Schwarzer Peter - Tim Herden - E-Book

Schwarzer Peter E-Book

Tim Herden

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Beschreibung

Mord auf Hiddensee – Damp und Rieder ermitteln wieder! Der Unternehmer und Kunstsammler Werner Gilde ist auf Hiddensee verstorben. Am offenen Grab bezichtigen sich Witwe und Sohn gegenseitig, Gilde ermordet zu haben. Die Inselpolizisten Ole Damp und Stefan Rieder glauben zunächst, es ginge bei dem Streit nur um das Erbe. Immerhin besaß Gilde eine wertvolle, einmalige Kunstsammlung mit Werken des Hiddenseer Künstlerinnenbundes. Doch dann wird sein bester Freund, der Inselmaler Hans Kempe, tot am Boddenufer gefunden. In seinem Haus entdecken die Polizisten eine Fälscherwerkstatt. Der Betrug mit Kunstwerken scheint das Motiv für den Mord zu sein. Und dann stellt sich tatsächlich heraus: Auch Gilde wurde getötet. Mit Gift. Damp und Rieder stehen bei ihren Ermittlungen wieder am Anfang. »Schwarzer Peter« ist der inzwischen fünfte Fall des eigenwilligen Ermittlerduos Damp und Rieder, in dem Tim Herden eine spannende Kriminalgeschichte mit vielen wiederzuerkennenden Ortsdetails liefert.

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Tim Herden, geboren 1965 in Halle (Saale), ist seit 1991 Fernsehredakteur beim Mitteldeutschen Rundfunk und Korrespondent im ARD-Hauptstadtstudio in Berlin, er leitet seit 2016 (wie schon von 2003 bis 2008) das MDR-Fernsehstudio dort. 2010 veröffentlichte er seinen ersten Hiddensee-Krimi „Gellengold“, es folgten „Toter Kerl“ (2012), „Norderende“ (2014) und „Harter Ort“ (2016) – alle Bände erschienen im Mitteldeutschen Verlag.

Tim Herden

Schwarzer Peter

Der letzte Fall für Rieder und Damp

mitteldeutscher verlag

Für den ehemaligen Hiddenseer Inselpolizisten Horst Henk

Dieses Buch ist ein Roman. Die gesamte Handlung ist von A bis Z von mir frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig. Die im Text erwähnten Bilder des Hiddenseer Künstlerinnenbundes hängen natürlich da, wo sie hingehören. Die verschwundenen und zerstörten Bilder bleiben verschwunden und zerstört.

Kapitän Gustav Drews schaltete die Positionslichter aus. Dann drehte er den kleinen Hebel neben dem hölzernen Steuerrad. Der Motor erstarb. Vorn am Mast löste Bootsmann Henning Just die Vorliekleine. Mit kräftigen Armzügen zog er das Segel nach oben. Der sanfte Südwest bauschte das weiße Tuch und glättete es. Noch ließ die Großschot dem Segel Spiel. Der Wind schob es weit über die hölzerne Bordwand hinaus. Schiffsjunge Björn griff nach der Leine, legte sie um eine Winsche und zog sie fest. Das Segel straffte sich. Sanft neigte sich die pommersche Yacht. Aus dem Rumpf des Schiffes drang ein sanftes Brummen. Die „Hertha“ nahm Fahrt auf.

So mochte es Drews. Locker hielt er das Steuerrad zwischen seinen Händen. Mit sanften Bewegungen pendelte er das Boot aus und hielt es im Wind. Er blickte geradeaus. Viel war nicht zu sehen in der Dunkelheit. Ab und zu zerriss das schnell ziehende dunkle Wolkenband. Dann spiegelte sich das Mondlicht im schwarzen Wasser des Boddens. Backbord war der Gellen zu erahnen. Steuerbord lag die Halbinsel Ummanz. Voraus blinkte ein Licht. Der Leuchtturm Dornbusch sendete sein Signal in die Nacht. Zwei Sekunden hell. Acht Sekunden dunkel. Drews steuerte leicht backbord vom Licht des Leuchtturms. Dieser Kurs war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Schon vor dem Krieg war er als junger Kapitän für die Reederei seines Vaters mit dem Postschiff von Stralsund über Kloster auf Hiddensee und die Poststation auf dem Bug nach Bornholm und weiter nach Schweden gefahren. Schon damals hatte ihm das Leuchtfeuer Dornbusch immer die Gewissheit gegeben, auf dem richtigen Kurs nach Hiddensee zu sein.

Kein anderes Boot war auf See. Die Fischer durften erst ab drei Uhr rausfahren, um ihre Reusen zu kontrollieren. In der Nacht herrschte auch auf dem Wasser Ausgangssperre. Eigentlich auch für Gustav Drews und seine „Hertha“. Aber er musste die sowjetischen Patrouillenboote nicht fürchten. Die Reederei Drews hatte eine Sondergenehmigung der Besatzungsmacht. Er durfte Hiddensee anlaufen und die Insel mit Waren des täglichen Bedarfs beliefern – wenn auch zu vorgeschriebenen Zeiten. Aber der Inselkommandant war großzügig. Denn Drews versorgte mit seinem Schiff auch die Soldaten auf Hiddensee. Und so war es dem Kommandanten ziemlich egal, wann Drews mit seiner Ware kam. Hauptsache, er kam.

Doch Drews fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Heute hatte er nicht Lebensmittel und Fässer mit Schiffsdiesel für die Fischer geladen. Unter Deck standen zwanzig Holzkisten. Drews wusste nicht, was darin war. Sein Vater hatte ihm die Ladung und die Tour aufgenötigt. Als Freundschaftsdienst für den Unternehmer Gilde, einen guten Kunden der Reederei. Zweimal die Woche lieferte Drews mit der „Hertha“ Mehl zu dessen Fabrik im Hafen Sassnitz. Auf der Rücktour brachte er Produkte der Firma Gildemeister, Backmischungen und Tütensuppen, zu den Häfen Greifswald und Stralsund. Ein gutes Geschäft, besonders in schlechten Zeiten wie diesen. Sonst gab es seit dem Kriegsende nicht viel zu transportieren.

Drews hatte Henning und Björn leere Fässer und Kartons um die Kisten stapeln lassen, damit sie bei einer Kontrolle nicht auffielen. Sicher war sicher. Drews rechnete nicht damit. Nachts lagen die sowjetischen Patrouillenboote vom Stützpunkt auf dem Bug immer am nördlichen Ende des Libben auf der Lauer. Sie warteten in der Meerenge zwischen Hiddensee und Rügen auf Schmuggler, die heimlich aus Dänemark oder Schweden Schnaps, Butter und Zigaretten für die Schwarzmärkte an der Ostseeküste brachten. Wer erwischt wurde, musste mit drakonischen Strafen rechnen. Es war schon vorgekommen, dass die Russen ein aufgebrachtes Schmugglerschiff einfach ins Schlepptau genommen und dann auf offener See mit einem Torpedo versenkt hatten.

Die „Hertha“ erreichte das Fahrwasser von Kloster. Henning kam zu Drews in das kleine Führerhaus. Er stellte sich neben ihn und nahm seine Pfeife aus dem Mund. „Ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache.“

„Wird schon schiefgehen“, antwortete der Kapitän, ohne den Blick zu wenden.

„Zurück müssen wir kreuzen. Nicht gerade ideal, wenn es eng wird.“ Dabei nickte Henning leicht mit seinem Kopf nach Steuerbord, in Richtung des Marinestützpunktes.

„Wir haben immer noch den Diesel“, wandte Drews ein.

Henning schüttelte den Kopf. „Damit kommst du nicht gegen die Torpedoboote der Russen an.“

„Ich kann das Schwert hochziehen. Aufs Flachwasser kommen die nicht hinterher.“

„Als ob das die Russen aufhalten würde.“

Drews wusste, dass Henning Recht hatte, wollte es aber nicht zugeben. Seit über zwanzig Jahren hatten Drews und Just jede Fahrt zusammen gemacht, aber die Rollen zwischen Kapitän und Bootsmann waren klar verteilt.

„Hol die Segel ein, sonst brettern wir bei dem Wind auf Grund“, beendete Drews das Gespräch.

Henning nickte kurz, steckte seine Pfeife wieder in den Mund und lief dann zum Mast. Er löste die Vorliekleine. Das Segel rauschte runter und bauschte sich auf Deck. Björn begann es zu raffen. Die „Hertha“ wurde langsamer, machte aber immer noch gut Fahrt.

