit, dass David seine Gedanken auf das richtete, was vor ihnen lag. Frankreich. Die Bretagne und ein Wald, der selbst in der Menschenwelt für seine magische Ausstrahlung bekannt war: Brocéliande. Angeblich die letzte Ruhestätte von Merlin, dem größten aller Zauberer.

Ihr erstes Etappenziel war Paimpont. Gleich nebenan lag der See von Comper – Nimues See. Der Beschreibung nach befand er sich im Norden des weitläufigen Waldgebietes, das einstmals bis nach Huelgoat im Westen gereicht hatte.

Durch die Modernisierung und Urbanisierung über die Jahrhunderte hinweg stand nur mehr ein Bruchteil des Baumbestandes aus längst vergangenen Zeiten, doch die Geschichten lockten noch immer keltische Kultisten, Suchende und Touristen an. So stand es zumindest im Reiseführer, den Rian am Flughafen unnötigerweise besorgt hatte.

Ob tatsächlich aus neu erwachter Leselust oder nur um ihn zu ärgern – sie ließ keine Gelegenheit aus, ihm etwas daraus vorzulesen. Sobald sie eine nennenswerte Stelle entdeckt hatte, plapperte sie los. Und wie immer war in ihren Augen fast alles eine Erwähnung wert.

Was würde Nadja bei all dem durch den Kopf gehen?, überlegte David. Wie würde sie die weiteren Schritte planen? Denn darin war sie als Journalistin geradezu brillant. Eine der vielen Eigenschaften von ihr, die David vermisste.

Alles, was mit ihr zu tun hatte, fehlte ihm. Ihre bernsteinfarbenen Augen, wenn sie ihn auf durchdringende Art ansah. Ihr unbändiger Hunger, der Rians Gier nach Süßem ohne Zweifel Konkurrenz machte, und das, bevor Nadja schwanger geworden war.

Ihm fehlte ihre chaotische Ader, wenn es nicht gerade darum ging, ein Geheimnis zu lüften oder einen Bösewicht zu enttarnen. Denn auch wenn sie als Mensch ein bisschen schusselig war, in ihrem Beruf war sie das genaue Gegenteil. Da war sie ein Profi durch und durch. Ein Grund, warum sie sich überhaupt kennengelernt hatten. Weil sie verdammt hartnäckig sein konnte. Ein Wesenszug, der in mancher Hinsicht auch bei seiner Schwester zu finden war.

Obwohl der Flug kaum länger als zwei Stunden dauern würde, begann Rian gelangweilt auf ihrem Sitz vor und zurück zu rutschen und sich mit verdächtig glitzerndem Blick in der Kabine umzusehen.

»Untersteh dich, hier oben in der Luft irgendeinen Schabernack zu treiben«, mahnte David sie. Doch das schien sie wie immer nur noch mehr anzustacheln.

»Ich fürchte, du wirst eine Weile allein Trübsal blasen müssen. Mir steht der Sinn nach ein bisschen Abwechslung und einer anregenden Unterhaltung.« Mit diesen Worten stand Rian auf, quetschte sich mit ihrer modelmäßig schlanken Figur an ihm vorbei und steuerte zielsicher auf einen Kerl zu, der eine Reihe vor ihnen auf der gegenüberliegenden Seite saß.

»Ist hier noch frei?«, hörte David sie säuseln. Den bezirzenden Augenaufschlag dazu konnte er sich, auch ohne ihn zu sehen, ausmalen.

»Désolé. Quoi?«, erwiderte der Mann sichtlich perplex und wischte sich nach einem Blick auf Rians Erscheinung in typischer Hahnenbalzmanier mit der Hand über den nicht vorhandenen Kamm seiner kurzgeschnittenen Businessfrisur.

David stöhnte innerlich auf. Sie hatten wahrlich Besseres zu tun, als jetzt irgendwelche Typen aufzureißen und am Ende vielleicht auch noch in Schwierigkeiten zu geraten, weil ihre Eroberung sich mal wieder an Rian sprichwörtlich festgesogen hatte.

Immerhin schien der Kerl Manieren zu haben. Bevor Rian sich an ihm vorbeizwängen konnte, um auf den freien Mittelplatz zu gelangen, stand er auf, trat auf den Gang und ließ sie höflich gewähren.

David konnte allein am Sitz seiner Anzugjacke erkennen, dass seine Kleidung nicht von der Stange war. Die Schuhe glänzten frisch poliert und am rechten Handgelenk funkelte das Armband einer protzigen Markenuhr. Eine kleine Überraschung, denn seinem Seitenprofil nach zu urteilen war er relativ jung. Keine dreißig und schon im Big Business. Also offensichtlich ein Mann mit Talent.

»Hallo. Mein Name ist Rian Bonet. Mein Bruder und ich sind das erste Mal nach Rennes unterwegs«, plapperte Rian drauflos, als sie sich gesetzt hatten. »Um die Sehenswürdigkeiten der Bretagne zu besichtigen. Es soll da ja nur so vor magisch-mystischen Orten wimmeln!«

»Ravi de vous rencontrer. Angenehm, Mademoiselle«, antwortete der Franzose. »Mein Name ist Philippe Bourdieu.«

Erneut strich er sich über seine perfekt gestylten Haare, drehte sich ein Stücken weiter zu ihr herum und präsentierte David damit seinen Rücken. »Frankreich, und vor allem die Bretagne, ist immer eine Reise wert«, fuhr er fort und David fiel das erste Mal seine überraschend raue Stimme auf. Hatte er sein Alter unterschätzt?

Während er noch grübelte, sah er, wie seine Schwester den Kopf auf diese typisch lasziv-provokante Art neigte und sich ein klein wenig vorbeugte. »Was für ein wohlklingender, starker Name. Dann kennen Sie sich wohl in der Gegend um Rennes aus, Philippe?«

»Das tu ich in der Tat«, antwortete er fast schon entschuldigend, aber mit spürbarer Leidenschaft hinter seinen Worten. »Meine Familie stammt aus Lorient und hat ein Ferienhaus in der Nähe von Josslin, etwas weiter östlich und nicht direkt am Meer gelegen. Aber der Ort ist ein Kleinod historischer Baukunst.«

»Das klingt wunderbar!«, jauchzte Rian. »Vielleicht kommen wir auf unserem Weg ja bei Ihnen vorbei und Sie können mir die besten Plätze in der Umgebung zeigen? Solche, die nicht im Tourismusführer stehen?«

Mit siegesgewissem Lächeln sah sie zu David hinüber und zwinkerte. Langsam dämmerte ihm, worauf das hinauslaufen sollte. Sie war dabei, ihnen eine Mitfahrgelegenheit zu organisieren. Diesmal ganz ohne Elfenzauber, allein mit den Waffen einer Frau.

