Elmflüstern - Bettina Owczarski - E-Book

Elmflüstern E-Book

Bettina Owczarski

0,0

  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Die 16-jährige Angelina verschwindet spurlos aus ihrem Heimatort, einem idyllischen Elmdörfchen. Kommissar Giovanni Beck ermittelt mithilfe seiner Freundin Sarah, der Lehrerin von Angelinas kleinem Bruder, und gewinnt bedrückende Einblicke in das Leben eines Teenagers, der in der Scheinwelt der sozialen Netzwerke nach Liebe gesucht und Ablehnung gefunden hat. Angelina ist verliebt in Julian von Eißen, den verwöhnten Spross einer angesehenen Braunschweiger Familie, für den sie bis zu ihrem Verschwinden alles getan hat. Diese Schwärmerei hat dramatische Folgen für sie …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 444

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




Bettina Owczarski

Elmflüstern

Kriminalroman

Zum Buch

Verhängnisvolle Liebe Kommissar Giovanni Beck erfährt von seiner Freundin Sarah Dittmann, Lehrerin an der Grundschule des hübschen Elmdörfchens Avessen, vom Verschwinden der 16-jährigen Angelina. Und schon steckt er mittendrin in einem Fall, der weder seine Seele noch sein Privatleben unberührt lassen wird. Während der Kommissar immer tiefer in die Abgründe eines Teenagerlebens eindringt, nimmt Sarah Dittmann den jüngeren Bruder des Mädchens bei sich auf, da die Mutter der beiden Kinder unter der Last ihrer Ängste zusammengebrochen ist. Konfrontiert mit seiner Trauer und der Angst um seine Schwester, wird Sarah tiefer in den Fall verwickelt, als ihr lieb ist. Schnell findet Giovanni Beck heraus, dass Angelina – in einem vernachlässigenden Elternhaus aufgewachsen – bei ihren Freunden nach Liebe sucht, vor allem bei dem hübschen Julian, Spross einer reichen Braunschweiger Familie. An seine eigene, unglückliche Jugend erinnert, nimmt Giovanni Beck ihre Spur auf und gerät dabei selbst in Gefahr …

Bettina Owczarski lebt mit ihrem Mann, einem ebenso leidenschaftlichen Hobby-Rockmusiker wie ihr Kommissar Giovanni Beck, und der Französischen Bulldogge Babette in einem kleinen Städtchen am Rande des Elms, in der Nähe von Braunschweig. Wie ihre Protagonistin Sarah war sie Grundschullehrerin, leitete dann ein Studienseminar für die Lehrerausbildung und widmet sich nun ganz dem Schreiben. Sie hat insgesamt drei Krimis der Elm-Reihe mit Giovanni Beck und mehrere Theaterstücke veröffentlicht.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

     

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2023 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Ricardo / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7664-8

Widmung

Für meine Geschwister, Martin und Silke

Zitat

»Sehne nicht deine Jugend zurück, sie war ein einsamer, dunkler Ort.«

(Unbekannt)

Prolog

Allein.

Dies war keiner der Träume, in dem sie vergeblich versuchte, die Augen zu öffnen.

Ihr vertrautes Schlafzimmer wartete nicht nur einen Wimpernschlag entfernt – ein ganzes Leben lag zwischen ihr und dem, was gestern noch ihr Zuhause gewesen war.

Wahrscheinlich ihr Leben.

Vollkommene Dunkelheit. Kein Licht, kein Geräusch. War sie noch am Leben? Sie fühlte sich so müde.

Vielleicht war sie ja schon tot. Ja, bestimmt. Ein Schluchzen stieg in ihr empor, wollte nicht akzeptieren, was sie schon wusste – dass sie sterben würde. Hier in dieser Dunkelheit, allein, ohne einen Menschen an ihrer Seite, der sie liebte.

Sie wollte sich aufsetzen, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht, er war gelähmt, sie konnte die Hände nicht bewegen. Sie atmete rasselnd ein und schluckte. Durst. Ihr Körper wusste noch nicht, dass es keine Rolle spielte, ob er Wasser bekam. Sie würden hier sterben, sie und ihr Körper.

Wenn nur die Trauer nicht wäre. Wenn sie einfach so einschlafen könnte. Sie war so müde, und doch … Sie wollte nach Hause. Aber jetzt war es zu spät.

Sie weinte.

Dachte an ihre Familie, ihre Katze. Nie mehr. Nie mehr mit ihrem Bruder am Frühstückstisch streiten, nie mehr ihre Lieblingssongs hören. Nie mehr stundenlang mit ihrer Freundin chatten, nie mehr ihre Katze streicheln. Nie mehr.

Das war es.

Das Leben, das ihr so belanglos, so trostlos erschienen war, dahin. So früh. Vielleicht wäre sie ja noch schön geworden, wäre geliebt worden.

Sie dachte an das andere, das Schlimme. Das hatte nun auch ein Ende. Das war gut. Jetzt würden sie bereuen. Oder nicht? Vielleicht waren sie froh, dass sie weg war? Sie war ja unwichtig, nicht gut. Bestimmt schüttelten sie den Kopf und zuckten die Schultern. Typisch. Sie war schon immer zu dumm. Nun ist sie auch noch zu dumm, um am Leben zu bleiben. Geschieht ihr ganz recht.

Tränen liefen salzig über ihre Lippen, doch sie konnte sie nicht wegwischen. Auch das kümmerte sie nicht mehr.

Sie dachte an das Sommerkleid, das sie sich gerade gekauft hatte. So hübsch, zartgrüner Chiffon – sie hatte sich in ihm wie eine Fee gefühlt. Vielleicht hätte sie ja darin auch jemand schön gefunden. Vielleicht wäre sie ja darin geliebt worden. Vielleicht …

Sie seufzte und lächelte.

Da war Oma, sie winkte fröhlich. Aber Oma war doch tot? Sie konnte nicht zurückwinken, aber egal. Die nachtschwarze Dunkelheit sank tiefer und hüllte ihren Geist in wohltuende, weiche Stille.

Schlafen. Und wenn sie wieder aufwachte, wäre alles gut.

Kapitel 1

Blut, überall war Blut. Die Leiche im Schmerz erstarrt auf dem Küchentisch. Übelkeit stieg in ihm auf und er schluckte. Er wünschte, er wäre nicht gekommen, hätte dieses Gemetzel nicht sehen müssen. Entsetzlich.

Als hinter ihm eine Tür schlug, fuhr er zusammen.

»Oh, Giovanni! Was machst du hier in der Küche?«

Asta wischte sich die blutigen Hände an der Schürze ab.

»Das frage ich mich auch gerade.«

Beck wies auf das Massaker auf dem Tisch.

»Was … ist das?«

»Dein Abendessen, Kaninchen nach Ischitaner Art.«

Asta lachte, roh, wie er fand.

»Magst du kein Wild?«

Sie wetzte das Messer an einem Schleifstein, ein Geräusch, das Beck erschaudern ließ.

»Äh – kein frisch ermordetes. Hast du … es selbst …?

Beck sah die zierliche Frau vor ihm zweifelnd an. Er hatte Asta bisher immer für sehr zart besaitet gehalten.

»Nein, das war schon tot, ich habe es nur ausgenommen. Du Stadtjunge! Hast du noch nie ein Tier selbst getötet?«

Asta schüttelte die hennaroten Zöpfe.

»Was seid ihr jungen Leute nur für ein unaufrichtiges Volk. Wer nicht schlachten kann, sollte auch kein Fleisch essen.«

»Äh, ja. Mache ich auch nicht mehr.« Beck warf einen angewiderten Blick auf den unglücklichen Hasen und schüttelte sich. »Ab heute.«

Die Küchentür schlug erneut ins Schloss und er wandte sich um, froh über die Ablenkung.

Sarah wehte herein, mit einem Schwall frischer Luft, der den süßlichen Geruch des Blutes für kurze Zeit überlagerte.

»Giovanni! Du bist schon da?«

Sie eilte lächelnd auf ihn zu und drückte ihm einen zarten Kuss auf die Wange.

Er griff nach ihr und vergrub sein Gesicht in ihrer nach Sonne und Sommer duftenden kastanienbraunen Lockenpracht.

»Ja, ich hab’s aber schon bereut. Hätte ich gewusst, dass deine Tante unschuldige Tiere in deiner Küche meuchelt, wäre ich später gekommen.«

Sarah blickte an ihm vorbei auf den Tisch und verzog den Mund.

»Igitt, ja. Tote Hasen sehen immer grässlich aus. Aber sie schmecken so lecker, dass ich das wunderbar verdrängen kann, wenn sie in Knoblauch auf dem Teller liegen.«

Beck war entsetzt.

