Elfenzeit 9: Siebensturm - Verena Themsen - E-Book

Elfenzeit 9: Siebensturm E-Book

Verena Themsen

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Beschreibung

Elfenprinzessin Rian muss sich in Australien und Singapur den schwersten Prüfungen ihres Lebens stellen. Unterstützung erhält sie von einem geheimnisvollen Mann, dem Korsar der Sieben Stürme, der bedeutend mehr als ein Pirat ist. Und nicht uneigennützig. Er erhofft sich Hilfe von Rian, da er einem entsetzlichen Fluch unterworfen ist. Rian verliert auf ihrer Reise mehr und mehr den Bezug zur Anderswelt und beschleunigt dadurch den Untergang. Alebin hat seine Macht in Lyonesse gefestigt und fängt an, seine Klauen nach der Menschenwelt auszustrecken – doch da stellt sich Nadja ihm ein letztes Mal entgegen … Das Ende aller Welten beginnt! Band 9 von 10 der größten Urban-Fantasy-Saga.

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Seitenzahl: 752

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Inhalt

Titelseite

Die Autoren:

Impressum

Karte

Was bisher geschah

Dramatis personae

Roman 17 Korsar der Sieben Stürme

1 Alles ist im Fluss

2 Spione!

3 Tod Bangarra!

4 Keinen Schritt weiter

5 Wo der Handel herrscht

6 Ich hasse Seereisen

7 Zur Hölle mit dir, Pirat!

8 An Bord der Jolly Joker

9 Die Insel der Schwangeren Frau

10 Stadt der Seenomaden

11 Auf gefährlichen Pfaden

12 Glauk

13 Kampf der Titanen

Roman 18 Rache der Verdammten

1 Die Larve

2 Stadtgespräche

3 Alebins Erinnerungen 1

4 Leben im Schloss

5 Begegnungen 1

6 Alebins Erinnerungen 2

7 Dungeons and Dragons

8 Reisevorbereitungen

9 Davids Leid

10 Begegnungen 2

11 Tara

12 Die schlüpfende Larve

13 Alebins Erinnerungen 3

14 Mutter und Sohn

15 Dort, wo alles begann

16 Eine alte, neue Allianz

17 Begegnungen 3

18 Das schreckliche Land

19 Alebins Erinnerungen 4

20 Prometheus’ Widerstand

21 Thanmór

22 Pläne und Intrigen

23 Schlachten(un)glück

24 Auflösung

Wie es weitergeht …

Titelseite

Verena Themsen Jana Paradigi Michael Marcus Thurner
Elfenzeit
Band 9
Siebensturm

Elfenprinzessin Rian muss sich in Australien und Singapur den schwersten Prüfungen ihres Lebens stellen. Unterstützung erhält sie von einem geheimnisvollen Mann, dem Korsar der Sieben Stürme, der bedeutend mehr als ein Pirat ist. Und nicht uneigennützig.

Er erhofft sich Hilfe von Rian, da er einem entsetzlichen Fluch unterworfen ist. Rian verliert auf ihrer Reise mehr und mehr den Bezug zur Anderswelt und beschleunigt dadurch den Untergang.

Alebin hat seine Macht in Lyonesse gefestigt und fängt an, seine Klauen nach der Menschenwelt auszustrecken – doch da stellt sich Nadja ihm ein letztes Mal entgegen …

Die Autoren:

Verena Themsen verfasst regelmäßig seit Jahren Romane für Perry Rhodan. verenathemsen.de

Jana Paradigi lebt und schreibt in Österreich, sie schreibt erfolgreich in verschiedenen Genres, unter anderem auch für die Endzeit-Saga MADDRAX. janaparadigi.de

Michael Marcus Thurner

Impressum

Dieser Titel ist auch als Print erschienen. Bildmaterial: kellepics/Stefan Keller Gestaltung und Logo: Michael Steinmann Agentur Die Karte schuf Dirk Schulz Animagic Lektorat und Redaktion: Uschi Zietsch Handlungsrahmen und Serienkonzept: Uschi Zietsch © dieser überarbeiteten und erweiterten Ausgabe 2021 by Fabylon Verlag www.fabylon.de eMail: [email protected] Originalausgabe. Alle Rechte vorbehalten. ISBN: 978-3-946773-34-4

Karte

Was bisher geschah

Dem Getreuen ist es gelungen, sich nach seiner Vernichtung während Ragnarök zu regenerieren. Er ist nach Tara zurückgekehrt und unterstützt Bandorchu bei ihren weiteren Vorbereitungen auf den Krieg gegen Fanmór und um den Thron von Crain.

Auch Alebin hat es dank des Tabus des Getreuen geschafft zu überleben und ist während der Wirren nach Cornwall gelangt. Zusammen mit dem alten Katzengeist Shumoonya hat er Lyonesse im Handstreich eingenommen, und nicht nur das: Er hat nun auch Talamh, Nadja und David in seiner Gewalt und erklärt Fanmór und Bandorchu den Krieg.

Dramatis personae

Nadja Oreso muss erneut ein Bündnis mit dem Getreuen eingehen, um David und Talamh zu befreien – und Lyonesse am besten gleich mit.

Talamh, der Sohn des Frühlingszwielichts, ist noch ein winziges Baby und geht Alebin gründlich auf die Nerven, indem er dessen Pläne mit Blumen sabotiert.

Dafydd/David Bonet ist wieder einmal ein Gefangener und muss genau wie Prometheus unbeschreibliche Qualen erleiden.

Rhiannon/Rian Bonet sucht weiter nach dem Quell der Unsterblichkeit und gerät ebenfalls in Gefangenschaft.

Der Grogoch und Pirx – die beiden Kobolde sollen die Prinzessin schützen, was ihnen eher schlecht gelingt.

Arun, der Korsar, ist ein außergewöhnlicher Pirat, belastet mit einem Fluch, dessen Erlösung Rian vielleicht ermöglichen kann.

Alebin weitet seine Macht in Lyonesse aus und geht ins Schattenland, um Verbündete für seinen Krieg gegen die Anderswelt zu gewinnen.

Cunomorus – der unglückliche König von Lyonesse, Vater von Tristan, muss eine Entscheidung treffen.

Roman 17 Korsar der Sieben Stürme

Verena Themsen Jana Paradigi

1 Alles ist im Fluss

Das Baumschloss im November.

Nadja und David waren soeben aufgebrochen, um ihren entführten Sohn Talamh von Königin Bandorchu auszulösen. Regiatus und die Blaue Dame hatten die Vermittlungen aufgenommen. Rian hatte ihrem Vater bittere Vorwürfe gemacht und verkündet, ab sofort eigene Entscheidungen zu treffen.

Nun stand die Prinzessin draußen vor dem Schloss und dachte über die Konsequenzen nach.

Alles ändert sich, und nichts wird jemals wieder sein wie zuvor.

Die Erkenntnis traf Rian nicht zum ersten Mal und dennoch erfüllte sie die Prinzessin der Sidhe Crain nach wie vor mit einer Mischung aus Grauen und Faszination. Unvorstellbar lange war die Anderswelt stabil gewesen, unverrückbar und fest in den Formen, in denen sie entstanden war. Doch nun veränderte sie sich mit einer Geschwindigkeit, die Rian schwindeln machte. Und ihr war klar, dass es Spuren hinterlassen würde, selbst wenn es ihr gelingen sollte, ihre Welt zu heilen. Spuren in der Welt und Spuren in deren Bewohnern. Spuren in ihr.

Sie hob den Kopf, strich über ihr kurzes blondes Struwwelhaar und sah am Stamm des mächtigen Baumschlosses entlang aufwärts, bis ihr Blick sich zwischen Ästen und Zweigen verlor. Äste und Zweige, die von grünem Laub und Blüten hätten bedeckt sein müssen. Doch seit Talamhs Entführung durch die Schergen der Dunklen Königin Bandorchu war das kurze Atemholen vorbei, das ihnen während der Anwesenheit des Sohns des Frühlingszwielichts vergönnt gewesen war. Für wenige Tage hatte Davids und Nadjas Kind das Sterben vergessen lassen, das mit dem Verlust der Unsterblichkeit in der Anderswelt begonnen hatte. Inzwischen wurde wieder Laub in Schubkarren aus dem Schloss gekarrt, von Elfenwesen, die mit jedem Tag grauer und gebeugter wirkten.

Veränderungen bewirken weitere Veränderungen und können nur mit Veränderungen bekämpft werden. Nichts wird jemals wieder sein, wie es war, so sehr die anderen sich das auch wünschen mögen.

Sie löste den Blick wieder von ihrem Heim, in dem ihr Vater, der Riese Fanmór, in diesem Moment sicherlich über das Zerwürfnis mit seinen Kindern und die Hoffnungslosigkeit der Zukunft nachgrübelte. Ihre gänzlich violetten Augen wirkten matt und müde, als sie sich umdrehte und stattdessen den Weg entlang sah, der zwischen die sanften, ehemals mit buntgetupftem Grün bedeckten Hügel führte, deren Braun nicht weniger niederschmetternd war als das fallende Laub.

Etwas zupfte am Kunstpelzbesatz ihres in der Menschenwelt erstandenen gefütterten weißen Wollmantels, und sie sah hinunter zu dem ihr bis knapp übers Knie reichenden Grogoch. Der nur in sein langes braunes Körperhaar gehüllte Kobold erwiderte ihren Blick aus dunklen Augen.