Am Schwedenhagen tauchte ein Licht auf. Es wurde am Fuße der Anhöhe neben dem Hafen von Kloster immer wieder hin und her geschwenkt. Das vereinbarte Zeichen. Daneben, in Richtung Grieben, gab es zwar eine Anlegestelle. Das Bollwerk. Doch dort die Kisten auszuladen hätte zu viel Aufsehen erregt. So hatte Drews mit Gildes Sohn Werner vereinbart, die Ladung am Fuße des Schwedenhagen zu löschen, mit dem hochgewachsenen Schilf als Deckung. Drews lehnte sich aus dem Führerhaus. „Lasst den Anker fallen!“

Die Kette rasselte in die Tiefe. Kurz darauf ging ein Ruck durch das Boot. Der Anker hatte im schlammigen Boden des Boddens Halt gefunden. Björn ließ darauf auch am Bug den Anker zu Wasser. Die „Hertha“ lag fest.

In der Stille waren kräftige Ruderschläge und das Klappern der Paddel in den eisernen Dollen zu hören. Aus der Dunkelheit tauchte ein hölzernes Boot auf. Vorn im Bug war eine brennende Laterne befestigt. Dahinter stand ein großer, hagerer junger Mann. Er trug dunkle Kleidung und hatte eine Strickmütze auf dem Kopf. Drews erkannte Werner Gilde.

„Alles ruhig“, rief er Drews zu. Der Kapitän nickte stumm. Er gab Henning und Björn ein Zeichen die Luken zu öffnen. Dann stieg Björn in den Laderaum, während Henning den kleinen Ladekran der „Hertha“ flott machte. Die erste Kiste wurde hochgezogen, dann über Bord geschwenkt und in das kleine Boot abgesenkt. Nach jeweils drei Kisten fuhr das Ruderboot zum Ufer. Aus der Ferne glaubte Drews Stimmen zu hören. Immer wieder sah er ein Licht die Anhöhe hinaufwandern, dann aber plötzlich verschwinden. Dort gab es eigentlich gar keinen Weg. Dafür war das Hochufer zu steil.

Sie waren gerade dabei, die Kisten für die letzte Fuhre abzuseilen. Da tauchte oben neben der Anhöhe das Licht wieder auf und kam langsam näher. Wahrscheinlich ein Fahrradfahrer. Werner Gilde, der auf der „Hertha“ das Umladen der Kisten überwacht hatte, bat Drews um sein Fernglas. Er hielt es kurz an die Augen. „Scheiße, der lange Herrmann!“, fluchte der Sohn des Unternehmers. Mehr musste er nicht sagen. Alle kannten den Spitznamen des Hiddenseer Inselpolizisten. Da war auch schon seine donnernde Stimme zu hören: „Halt da draußen! Was tun Sie da?“

Alle schwiegen. Das Licht im Ruderboot war gelöscht worden. Trotzdem waren in der Dunkelheit die Umrisse der Boote zu erkennen. Viel konnte Herrmann nicht ausrichten. Jedenfalls nicht auf See. Wie sollte der Polizist ohne Boot bis zur „Hertha“ kommen? Anders stand es um die Leute am Ufer. Auch von dort war kein Ton mehr zu hören. Nur der Wind ließ das Schilf rascheln.

„Halt, oder ich schieße!“, brüllte der Polizist.

Drews witterte Gefahr. „Ich will hier weg“, flüsterte er.

„Die Kisten müssen aber noch von Bord“, antwortete Gilde.

„Und was, wenn er schießt?“, entgegnete Drews ‚Und trifft?‘, fügte er in Gedanken hinzu. Da hörten sie auch schon, wie eine Waffe durchgeladen wurde. Ein Schuss fiel. Offenbar hatte der Polizist in die Luft geschossen, aber er konnte damit die Soldaten auf der Insel und auf der Ostsee alarmiert haben.

„Schluss jetzt“, raunzte Drews, „mach dich von Bord!“

Henning ließ das Seil des Ladekrans los und die Kiste am Haken krachte auf das Boot neben der „Hertha“.

„Bist du verrückt geworden?“, schnauzte Gilde den Bootsmann leise an.

„Du kannst mich mal“, zischte Henning.

Gilde starrte ihn wütend an und war nahe dran, auf den Matrosen loszugehen, doch dann schien er sich zu besinnen. Er neigte sich zu Drews. „Die letzte Kiste muss noch runter. So ist es verabredet.“

Da packte Henning Gilde von hinten, drehte ihn um und fasste ihn unter den Achseln. Obwohl der junge Mann einen Kopf größer war, hob ihn der Bootsmann mühelos hoch und trug ihn die zwei Schritte zur Reling.

„Verschwinde jetzt!“ Um seine Drohung zu verstärken, hielt er Gilde außerhalb des Decks. Gilde zappelte vor Angst. Henning zog ihn noch einmal so nah heran, dass Gilde die Bootswand zu fassen bekam und von dort in das Ruderboot klettern konnte.

„Das wird euch noch leidtun.“

Doch Drews und Henning hörten ihn nicht mehr. Sie liefen beide über Deck und waren damit beschäftigt, das Schiff seeklar zu machen. Der Kapitän versuchte den Schiffsdiesel anzuwerfen. Doch der Motor zündete nicht. Er tuckerte ein wenig und verstummte. Drews versuchte es wieder und rief zugleich Björn zu, den Heckanker zu lichten. Der Schiffsjunge begann die Ankerwinde zu drehen. Henning zog das Segel auf, um seeklar zu sein, falls der Motor weiter streikte. Björn stürmte zum Bug, um auch dort den Anker zu heben. Dort lag die „Hertha“ noch fest. Sie begann sich schon in der Strömung um die eigene Achse zu drehen. Björn rüttelte an der Ankerwinde. Doch nichts rührte sich. Henning bemerkte es. Er rannte zur Bordwand, um nachzusehen, warum sich der Anker nicht bewegte. Als er sich wieder aufrichtete, frischte der Wind auf. Eine Böe fegte über den Bodden. Sie erfasste das freischwingende Segel. Der Großbaum traf den Bootsmann am Kopf. Henning wurde über Bord geschleudert. Der Kapitän und Björn hörten das Aufschlagen seines Körpers im Wasser. Sie stürmten zum Bug. Drews schrie Björn an, endlich das Segel zu sichern. Der Junge fing die Schot, wickelte sie um die Winsche, zog das Segel heran und befestigte es. Dann eilte Björn zu Drews zurück, der immer noch kurz neben dem Bug kniete und in die Tiefe starrte. Immer wieder rief er leise nach Henning. Herrmann sollte den Namen nicht hören. Doch es gab keine Antwort. Sie hörten auch kein Paddeln oder Kraulen eines Schwimmers. Auch von Gildes Ruderboot war nichts zu vernehmen. Dabei mussten Gilde und seine Leute mitbekommen haben, was passiert war. Drews und Björn rannten zum Heck, schauten in die Tiefe und riefen wieder den Namen des Bootsmanns. Aber Henning blieb verschwunden. Ein zweiter Schuss fiel. Am Führerhaus splitterte Holz. Drews und Björn warfen sich auf die Planken.

„Wir müssen hier weg“, raunte Drews Björn zu.

„Aber Onkel Henning …“, flehte der Schiffsjunge.

Drews schüttelte hilflos den Kopf. Erstarrt sahen sie sich eine kurze Ewigkeit in die Augen. „Wir müssen den Anker lichten“, flüsterte Drews. „Komm!“

Sie krochen zum Bug. Nun zog die Winde ohne Probleme den Anker nach oben. Dann holte Drews das Segel ein.

Zurück im Führerhaus, legte er den Zündhebel um. Wieder stotterte der Schiffsdiesel zweimal, dann fand der Motor seinen Rhythmus. Drews steuerte die „Hertha“ ins offene Fahrwasser. Der Leuchtturm Dornbusch sendete sein Licht in die Ferne.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Kapitel XXVII

Kapitel XXVIII

Kapitel XXIX

Kapitel XXX

Kapitel XXXI

Kapitel XXXII

Kapitel XXXIII

Kapitel XXXIV

Kapitel XXXV

Kapitel XXXVI

Kapitel XXXVII

Kapitel XXXVIII

Kapitel XXXIX

Kapitel XL

Danksagung

I

„Tja“, meinte Malte Fittkau. Er hob mit der rechten Hand kurz seine Schiffermütze, kratzte sich die Stirn und setzte „seine Kopfbedeckung wieder auf. Gemeinsam mit Stefan Rieder stand er vor der Wiese um das kleine Kapitänshaus im Wiesenweg in Vitte. Das Häuschen war Rieders Bleibe auf Hiddensee. Seit Oktober hatte er dort nicht mehr gewohnt und auch nicht mehr den Rasen gemäht. Nach seiner Rückkehr auf die Insel im Januar war er in Maltes Pension gezogen. Bei dem harten Winter wäre es in dem Häuschen mit seinen dünnen Wänden zu kalt gewesen. Jetzt war bald Ostern. Malte brauchte seine Zimmer für die ersten Gäste. Rieder musste also umziehen. Außerdem hatte sich sein Vermieter angemeldet, um nach dem Rechten zu sehen und einiges zu besprechen. So stand es in einem Brief, den Rieder vor einer Woche erhalten hatte.