»Gott, was seid ihr für grausame Weiber. Da sieht man es mal wieder, Frauen sind zu allem fähig. Morde voller Heimtücke und Verschlagenheit werden meistens von euch begangen, während wir Männer dümmlich und ehrlich unsere Opfer einfach niederholzen.«

»Ach? Das sind ja interessante Thesen, die du da aufstellst, Herr Hauptkommissar. Diesem Hasen wurde von Bauer Heinrich der Stock dümmlich und ehrlich auf den Schädel gedroschen und nicht von mir, also bitte.«

Asta trennte ein Hasenbein vom Rumpf und schüttelte den Kopf über Becks Aufstöhnen.

»Du Zimperliese.«

Sarah grinste und fuhr ihrem Liebsten tröstend durch den hellblonden Schopf.

»Das Häschen hat bestimmt ein glückliches Leben gehabt.«

»Ich möchte jetzt das Thema wechseln.« Beck wandte sich entschieden vom Küchentisch ab und fragte sich, was er heute Abend zu sich nehmen sollte. Möhrchen?

»Hat Luise schon einen Champagner offen?«

»Was glaubst du wohl? Wenn wir uns nicht beeilen, wird nicht mehr viel davon übrig sein.« Sarah zwinkerte ihm zu und zog ihn aus der Küchentür.

Sie stürmten durch die große Schlosshalle, die selbst jetzt, im Juni, eiskalt war, über den gepflasterten Hof, vorbei an dem Brunnen mit den halb nackten Putten, zum Seitenflügel. In diesen Teil des Schlosses waren Luise und Asta gezogen, als Sarah vor zwei Jahren krank vor Liebeskummer aus Berlin in das Schlösschen zurückgekehrt war, in dem sie vor 31 Jahren geboren worden war.

Beck blieb stehen, um Muffin zu streicheln, Astas Golden-Retriever-Hündin, die freudig auf ihn zugeeilt war und zur Begrüßung Geräusche von sich gab, die Beck niemals einem Hund zugeordnet hätte, bevor er Muffin kennengelernt hatte.

»Bist du sicher, dass dieser Hund normal ist?«

Er strich der selig glucksenden und quiekenden Hündin über den karamellfarbenen Kopf.

»Nein, ich bin mir absolut sicher, dass sie nicht normal ist, deshalb passt sie ja auch so gut zu uns.« Sarah stieß die Tür zur kleinen Halle des Seitenflügels auf und trat ein.

Schwer hing der Duft von Luises Parfüm in der Luft und erinnerte an den Glamour und die Dekadenz längst vergangener, glamouröser Zeiten.

Anerkennend betrachtete Beck die gelungene Inszenierung, die sich seinem Blick bot: Wie dahingegossen ruhte Sarahs Großtante Luise von Warberg auf einer Ottomane im orientalischen Stil, die platinblonden Wasserwellen dekorativ aus dem feinen Gesicht gebürstet, die blutroten Lippen in charmantem Lächeln leicht geöffnet. Zu ihren Füßen lag, ebenso dekorativ wie ihr Frauchen, Marilyn, Luises schneeweißes Malteserhündchen, das mit der ganzen Verachtung alten Adels die hereinströmende Plebs beäugte.

»Giovanni, Lieber.« Eine schneeweiße Hand winkte Beck huldvoll heran, der beflissen der königlichen Aufforderung folgte.

»Ich habe auf euch gewartet mit dem Champagner.« Luise wies in Richtung des Eiskübels, der silbern von einem zierlichen Jugendstiltischchen herüberblinkte.

»Diese Entsagungen, liebste Tante, geradezu Askese. Aber sollten wir nicht noch ein bisschen länger warten? Asta hat den Hasen noch nicht mal in der Röhre.« Sarah lächelte Beck vielsagend an.

»Papperlapapp. Es ist nach 18 Uhr und ich habe noch nicht einen Tropfen Alkohol im Blut. Wie soll ein feinsinniger Mensch ohne Drogen das Leben aushalten?«

Luise richtete sich anmutig auf und winkte Giovanni in die Richtung der Flasche.

»Sei so nett, Gio. Sarah kann ja noch warten, du trinkst doch sicher ein Gläschen mit mir, nicht wahr?«

Beck nickte ergeben und mied Sarahs Blick.

»Du bist schuld, wenn meine Leber vorzeitig den Dienst aufgibt, allerliebste Luise.« Er entkorkte die Flasche mit einem befriedigenden Knall.

»Ach, Gottchen. Sollte das der Fall sein, war sie es sowieso nicht wert. Ich bitte dich. Sei ein Mann.«

Giovanni dankte Gott dafür, dass er in Luises Jugend noch nicht als eins der zahlreichen Opfer ihres Charmes zur Verfügung gestanden hatte – das wäre zwar äußerst verlockend, aber auch sein sicherer Tod gewesen. Diese Frau hatte so einige Männer an den Rand des Wahnsinns – und einer Säuferleber – getrieben, so viel stand fest.

Er schenkte zwei Gläser ein und richtete seinen Blick fragend auf seine Liebste.

Sie schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge.

»Nein, ich bin lieber langweilig, aber länger am Leben.« Sie streckte ihrer Tante die Zunge heraus.

»Pf. Werde du erst mal …«, Luise unterbrach sich gerade noch rechtzeitig, »… so alt wie ich, und dann sehen wir weiter.«

Beck grinste und setzte sich auf ein weißes Sofa am Kamin. Er betrachtete die haarfeinen Risse im türkisfarbenen Marmor und fragte sich, wie lange die Frauen die bröckelnde Pracht noch halten konnten. Sarah sprach nie darüber, aber sie schienen über kein regelmäßiges Einkommen zu verfügen, außer Sarahs Schulleitergehalt, aus dem sie die dringend benötigten Reparaturen bestreiten konnten. Asta erhielt sicher auch hin und wieder gewisse Obolusse für ihre Massagen, Rückführungen und andere geheimnisvolle Dienstleistungen, aber viel konnte das nicht sein.

Es wäre zu schade, das Anwesen irgendwann dem Verfall überlassen zu müssen.

Er schob den Gedanken beiseite und wandte sich Erfreulicherem zu.

Sarah wickelte ihre langen Beine um die des vergoldeten Stuhls, auf dem sie saß. Sie schlang eine Haarsträhne um einen Finger und sah aus dem Fenster. Wie immer bemerkte sie seinen Blick und strahlte ihn an.

»Woran denkst du, cara mia?« Beck lächelte ihr zu.

»Ach. An nichts Besonderes. Die Schule, wie immer.« Sie zuckte entschuldigend mit einer Schulter. »Philipp, der kleine Blonde aus meiner Klasse, erinnerst du dich noch an ihn?«

Beck erinnerte sich vage an einen sommersprossigen Bengel mit strohblondem Haar.

»Vage. Hat er seine Hausaufgaben nicht gemacht?« Er zwinkerte ihr zu.

Sie lachte. »Ja, das auch.« Ihr Lächeln verblasste und die melassedunklen Augen blickten besorgt.

»Er – Philipp – hat erzählt, seine Schwester sei gestern Abend nicht nach Hause gekommen. Er war ganz aufgelöst.«

»Wie alt ist seine Schwester denn?« Beck hob das Glas in Luises Richtung und nahm einen Schluck von dem köstlichen Nass.

»16, sagt er. Ich kenne sie flüchtig, ein hübsches Ding, ein bisschen mollig vielleicht, wahrscheinlich Babyspeck. Darunter habe ich auch gelitten, sehr.« Sarah schüttelte die Locken aus dem aparten Gesicht und strich über ihre Hüften, an denen aus Becks Sicht nicht das Geringste auszusetzen war.

»Wohnt sie noch zu Hause? Haben die Eltern etwas unternommen?«

»Die Mutter. Die Kinder leben bei ihrer Mutter, ob es einen Vater dazu gibt, weiß ich nicht, der kam noch nie vor. Philipp sagt, seine Mama habe nichts getan. Angelina sei bestimmt nur bei ihrer Freundin. Unglaublich. Wie kann eine Mutter ruhig schlafen, wenn ihre Tochter nicht zu Hause ist? Ich verstehe so etwas nicht.« Sarah schüttelte den gelockten Kopf.

»Vielleicht ist sie ja inzwischen nach Hause gekommen, du hast ja sicher seit heute Mittag nicht mehr mit Philipp gesprochen, oder?« Beck setzte sein Glas ab und beschloss, sich bis zum – leider Gottes vegetarischen – Mahle zu mäßigen.

»Ja, stimmt, das ist natürlich gut möglich.« Sarah richtete sich auf und schenkte sich nun doch ein Glas Champagner ein.