»Es wäre mir eine Freude! Ach, was sag ich! Es wäre mir ein wahrhaftiges Vergnügen, Sie an die Hand nehmen zu dürfen. Es gibt so wundervolle Flecken dort. Ich würde mit Ihnen am Flussufer des Oust entlang spazieren, Sie in das Schloss der Rohan entführen und Ihnen die Schätze zeigen, die sich dort in den endlosen Regalen der imposanten Bibliothek finden lassen.« Philippe beugte sich nun ebenfalls verschwörerisch vor. »Jetzt im Sommer sind auch viele der anderen Räumlichkeiten offen zu besichtigen, die sonst nur von den Abkömmlingen der bretonischen Könige bewohnt werden.«

»Von richtigen Königen? Dann sind Sie wohl auch einer, wenn Sie dort so einfach hineindürfen«, witzelte Rian mit kindlich-unschuldigen Kichern.

Der Kerl aalte sich sichtlich in ihrer Aufmerksamkeit und David betete einmal mehr darum, dass sie bald in Rennes landen würden.

Doch Zeit war eine widerspenstige Sache. Immer, wenn man wünschte, dass sie schneller lief, tat sie das genaue Gegenteil. Der Flug schien endlos zu dauern. David drückte sich tiefer in den Sitz und stierte durch das Seitenfenster in den trüber werdenden Himmel. Das weiße Wolkenmeer hatte sich zu einer Hügellandschaft aus Grautönen aufgebauscht. Vereinzelte Regentropfen klatschten gegen die Scheibe und zogen auf dem Glas ihre Bahn, bis sie sich in sich selbst verloren hatten.

Als die Maschine endlich landete, hatte sich das Wetter zu einem eindrucksvollen Gewitter zusammengebraut. Ein grauschwarzes Monster, das von Westen her näherkam. Wenn David sich also nicht gänzlich irrte, würden sie direkt darauf zu steuern und mitten hineinfahren müssen, um nach Paimpont zu gelangen.

»Keine Sorge, mein Mietwagen wird direkt an den Ausgang des Terminals gebracht«, erklärte Philippe Bourdieu und führte Rian beflissentlich Richtung Zollkontrolle, während David gemächlich folgte.

Das Gepäck des Franzosen bestand aus einem kleinen Rollkoffer, den er mit in die Passagierkabine gebracht hatte. Ihres bestand aus dem, was sie in den Taschen trugen. Und versteckt am Gürtel. Damit war der Weg frei, um den Flughafen zügig zu verlassen.

Wie von Rians neuem Verehrer versprochen, stand sein bestellter Wagen bereits bereit. Eine funkelnagelneue schwarze Limousine mit getönten Scheiben und Ledersitzen.

Sehr angenehm. Dies versprach nicht nur ein trockenes, sondern auch ein außerordentlich bequemes Plätzchen auf der Rückbank, während Rian vorne für die gute Laune ihres rekrutierten Chauffeurs sorgen würde.

Philippe steuerte den Wagen routiniert von der Flughafenumgehung auf die Autobahn 24 Richtung Lorient und damit indirekt auf Paimpont zu. Im Radio dudelten typisch französische Chansons, während von draußen der Regen unerbittlich herniederprasselte. Rian hatte es mit ihrer unvergleichlichen Art geschafft, Philippe dazu zu überreden, einen Zwischenstopp an ihrem Zielort einzulegen.

Das in der Fahrzeugkonsole eingelassene Navigationsgerät zeigte für die eingetragene Strecke eine Fahrtzeit von knapp einer Stunde an. Für David hieß das, einmal mehr quälende Warterei und Nichtstun, während seine Gedanken zurück zu Nadja drifteten. Immer wieder stellte er sich dieselben Fragen.

Was mochte der Getreue nur mit ihr vorhaben? Was er getan hatte, war Hochverrat an seiner Königin.

Die Dunkle Königin und ihre Eroberungspläne. Auch das war etwas, mit dem sie sich beschäftigen mussten, sobald sie den Auftrag der Dame vom See erledigt hatten. Seit der Getreue Bandorchu mit Hilfe des Zeitgrabs in Newgrange zurück und in diese Welt geholt hatte, standen die Tore zum Schattenland offen.

Die einstige Königin von Earrach hatte nicht nur ihr Exil verlassen, sie hatte eine ganze Armee mitgebracht. Genau wie Fanmór, der sich dank Pirx gerade noch rechtzeitig auf dem Schlachtfeld gegen sie gestellt hatte.

Der Kampf war eher ein Kräftemessen gewesen. Am Ende hatte die Dunkle Königin sich zurückgezogen. Wohin, das wussten aktuell nur ihre Anhänger.

Und der Getreue hatte sich gar nicht erst daran beteiligt, sondern war mit Nadja verschwunden. Vielleicht gehört ihre Entführung zu einem viel größeren Plan, den sie alle nur noch nicht durchschaut hatten. Möglicherweise war es eine Finte, um sie abzulenken. Fortzulocken und blind für die im Hintergrund ablaufenden Geschehnisse zu machen. Aber welche mochten das sein?

David knurrte vor Ärger so laut auf, dass Philippe am Steuer zusammenfuhr und David sich einen bösen Blick seiner Schwester einfing.

»Ignorier meinen Bruder einfach, Phil. Manchmal hat er diese Anfälle. Aber keine Angst, er ist harmlos«, beschwichtigte sie den Hasenfuß mit ihrem charmantesten Lächeln, während sie mit ihrer Hand sein Knie tätschelte.

David musste gegen seinen Willen grinsen. Die Menschen waren schon ein seltsames Volk. Manche so mutig und andere so schwach. Natürlich war Nadja genau genommen eine Halbelfe, aber ihre Mutter Julia Oreso war es nicht. Und gerade sie hatte, genau wie ihre Tochter, bewiesen, wie stark ein so zierliches, sterbliches Wesen sein konnte. Ihre Autorität lief zwei Schritte voraus. Diese Frau bekam für gewöhnlich, was sie wollte. Nur, dass sie dafür keine Elfenmagie einsetzte.

»Am besten, ihr nehmt euch ein Zimmer im Le Relais De Brocéliande. Da seid ihr mitten im Zentrum der Stadt und könnt einige der Sehenswürdigkeiten zu Fuß erreichen. Das angeschlossene Restaurant hat einen guten Ruf«, erklärte Philippe ihnen, während er die Autobahn wieder verließ und auf die Landstraße Nummer 773 Richtung Norden abbog.

Wenige Minuten später hatten sie ihr Ziel erreicht. Ein malerisches Örtchen, direkt an jenen gewaltigen Wald angrenzend, den man in Sagen und Geschichten Brocéliande nannte. Es wurde Zeit, sich von Philippe zu verabschieden. Wie, das sollte Rians Sorge sein.