»Und was jetzt?«, fragte er. »Wohin gehen wir?«

»Ja, wohin geht die Reise dieses Mal? Muss ne kalte Gegend sein, so wie du angezogen bist …«, piepste es von der anderen Seite, wo der nur halb so große Igelpixie Pirx ungeduldig auf der Stelle trippelte und sein rotes Mützchen zwischen den Händen knetete.

Rian lächelte schwach.

»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass wir die Suche fortsetzen müssen, damit nicht alles verloren ist«, sagte sie. »Nur wenn wir den Quell der Unsterblichkeit finden, können wir sowohl unser Volk retten als auch Talamh von Bandorchu freikaufen.«

»Und Nadja und David vermutlich dazu«, murmelte der Grogoch.

Die Prinzessin verzog das Gesicht. Es gefiel ihr genauso wenig wie den anderen, dass ihr Zwillingsbruder und ihre Freundin zur Herrscherin von Tara aufgebrochen waren, um mit ihr zu verhandeln. Aber ebenso, wie sie erklärt hatte, einen eigenen Willen für sich zu beanspruchen, musste sie ihrem Bruder den seinen lassen. Und wenn dieser sie beide nun auseinander führte, war das nur die logische Fortsetzung dessen, was im Moment des Erwachens begonnen hatte.

Nur war es das erste Mal ohne ihn, dass sie eine Reise unternahm, und sie hatte Angst davor, es wäre endgültig.

Alles ist im Fluss. Alles verändert sich. Auch wir. Jeder muss erkennen, wer er ist. Und wir müssen alle lernen, uns in der neuen Welt zurechtzufinden und unsere eigenen Wege zu beschreiten.

»Am besten sollten wir die großen Wissenssammlungen der Menschen aufsuchen, um Ideen zu gewinnen, wo wir mit der Suche weitermachen können. Und da dort der Winter naht, brauche ich passende Kleidung«, erklärte Rian ihr kleines bisschen Plan, während sie eine Mütze mit Kunstpelzbesatz aufsetzte und dann ihre gefütterten Handschuhe aus weichem weißem Leder aus dem Reisesack holte und anzog. »Das British Museum in London ist bestimmt ein guter Startpunkt, weil dort Wissen aus vielen Regionen und Zeiten gesammelt ist. Mit ein wenig Verhandlungsgeschick kommt man sicher auch an die endlosen Archive heran, die sie abseits der Öffentlichkeit haben, und muss sich nicht auf die unwichtigen Ausstellungsstücke beschränken. Grog?«

Der Grogoch hatte sich geräuspert, und Rian wandte sich ihm zu. Ohne die Prinzessin anzusehen zwirbelte er an seinen Haaren herum.

»Ich … ich wollte einen Vorschlag machen«, sagte er. »Es gibt da etwas, was ich schon eine Weile tun wollte, wozu ich aber nicht gekommen bin. Ich weiß nicht, ob dir jemand von Hyazinthe erzählt hat …« Er sah kurz zu Pirx, der die Augen verdrehte.

Rian schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Wer ist das?«

Die Prinzessin hatte den Eindruck, dass Grog im Gesicht eine Spur dunkler wurde, doch unter seinem dichten Haar war das schwer zu sagen.

»Sie ist eine Wassernymphe, und eine gute Freundin von mir aus meinen jüngeren Tagen«, sagte er mit leichter Verlegenheit in der Stimme. »Sie war mit uns auf Sizilien in der Höhle der Skylla gefangen, und nachdem wir sie befreit haben, hat sie mir gesagt, dass ich was bei ihr gut hätte. Na ja, eigentlich war es Nadja, die dafür gesorgt hat, dass alle Überlebenden da raus kamen, aber … Hyazinthe wusste das nicht, und Nadja hätte sicher nichts gegen den Gefallen einzuwenden gehabt, den ich mir erbeten habe.«

Rian schmunzelte unwillkürlich. Den gesetzten und ruhigen Grog einmal verlegen zu sehen war etwas, das man nicht oft erlebte. Anscheinend war diese Hyazinthe mehr als nur eine ›gute Freundin‹ gewesen. Wenn man das Wesen der Nymphen bedachte, war das nicht besonders verwunderlich.

»Was für ein Gefallen war das denn?«

»Ich habe sie gebeten, sich ein wenig umzuhören. Ich meine, ein ›Quell der Unsterblichkeit‹ klingt doch wie etwas, von dem Wasserwesen eigentlich wissen müssten, oder? Also erschien es mir naheliegend, sie darum zu bitten. Und sie hat mir kürzlich durch einen Wasserfloh mitteilen lassen, dass sie etwas herausgefunden hat. Durch die Aufregung von Talamhs Entführung bin ich noch gar nicht dazu gekommen, mit ihr in Verbindung zu treten und sie zu fragen, was es ist. Sie wollte, dass ich persönlich vorbei komme, aber das war bisher nicht möglich.«

Rian nickte. »Und du denkst, wir sollten sie aufsuchen? Weißt du denn, wo sie zu finden ist?«

»Der Wasserfloh hat mir ein Haar von ihr gebracht. Damit kann ich ein Tor direkt zu ihr öffnen.« Er griff unter sein langes Haar und förderte eine dünne Kette zutage, an der etwas hing, das sich wand und schillerte wie ein Wasserfaden im Wind.

»Gut. Einen Versuch ist es in jedem Fall wert«, entschied Rian. »Gehen wir.«

»Oh«, sagte Rian, als sie die mit braunen Blättern behangenen Zweige der Trauerbuche beiseiteschob und auf das raureifbedeckte Gras hinaustrat. »Deine Nymphe lebt nicht schlecht.«

»Das sind nicht die Schwarzberge«, erwiderte Grog verdutzt.

»Das ist nicht mal mehr das Hoheitsgebiet der Crain, sollten wir von hier in die Anderswelt wechseln«, stellte Pirx fest. »Aber nebenan liegt immer noch Earrach, das kann ich spüren.«

»Ich glaube, wir sind in Deutschland«, murmelte Rian.

»Woran willst du das denn erkennen?«

»Ich weiß nicht … diese Art der Bepflanzung … der Baustil … erinnert euch das nicht an unsere Suche damals, nach dem Quell der Nibelungen?«

»Hu, erwähn bloß nicht den Alberich!« Pirx schüttelte es.

Das Tor hatte sie unter die glockenartig geformte Krone des Baums geführt. Die Buche wuchs inmitten eines Parkgeländes, das auf einer Seite an einem Flussufer endete. Ein im winterlich-trüben Abendlicht hell schimmernder Kiesweg und ein breiter Streifen gefrorenen Rasens trennten sie vom Wasser.

Auf der anderen Seite des Flusses erstreckte sich ein weiterer Park. Zwischen den kahlen Bäumen hindurch war ein breites Herrenhaus aus hellem Stein erkennbar, das schon einem Schloss gleichkam. Eine Fahne wehte über dem vorkragenden kuppelartigen Dach des Mittelteils, der vermutlich den Treppenaufgang beherbergte, und Schornsteine reihten sich auf dem langgestreckten Dachfirst, die darauf hindeuteten, dass es eine nicht unerhebliche Anzahl zu heizender Räume darunter gab.

Rian zählte an den Seitenflügeln fünf Fensterreihen übereinander, während in der Mitte die zweite Reihe von unten fehlte, weil die darunterliegenden hohe Fenstertüren waren. Davor lag ein ausladender Balkon mit schmiedeisernem Geländer. Rian stellte sich in Gedanken den Saal dahinter vor. Sicherlich waren dort unter vergoldeten Stuckverzierungen und Kandelabern, erhellt durch Spiegel und Wandleuchter und unter den Augen gemalter Herrscher oder Sagengestalten einmal rauschende Feste gefeiert worden, die denen im Baumschloss der Crain nahe kamen. Abgesehen von den Spiegeln natürlich.

Den Festen aus den Tagen vor der Zeit … jetzt ist dort niemandem mehr zum Feiern zumute.

Neben Rian raschelte trockenes Laub und riss sie aus ihren Gedanken. Pirx und Grog schlüpften ebenfalls durch die Zweige, duckten sich unter einem niedrigen Abspanndraht hindurch und traten auf den Weg. Mit neugierig blitzenden Knopfaugen sah der Pixie sich um.

»Und wo ist deine Nymphe nun, Grog?«

Der ältere Feenkobold hob den Wasserfaden und beobachtete die Richtung, in die er sich neigte. »Dort«, stellte er fest und deutete zum Fluss.

Pirx beäugte das schnell fließende Gewässer misstrauisch. »Doch hoffentlich nicht da drin? Ich habe in letzter Zeit keine guten Erfahrungen mit Wasser gemacht, schon gar nicht, wenn es so kalt ist und so schnell fließt.«

Grog zog den Kopf ein wenig ein, als würde auch er den Gedanken nicht sonderlich mögen.

»Nein, ich denke, sie ist auf der anderen Seite, irgendwo in dem Park dort«, antwortete er. »Hyazinthe ist eine Quellnymphe, die mögen lieber ruhigeres Wasser, oder zumindest nicht so breites und tiefes.«

»Das da sieht doch nach ner Quelle aus«, meinte Pirx und deutete flussaufwärts. Dort stand zwischen hohen Bäumen ein schlanker schmaler Pavillon aus hellem Stein, unter dem sich aus einem Felsenloch Wasser in den Fluss ergoss.