»Jetzt genieß mal deinen Abend, meine Kleine.« Luise tätschelte die Hand ihrer Nichte. »Du trägst wie immer die Last der gesamten Welt auf deinen schmalen Schultern. Bestimmt sitzt das Mädel gerade gesund und munter am Abendbrottisch. Cheerio!«

Sarah öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber wieder nach einem Blick auf die hochgezogene Braue ihrer Großtante. Sie nahm einen großen Schluck und nickte Luise zu.

»Ja, du hast recht. Teenager rebellieren halt manchmal. Sicher wird Philipp morgen von ihren Schandtaten berichten.«

Die Tür zur Halle klappte und Asta wehte mit wallenden Pluderhosen herein.

»Der Hase ist bald so weit, deck schon mal den Tisch, Sarah.«

Beck stöhnte auf und stürzte seinen Champagner in einem Zug hinunter.

Gleich würden sie die Leiche hereintragen. Am besten, er nahm vorher doch noch ein Glas. Betrunken ließ sich die Obduktion bestimmt besser ertragen.

*

Ruckartig erwachte Beck und griff nach dem Alp auf seiner Brust.

»Hau ab!«

Sein Kater zischte empört und dachte gar nicht daran zu weichen.

»Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du in meinem Bett nichts zu suchen hast, verdammt!«

Er richtete seinen Oberkörper so weit auf, wie es der ausgewachsene Abessinierkater auf seiner Brust zuließ, und sah auf den Wecker auf seinem Nachttisch.

»Halb neun! Um Gottes willen!« Ohne weitere Rücksicht auf das Nachtlager seines Haustieres zu nehmen, schwang er die Beine aus dem Bett und stand auf. Minas fauchte und entfernte sich mit hoheitsvoll gerecktem Schwanz in Richtung Küche. Füttern musste er den auch noch! Seit er mit Sarah liiert war, kam er andauernd zu spät ins Büro, also eigentlich, seitdem er in Braunschweig wohnte. Seine Kollegen hatten einen blendenden Eindruck von ihm, so viel stand fest. Ein verpennter, eitler Fatzke – so würde ihn sein Lieblingskollege und Partner Wagner bestimmt gern – und leider auch treffend – beschreiben. Nach einer Katzendusche – haha – warf er sich in das erstbeste Hemd, das ihm aus seinem Schrank entgegenfiel, und gab dem Kater etwas Futter in den Napf, der mit einer goldenen Krone verziert war, ein Geschenk von Sarah, die diesem überkandidelten Tier auch noch den Namen eines abessinischen Kaisers gegeben hatte – Minas. Er verneigte sich und bot seiner kaiserlichen Hoheit das Morgenmahl an. Natürlich tat der so, als habe er Besseres zu tun, das gehörte zum morgendlichen Ritual, seit der Kater vor einigen Monaten beschlossen hatte, bei Beck zu wohnen. Heute hatte sein Personal aber keine Zeit für die üblichen Fisimatenten. Kopfschüttelnd griff er nach der Jeans von gestern und stieg hinein.

Er selbst würde mal wieder auf sein Frühstück verzichten müssen, aber er war ja schon in Übung, hatte er doch gestern zum Abendbrot keinen Hasen zu sich genommen. Die blutrünstigen Weiber hatten ihn zu verführen versucht, aber er war standhaft geblieben.

Müde warf er einen Blick hinunter in die Roonstraße, auf die die prächtigen Magnolienbäume nicht mehr so lange Schatten warfen, und hinterfragte mal wieder seine Work-Life-Balance. Von Balance konnte gar keine Rede sein.

Er winkte seinem Kater zu und wollte gerade die Jugendstiltür hinter sich zuknallen, als sein Telefon zu läuten begann. Mist! Sollte er rangehen? Nein. Aber wenn es etwas Dienstliches war, dringend? Genervt drückte er die Tür wieder auf und hastete zum Telefon.

»Beck?«

»Guten Morgen, Gio, Sarah hier.«

Fast hätte Beck gestöhnt. So gern er Sarah mochte, aber für Liebesgesäusel hatte er nun wirklich keinen Sinn und keine Zeit!

»Ja?«

»Oh, du bist sicher in Eile, nicht wahr? Ich habe auch gar nicht damit gerechnet, dich noch zu Hause anzutreffen, aber ich dachte, ich versuch’s mal.«

»Ja, ich bin tatsächlich spät dran, tut mir leid.« Beck versuchte, ein wenig mehr Wärme in seine Stimme zu legen.

»Ja, also, ich … ich habe dir doch gestern von Philipps Schwester erzählt, nicht?«

Beck zwang sich zur Geduld. »Ja?«

»Sie ist immer noch nicht nach Hause gekommen.«

»Dann muss ihre Mutter eine Vermisstenanzeige aufgeben.« Beck betrachtete sich im Flurspiegel und bemerkte, dass er vergessen hatte, sich zu rasieren. Das auch noch.

»Das macht die nicht. Die hat viel zu viel Schiss vor der Polizei, da gab es ein, zwei Vorfälle mit Drogen früher. Kann ich nicht … Nicht, dass ich darauf dränge, aber – da muss doch was passieren!«

Nun stöhnte Beck doch. »Das erinnert mich an was.«

»Mich auch.« Sarah lachte kläglich. »Ich weiß auch nicht, wie ich immer in so etwas hineingerate.«

Über eine Vermisstenanzeige hatte Beck im letzten Jahr Sarah kennengelernt. Sie hatte ihre Freundin Claudia als vermisst gemeldet, eine Freundin, die zu diesem Zeitpunkt schon tot gewesen war, ermordet.

»Weil du nicht wegschaust, liebe Sarah, eine löbliche, aber für dich mitunter folgenreiche Eigenschaft.« Beck fuhr sich über die Stoppeln und erwog, sich nebenbei zu rasieren. Nein, das würde sie hören.

»Ja.« Sarahs Stimme klang verzagt. »Wahrscheinlich hast du genug an der Backe, auch ohne eine zusätzliche Vermisstenanzeige.«

»Na ja, ich will dir schon helfen, aber für Avessen bin ich nun wirklich nicht zuständig – das weißt du doch, oder?« Unruhig scharrte er mit seinem italienischen Lederslipper auf dem Teppichboden herum. Nun musste er aber wirklich los, sonst gab Wagner auch noch eine auf, eine Vermisstenanzeige!

»Angelina ist aber in Braunschweig verschwunden, das habe ich mir schon überlegt.« Sarah schnüffelte entrüstet.

Seine Miss Marple. Er gab auf und fügte sich seinem Schicksal.

»Weißt du was? Kannst du mich noch mal im Büro anrufen? Dann kann ich die Daten und so weiter gleich in das Programm eingeben, wäre das möglich? Oder hast du gleich wieder Unterricht?«

Sarah lachte. »Nein, du entkommst mir nicht, mein Lieblingskommissar. Ich habe eine Freistunde. Bis gleich.« Sie hauchte ihm einen Kuss in den Hörer und legte auf.

Sein Lächeln verblasste, als sein Magen so laut knurrte, dass Minas aus der Küche gerannt kam, wahrscheinlich vermutete er eine Dogge im Flur.

Hungrig, unrasiert, unausgeschlafen und jetzt noch die Sorge um einen vermissten Teenager.

Am besten, er nahm seinen Kater und legte sich wieder ins Bett.

*

»Schön, dass Sie doch noch mal vorbeischauen.« Kollege Wagner enttäuschte ihn nie.

»Ich hatte einen Herzanfall und bin unterwegs von einem Auto angefahren worden.« Am liebsten hätte Beck seinem Kollegen die Zunge herausgestreckt.

»Was?« Wagner blieb in der Tür stehen und starrte Beck perplex an.

»War nur ein Scherz. Wollte sagen – es könnte ja auch mal was passiert sein, einen Grund geben, warum ich so spät komme!«

»Könnte, ja. Ist aber nicht der Fall.« Kopfschüttelnd verließ sein fürsorglicher Kollege das Büro und Beck blieb mit seinem schlechten Gewissen allein zurück.

Jetzt erst mal einen Kaffee, damit er irgendwie doch noch in diesen Tag hineinfand. Im Vorbeigehen warf er einen Blick in den trüben Spiegel, der über dem Waschbecken in seinem Büro hing, und zuckte zusammen. Wagner musste denken, er hätte gestern Abend gesoffen, so sah er jedenfalls aus. Er zog einen Kamm aus seiner Schreibtischschublade und hielt ihn unter den Wasserstrahl. Mit dem nass geglätteten Haarschopf, der ihm mal wieder viel zu lang in die Augen fiel, sah er wie ein Pennäler aus. Schön. Aber immer noch besser als ein versoffener Penner. Er seufzte und beschloss, sich in der Mittagspause einen Einmalrasierer zu kaufen.

Der Kaffeeautomat fauchte und gab nach einem halben Becher den Geist auf. Jetzt reichte es aber mit diesem Tag!