Die Wiese bot ein gemischtes Bild. Da waren die abgestorbenen, dunklen Halme der Rasenpflanzen vom letzten Jahr. Dazwischen sprießten Löwenzahn, Gänseblümchen und Wiesennelken. Vor den Kirschbäumen an der Grenze zu Maltes Grundstück standen die Brennnesseln hüfthoch. Die Heckenrose am Zaun zum Wiesenweg hatte sich mit zahlreichen Schösslingen auf der Fläche vermehrt.

Drei Monate hatte der Winter die Insel fest im Griff gehabt. Dickes Packeis türmte sich rund um die Küsten an Ostsee und Bodden. Nur mit dem Hubschrauber war Hiddensee zu erreichen. Dann kamen Ende März die ersten Sonnenstrahlen. Innerhalb einer Woche verschwanden Eis und Schnee. Die plötzliche Wärme jetzt Anfang April hatte die Natur förmlich explodieren und erblühen lassen.

Bis zu seinem Haus war Rieder noch gar nicht vorgedrungen. Er hatte nur aus dem Schuppen den kleinen Rasenmäher geholt und war sofort gescheitert. Das Gerät hatte nach einem Meter den Betrieb eingestellt, unfähig, den Wiesenurwald zu stutzen. In seiner Not hatte Rieder Malte um Rat gefragt. Doch auch sein Nachbar war ratlos.

„Vielleicht geht’s mit einer Sense“, schlug Rieder vor.

„Haste schon mal gesenst?“, fragte Malte zurück, ohne Rieder dabei anzusehen.

Rieder schüttelte den Kopf.

„Dann lass mal.“

„Aber wieso? So schwer kann doch Sensen nicht sein.“ Rieder deutete mit einem Hüftschwung und angewinkelten Armen die entsprechende Bewegung an. Nun drehte sich Malte um und sah Rieder an, als sei er nicht ganz bei Trost.

„Hast du ’ne Sense?“, hielt Rieder an seiner Idee fest.

„Hab’ ich, aber kriegste nicht. Das wäre Mord.“

„Versteh’ ich nicht.“

„Du hackst dir damit die Beine ab, und hier ist keiner auf der Insel, der sie dir wieder annäht. Sensen fällt jedenfalls aus“, erklärte Malte in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Die beiden Männer starrten wieder stumm auf die Wiese. Dann strich sich Malte über das Kinn. „Am besten, du holst drei grüne Lappen von der Bank, gehst zu den Jungs vom Deichbau, hängst dein Gartentor aus, und dann fahren die mit ihrem Mäher hier zweimal drüber. Fertig.“

Rieder war geschockt. „Dreihundert Euro?“

„So sind die Preise.“

„Die sollen hier nicht einen neuen Garten Eden anlegen. Die sollen den Rasen mähen. Dafür kann ich in Berlin …“, begann Rieder zu lamentieren.

„Du bist aber nicht in Berlin“, unterbrach ihn Malte. „Ich sage nur ‚Insellage‘.“

Das war das Zauberwort auf Hiddensee. Brauchte die Post vom Festland mehr als eine Woche, gab es keine Internetverbindung oder waren Handwerkerleistungen doppelt so teuer wie auf Rügen – immer gab es nur eine Antwort: Insellage. Hiddensee schien einsam mitten in einem großen, breiten Ozean zu treiben, fern von anderen Gestaden. Dabei war die Insel an der engsten Stelle des Boddens gerade mal ein paar hundert Meter von Rügen entfernt. Die Fähre von Schaprode brauchte bis Vitte eine Dreiviertelstunde. Mit dem Wassertaxi dauerte es je nach Laune des Kapitäns fünfzehn, höchstens zwanzig Minuten.

Rieder wollte nicht sofort nachgeben. „Dreihundert ist mir zu teuer.“

„Du kann auch bei einer dieser Hausverwaltungen fragen“, meinte Malte.

„Stimmt. Gute Idee.“

„Kommst du aber auch nicht billiger davon und wartest ewig auf einen Termin“, zerstörte Malte sofort die aufkeimende Hoffnung. „Die müssen jetzt alle ihre Buden auf Vordermann bringen. Da stehst du ganz hinten in der Reihe. Vergiss es.“

Beide versanken wieder in Schweigen. Rieder überlegte, dem Rasenmäher eine zweite Chance zu geben. Da klingelte sein Telefon. Er zog es aus der Hosentasche. Revierleiter Damp. Rieder stutzte kurz. Eigentlich sollte sein Kollege auf einer Beerdigung auf dem Friedhof in Kloster sein. Irgendein Inselpromi wurde dort beigesetzt. Es hatten sich eine Menge wichtiger Menschen von Rügen und aus Stralsund angesagt. Gemunkelt wurde, dass sogar der Wirtschaftsminister von Mecklenburg-Vorpommern kommen wolle. Der Tote war wohl der größte Unternehmer in der Region gewesen. Rieder hatte es nicht weiter interessiert, denn Damp hatte die Sache gleich an sich gezogen. Rieder drückte auf die Hörertaste. Noch bevor er sich melden konnte, hörte er Damps atemlose Stimme. „Können Sie bitte schnell hierherkommen? Ich weiß nicht, was ich machen soll. Das ist hier völlig vertrackt.“

Rieder staunte. Seit er wieder auf der Insel war, hatte Damp noch nie so viele Worte an ihn gerichtet. Eigentlich herrschte zwischen Rieder und Damp Funkstille. Rieder musste sich allerdings eingestehen, nicht ganz unschuldig an der Stimmung im Revier zu sein. Es war nicht fair gewesen, Damp nicht über seinen Undercover-Einsatz im Winter auf der Insel zu informieren. Rieder hatte einen Mörder verfolgt, der nicht nur sein, sondern auch Damps Leben zuvor in Gefahr gebracht hatte. Nicht ganz ohne Rieders Schuld.

„Was ist denn passiert?“, fragte Rieder seinen Kollegen.

„Ich kann das jetzt nicht erklären“, wisperte Damp ins Telefon. „Ich kann hier nicht laut reden.“

„Sind Sie noch bei der Beerdigung?“

„Nein. Ich bin in Gildes Villa. Oben auf dem Schwedenhagen. Kommen Sie dahin.“ Noch bevor Rieder antworten konnte, hatte Damp das Gespräch beendet. Er starrte auf das Display. Dann schaute er Malte an, der ihn neugierig ansah. Malte war als Inselfunk an Informationen jeglicher Art interessiert.

„Irgendwas muss bei der Beerdigung von diesem …“, Rieder war schon wieder der Name entfallen.

„Gilde“, half ihm Malte aus und schlug sich zugleich mit der flachen Hand auf die Stirn „Mensch, zu der Beerdigung wollte ich eigentlich hin! Hoffentlich schaffe ich es noch zum Leichenschmaus im ‚Hitthim‘.“

„Wer war dieser Gilde?“

„Mensch, Rieder, wie lange bist du jetzt auf der Insel?“, stöhnte Malte auf. „Schon mal was von ‚Gildemeisters Backmischungen‘ gehört oder ‚Gildemeisters Suppen‘?“

„Ja, schon.“ Klar kannte er die bunten Packungen. Manchmal hatte er sich eine von den Tütensuppen der Firma Gildemeister gekocht. Typisches Single-Essen. „Und der Gilde wohnte hier auf der Insel?“

„Ja, klar. Er hatte ein Haus in Kloster“, antwortete Malte, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass sich die Reichen und Schönen auf Hiddensee niederließen.

„Ich soll zu Gildes Villa kommen. Zum Schwedenhagen. Wo ist denn das in Kloster?“

„Neben dem alten Institut der Universität Greifswald. Ein bisschen versteckt im Wald. Aber mit einem Superblick“, beschrieb Malte Rieder den Weg. Dann tippte er mit zwei Fingern an seine Schiffermütze und machte sich eilig auf den Weg zu seinem Haus in der Sprenge. Doch er blieb noch einmal stehen: „Und die Wiese?“

Rieder zuckte mit den Schultern. „Ich denke nochmal drüber nach.“

II

Rieder radelte über den Deich nach Kloster. Der frische Wind rauschte in seinen Ohren. Er kam von Südwest und brachte warme Frühlingsluft auf die Insel. Erst seit wenigen Tagen konnte man die Insel wieder ohne Probleme mit dem Rad befahren. Zuvor hatte es auf den Wegen immer noch hier und da Eisflächen oder scharfkantig gefrorene Schneereste gegeben. Auf den Sumpfwiesen weidete eine Schafherde. Sie war erst vor kurzem vom Winterquartier auf Rügen zurück nach Hiddensee gebracht worden. Um die Tümpel versammelten sich die ersten Zugvögel. Sie machten hier Station auf ihrer Rückreise nach Norden. Im Seglerhafen von Kloster waren erst wenige Liegeplätze belegt. Nur ein paar Motorboote der Einheimischen dümpelten vor sich hin. Wenn das Wetter so bliebe, würden wahrscheinlich zu Ostern die ersten Segler einen Törn nach Hiddensee wagen.

