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Die Saison auf Hiddensee ist vorbei. Ruhe zieht auf der Insel sein. Doch dann entdeckt Schäfer Dirk Knöfel im Sumpf Ellersegen im Norden der Insel einen verwesten menschlichen Kopf. Die Inselpolizisten Ole Damp und Stefan Rieder, eigentlich auf eine ruhige Nachsaison eingestellt, stehen plötzlich vor einem brisanten Kriminalfall. Der Tote ist Ulrich Ladbeck. Seit über einem halben Jahr wurde der „Deichgraf“ der Insel vermisst. Schnell gerät dessen Frau Birgit ins Visier der Inselpolizisten. Aber auch auf der Insel hat sich Ladbeck mit seinem Mega-Projekt für den Hafen Vitte viele Feinde gemacht. Eine Sturmflut erschwert die Ermittlungen. Am Morgen danach liegt ein weiteres Mordopfer am Strand … Auch im achten Teil der Inselkrimi-Reihe liefert Tim Herden eine gelungene Mischung aus fesselnder Unterhaltung, packender Spannung, trockenem Humor und authentischer Figurenzeichnung. All das macht seine Romane zu einer erfrischenden Bereicherung der Krimi-Landschaft.
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Seitenzahl: 512
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Tim Herden, geboren 1965 in Halle (Saale), arbeitete nach dem Studium der Journalistik in Leipzig zunächst als wissenschaftlicher Assistent und Journalist, ehe er 1991 Redakteur beim Mitteldeutschen Rundfunk in Dresden wurde. Nach langjähriger Tätigkeit im ARD-Hauptstadtstudio in Berlin leitet er heute als Direktor das Landesfunkhaus Sachsen-Anhalt des MDR. 2010 veröffentlichte er seinen ersten Hiddensee-Krimi „Gellengold“ im Mitteldeutschen Verlag. Danach folgten die Fortsetzungen „Toter Kerl“(2012), „Norderende“(2014), „Harter Ort“(2016), „Schwarzer Peter“(2018), „Süderende“(2020) und „Schabernack“(2022). Mit „Ellersegen“ liegt nun der achte Titel der erfolgreichen Reihe um die Inselkommissare Rieder und Damp vor.
Die Personen und die Handlung des Buchs sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Inhaltsverzeichnis
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Der Bodden glitzerte im Sonnenlicht, das noch die Luft erwärmte. Dabei war es bereits Ende Oktober. Sonst tobten um diese Zeit die ersten Herbststürme über Hiddensee. Doch in diesem Jahr war alles anders. Auch für Dirk Knöfel. Er stützte sich auf seinen Schäferstab. Vom Gipfel des Rabenberges schaute er auf das Lichtspiel in der Griebener Bucht. „Berg“ und „Gipfel“ waren jedoch übertrieben. Mit einer Höhe von knapp über dreißig Metern über Normalnull war der Rabenberg nicht mehr als ein Hügel. Selbst hier auf Hiddensee. Der Bakenberg mit dem Leuchtturm auf seiner Spitze war mehr als doppelt so hoch. Knöfel mochte die Hügellandschaft unterhalb des Dornbuschs mit den sanften Rundungen mehr als die schroffen Abbruchkanten der Kreideküste wie am Toten Kerl. Eine schöne, noch grüne Weide lag wie ein schützender Teppich über der Anhöhe. Hier und da blühten noch Wiesenblumen – genau die richtige Geschmacksmischung für seine Herde. Die Schafe grasten schon weiter unten, nahe am Plattenweg von Grieben zum Enddorn. Niemand störte sie. Im Herbst verirrten sich kaum Urlauber in den Inselnorden.
In Grieben waren die Ferienwohnungen längst winterfest gemacht. Dorfbewohner ließen sich nur selten blicken. Wenn doch, schwangen sie sich schnell aufs Rad, fuhren nach Kloster zum Einkaufen und verschwanden nach Rückkehr sofort wieder hinter den blickdichten Hecken vor den Grundstücken. Knöfel störte es nicht. Als Schäfer war er Einsamkeit gewohnt.
Die Gegend hier war nicht sein angestammtes Revier. Das war der Inselsüden – von der Grenze zum Vogelschutzgebiet am Gellen bis zu den Ausläufern der Dünenheide südlich des Deichs um Vitte, dem Zentrum der Insel. Eigentlich hätte er schon längst nicht mehr auf der Insel sein sollen. Spätestens Ende September verließ Knöfel gewöhnlich mit der Herde Hiddensee. Die Hälfte der Tiere würde ihr Leben gelebt haben und zum Schlachter nach Bergen gebracht werden. Ein rotes Kreuz aus Lebensmittelfarbe auf dem Rücken besiegelte ihr Schicksal. Die anderen durften den Winter in den Stallungen des Besitzers der Herde, Jens Kawka, in Neuenhagen auf Rügen verbringen und im Frühjahr wieder auf die Insel zurückkehren.
Der September und Anfang Oktober waren jedoch ungewöhnlich warm gewesen. Mit viel Sonne am Tag und einigen ergiebigen Regenfällen in der Nacht. Das hatte das Grün auf den Weiden noch einmal wachsen lassen. Da das Abmähen teurer war, als es von Schafen abgrasen zu lassen, hatte der Eigentümer der Flächen vom Rübenberg bis zum Rabenberg Kawka angeboten, seine Tiere dort weiden zu lassen. Längere Weidezeit bedeutete mehr Gewicht für die Schlachttiere und damit mehr Geld. So hatten Knöfel und die Tiere einen Marschbefehl in den Inselnorden und eine Gnadenfrist erhalten. Diese war nun abgelaufen. In den nächsten Tagen würde der Transport nach Rügen stattfinden, und Knöfel würde nach Lietzo zurückkehren – ein Dorf bei Zerbst im südlichen Fläming. Dort zehrte er im Winter von den Bildern in seinem Kopf: von den Wellenbergen der Ostsee, vom gelben Blütenmeer des Ginsters, dem lilafarbenen Blütenmeer der Dünenheide, von schwebenden Möwen im Wind und dem Glitzern des Boddens. Bis zum nächsten Frühjahr.
Pollux riss Knöfel aus seinen Gedanken. Der Border Collie hatte sich erhoben, spitzte die Ohren. Etwas beunruhigte ihn. Der Schäfer blickte bergab zu seinen Schafen. Einige trabten auf einen kleinen Tümpel auf der Weide zu. Das musste verhindert werden. Das Wasser darin war nicht gut für die Schafe. Knöfel pfiff kurz. Pollux und der zweite Hütehund Hector sprinteten los, schnitten den Ausreißern den Weg ab und trieben sie mit ihrem Gebell zum Rest der Herde zurück. Als das gelungen war, umkreiste Hector immer wieder die Tiere und mahnte sie so, beisammenzubleiben. Da erreichte Knöfel das laute Gebell von Pollux. Der Hund war nicht zu sehen. Der Schreck fuhr dem Schäfer in die Glieder. Ein Schaf musste in den Sumpf geraten sein. Warum sonst schlug Pollux an? Nicht auszudenken, wenn eines der Tiere dort stecken geblieben war. Kalter Schweiß trat Knöfel auf die Stirn. Und tatsächlich: Pollux stand am Ufer des kleinen Sees und bellte sich die Lunge aus dem Hals. Knöfel näherte sich ihm, gab ein Kommando. Der Hund beruhigte sich ein wenig. Statt zu bellen, begann er nun inbrünstig zu knurren. Doch Knöfel konnte kein Schaf entdecken. War es schon versunken? Hatte er Pollux und Hector zu spät losgeschickt? Kawka würde ihn feuern.
„Zu spät, du braver Hund“, brachte er leise hervor. Er ging auf den Hund zu, wollte ihn streicheln. Pollux entwand sich seiner Hand, lief durch den Morast rund um das kleine Gewässer herum, nur um an derselben Stelle stehen zu bleiben und wieder laut zu bellen. War dort das Schaf versunken? Knöfel folgte seinem Hund. Bei ihm angekommen, gefror ihm das Blut in den Adern. Vor ihm lag eine buschige Kugel im Dreck. Schneller, als er selbst den Gedanken fassen konnte, erkannte er, was da vor ihm lag: ein Menschenkopf. Oder vielmehr, was davon übrig war. Die Haare waren borstig und zerzaust. An kahlen Stellen schimmerte der nackte Schädel durch. Die Augenhöhlen waren tief und leer. Lederne Hautreste spannten sich über den Schädel, wo einst das Gesicht gewesen war. Der Unterkiefer hing schlaff nach unten und wirkte wie eine erstarrte Grimasse.
Mit fester Hand griff Knöfel nach Pollux’ Halsband. Der Hund wehrte sich ein wenig. Dann folgte er seinem Herrn. Knöfel ging ein paar Schritte zurück auf die Weide. Er atmete schwer und sank zu Boden. Jetzt kam auch Hector. Beide Hunde witterten Gefahr. Sie waren darauf abgerichtet, nicht nur die Herde zu hüten, sondern auch den Schäfer zu beschützen.
Knöfel überlegte kurz, holte sein Telefon heraus und tippte drei Ziffern ein. Dreimal klingelte es, bevor sich eine brummige Stimme meldete.
„Notrufzentrale. Polizeirevier Bergen. Was kann ich für Sie tun?“
Fast hätte Knöfel geantwortet: „Ich möchte die Zeit zurückdrehen. Nur zehn Minuten.“ Dann besann er sich und sagte: „Hier liegt ein Kopf. Der Kopf eines Menschen. Mitten im Moor.“
1Der Anruf aus Bergen kam für die beiden Polizisten im Inselrevier Hiddensee ungelegen. Für Ole Damp und Stefan Rieder galt die Saison als beendet. Wenn keine Urlauber mehr auf der Insel waren, gab es auch keine Verbrechen mehr – so die Regel. Ausnahmen davon waren meist unerfreulich. Außerdem gab es anderes zu tun.