Fluchend öffnete er den Bauch der launischen Maschine und starrte lustlos hinein. Hinter ihm schwang die Tür auf und Pumuckl, seine tüchtige Sekretärin, deren bürgerlichen Namen Cosima Levandowski kein Mensch in der Dienststelle benutzte, steckte den ampelrot gefärbten Stachelkopf heraus.

»Na, streikt sie mal wieder?«

»Ja. Wir hätten vielleicht doch kein italienisches Modell nehmen sollen. Die hat mehr Launen als eine sizilianische Opernsängerin.« Beck versetzte dem Automaten einen gehässigen Schlag und trank von seinem halben Kaffee.

»Die hat doch bloß kein Wasser, Herr Beck.« Pumuckl war herangeeilt und zeigte auf ein blinkendes Symbol. »Männer und Technik.«

»Ja, was mich betrifft, kann ich Ihnen da leider nur zustimmen – ich habe noch nie die Seele einer Kaffeemaschine verstanden.« Beck zwinkerte ihr zu.

Pumuckl versorgte die plärrende Maschine mit Wasser, nahm Beck den Becher aus der Hand und stellte ihn erneut unter den Auslass. »So, jetzt wird es gleich funktionieren.«

Sie blickte ihn unter blau bemalten Augenlidern prüfend an. »Schlecht geschlafen?«

»Ne, nur zu wenig.« Beck lächelte entschuldigend.

»Also wie immer. Sie müssen mal auf Ihre Gesundheit achten!«

»Ich habe doch schon aufgehört zu rauchen, das muss reichen.« Beck stürzte sich auf den endlich fertiggestellten Kaffee wie ein Drogensüchtiger auf seine Pille Ecstasy.

Pumuckl schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Ihr Telefon klingelt, soll ich rangehen?«

»Nein, nein, das ist wahrscheinlich … Ich gehe selbst ran, danke.« Beck hastete mit seinem schwappenden Becher in sein Büro zurück und riss den Hörer von der Station.

»Hallo?« Sarahs irritierte Stimme tönte aus der Muschel.

»Äh, ja ich bin’s. Ich habe mir gerade heißen Kaffee über die Hand gegossen.« Stöhnend sank Beck auf seinen Stuhl.

Sarah unterdrückte hörbar ein Lachen und täuschte Mitgefühl vor. »Oje, du Armer. Hast du denn viel zu tun?«

»Ja. Und dank dir gleich noch etwas mehr.« Ein bisschen Gejammer konnte nicht schaden. Vielleicht zeigte die Dame dann ein wenig mehr echtes Mitleid.

»Also, ich habe noch mal bei Frau Krüger angerufen, die Kleine ist tatsächlich immer noch nicht da. So langsam ist selbst dieser Ausbund an Fürsorglichkeit beunruhigt und hat bei der Mutter der Freundin angerufen. Angelina ist aber gestern wie geplant am späten Nachmittag von ihrer Freundin aufgebrochen.«

Beck rief INPOL, das Informationssystem der Polizei, auf und bat Sarah um die genauen Daten des Mädchens, ein Foto würde er später dazu einstellen.

Das klang alles gar nicht gut. Gegen halb sechs gestern Nachmittag hatte das Mädchen die Wohnung ihrer Freundin am Neustadtring verlassen und war nie zu Hause angekommen. In ihrer Schule, dem Braunschweiger Schlossgymnasium, war sie heute auch nicht erschienen, da hatte seine Miss Marple schon angerufen. Er lächelte in den Hörer. Vielleicht sollte er Sarah als freie Mitarbeiterin anstellen.

»Ich danke dir, Sarah. Ich kümmere mich weiter und lasse hören, wenn es etwas Neues gibt, okay?«

»Ja, unbedingt, Gio. Ich mache mir wirklich Sorgen, Angie ist so ein nettes Mädchen. Vielleicht ein bisschen zu nett.« Sarah seufzte.

»Was meinst du damit?«

»Na ja, sie ist nicht so cool, wie die Kids heute zu sein haben, verstehst du? Einfach ein liebes Ding mit wenig Unterstützung von zu Hause.«

»Ja.« Beck dachte an seine eigene Schulzeit, die er nach dem Tod seiner Mutter überwiegend im Internat verbracht hatte. Unterstützung? Wer hatte die schon. Die Eltern, die er so kannte, hatten alle ihre eigenen Probleme. Kindheit war kein Spaß. Er gedachte jedenfalls, seine Schwierigkeiten mit dem Leben keinem kleinen Jungen oder Mädchen aufzubürden. Am besten, man setzte gar keine Kinder in die Welt.

»Gio? Hallo?« Sarah klang schon wieder irritiert.

»Ja. Ich war gerade abgelenkt, muss jetzt auch Schluss machen. Wir sehen uns.« Er imitierte ein Kussgeräusch und legte nach ihrer Antwort auf.

Angelina Krüger. Was für ein Name. Gerade Eltern, die ihrem Kind sonst nicht viel zu geben hatten, griffen zu solch bombastischen Namen, die sich jedoch eher als Last entpuppen konnten. Wenn er daran dachte, wie viel Spott er sich mit seinem »überkandidelten Itakernamen« in der Schule zugezogen hatte … Er schüttelte die unguten Erinnerungen an seine Jugend ab und wandte seine Gedanken wieder dem vermissten Mädchen zu.

Angelina Krüger, 16 Jahre alt, gut in der Schule, fleißig und zuverlässig, liebte ihren kleinen Bruder und ihre Katze, hübsch, ein bisschen mollig, hatte das ganze Leben noch vor sich.

Und nun war sie verschwunden.

*

Sarah schloss die Tür hinter dem Jungen und beugte sich zu ihm hinunter.

»Mach dir nicht solche Sorgen, Philipp, Angelina taucht bestimmt bald wieder auf. Hatte eure Mama denn Ärger mit ihr?«

Philipp schüttelte heftig den weizenblonden Kopf. »Nein, eher hat Angie Ärger mit Mama.«

»Wieso denn das?« Sarah konnte es sich schon denken.

»Weil Mama immer so viel raucht und … Wein trinkt.« Philipp schielte verlegen zu Sarah hoch.

»Und dann sagt Mama immer, Angie wäre schlimmer als ihre Mutter. Dabei ist Oma gar nicht schlimm gewesen.« Seine hohe Jungenstimme brach und er scharrte mit den Füßen.

»Nein, du hast deine Oma ganz schön lieb gehabt, oder?« Sarah erinnerte sich, wie traurig Philipp im letzten Jahr gewesen war, als die geliebte Großmutter gestorben war.

Damit war ein Stützpfeiler in seinem unsicheren Kinderleben weggebrochen und nun drohte der letzte, Angelina, die große Schwester, auch noch einzustürzen. Die Mutter der beiden liebte ihre Kinder sicherlich, konnte ihnen aber aufgrund der eigenen Labilität nicht die konstante Sicherheit bieten, die Kinder brauchten. Sarah wusste das nur zu genau, hatte sie Katja Krüger doch schon mehrmals zu Gesprächen in die Schule bitten müssen, da Philipp häufig zu spät kam, unvollständig angezogen war oder nichts zu essen dabeihatte.

Das hatte sich in den letzten beiden Jahren sehr verbessert – aber nicht, weil Philipps Mutter sich geändert hatte, sondern, weil Angelina jetzt alt genug war, ihren kleinen Bruder mitzuversorgen, wenn Mama mal wieder mit ihrem Kater nicht aus den Federn kam. Traurig, aber häufig Kinderalltag. Und damit auch ihrer.

»Und wenn sie nicht wiederkommt?« Philipp schaute angestrengt aus dem Fenster, doch Sarah sah trotzdem eine Träne schimmern. »Wenn sie abgehauen ist, weil sie die Schnauze voll hat von Mama?«

»Hat sie das mal gesagt?« Sarah konnte sich das bei der gutmütigen Angie gar nicht vorstellen.

»Ja, hat sie. Aber dann wollte sie mich mitnehmen.« Philipp schniefte unglücklich.

»Na, siehste, dann ist sie bestimmt auch nicht weggelaufen.« Sarah versuchte, den Druck in ihrem Magen zu ignorieren und weiter Optimismus zu verströmen. »Angie würde dich doch nicht anschwindeln, oder doch?«

Philipp schüttelte den Kopf und schwieg.

Vor dem Fenster wurde ein schwarz gelockter Kopf sichtbar, der rhythmisch auftauchte und wieder verschwand. Offenbar versuchte der Besitzer, springend in ihr Fenster zu schauen. Sie lächelte.

»Schau mal, Farid wartet auf dich. Geh mal jetzt nach Hause. Vielleicht ist Angie ja schon da?« Was redete sie denn da? Warum Hoffnungen wecken, die wahrscheinlich doch enttäuscht wurden?