»Du hast ja meine Nummer«, sagte Philippe nach einigem Hin und Her, während sie im Regen standen und langsam aufweichten. »Eine kurze Textnachricht genügt und ich hole dich ab.« Er blickte zu David und verzog entschuldigend das Gesicht. »Euch, meine ich natürlich. Ihr seid beide willkommen.«

»Das ist so lieb von dir, Phil. Wirklich«, antwortete Rian, küsste ihn mit spitzen Lippen auf die Wange und trat dann an Davids Seite. »Fahr vorsichtig, ja? Die Straßen können rutschig sein bei so einem Wetter.«

Philippe nickte mit seligem Lächeln. Noch einmal zögerte er, schien mit sich selbst zu ringen. Dann stieg er ein, wendete die Limousine und brauste so zackig davon, dass links und rechts die Wasserfontänen spritzten.

»Gut gemacht, Schwesterherz«, sagte David und grinste.

»Er war wirklich nett«, erwiderte sie, während sie sich in einer nutzlosen Geste die Hand über den Kopf hielt und lachte. »Wir sollten schauen, dass wir schleunigst ein Zimmer und danach etwas Ordentliches zu essen bekommen.«

In dem Moment krachte es. Ein Donnerschlag, so laut, dass sich die Zwillinge unwillkürlich duckten. Ein Blitz zuckte zwischen den Wolken hervor und erleuchtete den gesamten Himmel. Und nicht nur ihn.

Kurz bevor es wieder dunkel wurde, glaubte David etwas am Rand des angrenzenden Waldes vorbeihuschen zu sehen. Ein Tier vielleicht. Doch es war auf eine unwirkliche und doch seltsam vollkommene Art schneeweiß und dabei gleichzeitig geradezu ätherisch durchscheinend.

2. Den Feind im Nacken

London – Freitag, 26. April 1715

Wir werden dich jagen, Weltvernichter! Wir werden dich stellen! Wir werden dich zur Strecke bringen. Dein Blut und Wasser werden die Opferschale füllen, um den Zorn Gottes zu zügeln, solltest du weiterhin dem Teufel mit Zahl und Schieber huldigen.

Edmond Halley schluckte schwer und ließ die Hand sinken. Der Brief glitt ihm aus den zitternden Fingern und segelte zu Boden. Die Zeilen waren in großen, schwungvoll gezogenen Linien auf das Papier gesetzt. Ein geradezu kunstvolles Schriftbild. Der Inhalt dagegen zeugte von einer kleingeistigen Seele, von purem Hass, Rückwärtsgewandtheit und Aberglaube. Eine höchst gefährliche Mischung.

Als Wissenschaftler und logisch veranlagter Mensch hatte Edmond mit der Veröffentlichung seiner Arbeit in gewissem Maße Unglaube und auch Widerstände in der weniger gebildeten Bevölkerung erwartet. Aber eine Bedrohung seines Lebens erschien ihm in jeder Hinsicht maßlos übertrieben.

Dummheit war zu verzeihen. Ignoranz war selbst in den Adelsschichten zu finden und dabei teilweise als kapriziöse Marotte gepflegt. Fanatismus hingegen war die Brutstätte von Gewalt und Anarchie. Etwas, vor dem Edmond nicht beabsichtigte, sich zu beugen.

Was hatte er so Schlimmes verbrochen? Er hatte seiner kindlichen Leidenschaft nachgegeben und auch als gereifter Mann weiterhin hinauf in die Sterne geblickt. Nur dass er heute keine Geschichten hinter den Sternenbildern mehr suchte, sondern die Zahlen und Formeln der Flugbahnen und Anziehungskräfte, die den Kosmos zusammenhielten.

Weil er vorausberechnen konnte, wann und wo der Mond sich zwischen Sonne und Erde schieben und zu welchem Datum dies selbst bei Tage passieren würde, war er deswegen doch nicht der Verursacher einer Sonnenfinsternis. Sie würde kommen. So oder so.

Doch speziell die strengeren Ableger des Christentums wollten davon nichts hören. Sie sahen immer noch in jedweder Wissenschaft den Teufel sprechen. Auch dieser Drohbrief stammte eindeutig von den Christi Sanguis et Aqua, den Anhängern von Blut und Wasser Christi. Das ließ sich unschwer aus den gewählten Worten herauslesen, auch wenn sie zu feige gewesen waren, ihre Signatur unter die Zeilen zu setzen.

Die Standuhr in dem kleinen Arbeitszimmer schlug zur halben Stunde. Es wurde Zeit, sich auf den Weg zu machen. Es war eine große Ehre, vor den versammelten Mitgliedern der Royal Society sprechen zu dürfen. Und Edmond würde sich nicht von irgendwelchen Sektierern davon abhalten lassen. Nicht durch solch einen Akt, der Angst schüren und den Geist verzagen lassen sollte.

Als Wissenschaftler hatte er die Aufgabe, über die bekannten Grenzen hinaus zu blicken. Für ihn bedeutete das, auch das eigene Weltbild immer wieder herauszufordern. Sich mutig gegen das vermeintlich gefestigte Weltbild zu stellen. Nicht mit emotional überladenem Pathos, sondern mit Fakten und Beweisen im Gepäck.

Entschlossen rückte er seine Perücke zurecht, stand auf, stieg über den Drohbrief hinweg zu seinem Dokumentenschrank und zog die vorbereitete Kladde aus dem Regal. Dann warf er sich seinen besten Umhang über, den er für solcherlei Gelegenheiten und höhergestellte gesellschaftliche Auftritte hatte schneidern lassen. Gefertigt aus feinem Samtstoff, der in seiner Form einer Robe nahekam und andererseits schlicht genug gehalten war, um nicht protzig zu wirken. Denn unnötiger Prunk lenkte von dem eigentlichen Thema seiner Arbeit ab.

Heute war es die Berechnung der magnetischen Deklination und die damit einhergehende Lösung des Längenproblems in der Nautik. Die Ergebnisse würden die Routen in der Seefahrt präziser berechenbar machen und damit sowohl Risiko, als auch Reisezeit und Proviant einsparen. Und das alles mit Hilfe der Sterne.

Edmond Halley stand bereits im Türrahmen, als er noch einmal über die Schulter blickte und das Papier auf dem Boden neben seinem Schreibtisch fixierte. Für die Wissenschaft, dachte er. Gegen Tyrannei und Aberglaube. Schreite mutig voran, Edmond. Die Welt braucht dich und deinen klugen Kopf. Egal, wie schwer dir dieses Blatt Papier auch im Magen liegen mag.

Ein Zwiegespräch mit sich selbst, wie er es häufig tat, wenn er für längere Zeit nicht bei Frau und Kindern weilte. Die Zweitwohnung in London war eine kostspielige Sache und doch unabdingbar für ihn, um die nötige Ruhe für seine Arbeit zu finden.

Mary war eine gute Frau. Sie hatte ihm einen Sohn und zwei Töchter geschenkt. Brave strebsame Geister, die keinen Grund zur Klage gaben. Doch sie konnten nicht ändern, dass ein Teil davon nur Fassade war. Denn Herzen ließen sich nichts von Logik oder gesellschaftlichen Normen vorschreiben. Sie liebten, wen sie liebten. In Edmonds Fall war das vornehmlich die Wissenschaft.