Damp, Revierleiter auf der Insel Hiddensee, brütete über einem Lehrbuch für den „Sportbootführerschein See“. Seine Lippen bewegten sich. Er sprach den Text mit, den er gerade las. Ab und zu schaute er auf, wiederholte das Gelesene. Dann nickte er oder schüttelte den Kopf, je nachdem, ob er die Informationen verstanden hatte – oder auch nicht.
Damps Schulzeit lag lange zurück, das Lernen war ihm damals schon schwergefallen, Prüfungen ein Albtraum gewesen. Rieder war schuld, dass er nun wieder büffeln musste. Immer wieder schickte er böse Blicke über seinen Schreibtisch. Doch Stefan Rieder nahm sie nicht wahr.
Rieder hatte sich vor wenigen Wochen endgültig von der Sonderkommission „Ostseeküste“ in Stralsund ins Revier Bergen auf Rügen, Standort Vitte, Insel Hiddensee versetzen lassen. Natürlich war für einen Kriminalhauptkommissar eine siebzehn Kilometer lange und nur wenige hundert Meter breite Insel als Zuständigkeitsbereich zu klein. So hatte er mit dem Stralsunder Polizeidirektor Bökemüller eine Vereinbarung getroffen. Sehr zum Unwillen von Damp. Das Revier Hiddensee war nun auch für einen Teil Westrügens von Dranske über Wiek bis nach Gingst verantwortlich. Die Kriminalität war dort überschaubar und das Einsatzgebiet von Hiddensee übers Wasser gut zu erreichen. Jedenfalls nach Rieders Ansicht. Deshalb gehörte zur Fahrzeugflotte des Reviers Hiddensee neben einem kleinen Elektrostreifenwagen nun auch ein ehemaliger Fischkutter. Er hatte einem Hiddenseer Fischer gehört, der im Frühjahr ermordet worden war. Rieder hatte die Chance erkannt. Er hatte Bökemüller überredet, den Kutter zu kaufen. Das machte die Witwe glücklich, denn wer kaufte schon in diesen Zeiten der Fangverbote einen alten Fischkutter. Und Rieder, der nun ein Boot für Einsätze auf der Nachbarinsel besaß. So konnte er auf Hiddensee wohnen und sowohl auf der Insel wie auch auf Rügen ermitteln. Wenn es dann doch mal über Land auf Rügen gehen musste, stand immer noch sein altersschwacher Ford Focus bei Parkplatzbesitzer Möbius in Schaprode bereit.
Inzwischen war das Boot renoviert, in den Polizeifarben Blau und Weiß gestrichen, und an Bug und Heck prangte neben dem Kennzeichen NEU 66 die Aufschrift „POLIZEI“. Es gab Blaulicht und Sirene auf dem Dach sowie einen leistungsstarken Motor unter Deck. Selbst Gebauer, der Kommandant des Bootes der Stralsunder Wasserschutzpolizei, hatte neidisch in den Maschinenraum geschaut.
Nur einmal war Damp auf diesem Polizeiboot bisher mit Rieder bis nach Schaprode gefahren. Das Erlebnis der Fahrkünste seines Kollegen hatten ihn aus reinem Selbsterhaltungstrieb zum raschen Entschluss gebracht, so schnell wie möglich selbst einen Bootsführerschein zu besitzen. Möglichst noch vor dem nächsten Einsatz des Bootes. Deshalb musste er nun diese Schifffahrtsregeln pauken. Gebauer galt als harter Prüfer.
Auch Rieder hatte ein Problem. Wenngleich ein privates. Vor ihm lag eine Zeichnung mit dem Grundriss seines kleinen Kapitänshäuschens in Vitte. In Rot waren die möglichen Umbaupläne eingezeichnet. Ein Anbau sollte die Wohnfläche fast verdoppeln, über Eck gebaut, so wie es viele hier auf Hiddensee mit ihren hübschen Fischerhäusern getan hatten. Für Rieder ein architektonischer Sündenfall.
Er wäre nie auf die Idee gekommen, in seinem Haus eine Wand zu versetzen. Es war sein Refugium, sein Rückzugsort, seine Heimat. Ihm genügte im Erdgeschoss ein großes Zimmer, dazu eine bescheidene Küche und ein winziges Bad. Im Obergeschoss unterm Dach waren noch Schlafzimmer und Kammer. Mehr brauchte er nicht. Doch er wohnte dort nicht mehr allein. Seine Lebensgefährtin Charlotte Dobbert und die gemeinsame Tochter Sophie waren eingezogen. Solange er nur am Wochenende auf die Insel gekommen war und sonst seinen Dienst als Soko-Chef in Stralsund versehen hatte, war die Enge kein Problem gewesen. Ein hübsches kleines Liebesnest. Auf Dauer wurde das Haus für ein Leben zu dritt allerdings zu eng. Gerade im nahenden Winter, wenn der Sturm über die Insel fegte, der Regen gegen die Fenster peitschte, die Temperaturen von einer Minute auf die andere in den Keller fielen und sich das Leben über Tage nur in den eigenen vier Wänden abspielte. Dann drohte aus Gemütlichkeit ein familiärer Krisenherd zu werden. Zu dritt im „Büdchen“, wie Rieder sein Häuschen liebevoll nannte, hatte schon in der letzten Zeit für Spannungen zwischen ihm und Charlotte geführt. Sie forderte eine Erweiterung des Hauses um mindestens jeweils ein Zimmer oben und unten sowie eine größere Küche. Rieder war dagegen. Seine Tochter Sophie leistete ihrem Vater tapfer Beistand. Sie wollte ihre Kammer mit dem halbrunden Fenster behalten, aus dem man abends den Leuchtturm blinken sah. Das war ihr Schiff mit Ausguck, ihre Berghöhle mit großem Kuscheltierzoo. Ein wunderbarer Ort zum Träumen, Spielen und Gruseln, wenn ihr Vater Märchen von Zwergen, Unterirdischen und anderen merkwürdigen Wesen vorlas, die auf Rügen ihr Unwesen trieben. Wenn diese in ihren Träumen lebendig wurden, rettete sie der kurze Weg in das Doppelbett der Eltern nebenan. Nach Charlottes Plan sollte die Kammer einem größeren Schlafzimmer weichen, Sophie dafür ein größeres Kinderzimmer bekommen. Doch Sophie ließ sich nicht bestechen. Was zählte schon die Stimme seiner Tochter? Charlotte hatte allerdings den Umbau für ein Bleiben im Haus und in Vitte zur Bedingung gemacht. Ansonsten würde sie mit Sophie nach Neuendorf zurückziehen. Dort besaß sie ein großes Haus, darin ihr „Strandcafé“ und drei Ferienwohnungen. Jede davon bot mehr Platz als das Häuschen in Vitte, von Bädern mit Dusche oder Badewanne sowie einer modernen Einbauküche ganz zu schweigen. Bei Rieder gab es nur einen antiken Würfelkühlschrank aus den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts sowie einen ähnlich alten Elektroherd mit rostenden Kochplatten, bei deren Nutzung dem Stromzähler schwindlig wurde. Außerdem wurde in Neuendorf nicht der Kachelofen mit Kohle geheizt, sondern einfach das Thermostat an der Heizung aufgedreht, um es warm zu haben.
Doch dieses vermeintliche Wohnparadies lag nun mal in Neuendorf. Sein Nachbar Malte Fittkau hatte es auf den Punkt gebracht: „Neuendorf ist wie Auswandern. Nur auf der gleichen Insel.“
Jedenfalls war die Stimmung der beiden Inselpolizisten eher gedrückt. Sie wurde nun durch das Klingeln des Telefons unterbrochen. Damp erkannte die Nummer.
„Gottschalk“, verkündete er über den Tisch hinweg und verdrehte dabei die Augen. Man brachte dem Vorgesetzten im Revier Bergen nicht unbedingt freundschaftliche Gefühle entgegen. Wenn es auch auf Gegenseitigkeit beruhte. Damp hob ab und drückte die Lautsprechertaste. Anrufe von Gottschalk betrafen sie immer beide.
„Moin“, begrüßte der Bergener Revierleiter kurz und kühl seine Kollegen auf der Nachbarinsel. „Es gab einen Anruf eines Schäfers aus Grieben. Er hätte einen Menschenkopf gefunden. Wissen Sie was davon?“
„Bisher nicht“, erklärte Damp.
„Kümmern Sie sich darum“, ordnete Gottschalk an. „Vielleicht hat der Schäfer auch ein wenig zu tief ins Glas geschaut. Der Mann heißt Knöfel und der Fundort soll Ellersegen sein. Er wartet dort.“
Damp griff nach einem Bleistift. „Wo?“, fragte er nach.
Gottschalk hatte schon aufgelegt.
Damp sah zu Rieder. „Weißt du, wo hier auf der Insel Ellersegen ist?“
Rieder zuckte mit den Schultern. „Habe ich noch nie gehört. Ich schau mal nach.“
Aus seinem Schreibtisch kramte Rieder sein Hiddensee-Handbuch hervor. Der Buchhändler in Kloster hatte es ihm empfohlen. Darin waren alle Bezeichnungen für Flurnamen und Gewässer auf der Insel sowie eine Karte mit den genauen Standorten enthalten. Im Register fand er unter Nummer 28 „Ellersegen“. Er las laut vor: „Hochmoor am Südhang des Dornbuschs. Feuchte Senke mit Verbindung zur Klosterbucht. Eller steht für Erlen und Segen für Riedgras.“ Dann suchte er auf der Karte im Buchdeckel nach der Nummer 28. Sie fand sich im Inselnorden. „Das muss unmittelbar am Ortsende von Grieben sein.“
„Eigentlich müssten die Schafe um diese Zeit längst von der Insel sein“, gab Damp zu bedenken. „Ende September werden die mit dieser Ersatzfähre zurück nach Rügen gebracht. Mit diesem rostigen Ding, der ‚Stralsund‘. Marke Seelenverkäufer … Vielleicht will uns einer verschaukeln.“
„Hinfahren schadet nicht“, meinte Rieder. „Präsenz zeigen ist immer gut.“ Er war froh, sich nicht weiter mit den Umbauplänen beschäftigen zu müssen.