Ein Ruck ging durch den schmächtigen Jungenkörper und das kleine, sommersprossige Gesicht erhellte sich.

»Ja! Vielleicht! Ich gehe mal los.« Philipp winkte flüchtig in ihre Richtung und eilte durch die Tür, der schwarze Flummi vor dem Fenster verschwand ebenfalls.

Sarah schaute den beiden Jungen nach, die die Köpfe zusammensteckten und dann Steinchen kickten, für einen kurzen Moment in einer sorglosen Kindheitsblase geschützt. Waren Kinder jemals glücklich gewesen? Hatte es eine Zeit gegeben, in der Kinder einfach Kinder sein konnten, unbeschwert von den Sorgen der Zeit und der Erwachsenen? Wohl nicht. Hunger, Krieg und Arbeit hatten das früher verhindert, heute waren es Trennungen, Gleichgültigkeit, Überforderung und Konsum, Konsum, Konsum.

Konfuzius Dittmann hatte den Stein der Weisen gefunden. Als wenn dieses Gegrübel irgendetwas nützen würde. Ob sie es mal besser machen würde, mit ihrem Kind? Würde sie denn ein Kind haben? Und wenn ja, wann? Und mit wem? Sie war ein gutes halbes Jahr mit Giovanni zusammen, entschieden zu früh, um über diese Frage nachzudenken, zumal er in dieser Hinsicht nicht gerade aufgeschlossen wirkte. Aber woher wollte sie das eigentlich wissen? Sie hatten nie auch nur ansatzweise darüber gesprochen. Mit Karla, dem Kind ihrer ermordeten Freundin, war er damals liebevoll umgegangen – aber das hieß noch lange nicht, dass er Kinder wollte. Und schon gar nicht, dass er sie mit ihr wollte. Sie stöhnte.

Seit ihrem gemeinsamen traumhaften Urlaub in Ligurien bei seiner Nonna wirkte Giovanni irgendwie weicher, zugänglicher, als wenn sich ein Knoten in seinem Herzen gelöst hätte. Aber vielleicht wollte sie das auch nur gern so sehen? Oh – mein – Gott. Hör auf, hör auf, hör auf. Genieß den Moment, Dittmann.

Ob sie mal bei Katja Krüger vorbeischauen sollte? Oder würde das Giovanni in seinen Ermittlungen stören? Aber, wenn Angelina vielleicht wieder zu Hause wäre, dann … Oh, wie sie wieder den Moment genoss.

Einfach hoffnungslos.

*

Beck klopfte nach einer wunderbar entspannenden Fahrt durch den grünen Elm an die leuchtend blau gestrichene Haustür des Fachwerkhauses und trat einen Schritt zurück. Das Haus sah nicht so vernachlässigt aus, wie er es nach Sarahs Erzählungen erwartet hatte, jedenfalls nicht von außen, eher idyllisch. Jemand hatte die Blumenkästen, die auf den breiten Fensterbrettern standen, mit knallroten Geranien bepflanzt. Angelinas Mutter? Oder das Mädchen selbst? Die Kleine schien ja besser für die Familie zu sorgen als ihre Mutter. Mal sehen. Er lauschte. War keiner zu Hause? Aber er hatte doch vor einer halben Stunde mit Katja Krüger telefoniert und seinen Besuch angekündigt? Hatte sie sein Klopfen nicht gehört? Er suchte nach einer Türklingel, aber es gab keine. Leicht genervt klopfte er erneut, diesmal energischer.

Und siehe da, leichte Schritte näherten sich und die Tür wurde langsam geöffnet, so als hätte der Mensch, der dahinterstand, Angst vor dem, was er vorfinden würde.

Eine zierliche, erstaunlich jung wirkende Frau mit langen rotblonden Haaren erschien. Die war doch höchstens 30! Konnte sie schon eine 16-jährige Tochter haben? Sie sah mit einem scheuen Lächeln, das ihre grünen Augen nicht erreichte, zu ihm auf und schwieg.

Beck lächelte sie an und stellte sich vor. »Wir haben telefoniert, ich habe ein paar Nachfragen wegen Angelinas Verschwinden. Darf ich hereinkommen?«

Die elfenhafte Person nickte und trat einen Schritt zurück, damit Beck den schmalen, dunklen Flur betreten konnte.

Beck taperte zögernd durch den nur schwach erleuchteten Gang. Warum ging sie nicht voran?

»Wo …?«

»Geradeaus durch«, besann sich die Frau auf ihre Gastgeberpflichten und Beck folgte dem schwachen Lichtschein, der durch eine Glasscheibe in der Tür am Ende des Ganges fiel.

Er trat in eine unaufgeräumte, große Wohnküche, die im Gegensatz zum dunklen Flur trotz der Unordnung, die auf Tischen und Arbeitsflächen herrschte, hell und freundlich wirkte. Himmelblau gestrichene Wände kontrastierten mit honigfarbenen Holzschränken und kunterbunt gestrichenen Küchenstühlen.

Er blickte Katja Krüger fragend an.

»Darf ich mich setzen?«

»Natürlich, gern.« Katja Krüger wies auf den ihm am nächsten stehenden orangefarbenen Stuhl.

»Möchten … möchten Sie was trinken? Kaffee, Tee?« Sie schaute ihn kurz an und blickte dann verlegen zur Seite. Warum war sie so unsicher? Mein Gott, sie hatte eine fast erwachsene Tochter und einen recht vernünftig wirkenden Sohn. Sie wirkte aber eher wie deren schüchterne ältere Schwester. Bestimmt kam diese mädchenhafte Art bei Männern gut an, dachte Beck. Bei ziemlich vielen Männern, wenn man Sarah glauben durfte. Die beiden Kinder waren von zwei verschiedenen Vätern, aber häufig wechselnde Beziehungen waren ja trotz gemeinsamer Kinder heute generell keine Seltenheit mehr. Vorbei die Zeiten, wo man »wegen der Kinder« zusammenblieb. Kinder wurden gemacht wie früher Lebkuchenmännchen. Ich lieb dich, komm, ich mach dir ein Kind, als Rückversicherung, dass du mich auch liebst. Gruselig. Aber was wusste er schon, warum Leute Kinder bekamen?

Er beobachtete Katja Krüger beim Einschenken des Kaffees, der auf der Heizplatte einer Kaffeemaschine bereitstand. Sie trug einen sehr kurzen türkisfarbenen Minirock und darüber ein weißes, übergroßes T-Shirt, das wie zufällig von einer nackten Schulter gerutscht war. Die langen schlanken Beine steckten in glitzernden Ballerinas, die eher zu einem Teenager als zu einer erwachsenen Frau gepasst hätten. Vielleicht trugen Mutter und Tochter ja dieselben Schuhe. Die schmalen Handgelenke zierten mehrere geflochtene Armbänder, die wie die Freundschaftsarmbänder von Schulmädchen wirkten. Albern, fand Giovanni.

Er rief sich mit einem Räuspern zur Ordnung. Seine Vorurteile ließ er mal besser in der Schublade.

Anscheinend hatte Katja Krüger ihn etwas gefragt, denn sie blickte ihn mit schräg gelegtem Kopf fragend an.

»Bitte? Ja, Milch, danke.« Beck zwang sich zur Konzentration.

»Neigt Angelina zu so etwas? Nicht nach Hause zu kommen, ohne Bescheid zu sagen, meine ich.« Beck strich sich ungeduldig eine blonde Strähne aus dem Auge. Er musste unbedingt zum Friseur.

»Nein, nein, gar nicht. Dieses Kind ist so vernünftig, dass es schon fast unheimlich ist, also ich war als Teenager anders.« Sie lachte und versuchte einen koketten Augenaufschlag.

Das glaube ich dir gerne. »So? Wann hat sie denn gestern genau das Haus verlassen?«

»Vorgestern. Sie wollte Samstagabend mit Carina was losmachen, das ist ihre beste Freundin.« Die meerfarbenen Augen füllten sich mit Tränen.

»Haben Sie sie abends noch gesprochen, war irgendetwas anders als sonst? Hatten Sie Streit?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich … schlief, als sie ging. Ich hatte mich hingelegt. Mir … mir ging es nicht so gut.« Sie biss sich auf die vollen, ungeschminkten Lippen.

»Warum ging es Ihnen nicht gut? Waren Sie krank?« Beck ließ seinen Blick stählern werden.

»Nein, ich … hatte … Streit mit meinem Freund, ich …«

»Hatten Sie getrunken? War Angelina deshalb vielleicht verärgert?«

Ihr Kopf fuhr hoch und sie verengte ihre Augen misstrauisch. »Haben Sie das von Sarah Dittmann? Klar, die ist ja Ihre … egal. Sarah kann mich nicht leiden, weil ich nicht tagein, tagaus um meine Kinder herumspringe, so stellt sie sich das nämlich vor.« Das zarte Gesicht wirkte plötzlich hart, älter.