Grog runzelte die Stirn und konsultierte seinen Faden. »Die Richtung stimmt nicht. Aber es ist ein Anfang. Gehen wir erst einmal rüber, würde ich vorschlagen. Ich glaube, da unten ist eine Brücke.«

Sie überquerten die Brücke, und Rian hauchte einem Stöckchen ein wenig Elfenmagie ein, um das Schloss des schmiedeeisernen Tors auf der anderen Seite zu öffnen. Schnell schlüpften sie hindurch, obwohl es ohnehin unwahrscheinlich war, dass sie beobachtet wurden. Kein Spaziergänger war zu sehen, was aufgrund des bedeckten Himmels, der nahenden Dunkelheit und der Winterkälte nicht verwunderlich war.

Auf der anderen Seite gingen sie am Ufer entlang, bis sie den Pavillon erreichten. In der Mitte der vier Säulen, die ein quadratisches Spitzgiebeldach trugen, konsultierte Grog erneut seinen Faden.

»Da lang«, sagte er und deutete in die Richtung, in der von dem Pavillon weg zwischen den Bäumen ein Weg verlief. Er führte auf ein kleines steinernes Häuschen zu, das neben dem Herrenhaus stand und Teil einer Absperrung aus Flechtwänden war. Der schmiedeeiserne Zaun schien um das gesamte Grundstück zu führen. Immer wieder warf Rian kurze Blicke zu dem Lustgarten vor dem Haupthaus, der aus Rabatten und einem kleeblattförmigen Brunnen mit einem Kunstfelsen in der Mitte bestand. Das Anwesen gefiel ihr, es hatte etwas Vertrautes.

Die Jalousien an den Fenstern waren heruntergelassen, das Häuschen wirkte wie eine geschlossene Eintrittskartenbude oder ein Souvenirladen. Durch ein weiteres Tor gelangten sie zu einer Treppe, gesäumt von einer mit Statuen besetzten Brüstung. Dahinter erhob sich eine Mauer aus rot-grauem Stein. Eine in Gelb und Weiß gestrichene Kirche mit kunstvoll geschwungenen Zwiebeldächern und zwei passenden Türmchenspitzen ragte im Hintergrund empor.

Erneut hob Grog den Faden. Sie traten an die Brüstung bei der Treppe und schauten hinunter. Der größte Teil unten wurde von einem kreisrunden Wasserloch eingenommen, in dem vom sandigen Boden stetig kleine Luftperlen aufstiegen. Das Wasser war klar, die Pflanzen darin wiegten sich in der leichten Strömung um den vergitterten Abfluss. Münzen glitzerten dazwischen, das übliche Wunschpfand der Menschen, obwohl sie gar nicht daran glaubten.

Wenn Bandorchus Pläne aufgehen, wird ihnen allerdings bald nichts anderes mehr übrig bleiben, als an Magie zu glauben.

Sie stiegen hinunter bis zu der Gitterabsperrung. »Hyazinthe?«, rief Grog leise. »Bist du da?«

»Hier«, erklang eine hohle Stimme seitlich unter ihnen.

Rian beugte sich weiter vor und ließ ihre Augen suchend über das Wasser schweifen. »Willst du dich nicht zeigen?«

»Wer ist da bei dir?«, fragte die Stimme.

»Prinzessin Rhiannon und Pirx«, antwortete Grog.

»Prinzessin Rhiannon? Welch hoher Besuch! Wartet, da muss ich mich zuerst angemessen herrichten.«

»Nicht nötig, ich bin nicht offiziell hier!«, rief Rian abwehrend.

»Warum bist du nicht in den Schwarzbergen?«, fragte Grog.

»Nicht in diesen Zeiten. Bandorchu hat sie besetzt.«

Etwas schillerte am Ausfluss, als hätte jemand Silberflitter hineingekippt, der sich jedoch entgegen der Strömung verteilte. Das Schillern trieb zu ihnen und formte sich zu einer Gestalt, die sich aus dem Wasser erhob. Sie verneigte sich vor Rian, übersah Pirx und wandte ihre wasserblauen Augen zu Grog, lächelte und hob eine Hand, um ihm durch das Schutzgitter hindurch über das Haar zu streichen. »Da bist du ja, mein Grog. Ich habe mich schon so danach gesehnt, dich wiederzusehen …« Sie zog sich auf die Steinplatte hoch, die unter dem Ausfluss aus der Mauer ragte, und lehnte sich mit laszivem Augenaufschlag zurück. Grog folgte ihr am Gitter entlang, und als er sie erreichte, schob sie den Kopf hindurch und tauschte einen Kuss mit ihm, der Pirx die Mütze herunterreißen und vor das Gesicht halten ließ.

»Ah, Hyazinthe«, murmelte Grog und strich durch das Gitter über ihr Haar, »ich wäre gern früher gekommen …«

»… aber im Moment sind die Dinge etwas angespannt, und es ist wenig Zeit für Vergnügungsausflüge«, ergänzte Rian ungeduldig. »Grog sagte, du hättest etwas gefunden, das uns weiterhelfen könnte?«

Die Wassernymphe zog einen Schmollmund, bei dem selbst Rian anerkennen musste, dass er geeignet war, jeden schwach werden zu lassen. Doch sie hatten keine Zeit für solche Spielereien.

Keine Zeit … was zeigt die Veränderungen klarer auf, als dass ich so etwas denken kann?

»Ich habe da etwas in den Kalksteinkanälen säuseln hören«, sagte Hyazinthe und räkelte sich auf dem Steinabsatz. »Meine Cousine Melausina hat mir den Unterschlupf hier vorgeschlagen, und sie und ich streifen manchmal gemeinsam durch die Höhlen. Der Boden hier ist löchrig wie ein Schwamm, wunderbar für Streifzüge in jede Richtung, und vor allem sehr gut, um den Häschern zu entkommen, ihr wisst schon, von wem.« Sie sah Rian und die anderen bedeutungsvoll an.

»Bandorchu und der Getreue«, sprach Rian die Gedanken aller aus und musterte die Umgebung. »Sind sie immer noch hinter euch her?«

Die Wassernymphe hob die Schultern. »Wer weiß, Hoheit, aber wie sagt man? Vorsicht ist die Mutter der Eiskristallkleider. Jedenfalls, um auf das Eigentliche zurückzukommen … puh, ist das kalt.« Die Wassernymphe rieb ihre Oberarme und schob ihren wässrigen Körper ein Stück durch das Geländer hindurch, um sich an Grog anzuschmiegen, der sofort die Arme schützend um sie schloss. Dass sie in Verbindung mit dem Wasser stand, ermöglichte ihr hier all die Magie, die ihr in der Gefangenschaft nicht zur Verfügung gestanden hatte, sonst hätte kein Gefängnis sie halten können – ebenso wenig, wie man Wasser in einem Sieb halten konnte.

»Ich habe Melausina wegen dieser Sache mit dem Quell gefragt, und sie meinte, wenn jemand etwas dazu wissen könne, dann sei es Eigigu«, fuhr die Nymphe mit einem zufriedenen Lächeln fort.

Rian wartete, während die Nymphe sich tief in Grogs dichtes Haarkleid kuschelte, doch es kam nicht mehr.

»Eigigu?«, wiederholte die Prinzessin schließlich.

»Ja, Eigigu. Die Frau im Mond. Die weiß so ziemlich alles, sagt man, weil sie alles beobachten kann.«

»Frau im Mond?« Pirx kicherte. »Davon habe ich noch nie gehört.«

Die Nymphe musterte den kleinen Pixie. »Warst du Knirps denn überhaupt schon mal in Eas?«

»Ah … Eas …« Grogs Ausruf hatte etwas Schwärmerisches, und Hyazinthe sah lächelnd zu ihm auf.

»Wir könnten dort einmal miteinander schwimmen gehen.«

»Schwimmen?« Grog schüttelte sich, und ein paar Tröpfchen von Hyazinthes Wasser flogen durch die Luft. »Nein, danke. Aber die Strände …« Er seufzte.

Rian runzelte die Stirn. »Ich habe niemals von dieser Eigigu gehört. Wer und was ist sie?«

»Eigigu ist eine Menschenfrau von der Insel Nauru«, berichtete Hyazinthe. »Sie kann ziemlich gut mit Magie umgehen. Die haben da unten nie viel von der Trennung der Reiche gehalten, und das hat auch die Menschen verändert. Jedenfalls hat sie es geschafft, schon als Kind in unsere Welt zu wechseln. Dabei konnte Eigigu Enibarara helfen, der Königin von Naora, und später hat sich einer von Enibararas Söhnen in sie verguckt – ausgerechnet der schüchterne Maramen, der lieber im dortigen Mond sitzt als mit anderen zusammen zu sein. Der jungen Frau war es recht, weil sie sich gerade wegen irgendetwas mit ihrer Mutter überworfen hatte, und so ist sie mit ihm in den Mond gegangen. War wohl auch eher eine Eigenbrötlerin.«

»Und sie könnte etwas wissen?«

Hyazinthe zuckte die Achseln. »Sie lebt seit Jahrhunderten über Eas, dem Land der Fallenden Wasser, und sieht alles. Wenn jemand etwas über den Quell der Unsterblichkeit weiß, dann sie. Sie hat ja den lieben langen Tag nichts anderes zu tun als zuzuschauen. Also, für mich wäre das nichts.« Mit ihren langen Fingern kraulte sie Grogs Nacken und sah erneut zu ihm auf. Der alte Kobold neigte sich hinunter, und sie tauschten einen weiteren Kuss aus, der Pirx sämtliche Stacheln aufstellen ließ, und seine Nase zuckte.

Rian seufzte und musterte die Umgebung. »Und wie kommen wir jetzt von hier nach Eas?«, murmelte sie.