Damp ging es genauso. Er klappte sein Lehrbuch zu. „Sollen wir den Doc gleich mitnehmen?“, fragte er seinen Partner
„Warum nicht, spart Zeit, wenn’s ne Leiche ist.“
Damp griff nach seinem Telefon.
Rieder winkte ab. „Der ist im Büro des Bürgermeisters. Hab ihn vorhin gesehen.“
Inselarzt Dr. Möselbeck vertrat den Bürgermeister Thomas Förster. Bei einem Angriff auf einer Vogelinsel im Biosphärenreservat vor Hiddensee war Förster, zugleich Chef des Nationalparks Vorpommersche Boddenlandschaft, schwer verletzt worden. Einige Tage schwebte er zwischen Leben und Tod. Nach einem wochenlangen Krankenhausaufenthalt befand er sich jetzt auf einer Rehabilitationskur im Harz.
Die Polizisten gingen über den Flur. Rieder klopfte an die Tür zum Vorzimmer des Bürgermeisters. Als niemand antwortete, drückte er die Klinke herunter. Das Büro war leer. Dafür war aus dem Amtszimmer leises Fluchen zu hören. Rieder ging hinein. Möselbeck saß hinter einem Berg von Aktenordnern und schien den Polizisten nicht zu bemerken.
„Scheiß Förderanträge“, schimpfte der Inselarzt vor sich hin. „Die können mich mal kreuzweise …“
Solche Worte hatte Rieder noch nie von Möselbeck gehört. Er räusperte sich.
„Rieder!“, schreckte Möselbeck hoch und starrte den Polizisten erschrocken an. „Wollen Sie mich umbringen!“
„Sie nicht, aber wir haben wirklich einen Toten. Na ja, erst einmal wohl nur einen Kopf. Aber wo ein Kopf rumliegt, gibt’s wahrscheinlich auch den Rest.“
„Den Kopf eines Menschen?“, fragte der Arzt mit angeekelter Miene.
„So lautete jedenfalls die Meldung aus der Zentrale. Ein Schäfer will ihn in der Nähe von Grieben gefunden haben. Mehr wissen wir auch nicht.“
„Jetzt sind doch gar keine Schafe mehr auf der Insel … Wenn das mal nicht blinder Alarm ist und sich jemand einen bösen Streich erlaubt hat.“
„Nachgehen müssen wir dem trotzdem.“
Möselbeck warf den Aktenordner in seiner Hand zur Seite, stand auf und griff nach seiner Jacke. „Alles lieber als weiter hier diesen Bürokram. Außerdem ist schönes Wetter.“
Um kein Aufsehen zu erregen, sparte sich Damp das Blaulicht. Auch wenn es ihm schwerfiel. Sie fuhren, gefolgt vom Wagen des Arztes, den Weißen Weg unterhalb von Kloster entlang, bogen dann nach links in den Hafenweg ab. Im Ort war wenig los. Offenbar hatte das Vormittagsschiff wenige Tagestouristen angelandet. An der nächsten Kreuzung lenkte er den Streifenwagen nach links in die Straße „Am Riedsal“. Bis Grieben begegnete ihnen kein Mensch.
Gut zweihundert Meter hinter dem Ort stand ein Mann mit Regenhut und langem schwarzen Mantel am Straßenrand. Als er das Polizeiauto erkannte, winkte er heftig und wies mit einem Holzstock nach links. Ein Feldweg führte von dort ins Hochland.
„Das muss der Schäfer sein“, bemerkte Damp. „Schafe gibt’s auch.“
Er deutete auf die Weide. Dort lagen einige Dutzend Tiere im Gras und beobachteten gelangweilt und wiederkäuend das Ankommen der Fahrzeuge.
„Also doch kein Fake. Wäre auch zu schön gewesen.“
„Jedenfalls wissen wir jetzt, wo sich der geheimnisvolle Ort Ellersegen auf Hiddensee befindet“, erwiderte Rieder und stieg aus.
2„Das fass ich nicht an“, erklärte Möselbeck zum wiederholten Mal.
Gemeinsam mit Damp, Rieder und Schäfer Knöfel stand er am Ufer des Tümpels. Alle vier starrten auf den Menschenkopf im Schlamm.
„Da muss Krüger her.“
Dr. Krüger war Rechtsmediziner an der Universität Greifswald.
„Vielleicht ist es eine Steinzeitmumie“, warf der Schäfer ein. „So eine Art Ötzi. Das wäre doch was. Grieben ist das älteste Dorf auf der Insel. Hab ich gelesen. Hier ringsum gibt’s überall diese Hügelgräber. Da kurz vor Grieben. Vielleicht ist der Tote wirklich eine Sensation …“
Möselbeck winkte ab. „Vergessen Sie’s. Dann wären die Haare rot und nicht wie hier so dunkel und grau. Nee, der oder die liegt noch nicht lange hier.“ Der Inselarzt ging in die Knie und sah sich den Kopf genauer an. „Bei der Leiche handelt es sich um einen Mann. Da bin ich mir ziemlich sicher.“ Er drehte sich zu den anderen um. „Wenn ich mir ansehe, was mal das Gesicht war, wünsche ich schon mal viel Spaß mit dem Fahndungsfoto. Aber das kann man mit Computern heute alles irgendwie rekonstruieren.“
Rieder war nicht nach Sarkasmus zumute. Auch nicht nach einem neuen Fall.
„Blöd, dass man nicht sieht, ob noch mehr dranhängt“, meinte Damp.
Knöfel verstand das als Aufforderung. Er nahm seinen Schäferstab und wollte damit an den Kopf stoßen. Im letzten Moment bremste ihn Rieder.
„Sind Sie verrückt“, fuhr er den Schäfer an. „Das ist möglicherweise ein Tatort. Da darf nichts verändert werden.“
„Also großes Besteck“, erklärte Damp. „Inklusive Soko ‚Ostseeküste‘ und Spurensicherung.“
Er holte sein Telefon hervor und trat ein wenig zur Seite. Möselbeck zog eine kleine Taschenlampe aus seiner Jacke. Damit leuchtete er über den Schädel und die verbliebenen Haarbüschel. Dann winkte er Rieder heran. Noch einmal richtete er die Lampe auf eine bestimmte Stelle.
„Sehen Sie die Delle dort und den Riss?“
Rieder ging neben den Arzt in die Hocke. Im Lichtkegel sah er, was der Arzt meinte.
„Spuren stumpfer Gewalt, würde ich sagen. Dem hat man eins übergezogen. Der ist nicht von allein in den Tümpel gestiegen.“
Gut zwei Stunden mussten Damp und Rieder auf die Kollegen aus Stralsund und Greifswald warten. Damp hatte auf dem Feld nebenan mit rot-weißem Flatterband eine Art Landekreuz für den Polizeihubschrauber abgesteckt. Auch die Wege von Grieben zum Enddorn und zum Leuchtturm hatte er abgesperrt. Er war voll in seinem Element. Bisher hatte sich allerdings niemand in der Nähe des Fundorts gezeigt. Keine neugierigen Nachbarn. Keine einsamen Wanderer. Knöfel hatte er gebeten, seine Herde weg vom Fundort zu treiben.
Rieder machte inzwischen Fotos vom Fundort und befragte den Schäfer. Er nahm die Aussage mit seinem Smartphone auf.
„Ich bräuchte ein paar Angaben für das Protokoll. Bitte Name und Adresse.“
„Mein Name ist Dirk Knöfel. Ich wohne in Lietzo …“
„Ach auf Rügen, in der Nähe von Bergen …“
„Nein, Lietzo ohne w, Lietzo bei Zerbst.“
Rieder stockte mit dem Eintippen, sah den Mann an. „Aber das liegt doch … Zerbst liegt doch in Sachsen-Anhalt.“
„Genau. Sie müssten an meinem Dialekt erkennen, dass ich nicht von hier komme.“
„Und Sie kommen mit Ihrer Herde bis hier hoch nach Hiddensee?“, hakte Rieder erstaunt nach. „Gibt’s nichts dazwischen. Vielleicht im Fläming?“
„Es ist nicht meine Herde.“
„Ach was.“
Knöfel stieß ärgerlich seinen Schäferstab in den Boden. „Glauben Sie im Ernst, jemand zieht mit seiner Herde von Zerbst nach Hiddensee? Über hunderte Kilometer?“
„Na ja, ich kenne mich mit Schafen nicht so gut aus.“
„Die Herde gehört Herrn Kawka aus Neuenkirchen“, klärte Knöfel ihn auf. „Ich betreue die Tiere nur, solange sie hier auf Hiddensee sind. Also den Sommer über, von April bis September.“
„Aber jetzt ist schon Ende Oktober.“
„Das Wetter war noch so gut, das Gras hoch. Deshalb gab es das Angebot, hier die Weiden noch abzugrasen. Sonst sind wir nur im Süden und in der Heide.“
„Von wem kam das Angebot?“
Knöfel zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Kawka sagt mir nur, wo ich mit der Herde hinkann. Aber es muss jemand aus Grieben sein.“
„Ich bräuchte die Adresse dieses Herrn Kawka oder eine Telefonnummer?“
Knöfel nannte beides. Rieder fragte, wie lange er schon auf dieser Weide sei.
„Seit drei Tagen. Wir sind vom Rübenberg gekommen und nun hier am Rabenberg. Die Wiesen haben noch Grün, aber nicht mehr so viel wie im Frühjahr. Da rücken die Schafe schnell vor. Außerdem muss ich darauf achten, dass sie jeden Tag die Fläche wechseln. Sonst können Krankheiten entstehen.“
„Den Schädel haben Sie heute entdeckt?“
„Ja, also Pollux, mein Hund, hat ihn aufgespürt.“
Der Hund zu Füßen des Schäfers spitzte sofort die Ohren, als er seinen Namen hörte. Knöfel tätschelte ihm beruhigend den Kopf.