»Und Sie nicht?« Beck versuchte die starke Abneigung, die er gegen die Frau zu entwickeln begann, zurückzudrängen. So ging das nicht. Er verurteilte vor und schloss auf Dinge, von denen er gar nichts wissen konnte.

»Nein, ich nicht. Ich liebe meine Kinder, aber … Ich habe Angelina bekommen, da war ich selbst erst 17. Ich will auch noch was vom Leben haben, verstehen Sie?«

»Ja, das verstehe ich.« Er rechnete kurz, dann war sie tatsächlich erst 33, wenig älter als Sarah. Und wirkte viel jünger und zugleich viel älter als seine Liebste.

»Also, Angelina hat sich nicht außergewöhnlich verhalten? Wirkte sie wütend oder traurig?«

»Ach, Angie ist immer wütend oder traurig. Sie ist viel zu alt für eine 16-Jährige. Manchmal fühle ich mich, als wäre ich das junge Mädchen und nicht sie.« Sie lächelte und wartete offensichtlich auf eine entsprechende schmeichelhafte Erwiderung Becks. Die er ihr nicht gab.

»Was erwarten Sie von Ihrer Tochter?«

»Dass sie ihre Jugend genießt, Spaß hat, Herrgott noch mal! Das ist doch nicht normal, dass man von seiner Tochter ermahnt wird, wenn man sich mal ein Sektchen gönnt oder auch zwei!«

»Vielleicht könnte sie ihre Jugend mehr genießen, wenn Sie …« Beck stockte. Wohin führte dieses Gespräch? Das ging ihn alles überhaupt nichts an. Und brachte ihn auch nicht weiter in seiner Suche nach Angelina Krüger.

»Wenn ich was?!« Katja Krüger vergaß ihre mädchenhafte Pose und starrte Beck wütend an.

»Nun, das tut nichts zur Sache. Also war alles normal am Samstagabend oder -nachmittag? Wann haben Sie denn Angelina nun das letzte Mal gesehen?«

»Am Samstagmorgen, da bin ich aufgestanden, um Frühstück zu machen«, sagte sie mit einer Spur Trotz in der Stimme.

Immerhin. »Und?«

»Da war sie sehr still. Ich … ich fragte sie, was los ist, und sie sagte: ›Nichts.‹ Das sagt sie immer.«

»Hatte sie vielleicht Liebeskummer?« Plötzlich war Beck alarmiert und setzte sich auf. Suizid! Daran hatte er noch gar nicht gedacht!

»Ich weiß es nicht. Sie hat ja selten mit mir über ihre Sorgen gesprochen. Da war irgendetwas, ein Junge. Ich habe manchmal Telefongespräche mitbekommen zwischen Carina und ihr. Fragen sie die, sie wird es wissen.« Sie zuckte resigniert die Schultern und strich sich eine rotgoldene Strähne aus dem schmalen Gesicht. »Meinen Sie, ein Junge hat was mit ihrem Verschwinden zu tun?«

»Möglich ist es.« Er sagte ihr nicht, dass die meisten vermissten Teenager aus freien Stücken ihr Elternhaus verließen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben, mehr Liebe, mehr Verständnis. Ob ihnen das ein Gleichaltriger bieten konnte, bezweifelte Beck.

»Was ist mit dem Vater des Kindes? Besteht da Kontakt?« Es kam auch vor, dass Kinder und Jugendliche von getrennt lebenden Elternteilen mitgenommen wurden.

Sie lachte bitter. »Der? Der hat sich nie für seine Tochter interessiert. Gezahlt hat er auch selten.« Sie stürzte ihren Kaffee hinunter wie Schnaps.

»Aber vielleicht hat sich Angelina für ihn interessiert? Sie ist jetzt in einem Alter, in dem Kinder nach ihrer Identität suchen, verstehen Sie?«

Hart setzte sie ihren Becher auf dem Holztisch ab und atmete tief ein.

»Ja, schon. Sie fragte mal nach ihm, vor einiger Zeit.«

»Lebt er in der Nähe?«

»In Berlin. Da, wo man am besten an Dope herankommt.« Sie verzog verächtlich ihren Mund. »Glauben Sie, sie ist zu ihrem Vater gefahren? Aber warum? Der schmeißt sie sowieso gleich wieder raus.«

»Wenn es so ist, werden wir sie sehr bald finden.«

»Und wenn nicht?« Katja Krüger sah ihn eindringlich an und wirkte das erste Mal wirklich besorgt um ihre Tochter.

»Wenn nicht, gibt es noch zahlreiche andere Möglichkeiten«, wich Beck aus. Tod, Vergewaltigung, Kindesentführung, Mädchenhandel.

Nichts, was man einer Mutter sagen mochte. Auch, wenn sie vielleicht nicht besonders mütterlich wirkte.

»Darf ich mal ihr Zimmer sehen? Vielleicht gibt es dort einen Hinweis.«

Angelinas Mutter nickte und erhob sich.

Er folgte ihr und fühlte sich plötzlich vollkommen erschöpft. Nahm denn dieser Besuch gar kein Ende? Er wollte das alles gar nicht wissen, wollte das Zimmer gar nicht sehen, in dem Angelina ihre heißen Liebeschwüre an irgendeinen pickligen, unreifen Bengel verzapft oder sich dämliche Boygroups auf YouTube reingezogen hatte.

Eine Tür wurde geöffnet und gab den Blick auf einen pinkfarbenen Mädchentraum frei, der in Beck einen leichten Würgereiz auslöste. Wie konnte man in so viel rosafarbenem Kitsch ruhig schlafen? Er würde die Frauen nie verstehen, nie.

Das kleine Zimmer war erstaunlich aufgeräumt. Hatte sie es so hinterlassen wollen?

»Hat Angelina immer solche Ordnung gehalten?«

Katja Krüger sah sich um und nickte. »Ja, immer. Von mir hat sie das nicht.« Wieder dieses unpassende, kokette Lachen.

Beck ließ das unkommentiert und trat an den kleinen weißen Schreibtisch, der am einzigen Fenster des Raumes stand. Auch hier herrschte unnatürliche Ordnung. Er zog die einzige Schublade auf und blickte hinein, als ein klägliches Greinen ihn herumfahren ließ. Auf einem rosengeblümten Sofa lag eine kleine, grau getigerte Katze, die ihn vorwurfsvoll anmaunzte.

»Na, du vermisst wohl dein Frauchen, was?«

Er ging durch das Zimmer und hielt dem Tier eine Hand zum Beschnuppern hin. Mit Katzen kannte er sich ja jetzt aus.

»Das ist Mimi, Angelinas Katze. Die beiden hängen total aneinander.« Katja Krüger kämpfte erneut mit den Tränen und gewann.

Beck wurde von der Katze für gut befunden und durfte sie streicheln. Als der kleine Körper schnurrend unter seiner Hand vibrierte, fühlte er plötzlich Traurigkeit in sich aufsteigen, warum, wusste er nicht. War es vorgezogene Trauer um ein Mädchen, das vielleicht nie wieder dieses weiche Fell streicheln würde? Unsinn, die war wahrscheinlich nur abgehauen. »Nur« war gut.

Er wandte sich um und sah Katja Krüger an. »Ich brauche hier ein Weilchen, Sie müssen nicht dabeibleiben. Ich werde nichts mitnehmen ohne Absprache, keine Sorge.«

»Das stört mich nicht, ich kann gern hierbleiben.« Katja Krüger machte große Kinderaugen und schob die Unterlippe vor.

Bloß nicht.

»Nein, danke, ich glaube, ich nehme mir das hier lieber allein vor, gehen Sie ruhig Ihren Erledigungen nach.« Beck zwang ein verbindliches Lächeln in sein Gesicht. Trink doch noch einen.

»Gut, wenn Sie meinen.« Die Frau zwinkerte irritiert, verließ aber zögernd das Zimmer ihrer Tochter. Die Tür ließ sie offen stehen. Wahrscheinlich hatte sie Angst, dass er ein paar Haarspangen mitgehen ließ.

Er kehrte dem Kätzchen auf dem Sofa den Rücken und schaute in die Schreibtischschublade. Vielleicht hatte sie ein Tagebuch geführt, junge Mädchen machten so was ja. Warum auch immer. Wozu das Elend noch aufschreiben? Das manifestierte es doch nur.

Ein Spiegel – rosa, ein Lippenstift – rosa, ein altes Handy – rosa … Er musste lachen. Das gab’s doch nicht. Handy?