Rieder schloss sein Rad an der Außenstelle der Reederei Hiddensee im Hafen an. Malte hatte ihm empfohlen, von dort den schmalen Pfad hinauf zum Schwedenhagen zu nehmen. Rieder musste ein wenig suchen, ehe er im Gestrüpp den Trampelpfad entdeckte. Relativ steil verlief der schmale Weg. Oben angekommen, stand Rieder vor einem Feld mit frischer grüner Saat. Das war ungewöhnlich für Hiddensee. Außer dem Weiden von Kühen und Schafen wurde auf der Insel keine Landwirtschaft mehr betrieben. Am Feldrain standen ein paar alte LKW-Hänger, schon völlig von Buschwerk überwachsen. Rieder wandte sich nach rechts und lief zu dem kleinen Wäldchen neben dem Häuschen der Wasserversorgung. Dort stand der blaue Polizeiwagen von Damp. Im Dickicht der Bäume entdeckte er ein Haus. Das musste Gildes Villa sein. Ein Seil war zwischen zwei kniehohen Holzpfählen gespannt, kaum ein Hindernis für ungebetene Gäste. Rieder stieg darüber. Obwohl schon ein Jahr auf der Insel, war ihm dieses Haus noch nie aufgefallen. Auch das verlassene Institutsgebäude der Universität Greifswald nebenan hatte er noch nicht besucht.

Damp wartete schon auf ihn. „Gut, dass Sie da sind. Ich weiß mir echt nicht zu helfen.“

Rieder war verblüfft von Damps Aufzug. Seine Uniform war nagelneu. Bisher hatte sich sein Kollege nicht vom althergebrachten Polizeigrün trennen wollen. Nun aber trug er das neue Dunkelblau. Die Hose hatte ein scharfe Bügelfalte. Die Uniformjacke saß wie angegossen. Damp hatte in der letzten Zeit ziemlich an Gewicht verloren, brachte aber sicher immer noch einiges an Übergewicht auf die Waage. Seinen alten Sachen hatte man den Verlust angesehen. In diesem neuen Aufzug wirkte der Revierleiter mit seinen einsneunzig Körpergröße wie ein stattlicher Mann. Wie eine Autorität. Rieder kam sich dagegen ein wenig schäbig vor. Abgewetzte Jeans, Wanderschuhe, Fieldjacket und dazu ein ausgeblichenes rotes Basecap mit dem Logo der Insel. „Sie haben sich ganz schön in Schale geschmissen“, bemerkte Rieder.

Damp stutzte kurz, schaute unsicher an sich runter. „Ich brauchte eben neue Klamotten, aber das tut jetzt nichts zur Sache.“ Er war total nervös, drehte seine Mütze mit seinen Händen hin und her. „Da oben sitzen die Witwe und der Sohn des Toten. Die sind auf der Beerdigung völlig ausgetickt.“ Damp deutete mit dem Kopf an, dass sie etwas vom Haus weggehen sollten, um nicht gehört zu werden. „Erst ging alles gut. In der Kirche, der Pfarrer, noch ein paar Worte von irgend so einem Heini aus Stralsund über Gilde und seine Firma. Dann liefen alle zum Grab. Jedenfalls, als der Sohn dann Erde ins Grab werfen wollte, rastete die Frau völlig aus.“

Damp blickte sich kurz ängstlich um, bevor er weitersprach. „Was er sich trauen würde. Er hätte seinen Vater ins Grab gebracht und sei für seinen Tod verantwortlich. Der Sohn giftete zurück, sie hätte ihren Mann verrecken lassen, um endlich an sein Geld zu kommen.“ Damp zog Rieder noch ein wenig weiter vom Haus weg. „Wenn ich nicht dazwischengegangen wäre, hätten die sich in die Haare bekommen. Ich habe sie dann hierhergebracht.“ Damp atmete schwer. So sehr hatte ihn allein sein Bericht wieder erregt.

„Und die anderen Trauergäste?“, fragte Rieder nach.

„Um die kümmert sich Förster. Die sind wahrscheinlich noch beim Leichenschmaus im Hotel ‚Hitthim‘ in Kloster.“ Thomas Förster war der Bürgermeister von Hiddensee. Damp machte eine kurze Pause. „Die waren alle total geschockt.“

„Und nun?“

„Was, und nun?“, erwiderte Damp verblüfft.

„Was soll ich jetzt hier tun?“, fragte Rieder.

Nachdem sich Damp noch einmal umgeschaut hatte, meinte er: „Vielleicht reden Sie mal mit den beiden. Sie kennen sich doch bestimmt besser mit solchen Dingen aus.“

Rieders Begeisterung hielt sich in Grenzen. Wahrscheinlich war es nicht mehr als der übliche Knatsch zwischen den Erben. „Na gut. Gehen wir mal rein.“

Sie betraten die Eingangshalle. Rieder blieb mit offenem Mund stehen. Er konnte nicht fassen, was er erblickte. Alle vier Wände waren eng behängt mit Gemälden, Aquarellen und Zeichnungen. Alle Bilder hatten aber nur ein Thema: Hiddensee. Ein Gemälde zog ihn sofort in den Bann. Zwei junge Mädchen mit leicht geröteten Gesichtern und farbigen Kopftüchern standen am Strand. Sie schauten in die Ferne. Rieder kannte das Bild, aber nur als Postkarte. Er wusste auch, dass es von Elisabeth Büchsel stammte, der berühmtesten Inselmalerin. Um das Bild herum waren noch weitere Kinderporträts gruppiert. Ein kleines Mädchen lehnte an einer Hauswand und schien ganz verschüchtert zur Malerin zu schauen. Auf einem anderen Bild sah man einen kleinen Jungen mit Schiebermütze. Er hatte sich auf einer Wiese im Hochland ausgestreckt. Im Hintergrund weideten Schafe. Andere Bilder zeigten Hiddenseer Fischer bei der Arbeit und ihre Frauen wartend am Ufer. An der Wand daneben erkannte Rieder den Inselblick wieder, den kleinen Platz, oberhalb von Kloster auf halbem Wege zum Leuchtturm mit der wunderbaren Aussicht über ganz Hiddensee. Rieder liebte diese Stelle und setzte sich immer ein paar Minuten auf eine der Bänke, wenn er dort vorbeikam. Hier gab es nun Dutzende Gemälde genau mit diesem Motiv, und die Signaturen zeigten, dass sie alle von Elisabeth Büchsel gemalt worden waren. Dagegen mussten die Bilder an der Wand gegenüber von anderen Künstlern sein. Sie waren in ganz unterschiedlichen Malstilen angefertigt. Manches wirkte moderner. Anderes verträumter. Aber auch hier gab es nur ein einziges Thema: Die Insel Hiddensee und ihre Menschen.

Rieder drehte sich im Kreis. „Was ist das hier? Das Inselmuseum?“, fragte er Damp.

Sein Kollege schien nicht so beeindruckt. „Sind halt Bilder.“

„Aber das ist ja einmalig“, staunte Rieder weiter. Er trat an das eine oder andere Bild näher heran.

„Können wir jetzt endlich?“, meldete sich ungeduldig Damp. Rieder folgte ihm auf der Treppe nach oben. Dort führte eine Doppeltür in einen Salon. Auch hier waren die Wände mit Bildern dekoriert. Es handelte sich um Porträts wahrscheinlich wichtiger Persönlichkeiten der Vergangenheit. Sie schauten bedeutungsschwanger in den Raum. Dem Eingang gegenüber war eine große Glastür, und Rieder war fasziniert von dem weiten Blick über Insel, Bodden und Ostsee.

Als er sich davon losriss, nahm er die beiden Personen wahr. Eine junge Frau und ein grauhaariger Mann saßen sich auf zwei großen Sofas gegenüber. Er, schätzungsweise Mitte fünfzig, trug einen dunkelgrauen Doppelreiher. Der Anzug war sicher nicht von der Stange, aber auch nicht mehr der neueste Schick. Dazu Budapester Schuhe. Der strenge Ausdruck seines kantigen Gesichts wurde durch eine schwarz gerahmte Brille verstärkt. Die Frau war höchstens Mitte Dreißig. Das kurze schwarze Kleid passte eher in eine Bar als auf eine Beerdigung. Ihre schlanken Beine waren bestimmt nicht von der Frühlingssonne gebräunt. Die Füße steckten in hochhackigen schwarzen Pumps. Beide schauten gelangweilt aneinander vorbei. Der Mann musste wahrscheinlich Gildes Sohn sein und die Frau dessen Gattin, wie man es noch in solchen Kreisen nannte, dachte sich Rieder. Er verbeugte sich ein wenig vor der Frau, streckte ihr dann die Hand entgegen und sagte leise, „Herzliches Beileid zum Tod Ihres Schwiegervaters.“

Die Augen der Frau blitzten. Damp stieß ihn in die Seite und zischte ihm ins Ohr: „Das ist die Witwe!“ Rieder stutzte. Seine Hand schwebte immer noch in der Luft. Er zog sie zurück.