»Da kann ich euch helfen«, verkündete Hyazinthe mit einem Timbre in der Stimme, das verriet, dass sie gern noch bei ganz anderen Dingen geholfen hätte. »Melausina teilte es mir mit, weil sie selbst häufiger dorthin geht. Wie gesagt – wenn es kalt wird, geht unsereins auf Verwandtenbesuch in wärmere Gefilde.« Tröpfchen blitzten auf ihren Zähnen im letzten Abendlicht auf, als sie lächelte. »Familie kann etwas sehr Praktisches sein, auch wenn sie manchmal auf die Nerven geht.«

Rian lächelte schief. Über Familienprobleme musste die Nymphe ihr nichts erzählen.

»Also müssen wir Melausina aufsuchen? Wo finden wir sie?«

»Im Moment treibt sie sich wohl in einer Quelle herum, die auch mit dem Fluss hier in Verbindung steht. Blautopf nennen sie die Menschen. Aber ihr müsst da gar nicht hin. Sie hat mir etwas dagelassen, für den Fall, dass ich plötzlich weg muss.« Hyazinthe zögerte kurz, ehe sie ein kleines schillerndes Schneckengehäuse aus ihrem Haar zog und in Grogs Hand drückte. »Geht damit zu einem fallenden Wasser. Ein wenig nördlich von hier gibt es eines, das ist geeignet. Ich würde euch ja durch das Wasser hinbringen, denn auch die Quelle dort mündet am Ende in diesen Fluss, aber ich glaube, mein Groggelchen wäre da nicht so begeistert.« Sie griff an Grogs Ohr und kitzelte es.

»Groggelchen!« Pirx kicherte und bekam dafür von dem älteren Kobold einen Klaps auf den Hinterkopf. »Autsch!«

»Wir werden es schon finden, denke ich«, sagte Rian. »Du weißt nicht zufällig, wo hier eine Tankstelle ist? Da können wir vielleicht erfahren, wo wir hin müssen.«

Die Nymphe bekam große Augen. »Eine … was?«

Rian winkte ab. »Vergiss es. Menschenkram. Aber manchmal recht nützlich.« Ihr Blick folgte der Treppe, die von dem Platz um die Quelle herum nach oben führte, wo sie schon zuvor den Kirchturm gesehen hatte. Mit einem Ruck schob sie ihre Reisetasche wieder auf den Rücken.

»Gehen wir ein wenig unter Menschen. Es wird sich schon etwas finden.«

Und es fand sich etwas. Nahe der Donauquelle gab es ein Restaurant, in dem Rian für sich und die Kobolde einen großen Salatteller bestellte und nach den Sehenswürdigkeiten der Umgebung fragte. Die Bedienung bestätigte, dass es nicht allzu weit entfernt den Triberger Wasserfall gäbe, und während Pirx sich schmatzend an den auf anderen Tischen zur Dekoration ausgestellten Blumen bediente, setzte sich wenig später ein junger Mann an Rians Tisch und erbot sich, ihr all das persönlich zu zeigen, was die Bedienung aufgezählt hatte.

»Im Mondschein bieten vor allem die Fälle im Moment einen wunderschönen Anblick«, erzählte er und lächelte Rian verheißungsvoll an. »Die Kälte lässt überall Eiszapfen entstehen, die auf bizarre Weise schön sind, besonders wenn sie im Mondlicht leuchten. Man könnte fast glauben, man sei in einer anderen Welt. – Und genau so schön ist es danach, in eine warme helle Stube zu kommen und einen heißen Tee mit Rum zu trinken, um sich aufzutauen.« Er zwinkerte und tastete nach Rians Hand.

Die Elfe erwiderte sein Lächeln. »Das würde ich wirklich gern sehen.«

Die Fahrt dauerte nicht allzu lange, und es war den Kobolden ein Leichtes, dafür zu sorgen, dass der junge Mann unterwegs einen plötzlichen Harndrang verspürte, der ihn in den Wald trieb und dort eine Weile festhielt. Rian, Pirx und Grog folgten derweil dem Weg vom Parkplatz in den Wald hinein. Es war eine klare Nacht, deren Kälte über dem Duft der Tannen den Geruch nach Schnee mit sich trug. Im Mondlicht glitzerte Raureif auf dem geteerten Weg, und in der windstillen Luft trug das Rauschen des Wassers bis weit in den Wald. Als sie auf dem in flachen Windungen abwärts führenden Weg eine Holzbrücke erreichten, die über den in Stufen den Fels hinabstürzenden Bach führte, hatte dessen Rauschen sich zu einem Brüllen gesteigert. Rian ging bis zu der Stelle, an der die Brücke etwas abknickte, ehe sie zum gegenüberliegenden Ufer führte, und sah fasziniert nach oben.

Es war so, wie der junge Mann es geschildert hatte. Das Wasser hatte hier in einer breiten Bahn den blanken Fels freigelegt, und überall, wo es nicht über die Kanten und Steine hinab in das Tal tobte, waren die Spritzer an den Felsen gefroren und hatten einen dicken Eispanzer geschaffen. Armdicke Eiszapfen und schlanke, teilweise dicht aneinander gereihte Türme schimmerten silbern im Mondlicht.

Grog zog das Schneckenhaus heraus und winkte damit. »Im Wasservorhang kann ich hiermit ein Tor nach Eas öffnen«, meinte er, als Rian sich zu ihm beugte. »Hyazinthe hat es mir genau erklärt. Hier geht es nicht, weil das Wasser nicht frei fällt. Wir müssen dorthin!« Er zeigte nach oben, wo das Wasser unter einer weiteren Brücke hindurchfloss und senkrecht in ein Becken stürzte, aus dem es sich dann über die steile Felsschräge vor ihnen ergoss.

Rian nickte und deutete auf die andere Seite. Der Weg ging dort bachaufwärts. »Da entlang.«

Ein Stück weit konnten sie dem Weg folgen, um höher zu kommen, doch er kam dem Bachlauf nicht nah genug, und so kletterten sie über das Geländer, rutschten über halb vereiste schlammige Erde und kraxelten über schlüpfrige und vereiste Felsen auf das Becken zu. An seinem Rand schoben sie sich dicht an die Felswand gedrückt von Stein zu Stein balancierend weiter darauf zu. Sprühnebel hing über allem, drang durch die Kleidung und legte sich klamm auf die Haut. Langsam begann die Kälte Rian zuzusetzen. Endlich standen sie so nah am fallenden Wasser, wie es überhaupt möglich war.

Rian blickte auf Grog hinunter. »Kannst du es von hier aus versuchen?«

Der Kobold hob die Meeresschnecke an und spähte darüber hinweg zum nahen Wasservorhang. »Ich denke schon.«

»Gut. Falls es klappt, müssen wir eben das letzte Stück springen.«

Nur ein kurzes Heben und Senken von Grogs Oberkörper verriet seinen tiefen Seufzer. Er war kein Freund von Wasser und der Sprung in dieses unbeliebte Element konnte ihm nicht behagen. Doch er hob ergeben das Schneckenhaus und ließ es in einer größer werdenden Spirale kreisen, während er Worte murmelte, die vom Tosen übertönt wurden.

Rian warf einen Blick zurück zu der Brücke, von der aus sie den Wasserfall betrachtet hatten. Dort stand der junge Mann, der sie hergebracht hatte, und winkte aufgeregt mit den Armen. Rian lächelte ihm zu und winkte zurück.

»Fertig«, rief Grog in diesem Moment. Ein sanfter, bunter Schimmer ging vom Schleier des Wasserfalls vor ihnen aus, als würde Licht von der anderen Seite sich darin brechen.

»Dann los«, rief Rian. »Bevor es sich wieder schließt.«

Mit einem Juchzer nahm Pirx Anlauf, sprang und kugelte sich im Lauf zusammen, ehe er in den Wasservorhang einschlug und verschwand. Grog zögerte, bis Rian ihn kurzerhand packte und hindurchwarf.

Rian musste keinen Anlauf nehmen; was für die Kobolde eines Sprungs bedurfte, war für sie kaum mehr als ein größerer Schritt. Noch einmal winkte sie dem jungen Mann zu, der mit vor dem Mund zu einer Röhre zusammengelegten Händen etwas rief. Dann ging sie durch das eiskalte Wasser.

2 Spione!

Der Ruf gellte in Rians Ohren, während sie noch das Wasser aus ihren Augen wischte. Die Kälte war schlagartig durch eine schwüle Wärme ersetzt worden, die einem die Luft aus den Lungen trieb.

»Verräter«, bellte erneut die Stimme in einer Sprache, die voller weicher Laute und Vokale war. Die Elfe spürte etwas Spitzes auf ihrer Haut, während sie blinzelnd versuchte, das Wasser loszuwerden und aus den vielen bunten Farbflecken um sie herum ein Bild zu gewinnen. »Spione der Abtrünnigen! Bringt sie zum König! Bringt sie zu Yacowie!«

Ein vielstimmiges Heulen erhob sich, und Rians Arme wurden grob nach vorn gerissen. Eine Schlinge aus Bast wurde über den ledernen Handschuhen um ihre Handgelenke zugezogen, und jemand stieß sie von hinten vorwärts, während vor ihr die Speerspitzen wichen und einer der Maskierten an der Fessel zog.

»He, was soll das!«, protestierte sie und versuchte, unter den sie umgebenden Maskengesichtern eines auszumachen, bei dem sie ihren Einspruch anbringen konnte. Doch überall begegnete sie nur kalten Blicken durch winzige Schlitze in den riesigen, mit bunten Streifen, Punkten und Spiralornamenten übersäten Masken, die von den Gesichtern ihrer Träger bis fast zum Boden reichten. Lange strohige Fasern und Federn hingen rings herum an den Rändern der Holzovale und bedeckten die Hinterköpfe und Rücken ihrer Träger bis hinunter zu den dichten Baströcken, was es fast unmöglich machte, sie einem Volk zuzuordnen.

