Elmsühne - Bettina Owczarski - E-Book

Elmsühne E-Book

Bettina Owczarski

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Beschreibung

Kaum hat sich Hauptkommissar Giovanni Beck in seiner neuen Heimatstadt Braunschweig eingelebt, kommt sein Nachbar, der Studienrat Augustus von Düren während eines Einbruchs zu Tode. War es Mord? Oder vielleicht doch nur ein Unglücksfall? Becks Ermittlungen führen ihn immer tiefer in die dunkle Vergangenheit der adeligen Familie. Und auch seine Liebe zur Lehrerin Sarah steht noch auf wackeligen Beinen - ist sie mehr als eine Bettgeschichte? Die Ankunft eines berühmten Hollywoodstars in Sarahs Heimatdorf und ein mysteriöser Toter im Wald tragen nicht gerade zur Beruhigung der Szenerie bei …

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Bettina Owczarski

Elmsühne

Kriminalroman

Zum Buch

Schatten der Vergangenheit Kaum hat sich Hauptkommissar Giovanni Beck in seiner neuen Heimatstadt Braunschweig eingelebt, kommt sein Nachbar, der Studienrat Augustus von Düren während eines Einbruchs zu Tode. War es Mord? Oder vielleicht doch nur ein Unglücksfall? Becks Ermittlungen führen ihn immer tiefer in die dunkle Vergangenheit der adeligen Familie. Und auch seine Liebe zur Lehrerin Sarah steht noch auf wackeligen Beinen – ist sie mehr als eine Bettgeschichte? Die Ankunft eines berühmten Hollywoodstars in Sarahs Heimatdorf und ein mysteriöser Toter im Wald tragen nicht gerade zur Beruhigung der Szenerie bei …

Bettina Owczarski lebt mit ihrem Mann, einem ebenso leidenschaftlichen Hobby-Rockmusiker wie ihr Kommissar Giovanni Beck, und der Französischen Bulldogge Babette in einem kleinen Städtchen am Rande des Elms, in der Nähe von Braunschweig. Wie ihre Protagonistin Sarah war sie Grundschullehrerin, leitete dann ein Studienseminar für die Lehrerausbildung und widmet sich nun ganz dem Schreiben.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Die Originalausgabe erschien 2013 im Leda-Verlag

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Ricardo / stock.adobe.com

ISBN 978-3-7349-9496-8

Widmung

Für meine Eltern

Prolog

Schweißgebadet schreckte er hoch und starrte in die Dunkelheit. Sein Herz raste, Panik drückte seine Brust zusammen. Er wollte das Licht anmachen, doch er war vollkommen bewegungsunfähig. Schweiß rann ihm von der Stirn in die Augen und brannte salzig wie Tränen; Tränen, die nicht fließen wollten.

Er war wieder dort gewesen, an jenem Ort, der ihn nie mehr loslassen würde. Seine Schritte hatten in den schmalen, hohen Fluren gehallt. Das Sonnenlicht war wie immer dort draußen vor den riesigen Fenstern geblieben, hatte scheu hereingelugt, jedoch die dunklen Flure nicht mit Licht und Glück erfüllt. An diesem Ort gab es kein Glück.

Angst drang mit jedem Atemzug in die Lungen, drückte die Augen aus den Höhlen und quoll aus jeder Pore. Er stank nach Angst. Die anderen konnten es riechen, den Opfergeruch. Er schluchzte auf. Es gab kein Entkommen.

Schritte näherten sich und er erstarrte. Schwer atmend stierte er in den dunklen Gang, sah sich um, suchte nach einem Fluchtweg. Gleich würde der Mann kommen, schnell. Er öffnete eine Tür und schlüpfte hinein. In die Dunkelheit geduckt lauschte er, jede Zelle seines Körpers horchte nach draußen. Würde sein Verfolger ihn wittern, seinen Angstschweiß riechen? Oder war ihm für heute eine Auszeit vergönnt, eine Atempause, bevor sich morgen Hohn und Spott umso quälender über ihn ergießen würden?

Verdient hatte er es. Er war wertlos, ungenügend, er wusste es selbst. Aber die Angst vor der Qual war stärker als die Einsicht.

Er wünschte sich, jemand würde ihn umbringen. Er wollte sterben, aber er war zu feige, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Er hatte es versucht. Sogar zum Sterben war er nicht zu gebrauchen. Er duckte sich tiefer, lauschte. Die Schritte kamen näher, zögerten. Er presste die Faust vor den Mund, um nicht zu schreien. Hämmernder Herzschlag dröhnte in seinen Ohren. Ein Klacken, Licht fiel in die dunkle Kammer.