Über London hing, wie an fast jedem Tag, der gewohnte graue Dunstschleier. Ein Geschenk der Themse an die Bewohner, wie es so schön hieß. Dazu strahlte der Himmel diese drückende Sommerhitze ab, von der man Kopfschmerzen bekam. Durch die Straßen wehte ein staubig-stickiger Wind und zerrte an Edmonds Umhang.

Kurz überlegte er, sich eine Kutsche zu nehmen. Doch der Blick in die Geldbörse belehrte ihn, sich besser auf seine Füße zu besinnen.

Das Gebäude der Royal Society war fünf Straßen entfernt. Deutlich kürzer, als er sonst zur Universität unterwegs war. Zusätzlich würde er die Abkürzung durch den St. James’ Park nehmen. Ein wenig Sauerstoff mochte helfen, das Dröhnen hinter den Schläfen verstummen zu lassen.

Zu dieser Jahreszeit flanierten die Menschen dort, um sich zu zeigen, unverfänglich Bekanntschaften zu knüpfen und aus der Ferne zu flirten, wie es die Vögel in den Bäumen, die Fische in den Seen und die Katzen in den Sträuchern taten. Ein Kreisen umeinander, durch Anziehung und Abstoßung choreografiert, das sich selbst im komplizierten Reigen von Sternen und Planeten wiederfand.

»Sie sind spät dran!«, hörte Edmond von der Seite eine bekannte Stimme rufen.

Herold Windsworth, ein weiteres Mitglied der Royal Society und Mathematik-Professor, der nicht mehr lehrte. Dennoch verpasste er kaum eine Sitzung der wissenschaftlichen Vereinigung, um seine persönlich gefärbte Sicht auf die Dinge kundzutun.

»Mitnichten!«, erwiderte Edmond. »Denn auf meiner Uhr wird es exakt dann zur vollen Stunde schlagen, wenn ich die Tür des Sitzungssaals öffne.«

»Ihre Zuversicht hätte ich in jüngeren Jahren gebraucht«, erwiderte der Professor und schloss mit zügigen Schritten zu ihm auf.

»Es ist weniger die Zuversicht, als die gewählte Perspektive, die es mir unmöglich machen wird, zu versagen«, scherzte Edmond.

So eine Plauderei half, den nagenden Schatten auf seiner Seele zu verdrängen. Doch auch auf seinem Weg gab es die erhobenen Zeigefinger, die Anklagen und Leugnungen, die ihm entgegenschrien.

»Wird uns der Mond auf den Kopf fallen und in ewige Nacht stürzen? Lesen Sie!«, rief ein Zeitungsjunge und hielt ihnen einen gedruckten Zettel hin.

Edmond spannte die Kiefer an. »Scharlatane«, zischte er und marschierte ungebremst weiter.

»Sie scheinen mir dieser Tage fast so oft in aller Munde zu sein wie das Königshaus und die Querelen zwischen Georg I. und den Jakobiten«, sagte Herold Windsworth ein wenig spöttelnd. »Halten Sie es immer noch für eine gute Idee, Ihre Theorien so öffentlich zu verbreiten?«

»Es sind keine Theorien. Es sind Fakten. Das sollten Sie als Mathematik-Gelehrter doch am besten wissen. Und was sonst sollte ich damit anfangen? Ich forsche nicht für die Schublade. Ich arbeite im Dienst der Menschheit.«

»Und es ist ein Segen, dass wir solch emsige Wissenschaftler in unseren Reihen haben«, lenkte der Professor beschwichtigend ein und zwirbelte eine seiner Perückenlocken. »In diesem Fall scheint mir allerdings die Frage erlaubt, ob die Menschheit dieses Wissen wirklich haben möchte.« Er deutete unmissverständlich auf Männer, die Papiere verteilten, auf denen in großen Lettern zu lesen war: »Tod all jenen, die den Teufel in Reagenzgläsern züchten«, oder: »Wenn der Teufel die Sonne verdunkelt, werden die Toten aus ihren Gräbern steigen.«

»Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Was heute neu ist, wird morgen normal sein«, antwortete Edmond Halley so ruhig es ihm möglich war. Doch die Angst hatte sich an ihm festgekrallt und kletterte langsam aber sicher seine Eingeweide hinauf und machte ihm den Magen flau.

Starrten ihn die Menschen an, an denen er vorüberging? Verfolgten sie ihn mit ihren Blicken? Flüche murmelnd und Schimpfworte hinter ihm ausspuckend?

Der Peitschenknall eines Kutschers ließ Edmond zusammenfahren und sich ducken. Der Professor blieb neben ihm stehen und sah ihn nun geradezu mitleidig an. »Sie hätten sich ein anderes Fachgebiet wählen sollen, mein Freund.«

Ich bin nicht Ihr Freund, wollte Edmond erwidern. Doch das geziemte sich nicht einem älteren Gentleman gegenüber. Und dazu noch einem so renommierten. Stattdessen biss er die Zähne zusammen und zuckte grimmig mit den Schultern. Er würde sich seine Worte für den Vortrag aufsparen. Wenn Leute vor ihm saßen, die sein Streben zu schätzen wussten.

Als sie das Eingangsportal des ehrwürdigen Baus erreichten, hielt Edmond inne, um sich zu sammeln. Er atmete einmal tief durch, klopfte sich den Staub von den Kleidern, rieb sich die Schuhe an den Hosenbeinen blank und straffte sich, bevor er dem Professor den Treppenaufgang hinauf und durch die Pforte folgte.

Wie kalkuliert, war er exakt zur anberaumten Zeit an Ort und Stelle. Die ehrwürdigen Herren hatten ihre Zigarren bereits beiseitegelegt und die Pfeifen ausgeklopft. Auch Herold Windsworth gesellte sich zu der Gruppe der Zuhörerschaft. Dutzende Augenpaare blickten Edmond erwartungsvoll hinter dem Rednerpult entgegen.

Die Begrüßung und Vorstellung durch den Principal – dem Vorstand der Fellow-Mitglieder – war knapp und ein wenig hölzern, wie Edmond fand. Doch er war es gewohnt. Sein Leben taugte nicht für amüsante Anekdoten. Die Ehrenabzeichen und Preise, die er bisher erhalten hatte, waren mittelmäßig dotiert gewesen. Gerade so, dass er über die Runden kam, ohne sich gänzlich in die Hände eines Mäzens begeben zu müssen.

»Die Seefahrt ist unser verlängerter Arm«, begann er seinen Vortrag. Gefolgt von einigen Ausführungen über die Historie der nautischen Karten und Routenberechnungen. Er zeigte die Stolpersteine und Herausforderungen dabei auf, um anschließend seine so überaus elegante Lösung zu präsentieren, die er aus den Himmelsplaneten abgelesen hatte.