»Was wollt ihr von uns?«, begehrte sie auf, während die Gestalten um sie in einen leichten Trab fielen und sie gnadenlos einen Tunnel entlang mitzogen und -stießen. »Wir sind nicht von hier! Wir sind aus Earrach …«

»Spar dir deinen Atem für den König«, klang es hohl hinter einer der Masken hervor. »Vielleicht glaubt der dir.«

Und der Rat war ein guter, denn der feuchte Wollmantel sorgte zusammen mit der schwül-warmen Luft dafür, dass Rian um ihren Atem kämpfen musste, während sie entlang scheinbar sinnlos gewundener Gänge durch den Höhlenbau getrieben wurde. Überall lauerten weitere Gestalten in dunklen Nischen, manche maskiert mit kleineren runden Masken oder solchen, die Tiergesichter darstellten, andere mit hell leuchtenden Streifen, Flächen und Punkten auf dunkler Haut, und alle stimmten sie ein trillerndes Geheul an, während sie vorbeihasteten.

Besorgt blickte Rian sich nach Grog und Pirx um. Doch sie konnte lediglich sehen, dass zwei Maskierte in einem Netz an einem Speer etwas hinter ihr und ihren Bewachern her trugen. Die Maschen des Netzes kamen ihr allerdings zu weit vor, als dass sie hätten Pirx halten können. Insofern hatte sie noch Hoffnung, dass zumindest der Pixie hatte entwischen können. Sein Auftauchen musste ihre Häscher überrascht haben, und vielleicht war es ihm gelungen, zu fliehen.

Der Gang endete in einem großen, von dumpfem Rauschen erfüllten Höhlenraum. Von der gegenüberliegenden Seite fiel durch einen ständig in Bewegung befindlichen Vorhang aus fallendem Wasser milchig-helles Licht herein, das durchsetzt war von vielfarbigem Schimmern. Davor zeichneten sich die schwarzen Umrisse weiterer Gestalten ab, teils stehend, teils kauernd, Speere und Schilde in den Händen, behängt mit Federn, klappernden Plättchen aus Holz und Knochen und mit Baströcken oder schlichten Lendenwickeln bekleidet. In der Mitte des Vorhangs stand ein großer Holzstuhl mit schmaler Lehne, der mit bunten Federn, glitzernden Perlen und Muschelschalen reich geschmückt und mit weichen Daunen gepolstert war.

Rians Gruppe blieb in der Mitte der Höhle stehen, und sie rang dankbar nach Luft, ihr Atem ging keuchend. Das Netz wurde neben ihr am Boden abgesetzt und der Speer herausgezogen, während Rian ihre heruntergerutschte Tasche wieder auf die Schulter schob. Als das weitmaschige Netz zu Boden fiel, kam Grogs Körper zum Vorschein, doch der Kobold lag reglos da. Ungeachtet der Wächter wollte Rian zu ihm, da klackerte etwas zwischen ihnen über den Felsen. Erschrocken zuckte sie vor dem Ding zurück, das wie ein auf einen Krebs aufgesetzter Totenschädel aussah und bei jedem Schritt seiner dünnen harten Beine ein Klicken hervorrief. Es bewegte sich dabei so schnell, dass seine Bewegungen wie ein leiser hoher Trommelwirbel klangen. So unvermittelt, wie es aufgetaucht war, verschwand das Wesen in einer dunklen Nische.

Als Rian wieder aufsah, war der Stuhl vor dem Vorhang nicht mehr unbesetzt.

»Wen bringt ihr mir da?«, fragte eine hohe, hohle Stimme. Der Umriss des Wesens, das auf dem Stuhl thronte, zeigte hohe runde Schultern, zwischen denen ein schmaler Kopf aufragte. Kleine Augen glitzerten aus dem ansonsten nicht erkennbaren Gesicht, auf dem eine Krone aus langen schmalen Federn saß.

»Fremde, die versuchten, ohne die Puripuri-Zeichen durch das Wassertor in die Festung einzudringen, Yacowie«, antwortete einer der Wächter.

»Ah! Bestimmt Spione von dem widerlichen Verräter Bangarra! Schafft sie zu den Krokodilen«, zischte der Mann auf dem Thron.

Rian straffte die Schultern. »Wer auch immer euer Bangarra ist, ich habe nichts mit ihm zu tun«, erklärte sie mit eisiger Stimme. »Ich bin Prinzessin Rhiannon von den Sidhe Crain und Earrach und von königlichem Geblüt, und eine derart respektlose Behandlung nicht gewohnt. Das ist schlichtweg unerhört! Lasst mich auf der Stelle frei!«

Ein hohes Kichern erklang. »Prinzessin von Earrach. Das ist gut. Und warum sollte es dich hierher verschlagen, mitten in meinen Höhlenbau? Nein, ihr werdet seltsame Fische sein, mit toter weißer Haut, und ich bin sicher, Bangarra hat euch irgendwo aus den Tiefen von Wasser oder Erde aufgetrieben, um euch für seine Zwecke zu benutzen.«

»Ich bin auf der Suche, die für uns alle wichtig ist …«

»Ah ja? Auf der Suche wonach? Der Perlmuttkammer mit meinen Schätzen? Der Haut der Regenbogenschlange, die unser Heim beschützt, vor Eindringlingen wie euch? Was wolltest du stehlen? Was für einen Auftrag hat Bangarra dir und deinem haarigen Helfer gegeben?«

Das reichte. »Schluss mit dem Schmierentheater!«, forderte sie mit einer heftigen Bewegung ihrer noch immer gebundenen Hände. Nachdem sie nicht angemessen angeredet wurde, sah sie keinen Grund, das ihrerseits zu tun. »Ich spreche die Wahrheit, und wenn du mir nicht glaubst, dann fordere ich eine Probe! Du hast kein Recht, mich und meinen Begleiter zu verurteilen, ohne dass wir die Tatsachen unserer Worte beweisen können!«

»Eine Probe.« Der Kopf des Herrschers bewegte sich ruckartig. »Das klingt nicht dumm. Eine Probe ist immer interessant.« Einen Moment schwieg Yacowie. »Also gut«, verkündete er schließlich. »Wir behalten deinen langhaarigen Freund hier, während du drei Aufgaben für mich erledigst. Kommst du nicht innerhalb der gesetzten Frist zurück, verfüttern wir ihn an die Krokodile. Wobei wir ihn vielleicht vorher scheren sollten, das viele Haar läge den armen Tieren nur schwer im Magen, und ich könnte mir eine Matte daraus flechten lassen.« Er kicherte.

»Einverstanden«, sagte Rian. »Stell mir deine Aufgaben und löse die Fesseln.«

Der König schob sich von seinem Stuhl und kam in einem Watschelgang auf Rian zu. Jetzt konnte sie ihn deutlicher sehen, und sie erkannte, dass das, was sie für ausladende Schultern gehalten hatte, in Wirklichkeit ein kreisrunder Panzer war, der Yacowies Rücken bedeckte und an der weicheren Wulsthaut vor Bauch und Brust angewachsen war. Der König, der ihr etwa bis zur Brust reichte, steckte in einem Schildkrötenpanzer. Ledrige graue Faltenhaut mit einer Musterung aus großen dunkelroten Flecken bedeckte seinen schmalen Hals, den flachen Kopf und seine aus dem Panzer ragenden Glieder. Arme und Beine endeten in ausgefransten paddelartigen, beweglichen Händen und Füßen. Er hob einen seiner Armpaddel und legte einen fingerartigen Auswuchs an Rians Brustbein.

»Ich werde dir was sagen, stolze Prinzessin aus dem Grünwiesenland. Denk ja nicht, du kannst Tricks mit König Yacowie machen. Bangarra glaubt, ich würde alt und ein wenig dumm werden, aber das ist nicht wahr. Mir macht das Altern nichts. Ich bin zäh und mein Kopf so klar wie immer, und falls du wegläufst und deinen Freund hier im Stich lässt, um zum Feuermacher zu rennen, dann richte ihm das aus! Er ist der Dummkopf, wenn er glaubt, den gewitzten Yacowie verdrängen zu können. Und jetzt komm.«

Er ging auf den Gang zu, aus dem sie gekommen waren, und die Maskenträger scharten sich wieder um Rian, während sie ihm folgte. Bislang schien niemand der Meinung zu sein, dass man ihr die Fesseln abnehmen sollte, doch zumindest wurde nicht mehr daran herumgerissen. Sie sah noch einmal kurz zurück zu Grog, der bewegungslos dalag, ehe sie erneut in das verwirrende Netz der Gänge eintauchte, den Blick fest auf die Schildpattmuster auf dem Rückenpanzer des Königs geheftet.

Sie traten auf eine Felsplattform hinaus, von der aus man einen atemberaubenden Ausblick über das Land hatte. Unter dem hellen Himmel von Eas breitete sich unterhalb der Felsen ein undurchdringliches Blätterdach aus, wie ein smaragdgrünes Meer, das leicht im Wind wogte und kleine Wellen bildete. Bei genauerem Hinsehen war darin eine schlangenartig gewundene dunklere Linie zu erkennen, die von dort zu diesem Felsen führte. Rian trat ein wenig vor und folgte der Linie mit ihrem Blick bis zu dem Punkt, wo die Bäume an einer Klippe endeten. Ein breiter Wasserfall ergoss sich aus dem Land heraus in die Tiefe, wo er schäumend auf die Wasser eines saphirfarbenen Meeres auftraf und darin versank.