„Ein paar Schafe waren in Richtung des Tümpels gelaufen. Beim zurücktreiben ist Pollux auf den Schädel gestoßen. Er hat wegen des Verwesungsgeruchs angeschlagen. Die Hunde sind darauf trainiert, tote Tiere aufzuspüren und die Schafe davor zu warnen. Kommt schon mal vor.“
„Warum durften die Tiere nicht ans Wasser?“, wollte Rieder wissen.
„Zu schmutzig. Kann krank machen. Wir bekommen jeden Tag frisches Wasser.“
Knöfel wies auf zwei große Wannen am Rand der Weide. Daneben stand ein alter Hänger mit einem Wasserkessel aus Blech. Dann schaute er auf die Uhr.
„Abends wird der Wagen abgeholt und morgens voll zurückgebracht. Ich kümmere mich um das Säubern und Auffüllen der Wannen.“
„Sind Sie auch nachts, also immer bei den Schafen?“
„Ja, klar … Also nicht ganz. Ich habe jetzt für die Zeit ein Zimmer in dem alten stillgelegten Gasthof da vorn in Grieben. Gehört auch dem Kawka. Da wasche ich mich aber nur oder mache mir was zu essen.“ Der Schäfer stutzte kurz. „Ich habe keine Ruhe, wenn ich nicht bei meinen Tieren bin. Ich habe doch die Verantwortung.“
„Warum hüten Sie keine Schafe in der Nähe Ihres Wohnorts?“, wollte Rieder noch wissen.
„Gibt es einen schöneren Ort als Hiddensee?“, erwiderte Knöfel verschmitzt, bevor er ernst wurde. „Da unten gibt’s für mich als Schäfer keine Arbeit. Vor ein paar Jahren hatte ich noch eine Herde, das ist aber alles vorbei.“
Es klang resigniert. Rieder wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Er sicherte die Aufnahme.
Von Süden her ertönte lautes Brummen. Ein blauer Hubschrauber mit der Aufschrift „Polizei“ war im Anflug über den Vitter Bodden. Damp schaltete das Blaulicht des Streifenwagens, um dem Piloten Orientierung zu geben. Der flog noch einen kleinen Bogen über die Griebener Bucht, schwenkte dann von Norden ein und landete auf dem markierten Platz. Als die Rotorblätter stillstanden, kletterten Dr. Krüger, der Soko-Chef Tom Schade und sein Stellvertreter Holm Behm sowie zwei weitere Beamte aus. Behm war zugleich Leiter der Kriminaltechnik der Soko. Außerdem wurde die Ausrüstung der Spezialisten ausgeladen.
„Weiter weg ging wohl nicht“, ächzte Behm. Er schleppte seine Kiste die gut zweihundert Meter mit bis zum Fundort des Schädels. Damp lief neben ihm, sah aber keine Notwendigkeit, seinem Kollegen beim Tragen zu helfen. Manches war einfach eine Frage der Berufswahl. Auch Krüger stöhnte. Sein Rollkoffer verhedderte sich ständig im Gras. Tom Schade schlenderte hinterher und besah sich die Umgebung, als wäre er auf einem Ausflug. Sein Pferdeschwanz wippte bei jedem Schritt. Immer wieder rückte er seine Brille mit den kleinen runden Gläsern zurecht.
Rieder und Schade kannten sich aus Berlin. Dort waren sie ein Team in einer Mordkommission des Landeskriminalamtes gewesen. Nachdem Rieder dann von Polizeidirektor Bökemüller mit dem Aufbau der Sonderkommission beauftragt worden war, hatte er Schade nach Stralsund geholt. Nach Rieders Weggang hatte er seine Nachfolge als Soko-Chef angetreten.
Von Grieben nahten zwei Streifenwagen und das Fahrzeug eines Bestattungsunternehmens. Nachdem Damp das Revier in Bergen über den Leichenfund informiert hatte, war Revierleiter Gottschalk sofort mit einigen Beamten aufgebrochen. Er wollte den Fall nicht dem Hiddenseer Polizistenduo überlassen.
„Na, Stefan, haste mal wieder ne Leiche gefunden“, begrüßte Schade seinen ehemaligen Partner. „Der letzte Mord ist doch schon einige Monate her, mein Freund. In der Nachsaison belebt eine Leiche ja durchaus das Geschäft eines Hauptkommissars mit Dienstort Hiddensee.“
Die kleine Spitze überging Rieder. „Nicht ich, Herr Knöfel, oder besser gesagt, sein Hund Pollux hat den Fund gemacht.“
Schade begrüßte auch den Schäfer mit Handschlag.
„Dann wollen wir mal sehen.“
Beim ersten Anblick des Toten sank Schades Stimmung. Ihm schwante, was eine Moorleiche bedeuten konnte. Auch Behm war nicht begeistert.
„Wie soll ich denn in dem Dreck Spuren finden“, maulte der Kriminaltechniker beim Anblick des Kopfes im Morast. Dr. Krüger dagegen schien völlig in Gedanken versunken zu sein. Immer wieder strich er sich bedächtig übers Kinn und schwieg.
„Inselarzt Möselbeck will Spuren stumpfer Gewalteinwirkung entdeckt haben“, versuchte Rieder die Dinge in Gang zu bringen. Möselbeck sei aber wieder nach Vitte gefahren, weil er sowieso nichts tun könne. Das sei eine Angelegenheit für den Rechtsmediziner und die Kriminaltechnik.
Da erwachte Krüger aus seiner Erstarrung. „Keine überraschende Erkenntnis des Kollegen Allgemeinmediziners. Und trotzdem: ein interessantes Objekt. Gibt’s nur den Kopf oder noch mehr?“
„Wir haben nichts angerührt“, beteuerte Rieder.
Krüger wandte sich an den Schäfer. „Darf ich mir mal Ihren Stab ausleihen?“
Er griff das lange Holzstück und begann damit an den Schädel zu stoßen. Erst vorsichtig. Dann heftiger. Rieder und Damp rissen die Augen auf. Behm schüttelte voller Verachtung den Kopf. Dann versuchte Krüger, den Stock in den Morast neben dem Kopf zu bohren, stieß aber offenbar sofort auf einen Widerstand. Mit der Spitze kratzte er den Dreck neben dem Kopf weg. Der Hals des Toten kam zum Vorschein, dann ein Stück Stoff, unter dem sich die Schulter zu befinden schien. Der Rechtsmediziner schaute zufrieden in die Runde.
„Es hängt also noch was dran. Wahrscheinlich der ganze Körper.“ Er sah zu Behm. „Also ausgraben.“
„Wie soll ich das bitte schön machen, Herr Doktor Krüger?“
„Ich setze da ganz auf Ihre Fachkompetenz, Herr Behm“, erwiderte Krüger spöttisch.
Er stocherte weiter im Morast um den Körper des Leichnams herum. Der Boden war eher matschig.
„Vielleicht kann man das Zeug absaugen und dann den Toten rausziehen. Hier auf der Insel gibt’s doch bestimmt so einen Jauchewagen, mit dem man Plumsklos und Abwassergruben leer pumpt?“
„Selbst hier auf Hiddensee leben wir nicht mehr im Zeitalter der Sickergrube“, belehrte ihn Damp mürrisch.
„Vielleicht tut es dann die Pumpe von der Feuerwehr?“, hielt Krüger an seinem Vorschlag fest.
„Dafür ist der Boden nicht nass und wässrig genug“, widersprach Behm.
Krüger verdrehte die Augen. „Herr Kollege, ein wenig mehr Kreativität bitte. Spülen Sie den Dreck auf. Wasser gibt’s rundum genug.“ Er zeigte zum Bodden. „Falls Sie es vergessen haben sollten, Herr Behm: Ich bin für die Leiche zuständig, Sie für den Fundort. Dazu gehört das Freilegen des Toten. Ich gehe solange Mittag essen. Hat der ‚Klausner‘ oben am Leuchtturm noch auf?“, wandte er sich an Rieder und Damp.
Die Polizisten nickten.
„Rufen Sie mich an, wenn Sie hier fertig sind, Herr Behm. Nicht eher.“
Krüger stapfte davon. Behm trat gegen seine Technikkiste und sandte dem Rechtsmediziner einen heftigen Fluch hinterher. Der quittierte es mit einem ausgestreckten Finger – ohne sich umzudrehen.
Tom Schade hatte den Streit ohne weitere Regung verfolgt. Ihn bewegte eine ganz andere Frage. „Wird denn hier auf der Insel überhaupt jemand vermisst?“
3Rieder und Schade fuhren ins Revier nach Vitte. Damp war vor Ort geblieben. Er würde sich melden, wenn Behm gemeinsam mit der freiwilligen Feuerwehr mit der Bergung beginnen würde. Der Gerätewagen mit Anhänger sowie Blaulicht und Sirene kam ihnen auf dem Weißen Weg entgegen.
„Jetzt ist auf der ganzen Insel rum, dass was passiert ist. Wir werden uns an der Fundstelle auf Besuch freuen können“, knurrte Schade und verfiel ganz gegen seine Gewohnheit und rheinisches Naturell in Schweigen.
„Schlechte Laune?“, fragte Rieder.
„Deine Leiche hätte ich jetzt nicht gebraucht. Ich habe genug auf dem Tisch.“
„Na es ist ja nicht meine Leiche …“, erwiderte Rieder.
„Du und Damp, ihr werdet allein klarkommen müssen“, schnitt ihm Schade das Wort ab. „Ich kann weder mit Personal noch sonst wie helfen. Nur dass das klar ist. Ich weiß sowieso nicht, warum ich mich auf den Job als Soko-Chef eingelassen habe, während du hier den Kurpolizisten spielst. Immerhin mit dem Gehalt eines Hauptkommissars.“
Schades Angriff traf Rieder unvorbereitet. Den Vorwurf musste er erst einmal verdauen. Es fiel ihm schwer, ruhig zu bleiben. Seine Hände krampften sich um das Lenkrad. Natürlich hatte er dem Freund zugeredet, seine Nachfolge in der Sonderkommission anzutreten. Aber Schade hatte gewusst, worauf er sich einließ. Immerhin hatten sie mehrere Jahre in der Soko „Ostseeküste“ zusammengearbeitet. Schade hatte in dem Chefposten die Chance gesehen, als Polizist nicht mehr in vorderster Front zu stehen und sein Leben zu riskieren. Kurz zuvor wäre er bei einem Einsatz auf Hiddensee beinah getötet worden. Er hatte gehofft, künftig vom Büro in Stralsund aus Ermittlungen und Einsätze koordinieren und ein ruhigeres Polizistenleben führen zu können. Darin hatte er sich getäuscht. Der Druck der Vorgesetzten, die Verantwortung für die Beamten, der ständige Kampf mit der Bürokratie überforderten möglicherweise seinen Freund. Diese Gedanken behielt Rieder für sich.