„Oh, Entschuldigung“, stammelte er, „ich wusste nicht …“ Hatte ihm Damp nicht erzählt, Gilde sei schon weit über neunzig gewesen?

„Schon gut“, antwortete die Frau angespannt. „Ich bin Martina Gilde, die Ehefrau von Werner Gilde. Und wer sind Sie?“

„Hauptkommissar Rieder.“ Er verzichtete darauf, seinen Dienstausweis zu zeigen. „Mein Kollege Damp hat mich hergebeten.“

Dann wandte er sich an den Mann gegenüber. „Dann sind Sie …“

„Ganz recht, Richard Schlick, der Sohn des Toten“, antwortete der Mann streng. Rieder stutzte wieder. Warum trug er nicht den Nachnamen des Vaters? Der alte Stiefsohn und die junge Stiefmutter. Damp hätte ihn ruhig auf diese Familienverhältnisse vorbereiten können. Offenbar hatte Schlick seine Verwunderung bemerkt. Er zog eine Visitenkarte aus seiner Brusttasche und reichte sie Rieder. „Ich bin der Adoptivsohn von Werner Gilde.“ Nach einer Kunstpause setzte er hinzu, „Und der Geschäftsführer der Gildemeister Nahrungsmittel GmbH.“

„Aber nicht mehr lange“, blaffte die junge Witwe.

Schlick gab keine Antwort, sondern schüttelte entnervt den Kopf.

„Mein Kollege hat mich hergebeten, um einen Sachverhalt zu klären …“

Weiter kam Rieder nicht. „Einen Sachverhalt!“, rief die Frau aus. „Einen Sachverhalt! Hör sich das einer an. Dieser Mann“, schrie sie hysterisch und richtete den ausgestreckten Zeigefinger auf ihr Gegenüber, „dieser Mann hat Werner getötet! Ermordet!“

„Schwachsinn“, erwiderte Schlick wütend. „Du hast ihn ins Grab gebracht. Mit deiner Gier!“

„Ich habe ihn gepflegt …“

„Gepflegt? Dass ich nicht lache.“ Er beugte sich vor und saß wie zum Sprung auf der Sofakante. „Gepflegt hast du vielleicht deine Fingernägel. Nichts hast du für ihn getan. Du hast ihm die notwendige medizinische Pflege verweigert, hast ihn verhungern und verdursten lassen. Dafür habe ich Beweise!“

Sie beugte sich ebenfalls vor und giftete zurück: „Die möchte ich sehen.“

„Das wirst du auch.“

„Moment!“, fuhr Rieder mit lauter Stimme dazwischen. Die beiden verstummten und starrten ihn an. „Könnten wir uns vielleicht alle ein wenig zurücknehmen.“ Sohn und Witwe lehnten sich zurück, verschränkten die Arme vor der Brust und starrten sich hasserfüllt an. Rieder sah sich um, holte sich einen Stuhl und setzte sich wie ein Schiedsrichter zwischen die beiden. Damp stellte sich hinter ihn. Schweißtropfen hatten sich auf seiner Stirn gebildet. Rieder holte aus der Brusttasche seiner Jacke einen Block und einen Stift. Er klickte die Miene des Kugelschreibers raus.

„Wenn ich meinen Kollegen Damp richtig verstanden habe, haben Sie beide“, Rieder schaute erst die Frau, dann den Mann an, „also, Sie haben beide Zweifel am natürlichen Tod von Werner Gilde. Ist das richtig?“

Martina Gilde und Richard Schlick nickten jeweils kurz.

„Gut.“ Rieder notierte sich etwas. Dann wandte er sich an die Witwe. „Wann ist denn Ihr Mann, Herr Gilde, gestorben?“

„Vor fünf Tagen. Und er ist schuld.“ Sie deutete mit einer heftigen Kopfbewegung auf Richard Schlick. „Er war am Samstagnachmittag bei ihm, und als ich wenig später bei Werner vorbeischaute, atmete er nicht mehr. Er war tot. Er hat ihn umgebracht!“ Sie zog ein Taschentuch aus der Ritze der Polster des Sofas und schnäuzte sich damit laut. Dann schien sie ein paar Tränen in ihren Augen zu trocknen und verwischte ihre Lidschatten.

„Wann genau haben Sie den Toten aufgefunden?“

„Wie gesagt, Samstag. So gegen sieben Uhr. Abends.“

„Wo waren Sie davor?“

„Was hat das mit dem Tod meines Mannes zu tun?“

„Wir müssen die Umstände des Todes Ihres Mannes genau rekonstruieren. Dazu gehört auch, wer sich wann wo aufgehalten hat“, erklärte Rieder betont gelassen. „Also?“

„Ich war auf der Insel unterwegs.“

Schlick lachte auf. „Du hast dich wahrscheinlich mit deinem Lover getroffen, während Werner hier verreckte.“

Rieder hob ein wenig seine rechte Hand. „Herr Schlick. Sie sind noch nicht dran. Vielleicht wäre es besser, wenn wir Sie getrennt voneinander vernehmen.“

„Ich will hören, was die Schl…“, Schlick verstummte, als er den strafenden Blick des Polizisten sah.

„Herr Damp, würden Sie bitte Herrn Schlick …“

Damp setzte seine Mütze auf und wollte schon Schlick bitten, aufzustehen. Da winkte Schlick ab. „Schon gut. Ich sage nichts mehr.“

Rieder wandte sich wieder an die Frau. „Können Sie mir vielleicht genauer sagen, wann Sie das Haus verlassen haben und wo Sie waren?“

Martina Gilde strich ihre Haare hinter das rechte Ohr. Ein Ohrsticker blitzte auf. Rieder hatte zwar keine Ahnung von Schmuck, aber der eingefasste Stein musste teuer gewesen sein. „Ich bin kurz vor zwei hier weg. Der Herr Sohn“, erklärte sie hämisch, „wollte mit der Fähre halb eins von Schaprode nach Kloster kommen. Ob dem so war, kann ich nicht sagen.“

„Und dann?“, hakte Rieder nach.

„Ich war in ein paar Geschäften in Vitte und Kloster. Viel hat ja noch nicht auf. Später war ich dann noch im Hochland spazieren. Ich musste mal raus. Außerdem wollte ich ihm nicht begegnen.“

„Ich war jeden Samstagnachmittag bei meinem Vater“, erklärte Richard Schlick. „Am Samstag fand ich Werner in einem bedauernswerten Zustand. Er hatte nichts zu trinken. Wahrscheinlich wollte sie ihn verdursten lassen …“

Martina Gilde stöhnte auf. „So ein Quatsch. Er konnte sich kaum noch bewegen, und mit seinem Tattrich hätte er jedes Glas umgekippt, oder es wäre ihm aus der Hand gefallen. Glauben Sie ihm nur nicht, was er behauptet, Herr Kommissar. Die Pflegeschwester oder ich haben ihn immer mit allem versorgt, was er brauchte.“

Richard Schlick schüttelte heftig den Kopf, sagte aber nichts.

„Also zurück zum Samstag“, versuchte Rieder die Befragung voranzubringen. „Sie kamen gegen sieben nach Hause und fanden Ihren Mann tot auf.“

„Ja, genau. Er hat ihn erstickt oder vergiftet“, brauste sie erneut auf. „Er will doch nur die Firma an sich raffen.“

„Zu möglichen Motiven kommen wir später. Und was haben Sie dann gemacht? Sie haben doch sicher einen Arzt verständigt, der den Tod bestätigt hat?“

„Ich habe die Pflegerin geholt. Sie hat sich um alles gekümmert.“

„Die Pflegerin? Und warum keinen Arzt?“

„Dass Werner tot war, habe ich selbst gesehen. Ich war so geschockt.“ Sie tupfte mit dem Taschentuch erneut ihre Wangen trocken. „Er war am Vormittag noch so lebendig gewesen.“

„So lebendig!“, mischte sich Schlick jetzt doch ein. „Er war schon halbtot, als ich kam. Ich habe ihm ein Glas Wasser geholt und ihm zu trinken gegeben. Da erwachten seine Lebensgeister wieder etwas. Die Pflegerin hatte mich schon ein paar Tage vorher ins Vertrauen gezogen und gebeten, etwas zu tun, ihn in ein Pflegeheim zu verlegen, weil sie dir nicht getraut hat und sich Sorgen gemacht hat.“

„Du spinnst doch.“

„Wer ist diese Pflegerin?“, ging Rieder dazwischen.