Yacowie griff nach der Schlinge um ihre Handgelenke, lockerte sie und streifte sie ab. Dann wies er mit einer Hand über den Wald hinweg.

»Dort drüben, im Herzen des Hohen Waldes, ist der Blaue Fels, auf dem jeden Morgen der Vogel Schandsänger sitzt und sich mit seinem Gelächter über mich lustig macht, während ich meine Morgenruhe suche. Vor acht Tagen habe ich meinen Bumerang Ferntöter nach ihm geworfen, um ihn zu vertreiben. Mein Bumerang ist bis jetzt nicht zurückgekehrt, aber Schandsänger lästert weiterhin jeden Morgen. Weil ich aber Schandsänger nicht treffen, sondern ihn nur erschrecken wollte, hätte mein Bumerang zurückkehren und er weg sein müssen. Also muss jemand den Ferntöter gefangen und gestohlen haben.« Er wandte sich zu Rian und sah blinzelnd zu ihr auf. »Finde ihn und bring ihn zurück. Einen Tag gebe ich dir, danach ist dein Freund Krokodilfutter und sein Haar eine Matte für mein Bett.«

Rian runzelte die Stirn, während sie sich von ihren Handschuhen befreite und die Mütze abnahm. »Ich sehe den Felsen nicht einmal«, sagte sie. »Wie soll ich so schnell alles zwischen hier und dort absuchen? Ich kann nicht fliegen.«

Yacowies Panzer hob sich, als zucke er mit den Achseln. »Dein Problem, Tothaut. Aber von mir aus kann ich dir einen meiner Flieger mitgeben.« Er schnippte mit den Fingern, und ein Wächter, der Rian um zwei Köpfe überragte, beugte sich vor und legte seine Maske ab.

Ein mit kurzem dunkelbraunem Fell bedeckter, schon fast mager zu nennender Körper mit vier Armen kam darunter zum Vorschein. Zwei der Arme waren noch dürrer als der restliche Körper, und zwischen diesen und den Beinen des Mannes flatterten dünne, an seinen Seiten angewachsene Hautsegel. Die zwei anderen Arme, die weiter vorne an den Schultern ansetzten, wirkten deutlich muskulöser. Quer über seine Brust war mit weißer und gelber Farbe ein Muster gezeichnet, das fast wie eine kryptische Landkarte wirkte. Die Krallen an seinen kleinen Fußtatzen kratzten über den Stein, als er vortrat, und zwischen hochgezogenen Lefzen blitzten in dem schmalen marderartigen Gesicht mit der kurzen Schnauze helle spitze Zähne auf. Große runde Ohren zuckten darüber, als wollten sie jeden Ton auffangen.

»Ich bin Windreiter, und ich werde dich über die Wipfel tragen«, kündigte der Tiermann mit rauer Stimme an und trat auf Rian zu. Der Gedanke gefiel der Elfe nicht, doch sie hatte keine bessere Idee. Also nickte sie, schälte sich aus ihrem Mantel und rollte die anderen Sachen darin ein. Die dunkelblaue Hose, die sie für das winterliche England ausgesucht hatte, war zwar nicht unbedingt an dieses Klima angepasst, aber besser als der dicke Mantel; und der Stoff ihrer Bluse war leicht genug, dass der Wind, der zum Meer hin über das Plateau strich, ihr Kühlung verschaffen konnte.

Sie drückte das Bündel einem der Maskierten in die Hand und fuhr durch ihr Struwwelhaar. »Ich denke, es wäre am besten, erst einmal den Schandsänger zu fragen, ob er etwas weiß. Trag mich rüber zu dem blauen Felsen.«

Windreiter trat hinter sie, legte die Arme um ihre Brust und hob sie von den Füßen. Unvermittelt rannte er los, auf den Rand des Plateaus zu, und mit einem Satz sprang er über die Kante und in die Tiefe. Rian schrie, während die Bäume in rasender Geschwindigkeit näher kamen, doch als der Wind die aufgespannten Flügelhäute aufblähte und ihren Sturz in einen flachen Gleitflug über die Wipfel der Bäume hinweg umwandelte, wandelte ihr Schrei sich in einen erleichterten Jauchzer.

Für eine Weile vergaß sie die Sorge um Grog und den verschwundenen Pirx und genoss das Gefühl des warmen Windes auf ihrer Haut und den Anblick der unter ihr vorbei rauschenden Baumkronen, aus denen irritierte Vögel aufstoben und ihnen gemeinsam mit anderen Baumbewohnern nachzeterten. Schließlich machte sie einen bläulichen Schimmer aus, der sich im Näherkommen zu einem eisblau leuchtenden, hoch über das Blätterdach hinausragenden Felsen verdichtete. Bunt leuchtende Sprenkel waren in das helle Blau eingebettet und erzeugten Regenbogenschimmer.

Windreiter zog einen Bogen und steuerte eine Stelle bei dem Felsblock an, wo ein Aufwind ihn mit einigen zusätzlichen Bewegungen seiner Flügel wieder aufwärts trug. Der Fels endete in einem unregelmäßigen, glatt geschliffenen Plateau vorn an der Spitze, auf dem Windreiter die Elfe schließlich absetzte und vorsichtig neben ihr landete. Die Glätte des Bodens machte seinen Tatzen sichtlich zu schaffen, und er hielt die Flughäute weiter ausgebreitet.

»Danke, Windreiter«, sagte Rian und musterte den kahlen Fels. »Und wo ist jetzt dieser Schandsänger?«

Das Tierwesen streckte den Rücken und schüttelte seine Arme aus. »Der Schandsänger ruft nur am Morgen und am Abend. Du wirst auf ihn warten müssen. Windreiter geht so lange jagen. Möchtest du auch etwas?«

Rian schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich sehe mich hier so lange um.«

»Gut.« Windreiter nickte, warf sich vom Fels und verschwand unter dem Blätterdach, wo erneut ein Schwarm Vögel aufstob.

Die Elfe ließ sich auf dem glatten Fels nieder und schaute über das grüne Meer hinweg. Nichts war hier von dem Uferfelsen zu sehen, auf dem sie noch vor kurzem gestanden hatte. Lediglich dort, wo der Fluss über die Klippenkante stürzte, glaubte sie, die Ahnung eines Regenbogenschleiers zu sehen. Doch das alles half ihr nicht weiter. Irgendwo zwischen dort und hier war ein Bumerang verloren gegangen, und sie wusste nicht einmal genau, wie das Ding aussah. Zwar hatte sie einmal in einem Park in Paris einen jungen Mann bei Wurfübungen mit einem solchen gebogenen Holz gesehen und wusste darüber, was jeder wusste, doch wie das von Yacowie aussah, konnte sie nicht einmal erraten.

»Auf jeden Fall ist es eine Zauberwaffe, denn sonst würde sie wohl kaum diese weite Strecke zurücklegen«, stellte sie leise für sich fest. »Oder aber Yacowie hat mehr Kraft, als man einem Schildkrötenmann zutrauen würde.«

Ein Bumerang flog immer einen Kreis, so viel wusste sie. Und er drehte sich dabei unaufhörlich um sich selbst. Richtig geworfen kehrte er zum Besitzer zurück, wenn das Ziel verfehlt worden war. Für sie hieß das, dass der Bumerang irgendwo auf der Bahn abgefangen worden war. Sie konnte nur hoffen, dass der Schandsänger – wer und was auch immer er war – es beobachtet hatte und ihr einen Hinweis geben konnte. Und dass er für diese Hilfe nicht zu viel verlangen würde.

Rian tastete über den glasigen Boden. Das Schimmern der Einschlüsse hatte einen fast hypnotischen Effekt.

»Opal«, sagte sie leise. »In der Menschenwelt würdest du nicht lange existieren, schöner Fels.« Sie tätschelte den Stein, als würde er leben, legte sich dann auf den Bauch und schob sich vorsichtig zur Kante. Es ging so tief hinunter, dass es jemanden, der nicht das Klettern im Baumschloss der Sidhe Crain gewohnt war, hätte schwindeln machen können. Doch Rian war unbeeindruckt, musterte das Blätterdach unter sich und die aufragende Opalwand, während sie rätselte, wo dieser Schandsänger wohl lebte. Dabei fiel ihr ein Stückchen unterhalb des Plateaus eine Stelle auf, an der die glatte Oberfläche des Steins unterbrochen war. Ein Riss ging quer hinein, von dem Splitter abgebrochen waren. Es war der einzige Punkt, der noch nicht von Wind und Regen glattgeschliffen war. Wenn Windreiter wiederkam, musste sie ihn bitten, mit ihr dorthin zu fliegen, damit sie sich ein paar Steine mitnehmen konnte. Sie liebte das Glitzern von Opalen.

Rian schob sich wieder zurück und stand auf, als plötzlich jemand laut und keckernd hinter ihr lachte. Langsam und vorsichtig, um nicht auf dem glatten Stein auszurutschen, drehte sie sich um.

Ein Vogel saß vor ihr, etwa eine Elle lang, und musterte sie mit leicht schräggelegtem Kopf, die weißgefiederte Brust vorgestreckt und die dunkleren Federn über dem Schnabel vom Wind etwas aufgestellt. Plötzlich reckte er den Kopf hoch, stellte den ebenso wie Rücken und Flügel dunkel gefiederten Schwanz auf und begann, das Lachen von sich zu geben, das sie zuvor gehört hatte. Unwillkürlich musste Rian lächeln.