„Im Herbst wird es meist etwas ruhiger“, wandte er ein.
Schade sah ihn mit finsterer Miene an. „Ganz im Gegenteil. Liest du nicht die Einsatzberichte. Die Einbruchsserie in Ferienhäuser. Die Drogendealer mit ihren schmutzigen blauen Pillen. Die Diebstähle von Bootsmotoren aus den Winterquartieren entlang der Küste. Alles liegt auf meinem Tisch und Bökemüller sitzt mir im Nacken, will Ergebnisse. Ich habe aber keine. Und du weißt nicht mal, wer auf Hiddensee vermisst wird.“
„Muss ja niemand von der Insel sein“, gab Rieder trotzig zurück.
Er lenkte das Auto auf den Parkplatz neben dem Rathaus in Vitte. Schades schlechte Laune reichte ihm. Als er ausstieg, knallte er die Autotür zu. Schade zuckte kurz, sagte aber nichts. Er folgte Rieder, der wütend die Stufen zum Revier hochstapfte. Die Tür zum Polizeibüro konnte der Soko-Chef gerade noch abfangen, sonst hätte sie ihn am Kopf getroffen. Als er in den kleinen Raum trat, saß Rieder schon vor seinem Computer. Schade ließ sich gegenüber auf Damps Stuhl fallen, drehte sich um und sah aus dem Fenster.
„Nicht viel los auf der Insel.“
Er klang versöhnlicher als noch im Auto. Rieder ging nicht darauf ein.
„Hier haben wir jemanden. Ulrich Ladbeck. Aber nicht von Hiddensee. Sondern aus Dranske auf Rügen, fünfzig Jahre alt, verheiratet, Ingenieur. Vermisst seit dem 17. Februar. Allerdings hat seine Familie ein Ferienhaus in Grieben. Also am Ellersegen gleich um die Ecke. In diesem Ferienhaus soll er sich aufgehalten haben, bevor er verschwunden ist.“
Die Anzeige hatte Ladbecks Ehefrau Birgit gemacht. Die damalige Revierleiterin Nelly Blohm hatte sie entgegengenommen.
„Das ist doch schon mal was“, meinte Schade.
Rieder war aufgestanden und suchte im Aktenschrank nach den Unterlagen. Nelly Blohm hatte die Insel vor einem halben Jahr verlassen. Sie war zur Sonderkommission „Ostseeküste“ gewechselt. Eine Übergabe der laufenden Fälle hatte nicht stattgefunden, weil es zunächst keinen Nachfolger gegeben hatte. Rieder hatte nach seiner Knieoperation den Job des Inselpolizisten eine Zeit lang übernommen, bis Damp nach seinem Gastspiel in Thüringen wieder auf die Insel kam und neuer Revierleiter wurde.
Er fand die Akte. Das angeheftete Foto des Vermissten reichte er Schade.
„Auf den ersten Blick nicht viel Ähnlichkeit mit dem Totenschädel“, bemerkte Schade. „Andererseits dieser bürstenartige Haarschnitt. So ähnlich sahen die Büschel auf dem Kopf aus. Ich würde sagen, Ulrich Ladbeck ist zurück. Allerdings tot.“
Er gab Rieder das Foto zurück.
„Die Vermisstenanzeige hat die Ehefrau erst gestellt, nachdem Ladbeck sich drei Tage lang nicht gemeldet hatte“, erklärte Rieder. „Scheinen interessante Familienverhältnisse zu sein. Immerhin hatte er am 13. Februar seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert. Hier auf der Insel. Offenbar ohne seine Frau.“
„Also vielleicht eine Beziehungstat. Sie besucht ihn nach der Sause auf der Insel, haut ihm eins über den Schädel bei einem Spaziergang, schickt ihn im Tümpel zum Baden und macht die Anzeige“, spekulierte Schade. „Hätte sie aber einfacher haben können. Wenn ich mich recht erinnere, gibt’s in der Nähe von Dranske eine Steilküste. Ein kleiner Schubs von oben und schon liegt der Gatte im Meer. Gut getimt bei ablandigem Wind und kühlem Eiswasser im Winter, und schon heißt es: ‚Ade, Uli, gute Reise!‘ Praktisch eine neue Art der Seebestattung.“
Schades Gesicht zeigte wieder sein schelmisches Grinsen. Auch Rieder konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
„Klingt zunächst mal schlüssig und ist ein Ansatzpunkt.“ Rieder überflog weiter Nellys Notizen und gab Schade eine Zusammenfassung ihres Berichts. „Nelly hat drei Nachbarn befragt, die mit Ulrich Ladbeck zusammen seinen Geburtstag gefeiert hatten. Auf der Party hat er wohl noch mit seiner Frau telefoniert. Sie hatte an diesem Abend Dienst an der Rezeption im ‚Strandhotel‘ Dranske.“ Rieder sah auf. „Wusste gar nicht, dass es dort ein Hotel gibt.“
„Spricht nicht für dich. Immerhin gehört der Ort zu eurem Revier“, erwiderte Schade.
Rieder ging nicht darauf ein.
„Nach der Geburtstagsfeier hatten ihn auch die Gäste nicht mehr gesehen. Frau Ladbeck war dann vier Tage später, am 17. Februar, auf die Insel gekommen und hatte im Haus die Reisetasche und Arbeitsunterlagen ihres Mannes gefunden. Sonst gab es keinen Hinweis auf seinen Verbleib.“
„Dabei war er ihr so nah“, unkte Schade.
Rieder verdrehte die Augen, aber Sarkasmus gehörte zum Geschäft.
„Daraufhin hat sie die Anzeige gemacht.“
Er schob die Unterlagen in dem Hefter zusammen. Dabei entdeckte er einen weiteren Notizzettel. Darauf war eine Telefonnummer notiert. Vermutlich die von Frau Ladbeck. Die ihres Mannes stand in der Anzeige.
„Hat Frau Ladbeck ein Alibi für die vier Tage, die sie angeblich nicht auf Hiddensee war?“, hakte Schade nach.
„Steht nicht in der Akte. Ich ruf mal Nelly an. Vielleicht hat sie noch ein paar Informationen.“
Er griff nach seinem Telefon. Schade schüttelte den Kopf.
„Die ist momentan schwer zu erreichen. Auf Dienstreise bei einem längeren Lehrgang. Wir haben doch auch so einige Anhaltspunkte. Ich würde bei der Ehefrau ansetzen.“
Er stand auf und wanderte im Revier auf und ab.
„Warum feiert sie nicht gemeinsam mit ihrem Mann seinen immerhin fünfzigsten Geburtstag? Und warum wartet sie drei Tage, um nach Hiddensee zu fahren und nach ihm zu suchen? Ich würde sagen, sie ist unsere Verdächtige Nummer eins.“
Schade blieb direkt vor Rieder stehen und streckte ihm die Hand entgegen. „Wetten, dass Frau Ladbeck unsere Mörderin ist! Um Dorsch mit Senfsoße bei Gudrun im ‚Strandcafé‘ Neuendorf.“
„Erst einmal müsste unsere Moorleiche wirklich Ladbeck sein. Falls ja, halte ich dagegen“, antwortete Rieder und schlug ein.
4Die Bergung der Leiche gestaltete sich schwieriger als erwartet. Der Plan, den Tümpel leer zu pumpen, erwies sich als Flop. Immer wieder mussten die Feuerwehrleute ihre Arbeit unterbrechen. Ständig verstopfte die Pumpe. Ihr Ansaugdruck wühlte den Untergrund auf. Der abgepumpte Schlick war voller Schlamm, Steine und Blätter. Dadurch fiel die Pumpe immer wieder aus und musste gereinigt werden. In den Zwangspausen strömte sofort aus der Tiefe Wasser in den Tümpel nach. Behm und Barnhöft, der Kommandant der Feuerwehr, brachen deshalb das Abpumpen ab. Nun hatten sie eine gegensätzliche Idee. Sie wollten mit Wasser aus dem Bodden den Morast um den Fundort aufspülen und dann den Leichnam herausziehen. Behm sorgte sich zwar, dass sie dadurch noch tiefer absinken könnte, aber es gab keine Alternative. Die Feuerwehrleute rollten ihre Schläuche bis zum Ufer des Boddens aus und schlossen die Pumpe wieder an.
Wie Tom Schade prophezeit hatte, war das Ausrücken der Feuerwehr auf der Insel nicht unbemerkt geblieben. Der Inselnachrichtendienst „Hiddensee Aktuell“ hatte offensichtlich eine Quelle unter den Feuerwehrleuten. Jedenfalls war schon das Auffinden eines Toten bei Grieben vermeldet worden.
Da nach dem Ende der Saison nicht mehr viel zu tun war, erschien den Hiddenseern ein Ausflug zum Fundort des Toten hinter Grieben als Abwechslung in der Langeweile der Nachsaison. Man wollte und musste doch mitreden können.
Auch Rieders Nachbar, Malte Fittkau, hatte sich auf den Weg gemacht. Allerdings früher als die anderen. Rieders Anruf bei seiner Frau Dora hatte ihn alarmiert. Er hatte sie gebeten, Sophie vom Kindergarten abzuholen und den Nachmittag über auf sie aufzupassen. Dora und Malte waren die Ersatzgroßeltern für die Tochter von Stefan Rieder und Charlotte Dobbert. Charlotte würde erst spät wieder auf der Insel sein. Sie war über Land unterwegs. So nannten die Insulaner Ausflüge auf die Nachbarinsel Rügen. Malte kombinierte: Rieder war im Einsatz. Es musste also etwas Größeres passiert sein, wenn sein Nachbar den ganzen Tag unterwegs sein sollte.