„Anna Rese“, antworteten beide zugleich.

Rieder drehte sich zu Damp um. „Hausärztlicher Pflegedienst“, klärte ihn sein Kollege auf.

„Hat die Pflegerin einen Arzt geholt? Es musste doch ein Totenschein ausgestellt werden.“

„Ja, hat sie.“

„Kann ich den Totenschein mal sehen?“

Martina Gilde stand auf und verschwand aus dem Zimmer. Als sie draußen war, beugte sich Schlick etwas vor. „Ich habe Beweise, dass sie dafür gesorgt hat, dass Werner sterben musste. Das ist Totschlag. Mindestens.“

Rieder beugte sich auch vor. „Vielleicht aber auch nur unterlassene Hilfeleistung. Kommt auf die Beweise an. Also, was haben Sie gegen Frau Gilde in der Hand?“

Statt zu antworten, legte Schlick den Finger auf den Mund. Martina Gilde kehrte ins Zimmer zurück. Sie reichte Rieder den Totenschein. Der Polizist überflog das Formular und gab es Damp. Am 30. März, 20.45 Uhr, hatte Dr. Möselbeck den Tod von Werner Gilde festgestellt. Todesursache: Herzversagen. Möselbeck war ein verantwortungsvoller Arzt. Mehrfach hatte Rieder erlebt, wie er bei ungeklärten Todesfällen auf der Insel das Ausstellen eines Totenscheins verweigert und stattdessen eine Autopsie durch die Rechtsmedizin in Greifswald angeordnet hatte. Meistens zu Recht.

„Um die Todesursache zu überprüfen, müsste eine Exhumierung mit anschließender Obduktion durch die Staatsanwaltschaft angeordnet werden“, klärte Rieder die Hinterbliebenen auf. „Dafür müssen aber triftige Gründe vorliegen. Ich kann sie aufgrund des Totenscheins nicht erkennen. Sie können natürlich Anzeige erstatten, und wir müssten dann Ermittlungen aufnehmen, die Ergebnisse der Staatsanwaltschaft übergeben, und die entscheiden dann …“

„Ich dachte, dazu sind Sie hier“, erwiderte die Witwe.

Rieder schaute zu Schlick. Der nickte. „Gut, dann werden wir jetzt Ihre Anzeigen aufnehmen.“ Er bat Damp, den Polizeilaptop aus dem Auto zu holen. Damp eilte hinaus.

Während Rieder mit Martina Gilde und Richard Schlick schweigend auf die Rückkehr Damps wartete, stand er auf und betrachtete näher die Bilder im Raum. Eines der Porträts zeigte einen jungen Mann. Er hatte einen runden, fast kahlen Kopf. Seine Augen blickten ernst. Zu seinem dunklen Anzug trug er eine Fliege. Rieder fielen besonders die Hände auf mit ungewöhnlich langen, feingliedrigen Fingern. Trotz des strengen Blicks wirkte der Mann gelangweilt. Auch dieses Bild war von Elisabeth Büchsel signiert. „Das ist mein Vater“, klärte Richard Schlick die Polizisten auf. „Das Bild ist in den frühen fünfziger Jahren entstanden, nachdem er die Firma übernommen hatte.“

Aus den Augenwinkeln versuchte Rieder Ähnlichkeiten des Vaters mit dem Sohn zu entdecken. Er fand allerdings keine. Im Hintergrund des Bildes war ein kleiner Schriftzug. „Erfolg haben ist Pflicht“, entzifferte er und sprach die Worte dabei leise vor sich hin.

„Der Leitspruch unseres Unternehmens“, meldete sich Richard Schlick, der offenbar Rieder gehört hatte.

„Und? Haben Sie Erfolg?“

„Wir können nicht klagen.“ Schlick setzte sich auf und warf sich wie ein Sänger in Pose. Er begann er einen Vortrag über den wirtschaftlichen Erfolg der Firma Gildemeister mit Backmischungen und Tütensuppen. Martina Gilde verdrehte immer wieder die Augen, wenn sie nicht ausgiebig die Qualität des Nagellacks auf ihren Fingernägeln betrachtete.

„Gildemeister ist im Osten der Marktführer in diesem Segment. Im Westen läuft es auch nicht schlecht. Immerhin muss man bedenken, dass wir 1990 noch einmal bei null angefangen haben …“

Damps Rückkehr beendete Schlicks Solo. Die Polizisten nahmen die gegenseitigen Anzeigen auf.

Am Ende bat Rieder darum, dass die Witwe und der Sohn am nächsten Tag ins Revier kämen, um die Formulare zu unterschreiben, damit sie an die Staatsanwaltschaft Stralsund weitergereicht werden konnten. Damp und er würden aber schon einige Vorermittlungen aufnehmen. „Deshalb möchte ich mir jetzt das Sterbezimmer ansehen. Aber vorher würde ich Herrn Schlick bitten, das Haus zu verlassen.“

Richard Schlick sah ihn entsetzt an. „Wie bitte?“

Um Rieders Anweisung zu unterstützen, hatte sich Damp erhoben. Trotz Gewichtsverlust machte seine Körpergröße immer noch ziemlichen Eindruck.

„Und diese Frau?“ Schlick deutete mit dem Kopf zu Martina Gilde.

Rieder zuckte mit den Schultern. „Was soll mit ihr sein? Sie kann hier bleiben. Es ist ihre Wohnung. Sie ist hier gemeldet.“

„Aber wenn sie anfängt, Dinge verschwinden zu lassen? Ich glaube nicht, dass Sie einschätzen können, was das für Werte sind, die sich in diesem Haus befinden?“

„Auch wenn wir beide in Ihren Augen nur Dorfpolizisten sind, Herr Schlick“, sagte Rieder völlig ruhig, „können Sie sich darauf verlassen, dass auch wir erkennen, dass es sich hier um eine sehr wertvolle Kunstsammlung handelt. Sicher gibt eine Inventarliste oder bei der Versicherung eine Aufstellung der Werke, so dass wir jederzeit überprüfen können, ob etwas fehlt. Wo finden wir Sie? Bleiben Sie auf der Insel?“

„Ihr Ton gefällt mir nicht …“

„Mir gefällt Ihr Ton auch nicht“, fiel ihm Rieder ins Wort. „Aber das tut auch nichts zur Sache. Also, wo finden wir Sie?“

„Im ‚Hitthim‘.“

„Danke.“ Rieder zeigte in Richtung Tür. Schlick stand wütend auf. Damp begleitete ihn hinaus.

Das Sterbezimmer lag im Erdgeschoss. Es war, bevor es zur Pflegestation wurde, Gildes Arbeitszimmer gewesen. Rieder trat in einen hellen Raum. Auch hier waren die Wände mit Bildern vollgehängt, allerdings war es ein ganz anderer Stil. Keine Landschaftsmalerei, sondern expressionistische Zeichnungen, zumeist von Kirchen. Sehr kantig, fast schroff im Ausdruck. Rieder wusste sofort, dass es Bilder von Lyonel Feininger sein mussten, einem bekannten Vertreter des Bauhauses.

„Das sind keine Originale? Oder?“, fragte er ungläubig die Hausherrin, die noch in der Tür stand.

„Doch, doch“, antwortete sie. „Alle Bilder hier im Haus sind Originale.“ Sie wollte Rieder in den Raum folgen, doch er bat sie, draußen zu bleiben, damit nicht Spuren verwischt werden.

„Allerdings, wenn ich mich hier so umsehe“, Rieder drehte sich einmal um die eigene Achse, „scheint hier jemand gründlich saubergemacht zu haben. Da ist es mit Spuren wohl eher Essig.“ Er deutete auf das Pflegebett in der Mitte des Zimmers. „Oder ist das Bett noch mit der Wäsche bezogen, in der ihr Mann zu Tode gekommen ist?“

Martina Gilde schüttelte den Kopf. „Anna Rese hat alles frisch bezogen.“

„Und wo sind die Laken und Bezüge, die davor drauf waren?“, fragte Rieder resigniert.

„Im Müll.“

„Im Müll“, wiederholte Rieder fatalistisch. „Die Sachen müssen wir für die Spurensicherung mitnehmen. Ebenso die Kleidung, die Ihr Mann bei seinem Tod trug.“

„Die ist auch im Müll. Und der Müll wurde schon abgeholt.“

Rieder konnte nur noch resigniert mit den Schultern zucken. „Tja, dann könnte es mit den Ermittlungen schwierig werden.“

Damp kam zurück. „Er ist weg“, meldete er.