»Nein!« Sein Schrei riss ihn aus der Erstarrung und er tastete nach dem Schalter.

Warm flutete der gelbliche Schein der Nachttischlampe in die Schwärze seines Schlafzimmers und löste den Druck auf seiner Brust. Er griff nach seinen Tabletten und spülte gleich zwei davon hinunter.

Jetzt würde er schlafen können, schlafen und vergessen, bis ein neuer Tag die Angst zurückbrachte.

1. Kapitel

Sex, war sein erster Gedanke. Er hatte fantastischen Sex gehabt, falls er das nicht geträumt hatte. Ja!

Hauptkommissar Giovanni Beck schlug die Augen auf und genoss das wohlig entspannte Gefühl, das seinen ganzen Körper durchströmte. Vorsichtig drehte er sich auf die Seite und betrachtete die Frau, deren Anwesenheit nicht ganz unwesentlich zu seiner Entspannung beigetragen hatte.

Beck grinste zufrieden. Die ernste Sarah hatte sich in seinen Kissen in einem wahren Feuerwerk der Gefühle entladen und ihn bis zur Erschöpfung gefordert. Wenn das so weiterging, brauchte er kein Fitnessstudio mehr.

Er richtete sich halb auf, um sie besser betrachten zu können. Ihre rotbraunen Locken ergossen sich über das Kopfkissen und boten einen hübschen Kontrast zu ihrem schmalen, blassen Gesicht. Auf den Wangenknochen lagen flatternd ihre langen dunklen Wimpern und Beck ertappte sich bei dem Wunsch, sie wach zu küssen und vielleicht dort weiterzumachen, wo sie vor nicht allzu langer Zeit aufgehört hatten.

Guck mal an, alter Knabe, dachte er befriedigt, was so eine Phase der Enthaltsamkeit doch Gutes bewirken kann.

Lächelnd erinnerte er sich an die Zeit, als er Sarah kennen gelernt hatte, im Zusammenhang mit einem Mordfall, der ihm kurz nach seinem Wechsel von Berlin nach Braunschweig übertragen worden war.

Es war an Weihnachten gewesen. Das Fest der Liebe. Wie passend. Würde er das nächste Fest gemeinsam mit Sarah feiern? Gemeinsam mit Sarah – wie selbstverständlich ihm so ein Gedanke kam … Etwas erschreckend.

Vor drei Monaten hatte er noch nicht einmal gewusst, dass es sie überhaupt gab, geschweige denn, dass er den Wunsch verspüren könne, mit ihr oder überhaupt irgendeiner Frau wieder eine Beziehung einzugehen, die über Sex und Frühstück (am besten ohne Frühstück) hinausging.

Es war wirklich ein Witz. Jahrelang hatten er und Sarah in Berlin gelebt, ohne sich zu begegnen. Kaum hatten sie der Millionenstadt den Rücken gekehrt und sich in die Provinz geflüchtet, kreuzten sich ihre Wege. Kein Wunder – in Berlin sah man wahrscheinlich vor lauter Menschen den einen nicht mehr, auf den es ankam. So wie mit dem Wald und den Bäumen.

Vielleicht sollte er seinen Single-Freunden aus der Großstadt mal einen Tipp geben: Fahrt in die Provinz, dort werdet ihr der Frau eures Lebens begegnen.

Wie bitte? Vorsichtig, lieber Giovanni, immer hübsch langsam. Genieß einfach die Zeit mit der schönen Sarah und bleib locker.

Als hätte sie seine Gedanken gespürt, murmelte Sarah und bewegte sich unruhig. Sie drehte ihren Kopf auf die Seite und schlug die Augen auf. Da waren sie wieder, diese dunklen Teiche aus flüssiger Schokolade, deren Blick Beck immer ein wenig weich in den Knien werden ließ.

Sie reckte sich und lächelte ihn verschlafen an. Mann! Dieses Lächeln kribbelte über Becks Haut wie eine Berührung. Am liebsten hätte er sich sofort wieder über sie geworfen, aber er hatte gelernt, dass die Frauen eine etwas subtilere Herangehensweise schätzten, vor allem am frühen Morgen.

Gott, warum lässt du Frauen und Männer sexuell so unterschiedlich funktionieren, wenn du willst, dass wir uns vermehren?!

Wohlerzogen, wie er war, verdrängte er die Steinzeit–Automatismen seines Körpers und lächelte zurück. »Hallo, Süße. Hast du gut geschlafen? Wie sieht es aus, hast du Lust auf ein schönes Frühstück?«

Sarah brummte zufrieden und schlang einen Arm um Becks Hals. »Gute Idee. Wie wär’s denn erst mal mit einer kleinen Vorspeise?«

Bevor Becks Gehirn aussetzte und andere Körperteile die Regie übernahmen, entschuldigte er sich noch schnell bei Gott.