Malte trat vor die Tür. Er musste nicht lange warten, da überflog der Polizeihubschrauber sein Haus in der Sprenge in Vitte und nahm Kurs auf Kloster entlang des Boddenufers. Wäre es einer der normalen Patrouillenflüge der Bundespolizei gewesen, hätte er dort in Richtung Ostsee abgedreht und wäre dann den Strand wieder nach Süden abgeflogen. Stattdessen hielt der Hubschrauber auf Grieben zu, zog dann eine enge Linkskurve und verschwand in der Tiefe. Sein Landeplatz musste also irgendwo unterhalb des Hochlandes sein, dachte sich Fittkau. Er schob sein Rad aus dem Schuppen, schwang sich darauf und trat in die Pedale.
Kurz nach der Feuerwehr kam er an Damps Absperrung am Ortsende von Grieben an. Doch die hielt ihn nicht auf. Er stellte sein Rad ab und kroch unter dem Flatterband hindurch. Er war schon fast an der Wegkreuzung zum Ellersegen angekommen, da vertrat ihm Damp den Weg.
„Fittkau, hier ist Schluss für dich!“
„Man wird doch mal schauen dürfen, was los ist.“
Malte versuchte, an Damps massigem Körper vorbeizukommen. Der bewegte sich fast tänzelnd vor ihm hin und her. So versperrte er Malte jede Sicht auf das Geschehen am Tümpel. Trotzdem versuchte er, Damp zum Reden zu bringen.
„Mensch, Damp, ganz schönes Aufgebot dort. Ist da nicht Holm Behm von der Spurensicherung der Sonderkommission?“ Er hatte den Kriminaltechniker erkannt.
„Möglich.“
Nun begann Fittkau heftig zu winken. „Hallo, Holm“, rief er laut.
Behm drehte sich kurz um, schaute, woher der Ruf gekommen war. Als er Malte erkannte, winkte er zurück, widmete sich aber wieder dem Gespräch mit Barnhöft am Tümpel.
„Kann ich nicht mal einem Bekannten guten Tag sagen?“, bat Malte.
„Kannste nicht.“
„Mensch, Damp, tu nicht so wichtig. Krieg doch sowieso raus, was da ist. Bei dem Aufgebot, Hubschrauber, Feuerwehr und dann noch Behm. Da kann es doch nur ein Toter oder eine Tote sein. Stimmt’s oder habe ich recht?“
„Lass mich in Ruhe“, erwiderte Damp.
Der Polizist breitete seine Arme aus und drängte Malte Fittkau hinter die Absperrung zurück. Er musste vorerst kapitulieren.
„Alles klar, du Provinzsheriff, komm mir noch mal, wenn du wieder meine Hilfe brauchst“, maulte er.
„Hier ist sie jedenfalls nicht vonnöten“, beschied ihm Damp.
Er wartete, bis Malte mit seinem Rad den Rückzug angetreten hatte. Doch so schnell gab Malte nicht auf. Er lehnte das Rad ans Ortsschild und sah sich um. Da entdeckte er den Schäfer mit seiner Herde auf der Weide. Auch der beobachtete sehr interessiert das Treiben am Ellersegen. Da Schafe keine Menschenaufläufe mochten, konnte es kein Zufall sein, dass der Schäfer noch nicht weitergezogen war. Der musste etwas wissen. Sonst wäre der längst weg. Also kroch Malte wieder unter der Absperrung hindurch und schlenderte über die Weide auf den Mann mit dem langen Mantel und dem komischen Hut zu. Dirk Knöfel nahm seine Einladung zum Plaudern mit Malte dankend an. Er hatte eine ganze Menge zu erzählen.
5Behm hatte für den neuen Bergungsversuch seine Wathose angezogen. Feuerwehrkommandant Barnhöft ließ es sich nicht nehmen, neben dem Kriminaltechniker in den breiigen Morast zu steigen. Mit ihm ein weiterer Feuerwehrmann. Sie ließen sich die Wasserspritze reichen. Behm dirigierte beide zum Rand. Von dort begannen sie vorsichtig, mit geringem Wasserdruck den Schlamm neben der Leiche aufzuspülen. Der Strahl verflüssigte die dunkle Masse. Es erinnerte an das Verschwinden einer Sandburg am Strand unter dem Wasser der Wellen. Je näher die Feuerwehrmänner dem Leichnam kamen, desto mehr mahnte Behm zur Vorsicht.
Schade, Rieder und Krüger waren zur Fundstelle zurückgekehrt. Der Rechtsmediziner lobte die Vielfalt der Heringsgerichte im „Klausner“, während er mit den Polizisten das Geschehen vom Rand des Tümpels aus verfolgte. Auch Dirk Knöfel und Malte Fittkau waren so nah wie möglich herangekommen. Sie standen auf einer kleinen Anhöhe auf der Weide. Selbst von dort hörten sie, wie Dr. Krüger das Vorgehen von Behm und den Feuerwehrmännern kommentierte.
„Der Strahl darf auf keinen Fall den Körper treffen“, belehrte er gerade den Kriminaltechniker. „Sonst könnten DNA-Spuren vernichtet werden.“
„Danke für den Hinweis. Ich bin kein Anfänger, Krüger“, keilte der zurück. „Zu große Hoffnung sollten Sie sich trotzdem nicht machen. Morast und Modder werden bestimmt Spuren zerstört haben.“
„Gemach, gemach, Behm. Meine Hoffnung stirbt zuletzt.“
Die Umgebung des Leichnams war nun so aufgeweicht, dass Behm sich mit bloßen Händen vorarbeiten konnte. Dabei untersuchte er jede Portion Schlamm nach möglichen Fundstücken. Er hoffte, das Tatwerkzeug zu finden. Unterhalb des Halses kam eine Jacke zum Vorschein. Sie war braun eingefärbt.
Krüger kniete sich hin, griff nach dem freigelegten Kragen und rieb vorsichtig über den Stoff. Er begann zu lächeln.
„Das gute alte Goretex. Wie praktisch. Nicht nur für den Träger, sondern auch für mich. Darin wird unser Toter schön konserviert worden sein, wie die Mumie eines Pharaos.“
Offenbar war die Jacke rot gewesen. Diese Farbe wurde durch Krügers Behandlung sichtbar.
„Und woher kommt diese braune Färbung?“, fragte Rieder.
„Das macht die Torfbildung im Moor“, klärte ihn Krüger auf. „Wenn Sie Torf im Baumarkt kaufen, hat er auch diese braune Färbung. Sie entsteht durch die Verwesungsprozesse im sumpfigen Wasser.“
„Da sind wir jetzt alle eine Runde schlauer, Herr Kollege“, meldete sich Behm ärgerlich aus dem Tümpel. „Ich würde darum bitten, nicht weiter in meine Arbeit zu pfuschen. Das hier ist noch mein Revier, wie Sie vorhin richtig festgestellt haben. Also Finger weg. Sie kriegen die Leiche noch früh genug auf den Tisch.“
In diesem Moment rutschte der tote Körper plötzlich nach unten. Tiefer in den Morast. Krüger ließ sich auf die Knie fallen, griff beherzt nach dem Jackenkragen und verhinderte so ein weiteres Absinken des Körpers.
„Sehen Sie, ohne mich geht hier gar nichts.“
Behm stürzte auf die Leiche zu, versank dabei bis zum Hals im Schlamm. Es gelang ihm, unter die Achseln des toten Körpers zu greifen, um ihn zu stabilisieren. Barnhöft eilte hinzu und half ihm. Zusammen versuchten sie, die Leiche aus dem Morast herauszuheben, aber wegen des Gewichts des Toten rutschten sie immer tiefer in den Sumpf. Nur unter großen Kraftanstrengungen gelang es ihnen, den Körper nach oben zu schieben. Von dort langten Krüger und Feuerwehrleute zu und zogen den Toten heraus. Sie legten ihn auf eine Plastikplane. Sofort verstärkte sich der faulige Geruch. Die Hände waren schwarz gefärbt und aufgedunsen. Außer der Jacke war der Körper noch mit einer Allwetterhose bekleidet. Die Lederstiefel an den Füßen hatten sich weitgehend aufgelöst. Ebenso die Socken. Schwarze, faulige Klumpen kamen zwischen den Fetzen aus Leder und Wolle zum Vorschein. Die Reste von Zehen, Spann und Ferse. Einige der Umstehenden mussten ihren Brechreiz unterdrücken.
„Wer kotzen muss, bitte nicht auf die Leiche“, rief Behm im Befehlston.
Er war mittlerweile aus dem Sumpf herausgeklettert. Schlamm klebte an seinem ganzen Körper. Während er sich mit einem Wasserschlauch abspritzen ließ, gab er weitere Anweisungen. „Bitte Mundschutz anlegen. Meine Kollegin hat genügend dabei.“
Wenig später hatten Krüger und Behm weiße Schutzanzüge angezogen. Sie knieten sich neben die Leiche. Krüger begann mit der Leichenschau, seine Erkenntnisse sprach er in ein Diktiergerät.
„Leichenbergung, 10. Oktober, sechszehn Uhr dreißig, Fundort Grieben, Gebietsmarke Ellersegen. Opfer männlich, circa ein Meter siebzig, Körperbau normal, Kleidung vorhanden, rote Jacke am Oberkörper, schwarze wattierte Hose um Unterleib und Beine. Schuhwerk weitgehend zerstört. Alter zwischen vierzig und fünfundfünfzig“, diktierte er in das Gerät. „Kopf weitgehend skelettiert und mumifiziert. Beginnende Fäulnisprozesse und Verwesung an Händen und Füßen, dort stärker ausgeprägt.“
Er stoppte die Aufzeichnung, beugte sich zum Kopf des Toten und strich mit den Latexhandschuhen ganz vorsichtig über den Schädel. Krügers Hände schienen zu schweben und doch zu fühlen.