Rieder schaute sich noch einmal um und wandte sich dann an die Witwe. „Sie haben doch sicher eine Inventarliste von diesen ganzen Kunstwerken?“

„Also ich weiß gar nicht, ob Werner so etwas …“

„Wir brauchen gar nicht lange zu reden“, erwiderte Rieder völlig gelassen. „Entweder Sie geben mir die Liste, oder Sie müssen auch das Haus verlassen.“

„Oberste rechte Schublade im Schreibtisch. Der Schlüssel liegt in dem Behälter für die Stifte.“

Rieder fand Schlüssel und Liste. Sie erschien ihm umfangreicher als erwartet. Er blätterte sie durch. Es mussten mehrere hundert Bilder aufgeführt sein. Die meisten Bilder waren von Elisabeth Büchsel, einige von Feininger. Von den anderen Künstlern kannte er nur noch Henni Lehmann dem Namen nach. Aber Katharina Bamberg, Elisabeth Andrae, Dorothea Strohschein, Clara Arnheim, Käthe Loewenthal und Julie Wolfthorn waren ihm völlig unbekannt.

Martina Gilde hatte Rieders Staunen bemerkt. „Mein Mann war Kunstsammler. Seit seiner frühen Jugend. Besonders hatten es ihm die Malerinnen des Hiddenseer Künstlerinnenbundes angetan. Wie Elisabeth Büchsel. Aber das haben Sie ja schon in der Halle und oben gesehen. Das hier“, dabei zeigte sie auf die Bilder in Gildes Arbeitszimmer, „war Werners Refugium und diese Bilder von Feininger sein ganz besonderer Schatz. Aus Feiningers Weimarer Zeit am Bauhaus. Unter diesen Bildern arbeitete Werner, wenn wir hier auf Hiddensee waren. Sie inspirierten ihn. Mit Blick auf die Bilder ist er auch gestorben.“ Sie wandte sich ab. Ihre Schultern zuckten. Mit der rechten Hand drückte sie über der Nasenwurzel auf ihre geschlossenen Augen. „Oder ermordet worden“, stieß sie noch hervor. Rieder gab Damp ein Zeichen. Er wollte endlich gehen.

Als sie beim Polizeiauto ankamen, lehnte sich Damp erschöpft an den Wagen. Er atmete tief aus. „Danke, dass Sie gekommen sind. Die beiden haben mich echt geschafft.“

Rieder ahnte, wie schwer Damp diese Worte gefallen waren. „Da nicht für. Ich denke, hier geht es nur ums Erben. Der Sohn hat Angst, dass die junge Stiefmutter alles erben könnte. Umgekehrt genauso. Die brauchen nicht uns, sondern Gildes Notar plus Testament.“ Er lehnte sich neben Damp ans Auto und schaute in den Himmel. „So ein Unternehmen wird schon seinen Wert haben, auch wenn es nur Backpulver und Tütensuppen herstellt. Und dann diese ganzen Bilder. Da kommt was bei rum.“ Dann schüttelte er kurz den Kopf. „Aber diese Anzeigen werden im Sande verlaufen.“

„Und was heißt das nun?“, fragte Damp.

Rieder rieb sich das Kinn. „Wir machen Dienst nach Vorschrift, besuchen zur Sicherheit Möselbeck und hören uns seine Version von Gildes Tod an, nehmen ein Protokoll auf und schicken danach den Kram nach Stralsund. Sollen die entscheiden, was passieren soll.“

Rieder öffnete die Beifahrertür des Streifenwagens, doch als er sich reinsetzen wollte, hielt er noch einmal inne. „Rufen Sie sicherheitshalber mal Bökemüller an. Wäre gut, wenn er nicht aus der Zeitung erfährt, was sich hier abgespielt hat.“

Damp hatte bei Rieders letzten Worten aufgehorcht. Er sollte den Polizeidirektor anrufen? Er wurde misstrauisch. Verbarg sich dahinter irgendein Trick von Rieder? Er lief um den Wagen und beugte sich zu Rieder herunter, der inzwischen eingestiegen war. „Sie haben doch eigentlich die besseren Beziehungen zu Bökemüller.“

„Wenn ich mich recht erinnere, sind Sie hier der Polizeichef auf der Insel.“ Er streckte sich auf seinem Sitz aus. „Abgesehen davon, dass ich heute meinen freien Tag habe, waren Sie auch Augenzeuge bei der Beerdigung und haben alles hier in der Villa mitbekommen. Sie können Bökemüller einen viel besseren Eindruck vermitteln.“

Sie schauten sich beide für ein paar Sekunden stumm an. Dann nickte Damp.

„War das eigentlich eine Feuer- oder Erdbestattung?“, fragte Rieder.

„Mit Sarg. Warum wollen Sie das wissen?“

„Falls wir den alten Herrn wieder ausbuddeln müssen.“

III

Damp hatte den Polizeiwagen hinter dem Hotel „Hitthim“ geparkt. Er wählte die Nummer von Bökemüllers Sekretariat. „Der Chef hatte Ihren Anruf schon früher erwartet“, verkündete unheilvoll die Vorzimmerdame des Polizeidirektors. Es dauerte mindestens eine Minute, bis er endlich durchgestellt wurde. Die eintönige, sich wiederholende Tonfolge der Warteschleife war für Damp wahre Folter.

„Mensch, Damp, was ist das wieder für ein Mist“, meldete sich sein Vorgesetzter. „Hier klingeln schon seit Stunden die Telefone. Warum muss ich aus dem Hiddensee-Forum im Internet erfahren, was bei Ihnen los ist? Hätten Sie das nicht verhindern können?“

„Wie denn?“, platzte Damp heraus. „Wir hatten alle Hände mit der Witwe und dem Sohn zu tun.“

Bökemüller ging nicht darauf ein. „Aber was ist denn nun Stand der Dinge?“

Damp berichtete über die Vorgänge auf dem Friedhof, dem Gespräch mit Gildes Hinterbliebenen und von den Anzeigen.

„Und was meint Rieder dazu?“ Die Frage versetzte Damp einen Stich. Zählte denn sein Urteil gar nicht?

„Der glaubt nicht, dass es zu Ermittlungen kommt.“

„Hm“, machte Bökemüller. „So wie das jetzt hochkocht, müssen wir der Sache nachgehen. Der Gilde war ein wichtiger Mann. Eine Fabrik mit über zweihundert Angestellten. Die einzige Fabrik auf Rügen.“

„Also wieder ausgraben?“

„Wieso ausgraben? Sie haben doch wohl verhindert, dass Gilde eingegraben wurde?“

Zur gleichen Zeit stand Stefan Rieder auf dem Hiddenseer Inselfriedhof in Kloster. Er sah dem Friedhofsgärtner Tobias Zion zu, wie er säuberlich den frischen Grabhügel über Gildes letzter Ruhestätte glatt strich. Zion war wie immer ganz in schwarz gekleidet und schien die personifizierte Trauer zu sein. Schwarzes Kopftuch, schwarze Jeans und schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift „live fast, die young“. Angesichts des Alters des Toten war es aus Rieders Sicht nicht ganz passend. Aber es entsprach Zions Lebensphilosophie. Zion fühlte sich mehr dem Tod als dem Leben zugeneigt, obwohl er erst Ende zwanzig war. Er hasste die Sonne und das Tageslicht, liebte die Dunkelheit und den Mond. Zion lebte seit einigen Jahren auf der Insel. Der frühere Inselpfarrer Schneider hatte ihn als Friedhofsgärtner eingestellt und dafür gesorgt, dass er die alte Gärtnerei in Kloster pachten konnte. Allein von der Grabpflege und den Beerdigungen hätte Zion nicht leben können. Er zog in den Gewächshäusern und auf den Beeten der Gärtnerei Schnittblumen und frisches Gemüse. Beides verkaufte er über die Supermärkte in Kloster und konnte davon gut leben. Auch nach Schneiders tragischem Tod vor einem halben Jahr hatte der neue Inselpfarrer Laube ihn weiter beschäftigt, gegen den Widerstand einiger Mitglieder aus dem Kirchenvorstand. Sie störte Zions Angewohnheit, nachts auf Gräbern Lichter anzuzünden und dann stundenlang auf dem Friedhof sehr schaurige dunkle Musik zu hören. Es gab Gerüchte, der sonst sehr zurückhaltende junge Mann würde dabei den Teufel anbeten. Das sei doch mit dem christlichen Glauben nicht vereinbar, hatten einige im Kirchenvorstand geklagt. Aber Pfarrer Laube hatte ihnen entgegengehalten, er fühle sich auch für eine verlorene Seele verantwortlich.