»Wie kann man sich sicher sein, dass die Planeten den Bahnen folgen, die Sie glauben, berechnen zu können?«, fragte Paul Gutman. Er gehörte zu den Honorary Fellow of the Royal Society – Ehrenmitglieder, die sich um die Wissenschaft verdient gemacht hatten, ohne die formalen Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft zu erfüllen. Ein konservativer Wissenschaftler und Skeptiker gleichermaßen. Im Grunde eine gesunde Mischung, wenn man Dingen auf den Grund gehen wollte. Allerdings schien diese Gabe im Alter zu einer Art nörgelnder Besserwisserei zu verkommen. So schien es zumindest Edmond, wenn er die graue Ehrenbrigade, wie er sie gern nannte, betrachtete.

»Indem man sie beobachtet und versteht«, antwortete Edmond knapp und vielleicht ein wenig zu forsch, um eine Diskussion darüber gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Während er auf einige weitere Fragen einging, bemerkte er aus dem Augenwinkel, dass eine weitere Person unauffällig in den Raum trat und in der hintersten Reihe Platz nahm. Verdeckt von der ausladenden Perücke eines ihm vage bekannten Chemikers, lugte nur eine Hälfte seiner Silhouette hervor. Doch Edmond hätte ihn wohl allein an seinem Schatten erkannt: Den amtierenden Präsidenten der Gelehrtengesellschaft – Sir Isaac Newton!

Still und unbewegt saß er da und hörte sich die Diskussion bis zum Ende an. Erst als die Herren sich im Salon zusammenfanden, um bei einem Glas Scotch über das Gehörte zu lamentieren, trafen sich ihre Blicke aus der Ferne.

Edmond neigte angedeutet den Kopf und prostete dem berühmtesten Kopf unter den Wissenschaftlern zu. Isaac erwiderte die Geste, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen. Sein Blick strahlte etwas Schalkhaftes aus. Ein Mann, der sich im Inneren sein jugendliches Ich bewahrt hatte. Sorgsam weggesperrt für die vorüberziehenden Leute. Sichtbar nur für jene, die das Vergnügen hatten, ihn Freund nennen zu dürfen.

Es dauerte eine weitere Stunde, bis beide den obersten Herren, Professoren und Doktoren genügend ihrer Zeit geschenkt hatten, und sich endlich auf einen spätnachmittäglichen Kaffee gegenüberstanden.

»Du siehst aus, als hättest du dich durch einen Sturm bis in den Saal vorkämpfen müssen«, sagte Isaac zur Begrüßung.

»Das müssen die Flüche und Verwünschungen sein, die mir durch die Haare gefahren sind«, gab Edmond mit leicht erhobenen Mundwinkeln zurück.

Sie hatten sich ein wenig abseits gestellt und sprachen in gedämpftem Ton. Die Köpfe dicht beieinander, um das lauter werdende Schnattern der anderen auszublenden.

»Entschuldige, dass ich zu spät kam. Aber die Studenten wollten mich nicht gehen lassen«, sagte Isaac und seufzte bedauernd. »War es so schlimm, wie ich an dir abzulesen glaube?«

»War es nicht«, entgegnete Edmond. »Nicht hier und heute.«

»Was ist es dann, das dir den Kummer ins Gesicht zeichnet? Meine Reise? Ich habe dir angeboten, dich mitzunehmen. Diese Einladung gilt noch immer.«

Edmond zögerte. Er wollte seinen Freund nicht beunruhigen, doch anlügen wollte er ihn ebenso wenig. »Es sind diese ewig Heiligen, die mich beschäftigen.«

Isaac nickte. »Ich habe die Verteiler gesehen. Als wären wir zurück im Mittelalter bei den Hexenverbrennungen.«

Edmond verzog den Mund zu einem schmalen Lächeln. »Dann wäre ich wohl die Hexe.«

Isaac wiegte den Kopf hin und her, während er ihn mit Blicken maß. »Ein spitzer Hut würde dir gewiss stehen. Aber auf die Warze könntest du gut verzichten.«

»Wie steht es mit einem Besen? Sollte ich mir einen anschaffen?«, führte Edmond ihr Spielchen fort.

Sein Freund schmunzelte schief. »Wenn du mich auch mal auf ihm reiten lässt.«

»Isaac!«

Sie lachten.

»Im Ernst, Edmond. Komm einfach mit nach Frankreich. Das Haus ist groß genug für zwei brillante, egozentrische Wissenschaftler«, wiederholte Isaac sein Angebot.

Doch Edmond schüttelte den Kopf. »Das Zentrum der Sonnenfinsternis ist hier. Hier in Britannien. London ist der beste Ort, um sie zu erleben. In Frankreich mag es dunkel werden. Aber es wird nicht das gleiche Erlebnis sein. In gewisser Weise ist die Sonnenfinsternis so etwas wie mein viertes Kind. Das ich ganz allein auf die Welt bringen werde, weil ich es vorausberechnet habe.«

»Als Erster überhaupt«, fügte Isaac hinzu und nickte abermals.

Edmond fühlte einen Kloß im Hals. »Wann wirst du abreisen?«

»Morgen früh legt das Schiff ab. Ich sollte also wohl langsam meine Koffer packen.«

Stille.

Isaac schwenkte sein leeres Glas. »Es wird nicht für ewig sein, Ed. Das weißt du.«

»Natürlich. Ich verstehe, dass du ein wenig Ruhe vor deinen wissensdurstigen Studenten brauchst. Ein bisschen Erholung, um die Gedanken neu auszurichten.« Edmond lächelte bemüht.

Dennoch würde er ihn vermissen. Seine bloße Anwesenheit. Seine strahlenden Augen und seine klugen Gedanken. Und die Sicherheit, die er ihm gab. Besonders jetzt, da man ihn offen bedroht hatte. Doch er würde seinem Freund nichts von dem Brief erzählen, ihn nicht damit erpressen, um ihn hierzubehalten. Er würde die wenigen Tage bis zur Sonnenfinsternis allein durchstehen. Verbarrikadiert in seinem Arbeitsdomizil. Fern von seiner Familie, um auch sie zu schützen.

Wenn der Mond sich schließlich vor die Sonne schieben und nach wenigen Minuten das Tageslicht zurückkehren würde, würde sich die Sache von selbst erledigen. Ohne den Aufstieg eines Teufels oder sonst einer Hölle würden sich die Fanatiker mit ihren Weltuntergangsprophezeiungen selbst aus dem Rennen nehmen.

Der Alltag würde schneller zurück sein, als er es sich jetzt vorstellen mochte. Spätestens dann, wenn auch sein Freund von seinen Ferien zurück sein würde.

Isaac breitete die Arme aus, drückte ihn kurz und klopfte ihm dann übertrieben mit der einen Hand auf den Rücken. Doch mit der anderen suchte er Edmonds Finger und strich in einer flüchtigen Geste zärtlich über sie hinweg.