„Wunde am Hinterkopf. Wahrscheinlich stumpfe Gewalteinwirkung. Tippe auf Holz oder Stein. Nähere Untersuchung folgt.“ Krüger unterbrach erneut die Aufnahme. „Mehr gibt es im Moment nicht zu sagen. Herr Behm, Ihr Mann.“
Behutsam tastete der Kriminaltechniker die Jacke dort ab, wo er unter der Verschmutzung die Außentaschen vermutete. Plötzlich nickte er. Einer seiner Mitarbeiter trat heran und reichte ihm eine überdimensionale Pinzette. Behm hob mit dem Instrument die Öffnung der Außentasche an und schob es hinein. Ganz langsam. Dann hielt er inne. Er hatte etwas entdeckt. Behm drückte die Pinzette zusammen und zog das Fundstück heraus. Ein Schlüssel. Behm wirkte enttäuscht. Eine Brieftasche wäre ihm lieber gewesen. Er ließ das Bund in eine gereichte Asservatentüte gleiten. Dann nahm er sich die Taschen auf der anderen Jackenseite vor. Dort fanden sich gleich mehrere Gegenstände: ein Stift, ein Zettel und eine Plastikkarte. Er drehte sie im Licht der Scheinwerfer hin und her, nahm sie näher in Augenschein und begann zu strahlen. Er hielt sie wie eine Trophäe hoch.
„Wir haben einen Namen“, rief er aus und erhöhte so noch einen Moment die Spannung. „Ulrich Ladbeck. Dranske. Ringstraße. Willkommen zurück.“
„Bingo“, flüsterte Schade Rieder ins Ohr. „Der verlorene Ehemann ist wieder da. Du kannst schon mal anfangen, für mein Essen zu sparen. Eine Portion Dorsch wird mir nicht reichen.“
Auch Malte Fittkau hatte den Namen verstanden.
„Der Deichgraf “, flüsterte er und drehte sich zu Dirk Knöfel um. Der war in der Dunkelheit verschwunden.
6„Wie gesagt, es ist euer Fall“, verkündete Tom Schade am Ende der Einsatzbesprechung. „Der Tote wurde wahrscheinlich hier umgebracht. Also müssen wir hier mit den Ermittlungen beginnen, auch wenn der Tote aus Dranske kommt. Durch seinen zweiten Wohnsitz hatte er Verbindungen zu Hiddensee.“ Dann verabschiedete er sich mit einem kurzen Nicken in die Runde und begab sich gemeinsam mit Dr. Krüger zum Hubschrauber.
Gottschalk hatte nur darauf gewartet. Er baute sich vor Damp und Rieder auf.
„Dann könnt ihr jetzt mal zeigen, was ihr so draufhabt“, frotzelte er die beiden Beamten an. „Dranske gehört ja neuerdings zu eurem Revier. Ich erwarte täglich einen Bericht über eure Ermittlungsergebnisse. Und wehe, ihr patzt.“
Er drehte sich um und gab seinen Beamten vom Bergener Revier das Zeichen zum Aufbruch. Eigentlich würde jetzt im Herbst keine Fähre mehr fahren, aber Barnhöft hatte mit der Reederei gesprochen. Auf seinen Wunsch hin würde es für die Rüganer Polizisten und auch das Bestattungsinstitut eine Extratour geben.
Behm würde mit seiner Truppe auf Hiddensee bleiben, im Hotel „Enddorn“ am Ortseingang von Grieben übernachten und morgen weiter die Fundstelle und das Umfeld untersuchen. Vielleicht fanden sie die Tatwaffe. Behm war sich sicher, dass der Fundort auch der Tatort war.
Damp wollte Gottschalk nicht so einfach ziehen lassen. Er stellte sich seinem Vorgesetzten in den Weg. „Und wer steht hier heute Nacht Wache?“
Widerstand eines Untergebenen war der Revierleiter nicht gewohnt. Die Bergener Beamten, schon auf dem Weg zu ihren Streifenwagen, blieben stehen und beobachteten die Machtprobe. Gottschalk versuchte, mit einem Blick auf seine Uhr Zeit für eine Antwort zu gewinnen.
„Die Kollegen aus Bergen sind schon weit in den Überstunden. Die können es sicher nicht leisten“, erklärte er.
„Unsere Schicht ist auch längst zu Ende“, erwiderte Damp.
Gottschalk schaute sich um. Sein Blick fiel auf Behm, der seine Ausrüstung zusammenpackte.
„HK Behm“, rief Gottschalk, „könnten Sie mit Ihren Leuten hier die Fundstelle sichern?“
Der Kriminaltechniker schüttelte den Kopf. „Nicht unsere Aufgabe, HK Gottschalk. Das wissen Sie ganz genau. Wir fahren jetzt ins Hotel und kommen morgen früh gegen acht Uhr wieder.“
„Damp, es gibt keine andere Lösung. Sie müssen sich mit Rieder in die Wache einteilen. Sie suchen doch immer neue Herausforderungen“, fügte er noch süffisant hinzu.
„Auf keinen Fall“, verkündete Damp entschieden. „Wir müssen morgen früh mit den Ermittlungen beginnen. Wenn nicht schon heute Abend. Den Auftrag hat uns gerade der Chef der Soko erteilt. Ich würde vorschlagen, Sie holen ein frisches Team aus Bergen für die Aufgabe. Die Fähre muss sowieso nach Vitte zurück.“
Gottschalk unterdrückte mit Mühe einen Wutausbruch. Dieser Logik konnte er kaum widersprechen. Er nestelte sein Telefon hervor. Kurz und knapp wies er seinen Vertreter in Bergen an, eine Streifenwagenbesatzung nach Schaprode zu schicken, mit der Fähre nach Hiddensee überzusetzen, um die Nachtwache zu übernehmen. Als er offenbar Widerspruch erntete, brüllte Gottschalk ins Telefon: „Das ist ein Befehl! Machen Sie endlich!“
„Geht doch“, kommentierte Damp und gab den Weg frei.
Gottschalk stampfte zu seinem Einsatzfahrzeug. Seine Beamten aus Bergen vermieden jeden Blickkontakt. Damps Auftreten nötigte ihnen Respekt ab. Sie gönnten ihrem Chef die Abfuhr.
Als Rieder und Damp allein waren und den roten Schlusslichtern der Autos nachsahen, stieß er seinen Partner in die Seite. „Super Auftritt, Damp. Echt cool. Das bleibt sicher nicht ohne Rückspiel. Gottschalk ist nachtragend wie ein Elefant.“
„Mir egal“, knurrte Damp. „Wie machen wir weiter? Wollen wir die Ehefrau anrufen, und wenn die Ablösung da ist, zurück zum Revier?“ Damps freundliche Umschreibung, endlich Feierabend machen zu können.
Rieder winkte ab. „Ob die Witwe nun heute Abend oder morgen erfährt, dass ihr Mann tot ist … Ich glaube, wir fahren morgen rüber und überraschen sie. So eine erste Reaktion kann viel interessanter sein als ein Anruf.“
Damp fürchtete sich vor dem, was Rieder mit rüberfahren, meinte. Wahrscheinlich plante sein Partner eine Tour mit ihrem Einsatzboot und würde wieder Kapitän spielen. Damp schnupperte kurz in die Luft. Vielleicht kam über Nacht noch Sturm auf und Rieder zur Vernunft. Der blätterte im Licht der Scheinwerfer in der Akte mit der Vermisstenanzeige.
„Schau mal, Damp, der zweite Wohnsitz unseres Toten ist gleich hier nebenan.“ Rieder deutete auf das letzte Grundstück am Ortsende von Grieben und sah dann seinen Kollegen an. „Du wolltest doch heute noch mit den Ermittlungen beginnen. Noch Lust auf eine kleine Erkundungstour?“
„Nicht wirklich.“ Damp fand, sie hätten heute schon genug getan.
„Komm schon, sei kein Spielverderber. Guck mal, was Behm mir dagelassen hat?“ Rieder klapperte mit Ladbecks Hausschlüssel vor Damps Gesicht herum. „Komm, Damp, du bist doch auch neugierig.“
Damp blieb skeptisch. „Was soll denn da noch sein. Seine Frau hat bestimmt längst alles aufgeräumt. Es ist immerhin sieben Monate her, seit sie die Vermisstenanzeige gestellt hat. Dazu braucht man außerdem einen Durchsuchungsbefehl.“
Mit diesem Argument glaubte er Rieder zu stoppen. Aber Fehlanzeige.
„Gerade in einem solchen Fall muss jetzt jede Chance genutzt zu werden, den Vorsprung des Täters zu verkürzen“, widersprach Rieder. „Da ist geradezu Gefahr im Verzug. Also komm, wir schauen uns das mal an.“
Damp machte noch einen letzten Versuch. „Und wer begrüßt die Kollegen aus Bergen und weist sie in ihre Aufgabe ein? Die müssen bald da sein …“
„Das dauert noch. Mindestens anderthalb Stunden.“
Rieder lief los. Damp folgte ihm widerwillig. Schon das Gartentor machte Schwierigkeiten. Ein Schlüssel passte zwar, aber das Tor öffnete sich nicht. Rieder versuchte, es mit Drücken und Rütteln zu öffnen. Damp sah eine Weile zu. Dann schob er Rieder zur Seite, griff in das Metallgitter des Tores, rüttelte es heftig und hob es aus den Angeln.
„Bitte sehr.“
Rieder sah seinen Kollegen bewundernd an. Das Haus stand etwas zurückgesetzt. Es wirkte weniger wie ein Ferienhaus. Eher wie ein Wohnhaus. Offenbar war dem ehemaligen Fischerhaus ein Anbau über Eck hinzugefügt worden. Er wirkte wie ein Fremdkörper. Rieder erinnerte sich sofort an den Entwurf des Architekten auf seinem Schreibtisch und fasste einen Entschluss. Das würde er seinem kleinen Häuschen nicht antun.