*

Sarah warf sich Giovannis Schlafanzugoberteil über ihre Blöße und betrachtete sich in seinem Schlafzimmerspiegel. Dittmann, du alte Schlampe. Sie kicherte, als sie die Küche betrat.

Beck wandte sich nach ihr um und reichte ihr einen Becher mit Cappuccino. »Prego, signorina. Worüber lachst du?«

Sie deutete auf sein Schlafanzugoberteil. »Was für ein Klischee. Nach einer heißen Nacht kommt die Frau nur mit seiner Schlafanzugjacke bekleidet in die Küche, damit auch der schwachsinnigste Zuschauer merkt, was gelaufen ist.« Sie lehnte sich an den Küchentisch und nahm einen Schluck aus dem Becher.

Giovannis Blick glitt an ihren Beinen hinauf und hinterließ dort eine heiße Spur.

Jetzt nicht rot werden! Dankbar für den heißen Becher in ihrer Hand, neigte sie den Kopf tiefer und ließ vorsichtshalber ein paar Locken vor ihr Gesicht fallen. So musste sich Bridget Jones nach dem Sex mit Daniel Cleaver gefühlt haben.

»Wenn ich dich so anschaue, weiß ich auch, warum die Regisseure so oft auf dieses Detail setzen. Weißt du eigentlich, dass Wagner deine Beine bewundert?«

»Was?« Sarah verschluckte sich und hustete. »Über so was sprecht ihr? Ich denke, der mag dich nicht?«

»Er bewundert ja auch nicht meine Beine, sondern deine. Zu Recht.«

Sarah setzte sich an den Küchentisch, weil ihr Becks Blick auf besagte Extremitäten zu intensiv wurde. Noch eine Runde und sie musste an den Tropf. »Wie kommt dein Kollege dazu, sich über meine Beine zu äußern?«

»Tja, als wir dich das erste Mal gesehen haben, waren wir schon beide überrascht. Positiv natürlich. Obwohl ich eher auf deine Augen abgefahren bin.«

»Ha, ha.« Sarah schnaubte ungläubig. »Die Definition der Männer von Augen ist ja bekanntermaßen etwas weiter angelegt.«

»Nein, wirklich. Obwohl ich deinen Po zugegebenermaßen auch ziemlich sehenswert fand.«

Sarah griff nach einem Croissant. »Ich fasse es nicht. Du kommst zu mir, um in einem wirklich grauenhaften Mordfall zu ermitteln und starrst auf meinen Po? Männer!«

»So sind wir, Schatz, das Testosteron ist unser Fluch.« Beck grinste. »Mein Anteil an diesem Hormon scheint dich aber heute Nacht nicht weiter gestört zu haben.«

Verdammt, jetzt wurde sie doch rot. »Nein, manchmal ist das schon eine nützliche kleine Einrichtung mit den Hormonen.« Vor allem, wenn sie in so einer leckeren Verpackung daherkommen, du Schnuckel.

»Du wirst ja rot, wie süß.«

»Danke, dass du mich darauf hinweist.« Sarah warf das Croissant nach Beck.

»Aua. Man wirft nicht mit Lebensmitteln, Frau Lehrerin. Dein Östrogen war schließlich auch ganz schön aktiv, du fleischgewordenen Männerphantasie! Weißt du eigentlich, wie viele Männer sich vorstellen, heißen Sex mit ihrer Lehrerin zu haben?«

»Hör auf. Ich komme mir vor wie die Hauptdarstellerin in einem Softporno.« Verlegen presste Sarah ihre Hände an die heißen Wangen. Sie schielte vorsichtig in Becks Richtung. Gott, sah dieser Mann gut aus, einfach verboten! Vor allem heute Morgen, mit leichtem Bartschatten, dem verwuschelten, blonden Haar und seinem schiefen Lächeln.

»Tja, ich fand dich auch ganz hübsch, bei unserer ersten Begegnung. Und vor allem wollte es mir nicht in den Kopf, wie jemand, der so blond ist wie ein Wikinger, Giovanni heißen kann.«

Beck verzog gequält das Gesicht. »Warum müsst ihr Frauen einen eigentlich immer hübsch nennen? Damit kastriert ihr uns. Ein Mann ist nicht hübsch, er sieht höchstens gut aus.«

»Na gut, dann sage ich eben nicht, dass ich fand, dass du aussiehst wie ein Unterwäschemodel für Calvin Klein.«

Jetzt warf Beck das Croissant und stand auf. Sarah kreischte und flüchtete um den Tisch. »Man schmeißt nicht mit Lebensmitteln, Herr Kommissar.«

»Nein, und man schlägt auch keine Frauen. Deshalb muss ich mir wohl eine andere Strafe ausdenken.« Beck schnappte sich Sarah und trug sie aus der Küche.