»Schreib mir, damit ich weiß, dass du gut angekommen bist«, raunte Edmond leise, weil seine Lippen zitterten.

»Und du mir, wenn die Horde dein Haus umstellt hat«, antwortete Isaac und drückte ihn ein letztes Mal, bevor sie sich voneinander lösten, sich strafften und voneinander abwandten. Isaac, um seine Sachen zu packen und Edmond, um den Schein zu waren.

Es wurde bereits dunkel, als Edmond das Haus der Royal Society schließlich verließ. Der Kopfschmerz vom Mittag hatte sich durch zu viel Scotch und lange Reden in ein wattiges Benommenheitsgefühl gewandelt.

London lag immer noch in dichten Dunst gehüllt. Das Atmen fiel ihm schwer. Die Laternen, die eine nach der anderen angezündet wurden, verstreuten ihr diffuses, milchig gelbes Licht über Straße und Bordstein und spiegelten sich in den verwinkelten Fenstern der Häuser.

Das Leben hatte sich an diesem trüben Freitag bereits nach drinnen verlagert. Familien saßen am Abendbrottisch, die Schwerenöter in den Bars und Bordellen und die Halunken und Bettler irgendwo in den Gebäudeeingängen und Abwasserkanälen.

Edmond erwog abermals, für den Rückweg eine Kutsche zu nehmen. Doch als er nach einer Ausschau hielt, war weit und breit keine in Sicht. Also marschierte er müde und ausgelaugt den Weg zu Fuß zurück zu seiner Wohnung.

Mistress Delainy, die Vermieterin seines Arbeitsdomizils, schien einmal mehr in ihrem Sessel am Kamin zu sitzen und zu stricken. Ihre Silhouette zeichnete sich trotz des dünnen Vorhangs dunkel vor der Lampe ab. Die restlichen Fenster waren dunkel.

Als Edmond seinen Schlüssel aus der Hosentasche fischte, erklang ein Poltern. Eine Ratte huschte den Bordstein entlang. Nur eine Ratte, dachte er erleichtert. Dann hörte er die Schritte. Schritte von mehreren Personen, die schneller wurden.

Instinktiv drehte Edmond sich um und zuckte zurück, als ein Holzknüppel knapp an seinem Kopf vorbei schwang.

»Verdammt!« Er keuchte vor Schreck auf, wankte einige Meter rückwärts, drückte die Tasche fest an den Körper und riss den freien Arm in die Höhe, um einen möglichen zweiten Schlag abzuwehren.

Stattdessen erwischte ihn ein tief angesetzter Fausthieb in den Magen, bevor er den Angreifer überhaupt kommen sah. Schwarz gekleidete Gestalten. Zwei, vielleicht drei. Ihre Mäntel blähten sich, während sie herumwirbelten, um zu einer neuen Attacke anzusetzen.

Edmond stieg der beißende Geruch von Ruß und Schmieröl in die Nase. Sie hatten sich getarnt. Deshalb erkannte er keine Gesichter. Das hier waren keine Trunkenbolde, die auf Streit aus waren. Dies war ein Angriff mit Vorsatz. Ein geplanter Überfall, der ihm galt. Ihm ganz allein.

Edmond fühlte pure Panik. Er war kein Kämpfer. Kein Soldat. War er nie gewesen. Seine Welt bestand aus Zahlen und Papier. Mühsam richtete er sich auf. Die Tasche hatte er nach dem Magenschwinger fallen gelassen. Seine Unterlagen. Er wollte danach greifen, sein Werk und sich selbst in Sicherheit bringen. Der Hauseingang war nur noch wenige Meter entfernt. Doch ein weiterer Schlag mit dem Prügel ließ ihn kopfüber zu Boden stürzen.

3. La Porte des Secrets

Paimpont

David warf sich in seiner Unterwäsche auf das Hotelbett, drehte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Noch etwas länger und wir wären bei diesem Regenguss im Stehen ertrunken.«

»Gern geschehen«, gab Rian schnippisch zurück, während sie seine und ihre Sachen in dem kleinen Badezimmer verteilte, um sie trocknen zu lassen.

»Ernsthaft. Noch eine halbe Stunde länger, und mir wären die Ohren geschmolzen bei so viel Süßholzraspelei. Er wäre die perfekte Besetzung für eine dieser Soap-Operas im Fernsehen.« David bewegte die Augenbrauen mehrmals hoch und runter.

»Du meinst solche, die du dir mit mir zusammen so gern anschaust?«, konterte seine Schwester.

»Nur, um etwas von deinem ewig währenden Süßigkeitenvorrat abzubekommen«, erwiderte er schmunzelnd und schleuderte Rian ein Kissen in den Rücken.

»Hey! Die Kissenschlacht spar dir lieber für dich und Nadja auf.« Kaum ausgesprochen, gefror Rian in der Bewegung und drehte sich dann langsam zu ihm um. »Entschuldige, das war wohl etwas gedankenlos von mir.«

Davids Herz krampfte sich zusammen, doch er mimte den Starken und zuckte mit den Achseln. »Du hast ja recht. Sobald wir sie gefunden und sicher zurückgebracht haben, werde ich sie in mein Bett zerren und nie wieder hinauslassen.«

»Chauvinist.« Rian mühte sich um ein Lächeln. Doch auch sie vermisste unübersehbar ihre beste Freundin und machte sich große Sorgen um sie.

Trotz des nagenden Gefühls, weil sie Nadja nicht selbst suchen gingen, sondern es Fabio überließen, entschieden sie, den Abend und die Nacht im Ort zu verbringen und erst am folgenden Tag bei hoffentlich besserem Wetter zum See von Nimue aufzubrechen. So wie die Blaue Dame es ihnen ausgerichtet hatte.

Rian schlug vor, sich mit etwas trockeneren Klamotten einen großen Café au Lait zu gönnen und danach die Umgebung zu erkunden, bevor es dunkel wurde.

Eine gute Idee, fand David. Und das nicht nur, weil er sich immer noch fragte, was für ein Tier er vorhin am Waldrand gesehen hatte. War es nur ein Trugbild gewesen? Oder ein Feentier, das Nadja geschickt hatte? Solchen Geschöpfen war es möglich, frei zwischen den Welten zu wechseln. Und sie waren vornehmlich weiß. Genau wie das, was David gesehen hatte. Oder zumindest glaubte, gesehen zu haben. Doch dann wäre es wohl kaum davongelaufen. Viel wahrscheinlicher war eine Reflexion der zahlreichen Blitze, die sich am Himmel wie ein Adergeflecht fortgepflanzt hatten. Oder?

Die Ungewissheit trieb David zusammen mit seiner Schwester hinaus auf die Straße. Das Café Librairie lag nur wenige Schritte entfernt die Rue du Général de Gaulle entlang. Ein kleiner verschwiegener Laden mit einer breiten Schaufensterfront und zwei einfachen Holztischen draußen an der Straße.