Vor dem Eingang wucherte eine Wiese. Auf dem Rasen standen mehrere Solarpanels. Einige nach Osten, die anderen nach Süden ausgerichtet. Hier und da war das Gras niedergetreten. Wahrscheinlich von Rehen oder Füchsen. Die mochten diese abgeschiedenen Grundstücke als sicheren Rückzugsort. Er kannte das von seinem Haus in Vitte. In dem dichten Gestrüpp hinter der Grundstücksgrenze hielten sich immer Rehe auf.
An der Haustür musste Rieder mehrere Schlüssel probieren, bis er den richtigen gefunden hatte. Als er sie geöffnet hatte, schlug ihnen ein muffiger Geruch entgegen. Rieder fand einen Lichtschalter gleich neben der Tür. Eine Deckenlampe ging an. Strom gab es also noch.
„Vielleicht können wir auch noch klingeln“, maulte Damp. „Dann wissen wenigstens alle, dass wir hier drin sind.“ Er hatte immer noch ein mulmiges Gefühl bei dieser Aktion.
„Der Lichtstrahl einer Taschenlampe wirkt natürlich viel unverdächtiger“, meinte Rieder.
Die Wände im Vorraum hinter der Tür waren mit Holz verkleidet. An den Garderobenhaken hingen zwei Allwetterjacken. Darunter standen ein Paar Gummistiefel und ein Paar Pantoffeln. Von der Größe her musste die Kleidung einem Mann gehören. Durch eine Glastür kamen sie in den Wohnbereich. Ein großes ledernes Sofa mit zwei Sesseln und ein großes Bücherregal dominierten den ganzen Raum. Das Mobiliar wirkte viel zu wuchtig und unpassend zu den niedrigen Decken. In der Mitte stand ein langer Couchtisch. Darauf lagen Akten. Zwei waren aufgeschlagen. Rieder setzte seine Lesebrille auf. Er las etwas von Standfestigkeit der Kaianlagen, Rostfraß bei Spundwänden. Beim Blättern entdeckte er ein Schreiben an den Gemeinderat von Hiddensee mit Briefkopf. „Ulrich Ladbeck, Ingenieurbüro für Deichbau und Hafenanlagen“, dazu seine Hiddenseer Adresse.
„Das ist offenbar alles Zeug von unserem Toten“, sagte Rieder erstaunt.
Damp hatte sich inzwischen das Sideboard angesehen, auf dem ein riesiger Fernseher thronte. Er strich mit dem Zeigefinger über das Gerät und blies die anhaftenden Flusen in die Luft. „Staub ist jedenfalls schon lange nicht mehr gewischt worden.“
Während Rieder weiter in den Unterlagen stöberte, inspizierte Damp das Haus. Vom Flur hinter dem Wohnzimmer gingen weitere Zimmer, Bad und Küche ab. Auch hier war die Einrichtung in die Jahre gekommen. Er erklomm die schmale Holztreppe nach oben. Dort gab es drei Zimmer. In einem war das Bett nicht gemacht. Damp öffnete einen der Kleiderschränke. Nur Männerkleidung: Hemden, Pullover, Unterwäsche.
„Irgendwie komisch“, rief er von oben. „Nichts deutet auf die Ehefrau von Herrn Ladbeck hin. Dabei ist das doch wahrscheinlich das Ferienhaus der Familie.“
Rieder kam in den Flur und kletterte auch die enge Stiege nach oben.
„Es war offensichtlich der Sitz seines Unternehmens. Jedenfalls besagt das die Adresse auf einigen Unterlagen.“ Dabei stöberte er auch im Kleiderschrank. „Vielleicht hat seine Frau ihre Sachen mitgenommen. Wenn sich jemand nach sechs Monaten nicht gemeldet hat oder gefunden wurde, dann findest du dich damit ab, dass er entweder tot ist oder nicht wiederkommt oder nicht wiederkommen will. Möglicherweise war die Erinnerung an schöne gemeinsam Tage auf der Insel für Frau Ladbeck zu schmerzlich, so dass sie alles mitgenommen hat.“
Damp schüttelte den Kopf. „Sieh dich doch nur mal um. Die Akten auf dem Tisch, das Bett … das sieht doch alles so aus, als wenn jemand nur mal kurz weggegangen ist.“ Damp nahm seine Mütze ab und raufte sich das dichte Haar. „Meinst du nicht, seine Frau hätte hier wenigstens aufgeräumt und seine Akten zusammengepackt? Ich versteh es nicht. Auf mich wirkt das alles … das alles wirkt ziemlich merkwürdig auf mich, wenn nicht sogar verdächtig.“
Rieder hatte sich bei den Akten im Wohnzimmer auch so seine Gedanken gemacht. „Damp, weißt du was mich wundert?“
„Du wirst es mir sicher gleich verraten.“
„Bei dem Toten, also Ladbeck, fand sich kein Telefon. Das schleppt man doch heute immer mit sich rum.“
„Danach kannste Behm morgen noch suchen lassen. Vielleicht liegt es auf dem Grund des Sumpfes. Mit so einem Detektor ist es vielleicht zu finden.“
„Oder der Mörder hat es mitgenommen. Um seine Spuren zu verwischen. Seine Nummer auf dem Telefon.“
„Die hätte Nelly ganz schnell abfragen können.“
„Hat sie aber nicht“, entgegnete Rieder. „Ich frage mich, warum eigentlich nicht? Wir müssen dringend mit ihr reden.“
„Warum hast du es noch nicht gemacht? Ihr wart doch lange genug auf dem Revier.“
„Schade hat gemeint, sie sei auf einem Lehrgang und dort nicht zu erreichen.“
„Auf einem Lehrgang? Und nicht zu erreichen?“, zweifelte Damp.
„Fand ich auch komisch.“
Damp setzte sich auf die Bettkante. „Irgendwas stimmt an der ganzen Sache nicht. Hier im Haus der ganze Krempel, dann, was du, Rieder, über diese halbgaren Ermittlungen von Nelly Blohm erzählst …“
Ein lautes Klappen unterbrach sie. Rieder sah zu Damp und legte den Finger auf den Mund. Er wollte nach seiner Waffe greifen. Die lag im Tresor des Reviers. Dafür zog Damp seine Pistole, nicht ohne über Rieders Nachlässigkeit die Augen zu verdrehen. So leise wie möglich stiegen sie die schmale Treppe nach unten. Das Geräusch musste aus der Küche gekommen sein. Beide pressten sich an die Wand. Es blieb still. Langsam glitten sie in Richtung Küchentür. Am Türrahmen angekommen, hob Damp die Hand und ließ nacheinander drei Finger hochschnellen. Dann drehte er sich blitzartig um, trat die Küchentür auf, das Schloss splitterte.
„Polizei, Hände hoch und kommen Sie heraus“, brüllte er.
Keine Antwort. Kein Laut. Rieder ging in die Hocke, kroch an Damp vorbei und suchte neben der Tür nach dem Schalter. Licht flammte auf. Der Raum war leer. Aber es gab noch eine weitere Tür. Wieder hörten sie das Klappen. Es musste aus dem Raum dahinter kommen.
„Scheiße“, flüsterte Damp. „Muss das jetzt noch kurz vor Feierabend sein.“
Sie teilten sich auf und versuchten sich der Tür so zu nähern, dass sie nicht im Schussfeld eines möglichen Schützen dahinter waren. Sie postierten sich links und rechts neben der Tür. Damp machte sich erneut schussbereit. Dann nickte er Rieder zu. Der griff nach der Klinke und riss die Tür auf. Wieder passierte nichts. Nur das Klappen war noch da. Es kam von einem quadratischen Fenster, oben unter der Decke. Ansonsten befanden sich im Raum Regale mit einigen Konservendosen. Davor ein leerer Bierkasten.
Damp und Rieder atmeten auf, gingen zurück in die Küche und setzten sich an den Tisch. Damp rieb sich den Schweiß von der Stirn.
„Behm wird uns umbringen. Bestimmt haben wir einige Spuren verwischt.“
Rieder hob kurz die Hand. Damp verstummte. Sie vernahmen ein leichtes Brummen. Es kam vom Kühlschrank.
„Wer lässt bei den Strompreisen hier oben einen Kühlschrank über sieben Monate an?“, wunderte sich Rieder und öffnete das Gerät. Es war fast leer. Nur im untersten Fach standen zwei Joghurtbecher. Rieder nahm einen heraus, schaute auf den Deckel und zeigte ihn Damp.
„Zu verbrauchen bis zum 31. Oktober. Ladbeck wird ihn wohl kaum gekauft haben.“
7„Hast du die Unterirdischen gefunden?“
Sophie rüttelte ihren Vater. Rieder lag auf der Couch im Wohnzimmer seines kleinen Kapitänshauses. Als er letzte Nacht nach Hause gekommen war, hatte seine Tochter in seinem Bett neben Charlotte gelegen. Um beide nicht zu wecken, hatte er sich unten hingelegt. Jetzt wusste er nicht sofort, was seine Tochter von ihm wollte.
„Unterirdische?“
„Oma Dora hat gesagt, du hast in der Erde gegraben. Da hast du doch bestimmt nach dem Schloss der Unterirdischen gesucht?“
Nun fiel der Groschen. Seit einiger Zeit las er Sophie vor dem Einschlafen aus dem alten Kinderbuch „Sagen und Märchen der Insel Rügen“ vor. Als Kind hatte Rieder es von seiner Großmutter geschenkt bekommen. Sie hatte es bei der Auflösung einer Bibliothek gerettet. So wie es ihn als kleinen Jungen während der Urlaube mit seinen Eltern auf Rügen begeistert hatte, Geschichten von Unterirdischen, Riesen und anderen geheimnisvollen Wesen zu lesen, die auf der Insel ihr Unwesen trieben oder gute Dinge vollbrachten, hörte Sophie ihnen nun gespannt zu. Besonders faszinierten sie die Unterirdischen. Sie hatten angeblich in den Hügelgräbern auf Rügen ihr Zuhause, brachen von dort nachts auf, um den Menschen Streiche zu spielen.