Gildes Grab befand sich im vorderen Teil des Inselfriedhofs. Dort waren die Ruhestätten der Hiddenseer Prominenz aus vergangenen Tagen. Gegenüber war das schlichte Holzkreuz für den früheren Inselpfarrer Arnold Gustavs, der über ein halbes Jahrhundert Seelsorger der Insulaner gewesen war. Ein paar Gräber neben Gilde hatte die Tänzerin Gret Palucca ihre letzte Ruhe gefunden. Auf dem schlichten Stein lagen Kiesel der Erinnerung. Neben Gildes Grabhügel türmten sich auf einem kleinen Wagen die Kränze und Gestecke. Rieder entzifferte die Texte auf den Schleifen. Nicht nur für Witwe und Sohn sollte Werner Gilde unvergessen bleiben, sondern auch für die Geschäftsführung der Gildemeister Holding, den Personalrat, die Abteilung Gildemeister Back und die Abteilung Gildemeister Suppen. Auch der Unternehmerverband und die Insel Hiddensee gaben mit großen Gebinden das letzte Geleit. Dazu kamen viele Sträuße. Kunstvoll versuchte Zion alles so auf und um das Grab zu platzieren, dass auch keine Schrift verdeckt war.

„Vielleicht ist das vertane Liebesmüh“, unterbrach Rieder die Arbeit des Friedhofsgärtners. Zion hielt inne. „Ist nicht wahr, oder?“ Er richtete sich auf und sah Rieder an.

„Die Angehörigen gönnen dem Toten noch nicht seine letzte Ruhe“, erklärte der Polizist.“

„Habe ich schon mitbekommen“, erwiderte Zion und klopfte sich den Dreck von seiner Jeans. „So ein Theater am offenen Grab habe ich noch nicht erlebt. Sonst krachen sich alle erst beim Leichenschmaus.“ Er schüttelte den Kopf.

„Wenn es dicke kommt, kannst du ihn wieder ausgraben.“

Zion starrte kurz auf das Grab und zuckte dann mit den Schultern. „Mir egal. Wird ja wohl bezahlt?“

Ein alter Mann in blauer Schifferjacke und mit einer weißen Kapitänsmütze kam aus dem hinteren Teil des Inselfriedhofs. Er stützte sich auf einen Krückstock und schritt vorsichtig voran, um auf dem schmalen Weg nicht zu stürzen. Rieder trat zur Seite, um Platz zu machen.

„Tach, Björn, wie geht’s? Warst du wieder bei deinem Grab?“, sprach ihn Zion an. Der Mann blieb stehen.

„Jo, hast schöne Blumen hingestellt. Danke.“

Zion nickte. „Keine Ursache.“

Mit der Krücke zeigte der Alte auf das frische Grab. „Und da liegt nun der Gilde?“

„Jo. Heute begraben.“

„Wurde auch Zeit.“

Rieder blickte den alten Mann verwundert an. „Entschuldigung, wie meinen Sie das? Wurde auch Zeit?“

Der Mann musterte den Polizisten. Sein Blick war dabei ein wenig verwirrt. Zion trat zu ihm. „Björn, das ist Kommissar Rieder von der Polizei.“

„Polizei? Hm …“ Der Mann schüttelte den Kopf. „Ihr kommt zu spät. Viel zu spät.“ Dann setzte er seinen Weg fort. Ohne ein weiteres Wort.

„Wer ist das eigentlich? Gesehen habe ich ihn hier in Kloster schon öfter.“

„Björn Just. Kommt jeden Mittwoch und Samstag von Stralsund hierher. Er besucht das alte Grab für den ,Unbekannten Seemann‘. Es liegt im oberen Teil des Friedhofs, auf dem Blauen Berg. Da sitzt er dann auf der kleinen Bank daneben ein paar Stunden und starrt auf den Stein. Früher hat er immer Blumen mitgebracht. Aber er hat es nicht so dicke. Nun stelle ich ihm immer einen frischen Strauß hin.“

„Von Stralsund? Jeden Mittwoch und Samstag?“

Zion nickte. „Selbst im Winter. Solange die Schiffe fahren.“

„Und was will er an dem Grab?“

„Keine Ahnung. Angeblich weiß ja keiner, wer da liegt. Nach ein paar Jahren auf der Insel würde ich eher sagen, alle Hiddenseer wissen es, aber keiner will es sagen.“

„Und Björn Just?“

„Der weiß es ganz sicher auch. Aber sobald man ihn fragt, schweigt er. Selbst das Meer hat mehr zu erzählen als Björn.“

IV

Rieder lief vom Friedhof am Pfaffenteich vorbei zum Hafen in Kloster. Dort wollte Damp auf ihn warten. Das Polizeiauto stand vor dem Supermarkt im Hafenweg. Damp kam aus dem Laden mit einer Flasche Wasser. Er setzte sie an und trank sie in einem Zug aus. Rieder ging auf ihn zu. „Gilde ist schon unter der Erde.“

Damp starrte ihn kurz an. „So eine Scheiße!“, brüllte er und warf mit aller Kraft die leere Flasche in den gegenüberliegenden Garten. Dort stoben die Hühner mit lauten Gegacker auseinander, und ihr Hahn begann lauthals zu krähen.

„Was können die Hühner dafür?“, fragte Rieder ungerührt über den Wutausbruch seines Kollegen.

„Alles läuft schief“, klagte Damp. „Warum konnte Zion nicht warten?“

„Zion hat nur seine Pflicht getan.“

Rieder stieg über den Zaun und sammelte Damps Flasche ein. Damp trabte zum Polizeiauto und setzte sich hinein. Als Rieder zu ihm kam, saß er völlig apathisch da. Er hatte die Hände auf das Lenkrad gelegt, seinen Kopf zwischen den breiten Schultern eingezogen und starrte vor sich hin. „Bökemüller wird mich total rund machen, wenn er es erfährt.“

Rieder zuckte mit den Schultern. „Ist jetzt auch nicht mehr zu ändern. Das löst sich bestimmt alles in Wohlgefallen auf“, versuchte er seinen Kollegen zu trösten. „Ich denke, Möselbeck wird schon genau hingeschaut haben, und alles ist korrekt mit Gildes Tod.“

„Ihr Wort in Gottes Ohr. Der Chef sieht das ganz anders.“

„Abwarten, der muss den Schein wahren und Aktivität heucheln“, meinte Rieder betont gelassen. „Ich hole mein Rad, und dann treffen wir uns in einer halben Stunde bei Möselbeck in seiner Praxis in Vitte.“

Damp nickte, wirkte aber weiter unglücklich. Er wollte gerade den Motor anlassen, da entdeckte er Thomas Förster. Der Bürgermeister kam aus dem Hotel „Hitthim“. Als er die beiden Polizisten sah, winkte er kurz und lief auf sie zu. Damp stieg aus. „Ist die Party zu Ende?“

„Eigentlich schon lange“, antwortete Förster, „nur die drei fanden kein Ende.“ Er deutete hinter sich. Aus dem Gebäude stolperten drei Männer. Zwei hatten ziemlich Schlagseite. Rieder kannte die beiden vom Sehen, wusste aber nicht ihre Namen. Den dritten erkannte Rieder sofort. Malte hatte es also noch zum Leichenschmaus geschafft und sich dafür, zu Rieders Überraschung, in einen schwarzen Anzug geworfen. Sonst trug er seine Fischeruniform. Sie sei für ihn so eine Art Dienstkleidung, hatte er Rieder erzählt. „Damit biete ich den Pensionsgästen ein wenig Inselfolklore.“ Allerdings war Malte nie Fischer gewesen. „Das ist gut fürs Geschäft. Die Leute erzählen dann zuhause, sie hätten die Insel ganz echt erlebt. Sie fühlen sich dann besser und kommen wieder. Das ist eine Art Paartherapie zwischen Gast und Gastgeber zum gegenseitigen Vorteil.“

Als die drei nach ihren Rädern griffen, straffte sich Damp. Rieder wusste, sein Kollege nahm Witterung auf. Die hatten bestimmt mehr Alkohol als erlaubt intus. Rieder sah schon ins Damps Augen den Bußgeldrechner rotieren. Doch Malte sah Damp und verdarb ihm das Vergnügen. „Männer“, rief er, „wir sollten doch besser schieben. Lasst uns mal Richtung Deich gehen.“

Die drei liefen los, aber Rieder ahnte, dass sie auf ihre Räder steigen würden, sobald sie auf dem Deichweg aus Damps Sichtweite waren. Da konnte ihnen Damp mit dem Polizeiwagen nicht folgen. Es gab zwar den Fahrweg unterhalb des Deichs, doch der war vom Schmelzwasser des Packeises auf dem Bodden noch völlig aufgeweicht. Der Streifenwagen würde unweigerlich steckenbleiben.

„Wer war das?“, fragte Rieder den Bürgermeister.

Als Thomas Förster Rieder etwas erstaunt ansah, fügte er noch hinzu. „Malte habe ich schon erkannt. Aber die anderen beiden?“

„Der mit dem alten Strohhut ist Hans Kempe, der Inselmaler“, setzte Förster süffisant hinzu. „Der andere ist Karl Born. Der war mal Gildes rechte Hand, hat hier auf der Insel die Brotfabrik geleitet.“