Huch, dachte Sarah, wie herrlich anachronistisch! Ich Jane, du Tarzan.

*

Beck schlang sich seinen grauen Schal um den Hals und blickte in den Spiegel. Ihm fiel auf, dass seine Gesichtshaut so frisch aussah, als habe er seinen Spaziergang schon hinter sich. Sex war anscheinend nicht nur für die Durchblutung der Lenden gut. Er trat beiseite, um Sarah Gelegenheit zu geben, ihre Baskenmütze dekorativ über ihre Locken zu stülpen. Amüsiert betrachtete er ihre rosigen Wangen und grinste.

»Was ist?« Sarah schob sich irritiert ihre Kopfbedeckung aus der Stirn. »Findest du die Mütze doof?«

»Nein, ganz im Gegenteil, ich finde du siehst ganz entzückend damit aus. Wie eine rothaarige Pariserin.« Beck schob Sarah vor sich und küsste sie in den Nacken.

»Ich bin nicht rothaarig!« Empört befreite sie sich aus seinen Armen. »Mein Haar ist kastanienfarben.«

»Sag ich doch – rothaarig«, neckte Beck sie und zog an einer Locke. »Vielleicht sollte ich dich Pippi nennen.«

»Untersteh dich!« Sarah boxte ihn vor die Brust.

Beck griff ihre Fäuste und hielt sie fest. »Wir kennen uns noch nicht einmal ein Vierteljahr und schon schlägst du mich?«

Sarah legte den Kopf in den Nacken und strahlte ihn an. »Ja, und? Haben deine anderen Frauen länger gebraucht, bis sie Gewalt angewendet haben?«

»Meine anderen Frauen, wie du dich auszudrücken beliebst, haben gemerkt, dass Gewalt nicht vonnöten ist, wenn sie es mit einem solch sensiblen Feingeist wie mir zu tun haben.« Beck zog Sarah an sich und küsste sie auf den Hals.

»Mmm. Hör auf, wir wollen spazieren gehen. Noch eine Runde überlebe ich außerdem nicht.«

»Na und? Wär doch ein schöner Tod, oder?« Beck hatte plötzlich keine Lust auf einen Spaziergang mehr, es war doch sowieso viel zu kalt.

Leider schien Sarah diesmal ernsthaft anderer Meinung zu sein und schob ihn von sich. »Nein, Schluss jetzt. Ich will in den Park. Weißt du, dass ich noch nie im Prinzenpark spazieren gegangen bin?«

Versuchsweise schob Beck seine Hand in ihren Mantel. »Der wird sowieso vollkommen überbewertet.«

Sarah kicherte. »Glaub ich nicht. Komm, die kalte Luft wird dich abkühlen.«

»Na schön.« Beck gab auf, zumindest vorerst. Er öffnete seine Wohnungstür und trat in das Treppenhaus.

Sarah blieb an der Tür stehen und betrachtete die bunten Blumenmotive, die in die große Glasscheibe eingelassen waren. Sie strich bewundernd über eine Tulpe. »Jugendstil. Ich liebe diese Epoche.«

Beck nickte. »Ja, dachte ich mir.«

Misstrauisch sah Sarah zu ihm auf. »Wieso? Willst du damit sagen, dass ich einen Hang zum Kitsch habe?«

»Nein, aber du hast eine romantische Seele.«

»Das klingt irgendwie, als ob es ein Makel wäre.«

Beck lachte. »Nein, nur, wenn Weiblichkeit ein Makel ist.«

»Findest du mich weiblich?« Kokett schielte Sarah unter der Baskenmütze zu ihm hoch.

»Hör auf, mich so anzusehen, wenn du in den Park möchtest.« Beck griff nach Sarah und versenkte sich in ihre Lippen. Gott, war das schön, so einen weichen Frauenkörper zu spüren, mit all den wunderbaren Rundungen und Pölsterchen und …

Über ihm ging eine Tür auf und ein Schlüssel klirrte. Er ließ Sarah los und sie fuhren auseinander wie zwei ertappte Teenager. Rasch ordnete Sarah ihre Locken und Beck wandte sich ab, um seine Tür abzuschließen. Das fehlte gerade noch, dass ihn einer seiner Nachbarn, alles ältere Herrschaften, beim Knutschen im Treppenhaus erwischte. Er gewann gerade rechtzeitig seine Fassung zurück, um dem Mieter über ihm, einem distinguiert wirkenden älteren Herrn in Hut und Mantel, freundlich einen guten Morgen wünschen zu können.