»Bist du der Schandsänger, von dem Yacowie gesprochen hat?«, fragte sie. »Lachst du ihn jeden Morgen aus und ärgerst ihn damit?«

Der Vogel legte den Kopf schräg. »Ist nicht schwer«, sprach er plötzlich krächzend. »Ist nicht schwer, ihn aufzuregen. Ist nicht schwer.« Erneut reckte er den Kopf und lachte.

»Warum tust du es? Warum ärgerst du ihn?«

»Goo-goor-gaga ärgert Yacowie schon seit Traumzeit sich von Zeit getrennt, und seit Traumzeit sich von Zeit getrennt wirft Yacowie den Bumerang nach Goo-goor-gaga. So muss es sein, so war es immer.«

»Aber in den letzten Tagen war es nicht mehr so, weil jemand den Bumerang gestohlen hat. Hast du eine Ahnung, wer das war?«

Der Vogel neigte den Kopf zur anderen Seite. »Niemand gestohlen. Yacowie wird alt. Kann nicht mehr richtig werfen. Ist ein alter Knochenbeutel geworden.« Erneut das Gelächter.

»So, wie du auch alt werden wirst, Goo-goor-gaga. Du wirst deine Federn verlieren und zu schwach werden zum Fliegen, und du wirst dich in irgendeine Ecke verkriechen und vergehen. Wir alle werden vergehen, wenn Yacowie seinen Bumerang nicht zurückbekommt.«

Fallende Blätter … stumme Steine, die einst uralte Elfen gewesen waren … weiße Strähnen in Fanmórs Haar …

Rian schüttelte die Gedanken ab.

»Und das alles nicht geschieht, wenn Yacowie bekommt Bumerang zurück?«, fragte Goo-goor-gaga.

Rian senkte den Blick und strich ihre Hose glatt. »Das kann ich nicht versprechen. Aber es gibt mir die Möglichkeit, weiter nach dem zu suchen, was uns heilt. Und ganz sicher kann ich damit einen treuen Begleiter retten.«

»Was ist mit Begleiter? Was passiert?«

»Yacowie will ihn töten und aus seinem Haar eine Matte weben.«

»Matte. Yacowie bekommt kalte Knochen, will warme Matte.« Er lachte. »Yacowie keine Matte, Yacowie kalt, wird Bangarra ihm mit warmem Feuer einheizen. Wir suchen Bumerang. Yacowie zu schwach geworfen, ist an Fels abgeprallt, liegt irgendwo da unten. Wir suchen. Du ihm sagen, er zu schwach für Bumerang. Soll Bangarra König machen. Feuer von Jugend. Hält länger durch.«

»Erst der Bumerang.« Sie drehte sich um und sah über die Kante des Felsens. Es ging in steilen Stufen abwärts zum Blätterdach, und sie hatte beim Flug den Eindruck gewonnen, dass die Bäume dieses Waldes in ihrer Größe dem Baumschloss nicht nachstanden. Alles in allem waren sie also sehr weit über dem Boden, und Windreiter war weggeflogen.

»Goo-goor-gaga kümmert sich um Bumerang.« Der Vogel flatterte kurz mit den Flügeln, setzte sich dann erneut in Pose und stieß sein Gelächter aus – doch dieses Mal war es so laut, dass Rian sich die Ohren zuhalten musste. Jetzt verstand sie, wie es möglich war, dass Yacowie den Vogel noch auf der anderen Seite des Waldes hören konnte. Und nicht nur das. Als sie die Hände wieder sinken ließ, hörte sie eine wilde Kakophonie von Vogelstimmen aus der Tiefe, eine Mischung aus tausendfachem Gesang und Gelächter, dass sich wie eine Welle durch den Wald fortpflanzte und schließlich wieder versiegte.

Augenblicke später bewegten sich direkt unterhalb des eisblauen Felsens die Baumwipfel, als herrsche dort ein starker Sturm. Doch was schließlich daraus hervorbrach, war ein riesiger bunt schillernder Schwarm aus Vögeln aller Größen, Formen und Farben. In stetigem Kreisen um einen gemeinsamen Mittelpunkt stieg der Schwarm höher und höher, an eine Windhose erinnernd, bis die tobende und tirilierende Wolke schließlich das Plateau erreichte, auf dem Rian mit Goo-goor-gaga stand.

Für einen Moment war die Felskante eingehüllt in den kreisenden Schwarm, und Rian fürchtete, einige der in unglaublicher Geschwindigkeit herumzischenden Vögel würden sich die Köpfe am Stein rammen. Plötzlich stob die Vogelschar jedoch unvermittelt auseinander, verteilte sich in alle Himmelsrichtungen in die Lüfte, und auf dem Felsen lag ein gebogenes Holzstück, das vom Alter tiefschwarz war. Bögen, Spiralen, Punkte und Linien waren mit weißer Farbe darauf gemalt, deren Bedeutung sich vermutlich nur Yacowie erschloss.

Rian ging auf die Felskante zu, bückte sich, um das Holzstück aufzuheben, und gab ein überraschtes ›Oh!‹ von sich. Der Bumerang war deutlich schwerer, als sie erwartet hatte.

»Yacowie macht aus Blutstein«, erklärte Goo-goor-gaga. »Fliegt weiter, schlägt härter. Aber braucht mehr Kraft. Yacowie nicht mehr Kraft, soll Bumerang aus Holz nehmen, wie Purukupali-Kinder.«

»Purukupali-Kinder?«

»Die in der Zeit leben. Kinder von Traumzeit-Mann Purukupali.«

»Die Menschen?«

Der Vogel neigte den Kopf zur Seite, als verstünde er Rians Frage nicht, und noch ehe die Elfe nachhaken konnte, stieg mit lautem Rauschen Windreiter neben ihr aus der Tiefe auf. Mit einem schrillen Schrei stob Goo-goor-gaga von dem Felsen auf und stieß wie ein Pfeil abwärts, zurück zwischen die Bäume.

Windreiter landete mit ausgebreiteten Flügeln und bleckte die Zähne. Blut und kleine Hautfetzen waren dazwischen zu sehen, Reste seiner Jagdbeute.

»Du hast Erfolg gehabt«, stellte er mit einem Blick auf den Bumerang in Rians Hand fest. »Das war schnell. Wir fliegen zurück.«

Es war keine Frage, und Rian presste die schwere Waffe fest gegen ihre Brust, als der große Mann ihr erneut unter die Arme griff und sich mit ihr in die Tiefe stürzte. Dieses Mal war es nicht ganz so einfach, den Flug zu genießen, denn Rian wollte auf keinen Fall riskieren, den Bumerang zu verlieren. So atmete sie erleichtert auf, als sie das Felsplateau erreichten, von dem sie vor noch gar nicht so langer Zeit losgeflogen waren. Das Himmelslicht hatte nachgelassen, und der Abend brach herein. Dumpfes Trommeln, Pfeifen und Dröhnen war aus dem Höhlenschacht zu hören. Die Schwingungen krochen Rian das Rückgrat hinauf und ließen ihren Kopf summen.

Windreiter hielt sie fest, als sie durch den Höhleneingang treten wollte.

»Du brauchst Puripuri-Zeichen, Tothautfrau. Sonst wirst du dem Weg der Schlange folgen, bis du umfällst.«

»Puripuri-Zeichen?«

Windreiter deutete auf die Symbole auf seiner Brust. »Puripuri. Schutzmagie gegen Yacowies Zauber, der die Feinde in die Irre führt.«

»Nett, dass du es mir zumindest sagst, wenn schon dein König nicht daran gedacht zu haben scheint, dass ich so etwas brauchen könnte.« Rians Sympathie für den Schildkrötenkönig stieg nicht gerade.

»Yacowie denkt an alles.«

»Willst du damit sagen … er will gar nicht, dass ich es schaffe?«

»Yacowie hat dir Windreiter mitgegeben, und Windreiter kann dir Puripuri-Zeichen geben, denn du hast den Bumerang.« Der Tiermann winkte ihr, ihm zu folgen.

Rian konnte nicht von der Hand weisen, dass es eine gewisse Logik hatte, was Windreiter sagte. Yacowie traute ihr nicht, und wäre sie geflohen, hätte sie womöglich die Magie der Puripuri-Zeichen nutzen können, um etwas gegen den König zu unternehmen.

Der Flieger zog drei Schalen aus einer Nische nahe dem Höhleneingang und bedeutete Rian mit einer Geste, sich zu setzen. »Du musst die falsche Haut ablegen, damit Windreiter auf der weißen Haut malen kann«, forderte er sie auf.

Rian brauchte einen Moment, um zu verstehen, was er meinte, doch dann öffnete sie die Bluse, damit er die Muster auf ihrer Brust auftragen konnte. Mit konzentriertem Blick und unter leisem Summen von Beschwörungsformeln machte Windreiter sich an die Arbeit.

Die Farben fühlten sich auf Rians erhitzter Haut kühl und körnig an, und sie vermutete, dass sie aus verschiedenen Tonerden und Asche gemischt waren. Darunter spürte sie das leise Prickeln von Magie. Sie schloss die Augen und lauschte dem Summen des Tiermanns und der auf seltsame Art direkt den Geist ansprechenden Musik, die aus der Höhle drang – sofern man diese Mischung aus Rhythmus und fast eintönigen Schwingungen Musik nennen wollte. Ihre Gedanken trieben davon, nicht zuletzt getragen von den vorsichtigen Berührungen des Tiermanns an ihrem Hals, den Schultern und ihren Brüsten. Als er die kühle Erdfarbe um ihre Brustwarzen herum auftrug, zogen diese sich unwillkürlich zusammen und verursachten ihr einen leisen Schauder.