Rian war sofort hellauf begeistert, als sie einen Blick ins Innere warf. »Schau doch, es ist gleichzeitig eine Boutique!«

David verdrehte die Augen und folgte nur widerwillig. Manchmal war die kindliche Begeisterung seiner Schwester einfach zu viel des Guten. Besonders, wenn der Shopping-Wahn sie überfiel und er am Ende alles tragen musste. Zu seiner Überraschung fanden sich auf den Regalen und Ausstellungsflächen keine typischen Touristen-Souvenirs, sondern ausgesuchte Mineralien, liebevoll gestaltete Kunstobjekte und ein paar handgemachte Halsketten.

Es roch nach Kiefernharz und Tannenzapfen. Im Hintergrund spielte eine Musik, die aus Wind und vereinzeltem Vogelgezwitscher bestand. Aber das auffälligste war die Energie, die dieser Ort verströmte.

Rian schritt geradezu andächtig zwischen den Verkaufstischen entlang, berührte hier und da einen der glatt geschliffenen Halbedelsteine oder linste nach dem Preis einer Kette.

»Bonjour, Monsieur«, erklang eine voluminöse, warme Stimme. Eine ältere Frau war zu ihnen hereingekommen. »Mein Name ist Anne-Marie. Kann ich Ihnen helfen?« Ihr Französisch klang ein wenig härter, als David es bisher in der Region gehört hatte. Doch er konnte noch nicht ausmachen, ob es ein Akzent war oder einfach eine sprachliche Eigenheit.

»Bonjour«, erwiderte er mit einem leichten Kopfnicken. »Wir sind gerade erst angekommen und wünschen uns einen Café au Lait.«

Anne-Marie lächelte mit ihrem ganzen Gesicht. Die Fältchen in ihren Augenwinkeln mehrten sich, die Mundwinkel gehoben, erschienen kleine Grübchen in den vom Alter gezeichneten Wangen.

»Ich glaube, Sie suchen mehr als das, nicht wahr? Für den Anfang kann ich Ihnen mit Sicherheit weiterhelfen.«

David guckte sie ein wenig verdattert an. Wusste sie etwas? Las sie in ihm seine Sehnsucht und Sorge ab? »Weiterhelfen?«, brachte er ein wenig stotternd hervor. »Wie meinen Sie das?«

Jetzt lachte sie auf. Offen, herzlich und ein wenig verschmitzt. »Mit dem Kaffee, mein Herr. Dürfen es zwei sein? Für Sie und ihre wunderhübsche Begleitung?«

»Unbedingt!«, meldete sich Rian zu Wort und lehnte sich von hinten gegen ihren Bruder. »Das hier ist übrigens mein Zwillingsbruder David und mich können Sie Rian nennen.«

»Willkommen in Paimpont, dem Tor zum Zauberwald«, sagte Anne-Marie und ihre Augen blitzten erneut geradezu schalkhaft auf. »Hat dich einer der Steine gerufen?«, fragte sie mit einem angedeuteten Nicken in Richtung der Verkaufsauslage.

Sie war wie selbstverständlich ebenfalls ins Du verfallen. Eine Wirkung die Rian fast immer auf die Menschen hatte, wenn sie mit ihrer überbordend fröhlichen Art zu ihnen sprach.

»Am liebsten würde ich sie alle nehmen!«, entgegnete sie.

»Und was ist mit dir, David?«, wandte sich die Inhaberin nun wieder ihm zu. »Was brauchst du?«

Ein Kribbeln durchfuhr seinen Körper, als würde ihr Blick ihn von innen nach außen abtasten.

»Immer noch Café au Lait«, sagte er knapp und trat einen Schritt auf den Ausgang zu.

Rian warf ihm einen tadelnden Blick zu, doch Anne-Marie nickte lächelnd und eilte eifrig in den hinteren Teil des Ladens. »Ouais, ouais, ist schon unterwegs!«

»Du bist unverbesserlich«, sagte Rian, als sie es sich draußen an einem der massiven Holztische bequem gemacht hatten.

Das Gewitter hatte sich mittlerweile verzogen, doch die Straße glänzte immer noch nass. Die Häuserwände dampften in der milder werdenden Spätnachmittagssonne und verliehen der schmalen, ordentlich gekehrten Gasse etwas Mystisches.

Niemand sonst schien sich schon wieder hinaus zu trauen. Dachte David zumindest. Doch am westlichen Ende, dort, wo die Straße an den nahen See angrenzen musste, konnte er bei genauerem Hinsehen Menschen vor einem großen Dreikantgebäude ausmachen. Doch sie waren zu weit weg, um Genaueres erkennen zu können.

»La Porte des Secrets – Das Tor der Geheimnisse«, wisperte eine Stimme hinter ihm. David fuhr herum und blickte erneut in das lachende Gesicht von Anne-Marie, die mit der Bestellung zurück war. »Bei diesem Graupelwetter die beste Art, sich einen schönen Abend zu machen. Wenn ihr Glück habt, gibt es noch Karten«, erklärte sie, während sie den Kaffee servierte.

»Ist das eine Show?«, fragte Rian, während sie nach ihrer Tasche griff.

Anne-Marie wiegte den Kopf. »Theater, Museum, Märchenstunde. Im Grunde von allem etwas. Aber auf jeden Fall sehenswert, wenn man sich für den Wald und seinen Zauber interessiert.«

»Was für einen Zauber hat er denn?«, hakte David skeptisch nach. Das Ganze klang ihm mittlerweile doch zu sehr nach Verkaufsanzeige. Wahrscheinlich arbeitete sie mit dem Betrieb zusammen, um ihnen Besucher zuzuschanzen.

»Man sagt, es wäre die Heimstatt von Merlin«, gab die Inhaberin beflissentlich Antwort. »Die Welt glaubt, er wäre ein Zauberer gewesen. Vielleicht der größte, der je gelebt hat. Doch in Wahrheit war er ein Druide. Ein Anhänger der Vorläufer der Ancient Order of Druids. Die wussten schon in grauer Vorzeit mehr über die Gestirne als die Wissenschaftler heute. So heißt es. Sie schöpften ihre Stärke aus Licht und Schatten. Eine Magie, die auf der Dualität der Dinge beruht, so wie die Erde selbst.«

Sie beugte sich mit ihrem Tablett ein wenig vor und flüsterte verschwörerisch. »Auch heute noch sollen Merlins Abkömmlinge zu besonderen Anlässen ihre Rituale und Zeremonien im Hain abhalten.«

»Gibt’s darüber auch einen Vortrag?«, fragte David kühl und kassierte im nächsten Moment von seiner Schwester einen Hieb mit dem Ellenbogen in die Seite.

Und diesmal schien er es geschafft zu haben, Anne-Marie zu vergraulen. Ihr Blick ruhte einen Lidschlag lang auf ihm, dann richtete sie sich auf und ging hinein.