Irritiert hielt er inne und dachte nach. Na klar, sie mussten ihr Handy orten, wo hatte sie es das letzte Mal benutzt? Und wann? Er ließ sich in der Küche von der Mutter die Handynummer des Mädchens geben und zog sein eigenes Gerät heraus – natürlich hoffnungslos veraltet, aber immerhin nicht rosa. Im Hörer bellte es – Wagner war dran. Beck gab eine entsprechende Anweisung und legte wieder auf.

Ein paar Fotos, Angelina mit einer blonden, überschlanken Freundin in kunstvoll zerrissenen Jeans, die wahrscheinlich eher dem Schönheitsideal ihrer Generation entsprach als die rothaarige, etwas pummelige Angelina, die in ihrer Teenagerkluft noch ein wenig verkleidet wirkte. Die musste erst noch aus dem Pubertätskokon schlüpfen, befand Giovanni. Die Schönheit, die darunter schlummerte, konnte sie selbst jetzt garantiert nicht sehen. So weit kannte er die Frauen.

Sarah hatte auch ständig etwas an ihrem Aussehen zu bemäkeln, Mängel, die er überhaupt nicht sehen konnte. Er fand sie wunderschön mit ihren rostbraunen Wuschellocken, die sie hasste, und ihren dunklen Schokoladenaugen … Nun, das gehörte jetzt nicht hierher. Amüsiert schüttelte er den Kopf über sich selbst. Kommissar Beck in Love, wer hätte das gedacht? Er nicht.

Er wandte sich wieder den Habseligkeiten des vermissten Mädchens zu und wühlte weiter in der Schublade. Ein Foto, offensichtlich ein Ausdruck aus dem Internet, das einen Jungen zeigte, blond, hübsch, ein arrogantes Lächeln auf den Lippen. Er schien sich seiner Wirkung bewusst. Ein Popstar? Er hatte keine Ahnung, wer gerade so angesagt war bei den Kids. Oder ein Schwarm der Kleinen? Er musste die Mutter fragen.

Ein Zettel, herausgerissen aus einem Schulheft, bemalt mit fantasievollen Ranken und Herzchen, durch Langeweile in einer Schulstunde inspiriert. In der Mitte ein Text:

Keiner liebt mich, Einsamkeit.

Menschen sehen mich nicht, Einsamkeit.

Das Herz tut weh, die Träne brennt.

Einsamkeit.

Wo bist du? Einsamkeit.

 

Hatte sie das geschrieben? Angelina? Wahrscheinlich. Der Weltschmerz eines Teenagers oder mehr? War sie vielleicht wirklich einsam gewesen, einsam unter lachenden Kindern aus glücklichen Familien? Gab es die überhaupt?

Er dachte an seine eigene Jugend, die er in Angelinas Alter im Internat verbracht hatte, und daran, wie oft er sich sehr einsam gefühlt hatte, anders als alle anderen. Alle schienen irgendwie einen Platz im Leben zu haben, jemanden, dem sie sich anvertrauen konnten, nur er nicht. Bis er Gunnar und Hartmut kennengelernt hatte, die dann seine Familie gewesen waren, denn sein Vater … Nun, auch das gehörte nicht hierher.

Aber Angelina hatte doch eine Freundin, die Freundin vom Foto, wahrscheinlich dieselbe, bei der sie gestern zu Besuch gewesen war. Er musste unbedingt mit diesem Mädchen sprechen – Carina.

Er ging hinüber zum Bett unter dem Fenster, auf dessen Laken noch der Abdruck des Mädchenkörpers sichtbar war, dem es nachts Zuflucht geboten hatte. Er hob das Kopfkissen hoch – nichts. Vorbei die Zeiten, in denen Mädchen Blumen unter dem Kopfkissen pressten oder Bilder des Liebsten aufbewahrten, um von ihm zu träumen. Er legte sich auf den Boden und sah unter das Bett. Außer Staubmäusen auch nichts. Alles, was Teenager an Geheimnissen hatten, verwahrten sie heute sicher in ihrem Smartphone.

Über dem Bett ein riesiges Poster von einem jungen Schönling, den er nicht kannte, er beugte sich vor und las den Namen des Stars, der klein am unteren Rand des Posters aufgedruckt war: »Wincent Weiss«. Nie gehört. Oder doch? Spielte der nicht auch bei den Raffteich-Konzerten, die jetzt am Wochenende starteten? Er hatte eigentlich hingehen wollen, um mal ein bisschen am Braunschweiger Kulturleben teilzunehmen. Da er aber keine der Bands kannte, hatte er den Gedanken wieder verworfen. Was sollte er alter Sack auch zwischen den ganzen Jugendlichen dort?

Er öffnete die Tür des weißen Kleiderschranks, auf dessen eine Tür ein Poster aufgeklebt war: ein unnatürlich hübsches Mädchen mit einem ebenso künstlichen Lächeln, schlank, in einem weißen Glitzerkleid und mit wehenden hellblonden Haaren, ein alter, ausgelaugter Blick unter schweren falschen Wimpern – wahrscheinlich auch irgendein Teenie-Idol. So wollte Angelina wahrscheinlich aussehen – oh Gott. Kein Wunder, dass sie laut Sarahs Einschätzung mit sich nicht zufrieden war. Wenn man so aussehen musste – wie eine Barbiepuppe? So sah niemand aus – Gott sei Dank.

In der anderen Tür war ein Spiegel eingelassen, so konnte sich das Mädchen immer hübsch mit ihrem Schönheitsideal vergleichen und schlecht dabei abschneiden. Frauen waren irgendwie Masochistinnen – zumindest was ihren Körper betraf. Welchen Torturen sie sich aussetzten, um vermeintlich hübscher zu sein! Allein diese Augenbrauenzupferei! Er betrachtete seine hellblonden, aber dichten Brauen und stellte sich vor, er müsste sie regelmäßig herausreißen, nur weil die Vogue das befahl. Unwillkürlich verkrampfte er im imaginären Schmerz sein Gesicht. Und dann erst die Bikinizone … Autsch!

Er sah die Kleider durch, die an der Stange hingen, ordentlich nach Sommer und Winter geordnet. Mädchen mussten eine vollkommen andersgeartete Pubertät durchlaufen als Jungs. Sein eigener Kleiderschrank hatte damals aus einem wüsten Haufen gewaschener und ungewaschener Klamotten bestanden, aus denen er bei Bedarf etwas halbwegs Adäquates herausgezogen hatte. Aber auch das hatte sich geändert – auch Jungen waren heute strengen Mode- und Schönheitsvorschriften unterworfen. Sein Freund Gunnar hatte ihm erzählt, sein Sohn epiliere sich regelmäßig die Brusthaare – man stelle sich vor! Er griff sich an seine eigene, mäßig behaarte Brust und ächzte.

Unter den Kleidern reihten sich Schuhe, zum Teil mit mörderischen Absätzen. Durften die mit 16 so was schon anziehen? Ging das nicht auf die Wirbelsäule? Er hatte keine Ahnung und dankte Gott, dass er keine Tochter hatte.

Er durchsuchte die Fächer, unwillig, fühlte sich wie ein Eindringling in dieser jungen, femininen Welt. Alles duftete leicht nach einem sehr süßen, sehr blumigen Parfüm.

Unter einem flauschigen Pullover – rosa, und das zu diesen Haaren – glitten seine Finger über die glatte Oberfläche eines Papierstücks. Er zog es neugierig heraus. Ein Foto, verschwommen, wie heimlich aufgenommen, es zeigte einen erwachsenen Mann halb von der Seite, so als habe er sich im Moment des Schnappschusses gerade abwenden wollen. Soweit Beck das nach dem leicht verwackelten Bild beurteilen konnte, sah er gut aus und hatte ein einnehmendes Lachen. Wer war das? Er schien zu alt für die Kleine, Beck schätzte ihn auf Mitte 30. Er steckte das Foto in seine Tasche, zu dem anderen aus der Schublade.

Erschrocken fuhr er zusammen, als etwas Weiches um seinen Knöchel strich – die Katze. Er bückte sich, um ihr seidenweiches Fell zu streicheln. Sie sah zu ihm auf und maunzte kläglich.

»Ja, ich weiß. Ich versuche ja, sie zu finden, weißt du? Sie wird schon zurückkommen.«

Die Katze starrte mit türkisfarbenen Augen unverwandt, ohne zu blinzeln, wie es nur Katzen konnten. Die schrägen Augen schienen seinen eigenen Zweifel widerzuspiegeln.

Würde sie zurückkommen?

Kapitel 2

Unschlüssig trat Beck vor der Haustür des schlichten Mietshauses am Neustadtring von einem Bein auf das andere. In diesen Häusern einer Wohnungsbaugesellschaft wohnten Studenten und Menschen, die nicht viel mehr zum Leben hatten als jene. Der Lärm des lebhaften Verkehrs auf dem Ring erinnerte ihn daran, seiner Mutter wieder einmal für ein Erbe zu danken, das es ihm erlaubte, in einer der begehrtesten Wohngegenden Braunschweigs sein Quartier zu nehmen. Sein Gehalt trug nicht viel dazu bei.