Vielleicht hätte ich mir doch etwas Zeit mit dem jungen Mann bei der Quelle nehmen sollen, dachte sie. Ich fange an, den Menschen viel zu ähnlich zu werden. Hetzen, hetzen und keine Zeit fürs Vergnügen. Aber andererseits … vermutlich wäre es ohnehin wieder nichts geworden. Ich könnte Vater für seinen Schutzzauber würgen. Er muss diesen Fluch von mir nehmen … Sie seufzte. Aber jetzt gibt es wichtigere Probleme als meine Jungfräulichkeit. Zum Beispiel, die Unsterblichkeit zurück in die Anderswelt zu bringen.

»Du bist bereit, Tothautfrau.«

»Rhiannon«, sagte die Prinzessin. »Mein Name ist Rhiannon, Tochter von Fanmór, König der Sidhe Crain und Herrscher über Earrach.«

Windreiter zog die Lefzen hoch in einer Gestik, die wohl ein Lächeln sein sollte. »Ri-an-non«, knurrte er. »Der Name hat einen guten Klang.«

Während sie ihre Bluse schloss, stellte er die Tiegelchen zurück in die Nische und winkte ihr anschließend, ihm zu folgen. Wieder stiegen sie hinunter in die von schimmernden Perlmuttschalen erhellten Höhlengänge, die Rian wie die Eingeweide der Felsküste vorkamen. Ein heller Ton erhob sich auf einmal über das andauernde dumpfe Schlagen, Brummen und Surren, mal gedämpfter, dann wieder klar. Weitere solche Töne begannen ein Wechselspiel um diesen einen Ton herum.

»Was wird gefeiert?«, fragte Rian Windreiter.

»Sie feiern, dass du den Bumerang zurückbringst, mit dem Yacowie Bangarra erschlagen will.«

Rian runzelte die Stirn. »Aber woher wissen sie, dass ich den Bumerang habe?«

»Yacowie weiß immer, wo sein Bumerang ist.«

Die Elfe schwieg dazu. Es war eine Probe gewesen, diese hatte sie schließlich selbst verlangt. Nichts war daran verwunderlich, dass Yacowie jederzeit genau hätte sagen können, wo die Waffe war, und jeden hätte schicken können.

Als sie den Höhlenraum betraten, verstummte die Musik unvermittelt, und aller Augen richteten sich auf die Prinzessin – schwarze und helle, funkelnde und matte, Glubsch- und Schlitzaugen, Knöpfe und Facetten. Stöcke verharrten über ausgehöhlten Stämmen, oder mit Haut überzogenen schlichten Trommeln. Ein Vogelwesen ließ eine Bambusflöte aus seinem Schnabel gleiten und fing sie mit gefiederten Händen auf. Ein Mann mit hellgrauer ledriger Haut, scharf blitzenden Zähnen im länglich ausgeformten Mund und einem dreieckigen Auswuchs auf dem Rücken ließ eine knochenweiße Panflöte sinken. Mitten im Raum richteten sich einige Äffchen auf, deren Gesichter mit weißer Farbe so bemalt waren, dass sie wie Totenschädel wirkten, und die Rasseln aus an bunten Bändern befestigten Samenhülsen an Armen und Beinen trugen.

»Rian!« In die plötzliche Stille klang Grogs raue Stimme wie eine Explosion. Sie sah in die Richtung, aus der sie ihn gehört hatte, und tatsächlich saß der Kobold dort auf einem Holzstamm. Er sprang auf, als die Elfe ihn ansah, und ein Affenwesen klammerte sich erschrocken an sein Haarkleid und kreischte auf.

»Pass auf, du Dummkopf! Schon vergessen, dass ich dein Fell pflege?«

Brummend griff Grog dem Wesen unter die Arme und setzte es sich auf die Schultern, wo es prompt begann, in seinem Kopfhaar zu wühlen.

»Du hast meinen Bumerang«, klang Yacowies Stimme auf. Der König saß auf dem Thron, und im Perlmuttschimmerlicht konnte sie das Blitzen seiner schwarzen Knopfaugen erkennen.

»Den habe ich«, antwortete Rian und ging auf ihn zu, die Waffe mit beiden Händen vor sich haltend. Der König griff danach, wog sie kurz prüfend und stellte sie dann neben seinem Thron ab.

»Gut. Du feierst mit uns, und morgen bekommst du deine neue Aufgabe.«

Rian fügte sich, denn sie hatte nicht viel Wahl. Neben Grog ließ sie sich auf dem Baumstamm nieder, lehnte dankend die angebotenen zappelnden Termiten und das rohe Fleisch ab, und griff stattdessen bei den fleischigen Blättern und Blüten zu, die ihr eine Frau mit seidigem braunem Fell, Schwimmhäuten und einem schnabelartig geformten Mund reichte. Die Musik wurde wieder aufgenommen, und Tänze wurden vorgeführt, die Geschichten von Jagden und Kämpfen darstellten. Jemand gab Rian ein leicht scharf schmeckendes Gebräu, das ihre Nerven zum Singen brachte und die Müdigkeit verfliegen ließ, sodass sie sich erst gegen Morgen in ihrem Mantel wickelte und versuchte, auf dem harten Boden etwas Schlaf zu finden.

Wilde, seltsame Träume suchten Rian heim, von sirrend durch die Luft schwirrenden Hölzern, hohlen brummenden Ästen, Feuern und dem rhythmischem Stampfen tanzender schwarzer Menschen. Als Grog sie weckte, fühlte sie sich völlig zerschlagen. Sie hatten kurz Gelegenheit, sich von den anderen unbeachtet über Pirx auszutauschen, doch auch Grog hatte keine Ahnung, wo der Pixie abgeblieben war.

Nach einem Frühstück aus süßen Früchten, bei dem erneut das Kawa-Kawa genannte Gebräu gereicht wurde, führte Tambreet, die Frau mit dem Entenschnabel, sie zu einem Felseinschnitt, in dem ein Teil des Flusswassers in einem sanften Strom herabfiel. In dem kalten Wasser nahm Rian eine erfrischende Dusche, die ihre Lebensgeister zusammen mit dem anregenden Gebräu wiederherstellte.

Bei ihrer Rückkehr wartete Yacowie auf sie.

»Die Termiten haben mein altes Kanu gefressen«, verkündete er. »Ich will mir ein Kanu aus Schildholz bauen, das ihnen zu hart ist. Bring mir scharfe, gute Äxte und Messer, damit ich das Kanu bauen kann. Stein und Knochen werden am Schildholz zu schnell stumpf.«

»Die Menschen haben gute Stahlwerkzeuge mit Holzgriffen, die keinen Schmerz bei Berührung verursachen«, sagte sie. »Warum geht Ihr nicht zu ihnen?«

Yacowie zog den Kopf ein Stück in den Panzer zurück. »Weil sie mir über heißem Feuer die Haut vom Rückenpanzer lösen, und Tambreet, Windreiter und den meisten anderen würden sie das Fell abziehen. Es fällt uns nicht leicht, Menschen zu sein in der Menschenwelt. Meistens sind wir Tiere, und die, die nichts von der Traumzeit wissen und sie nicht verstehen, jagen und fressen uns, oder stehlen uns unsere Häute. Weißt du, wie es ist, bei lebendem Leib das Schildpatt abgezogen zu bekommen? Nicht angenehm, das sag ich dir, Tothaut.«

»Rhiannon«, korrigierte Rian automatisch. »Also gut, ich kümmere mich darum.«

»Und wir kümmern uns gut um das Haarkleid deines Freundes.« Der König öffnete den Mund ein wenig, sodass die winzigen Zähnchen sichtbar wurden, während er kehlig gluckste.

Rians Blick glitt zu Grog, der erneut in der Nische saß und geduldig sein Haar von einem Äffchen zu kleinen Zöpfen flechten ließ. Mit aufmunterndem Lächeln zeigte er ihr einen hochgestreckten Daumen. Die Prinzessin lächelte zurück.

Ich hoffe nur, ich werde dein Vertrauen nicht enttäuschen.

Das erste, was Rian in der Menschenstadt tat, war, sich an den Sommer angepasste Kleidung zu kaufen. Erleichtert stopfte sie die anderen Sachen in eine Plastiktüte, bezahlte mit einigen Palmblättern, die sie aus einer Dekorationspflanze gezupft hatte und für die Verkäuferin wie Australien-Dollar-Scheine aussahen, und steckte das Rückgeld in ihre Handtasche.

Vor dem Laden blieb sie unvermittelt stehen, als ihr Blick auf eine Sitzbank auf der anderen Straßenseite fiel. Dort saß im Schneidersitz ein Mann mit rußschwarzer Haut, flacher Nase und schulterlangem weißem Haar, bekleidet nur mit bunten Shorts und einem Lederband mit einem Zahn vor seiner schmalen Brust, und sah sie mit wasserblauen Augen an.

Es war ein ungewöhnliches Verhalten unter Menschen, jemanden so direkt und ohne erkennbaren Lidschlag anzustarren, wie er es tat. Zudem weckte die Gestalt in Rian die Erinnerung an ihren Traum der letzten Nacht. Es kam ihr fast so vor, als spüre sie wieder die tiefen Schwingungen des Instrumentes, das er dort gespielt hatte und das wie ein bunt bemalter, ausgehöhlter dünner Holzstamm aussah. Gerade als sie den Entschluss fasste, ihn anzusprechen, fuhr ein Bus zwischen ihnen vorbei, und danach war er verschwunden.