»Du bist unmöglich«, fuhr Rian ihn an. »Sie hätte uns vielleicht noch mehr über diese druidischen Vorfahren erzählen können.«

»Das ist doch alles Mumpitz und Touristenfängerei«, beharrte David. Doch sein Bauchgefühl war sich da auf einmal gar nicht mehr so sicher.

Ungewöhnlich stumm saßen sie eine Weile lang nebeneinander und ließen die Gedanken jeder für sich schweifen. Wie gern hätte David diesen Ort mit Nadja erkundet. Sie hätte die Gelegenheit ergriffen und wäre vorausgeeilt, um sich jede einzelne Ausstellung anzusehen.

Er trank von seinem Kaffee und leckte sich den Milchschaum von den Lippen. Nadja hatte schon oft mit Hilfe ihres journalistischen Gespürs die richtige Entscheidung für den folgenden Schritt getroffen, für den Weg zum nächsten Puzzlestück auf ihrer Suche und Mission. Vielleicht sollten er und Rian dieser Eingebung folgen und sich Das Tor der Geheimnisse näher ansehen. Einen Versuch war es zumindest wert.

Nachdem Anne-Marie auf einen Wink hin das Tablett mit der Rechnung auf den Tisch gestellt hatte, zog sie mit der anderen Hand einen Stapel Karten aus ihrer Tasche. Die Ränder wirken abgegriffen und speckig. »Wie wäre es zum Abschied mit einem Blick in die Zukunft, mon chère?«, fragte sie, während sie das Set mit einigen gekonnten Handgriffen auffächerte.

Davids Lippen wurden schmal. Nichts hätte er lieber getan, nichts mehr gewünscht, als vorauszusehen, was passieren würde. Doch die Antwort lag nicht in einem Kartenspiel. Er schüttelte den Kopf.

»Und Sie, Mademoiselle? Wollen Sie es riskieren?« Sie hatte erneut zur höflich-distanzierten Anrede gewechselt. Ob nun aus reinem Geschäftsgebaren oder weil David sie mit seinen schroffen Antworten ernsthaft beleidigt hatte.

Rian hob die Hand, als wollte sie nach einer Karte greifen. Dann zögerte sie. Ihr Blick wanderte zwischen David und dem Fächer hin und her. Bis sie schließlich die Entscheidung traf und zugriff.

Während die Rückseite schmucklos einfarbig, mit einer weißen Linie den Rand entlang gestaltet war, zeigte sich auf der Vorderseite die Handschrift eines wahren Künstlers.

Das Bild wirkte unglaublich zart und filigran. Eine Zusammenstellung aus wässrigen Blauschattierungen im Hintergrund, die von kräftigeren Linien überlagert waren. Gelbe, rote und braune Flächen formten die Gestalt einer Frau, die auf einem Stein saß und ihre Füße in den Strom einer Quelle tauchte. Kleine weiße Sprenkel wirkten dabei wie die Gischt des sprudelnden Wassers und ließen die Szene geradezu lebendig erscheinen. Die Frau selbst hielt ihr Gesicht durch eine Kapuze verborgen; den Kopf einem fahlen Mond zugewandt.

»Die Dame vom See«, entfuhr es Rian, während sie mit den Fingern die Konturen der Linien nachfuhr.

»Das Quellenmädchen steht für ein unmögliches Vorhaben«, sagte Anne-Marie mit seltsam überraschtem Tonfall.

Als David zu ihr hinaufblickte, sah er ihre Stirn in Falten liegen. »Kein gutes Omen also?«, hakte er nach.

»Es ist eine machtvolle, aber auch tückische Karte. Sie lockt mit einer großen Belohnung. Doch jene, die danach streben, erkennen meist zu spät, welches Opfer die ihnen gestellte Aufgabe bedeutet. Wählt euren Weg weise und mit Bedacht«, mahnte sie ernst, ja eindringlich, bevor sie erneut ihr Lächeln zeigte. »Aber vorher solltet ihr euch unbedingt die Show ansehen. Mein Neffe steuert die Lichttechnik.« Sie zwinkerte.

Etwas unschlüssig standen David und Rian schließlich wieder auf der Straße und sahen zu beiden Seiten. Es war rasch dunkel geworden. Nur die beleuchteten Fenster der angrenzenden Wohnungen spendeten ein wenig Licht. Sollten sie zurück zum Hotel gehen und etwas essen oder der wandelnden Werbebroschüre Folge leisten?

»Wir können ja mal hingehen und es uns von außen ansehen«, schlug Rian vor.

»Also schön.« Die Ablenkung würde seine Gedanken von der Düsternis fernhalten, die sich auf der kleinen, zarten Seele breitmachte.

Das Gebäude lag direkt neben einer Kirche, klein und unscheinbar klebte das Haus an dem monumentalen Seitenschiff. Und doch hatten sie etwas gemeinsam. Beide waren aus dunklen Schiefersteinen erbaut, die für diese Gegend typisch waren. Ein wenig grobschlächtig, strahlten sie trotz ihrer Schlichtheit eine gewisse Gemütlichkeit aus. Einen eigenen Charakter, im Gegensatz zu den modernen Stadtbauten.

La Porte des Secrets prangte über der weiß gestrichenen Eingangstür mit den eingesetzten Glasfenstern. Seitlich davon war das Logo an die Wand gemalt – eine symbolische Darstellung des Waldes. Einfach und kraftvoll zugleich, wie eine Rune.

Farbige Strahler beleuchteten das Haus, eingebettet in den Rhythmus von Gezwitscher und dem Sausen des Windes, wie David es bereits im Café vernommen hatte.

»Kommen Sie, treten Sie ein und lassen Sie sich von den Legenden rund um Brocéliande und seinen vielen Bewohnern verzaubern«, begrüßte sie eine Stimme. »Mein Name ist Pierre und ich werde auf dieser Tour Ihr Begleiter sein.«

Da sie nun schon da waren, kaufte David zwei Tickets und sie betraten den verschlungenen Pfad im Gebäude, der sie zu den verschiedenen Attraktionen führen würde.

Pierres Werkstätte machte den Anfang. Er erzählte ihnen, wie intensiv die Region einst von den Früchten des Waldes gelebt hatte. Von ihrem Holz, aber auch von den Tieren, die darin lebten.

»Das prachtvollste Tier war der Hirsch. Er durchschritt im Frühling, Sommer, Herbst und Winter den Wald und achtete darauf, dass alles im Gleichgewicht blieb«, erklärte die Stimme aus dem Lautsprecher, während sie die authentisch zusammengestellten Kulissen betrachteten.

»Vielleicht haben Sie sich schon gefragt, ob die kleinen Symbole auf unserer bretonischen Flagge eben diesen Hirsch darstellen. Doch mit dieser Vermutung liegen Sie falsch. So groß und imposant das Tier mit seinem Geweih auch sein mag, es steht in der Gunst der Bretonen nur an zweiter Stelle. Wappentier und heiligstes Geschöpf dieses Waldes ist das Hermelin.«