Wie hieß Angelinas Freundin noch? Carina, ja, und dann? Keine Ahnung. Aber Mr. Superhirn schrieb sich ja nichts auf. In dem verzweifelten Versuch, seine fast 39 Jahre zu ignorieren, tat er immer noch, als sei sein Gedächtnis vom Feinsten. Die grauen Zellen bröckelten aber trotzdem, genauso wie der beklagenswert untrainierte Körper. Hm. Konzentration, bitte, Opa.

Er studierte das Klingelbrett: Müller, Meyer, Schulze – er musste grinsen. Das konnte jetzt nicht wahr sein. So hieß sie aber nicht, oder doch? Er raufte sich das Haar und glättete sie sofort wieder, als ihm einfiel, dass er gleich einen halbwegs gepflegten Eindruck machen wollte. Falls ihm dieser Scheißname endlich wieder einfiel. Warum wohnten hier auch so viele Menschen? Grässlich.

Er versuchte sich gerade mit dem Namen Dubarth anzufreunden, Carina Dubarth – klang das nicht irgendwie vertraut? –, als sein Blick auf den – natürlich – letzten Namen auf dem Klingelbrett fiel: Glückstadt, ach ja. Wie hatte er einen so auffälligen Namen vergessen können?

Entschlossen drückte er auf die Klingel und wartete. Eine Stimme schnarrte ihm entgegen und der Türsummer wurde betätigt, nachdem er sein Begehr vorgebracht hatte. Er stieg in dem engen, muffigen Treppenhaus auf der für diese Häuser typischen schlichten Steintreppe in das oberste Stockwerk und fragte sich, wie irgendjemand hier Getränkekisten oder gar Möbel nach oben transportierte, ohne einen Infarkt zu provozieren. Er musste mehr Sport treiben. Jaja.

Oben erwartete ihn eine magere, verhärmt aussehende Frau, die ihm ängstlich entgegenschaute. »Sie sind von der Polizei?«

Er nickte und versuchte möglichst unauffällig, wieder zu Atem zu kommen. »Ja. Ich bin hier, um mit Ihrer Tochter zu sprechen. Angelina Krüger ist leider immer noch nicht wieder nach Hause zurückgekehrt.«

»Oh Gott, hoffentlich ist da nichts passiert!« Mit schreckgeweiteten Augen sah die dünne Frau zu ihm auf und strich sich eine schlecht blondierte Strähne aus dem hageren Gesicht.

»Wann ist sie hier denn aufgebrochen, Frau Glückstadt?«

»Gestern Nachmittag, ich glaube, so gegen fünf. Da wollte sie nach Hause. Aber Carina weiß bestimmt mehr. Oh Gott, wie furchtbar.« Frau Glückstadt fuhr sich fahrig über das schmale Gesicht.

»Na, nun mal langsam, noch wissen wir ja nicht, ob etwas passiert ist. Wo finde ich Ihre Tochter?«

»Sie ist in ihrem Zimmer, ich geh mal voraus.« Die Frau eilte durch den schmalen Flur und öffnete eine Tür zur Linken. Beck blieb kurz stehen, um ein Schild zu lesen, das ihm mitteilte, ersolle »lieber den Kopf nicht hängen lassen, wenn er bis zum Hals in Scheiße steckte«. Würde er sich merken.

Er trat einen Schritt vor und verließ die reale Welt, um zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit in einen Jungmädchentraum einzutauchen.

Eine Welt voller Gazeschleier, Herzchen, Glitter und süßlicher Parfümwolken. Inmitten dieses Hello-Kitty-Alpes eine hübsche Elfe, die ihm mit zusammengekniffenen Augen misstrauisch entgegenblickte.

»Carina? Hast du einen Moment Zeit für mich?«

»Und was, wenn nicht? Komme ich dann in den Knast?« Die Elfe blies eine rosa Kaugummikugel auf und ließ sie platzen.

»Ja, sofort. Bei Wasser und Brot. Und die Frauengefängnisse sind die schlimmsten.« Beck legte Altmännercharme in sein Lächeln, in der wahrscheinlich irrigen Hoffnung, dass der irgendwie auch noch auf 16-jährige Damen wirkte.

»Carina!« Frau Glückstadt war hinter ihm in das Zimmer getreten und rügte beflissen das Benehmen ihrer Tochter.

»Ist schon gut.« Beck setzte sich unaufgefordert auf einen Sitzsack, der dem geblümten Sofa gegenüberstand, auf dem die Blondine in dekorativ lässiger Pose flegelte. Er sank tiefer als erwartet und hoffte, dass er mit Anstand und ohne Hilfe wieder aus dieser Sitzkatastrophe auftauchen konnte.

»Wann genau ist Angelina gestern hier aufgebrochen?«

Wieder die rosa Blase. Peng. Wenn sie wüsste, wie sehr ihre sorgfältig hergestellte Attraktivität unter dieser Aktion litt, würde sie es wahrscheinlich lassen. Aber sicherlich wusste sie das, hatte nur kein Interesse, einen alten Tapergreis zu beeindrucken, sondern bewahrte sich die Präsentation ihrer Schönheit für ihre TikTok-Videos auf.

»Schätze mal, so gegen fünf, vielleicht bisschen später, ja, genau.«

»Hat sie irgendetwas gesagt, aus dem du schließen konntest, dass sie nicht nach Hause fahren wollte? Denn dort ist sie ja immer noch nicht angekommen, wie du weißt.« Beck rutschte unbehaglich auf dem Kunstledersack herum. Furchtbares Ding, es verwandelte ihn in einen würdelosen Hänger ohne Muskeln.

»Nö. Sie wollte eigentlich gleich dort mit den Hausaufgaben anfangen. Die hatten wir vergessen zu machen. Scheißmathe. Aber Angie hat’s drauf mit Mathe.«

»Ist irgendetwas passiert an dem Wochenende, das ihr zusammen verbracht habt? Etwas, was Angelina ärgerlich gemacht haben könnte oder traurig?«

»Sie müssen mit mir nicht reden wie mit einem Kleinkind.« Carina setzte sich auf und strich sich die superblonden, superlangen Haare aus dem Gesicht.

»Carina!« Wieder die Mutter im vergeblichen Erziehungsversuch.

»Mama! Kann ich jetzt mal allein mit dem Kommissar reden? Geht das?«

Vertauschte Rollen, die Tochter trat wesentlich energischer auf als die Mutter und schien hier sowieso mehr von Bedeutung zu sein. Beck sah sich in dem dekorativ eingerichteten Zimmer um, in dem nichts auf irgendeinen finanziellen Mangel schließen ließ, der in dieser Wohngegend aber anzunehmen war. Beck hätte wetten können, dass der Rest der Wohnung deutlich dagegen abfiel. Dem Prinzesschen sollte es eben besser gehen als der Mama. Vielleicht war er ungerecht, aber die Kleine machte einen eher verwöhnten Eindruck. Er fand, die Eltern hatten auch ein Recht auf ein wenig Komfort. Oder war das egoistisch?

»Gehen Sie ruhig, Frau Glückstadt, manchmal sprechen Kinder freier, wenn die Eltern nicht dabei sind.« Beck lächelte der verunsicherten Frau beruhigend zu. Ganz bewusst hatte er das Wort »Kinder« gewählt, um das Mädchen auf ihren Platz zu verweisen. Wahrscheinlich würde er dafür gleich eine übergebraten bekommen.

Und richtig: »Kinder? Geht’s noch? Wenn Sie Angelina und mich noch wie Kinder behandeln, liegen Sie falsch, Herr Kommissar. Wir sind fast erwachsen.«

»Dann benimm dich auch wie eine Erwachsene, Carina. Bis jetzt kann ich davon nichts bemerken.« Beck legte etwas väterliche Strenge in seinen Ton, jetzt reichte es langsam mit den Teenagerallüren. »Schließlich geht es hier um etwas Ernstes, um deine Freundin. Oder bist du nicht daran interessiert, dass sie heil wieder nach Hause kommt?«

Die Wangen des Mädchens färbten sich rot und sie richtete sich auf. »Doch, klar.«

»Also. Ist etwas passiert, was Angelina veranlasst haben könnte wegzulaufen? Hat sie dir irgendetwas anvertraut? Wollte sie noch jemand anders aufsuchen? Bitte denk daran, dass ihre Familie in großer Sorge um sie ist!«

Carina lachte auf. »Ihre Mutter in großer Sorge? Hat sie überhaupt gemerkt, dass Angie nicht da ist? Wer’s glaubt.«