Der Herr lüpfte höflich mit einer Verbeugung in Sarahs Richtung den Hut und lächelte fein. »Wenn man so jung ist wie Sie, ist 12 Uhr mittags sicherlich eine morgendliche Stunde. In meinem Alter denkt man um diese Zeit schon wieder an das Mittagsschläfchen.«

Sarah lachte und ließ den Herrn vorbei. Er schritt, gemächlich seinen eleganten, mit Silber beschlagenen Stock schwenkend, die Treppen hinunter.

»Ich hoffe, wenn ich in diesem Alter bin, wirke ich noch genauso smart«, flüsterte Sarah in Becks Ohr. »Wer ist das?«

»Augustus von Düren, pensionierter Studienrat.«

»Huch, ein Kollege. Was für ein Name!«

»Du bist doch selbst von Adel, Fräulein von Warberg.«

»Nur zu Hälfte. Und nenn mich nicht immer so. Ich heiße Dittmann und ich fürchte, die bürgerliche Linie schlägt bei mir ziemlich massiv durch.«

»Das finde ich auch. Ein züchtiges Adelsfräulein hätte heute Nacht nicht … Au!« Er zuckte theatralisch unter Sarahs leichtem Hieb zusammen. »Das ist schon das zweite Mal heute, dass du mich prügelst.«

»Unbewusst verlangst du danach. Aber findest du nicht auch, dass er wirkt wie eine Gestalt aus einem anderen Jahrhundert?«

»Ja, man kann sich nicht vorstellen, dass in seinem Unterricht irgendein Jugendlicher gewagt hätte, in zerrissenen Jeans aufzutreten.« Beck gab Sarah einen leichten Schubs Richtung Haustür.

»Wahrscheinlich hat er dann nur eine fein geschwungene Augenbraue hochgezogen, über seinen Kneifer geblickt und alle sind in Ehrfurcht erstarrt.« Sarah setzte sich langsam in Bewegung.

»Du hast zu oft die ›Feuerzangenbowle‹ gesehen.« Beck lachte. »Er scheint aber tatsächlich einen tiefen Eindruck bei seinen Schülern hinterlassen zu haben. Ich treffe häufig junge Männer im Flur, die ihn besuchen wollen.«

»Vielleicht sind es seine Söhne?«

Beck schüttelte den Kopf und zog Sarah in Richtung Treppenstufen. »Nein, er ist, glaube ich, nicht verheiratet. Zumindest wohnt keine Frau bei ihm, vielleicht ist er aber auch verwitwet.«

»Du meinst, er lebt ganz allein? Ob er kochen kann? Kaum vorzustellen, dieser feine Mensch mit einer Schürze vor dem Herd.« Sarah schien über die Maßen fasziniert zu sein von seinem eleganten Nachbarn.

»Ich glaube, seine Schwester macht ihm den Haushalt. Jedenfalls ist sie häufig bei ihm. Wir haben uns mal unterhalten, als ich eingezogen bin.«

»Ist sie genauso etepetete wie er?«

»Sie war sehr freundlich. Und ja, sie wirkte sehr gepflegt und ätherisch. Dieser Typ Frau, der aussieht, als könnte der leiseste Windhauch ihr eine Lungenentzündung bescheren.«

Sie traten aus der Haustür. Trotz der Kälte hing ein Hauch von Frühling in der Luft, dieser wunderbare Geruch nach feuchter Erde, die nach langem Schlaf beginnt, zum Leben zu erwachen. Beck atmete tief ein und zog Sarah an seine Seite. Sie schob ihre Hand durch seine Armbeuge und er legte einen Arm um ihre Hüften. Herrlich – bald kam der Frühling und er war ver… Er hatte eine wunderbare Frau kennengelernt. Das Leben konnte doch fantastisch sein.

*

Beck beobachtete aus seinem Wohnzimmerfenster, wie Sarah aus der engen Parklücke fuhr. Gar nicht so einfach mit ihrem Beetle und seinen riesigen Kotflügeln. Typisch Frau, sich ein Auto nur nach der Optik zu kaufen. Er grinste selbstironisch, als er an seinen Porsche dachte, den er vor ein paar Jahren schweren Herzens verkauft hatte, da der regelmäßig neidvolles Befremden bei seinen Berliner Kollegen ausgelöst hatte. Die angenehme finanzielle Unabhängigkeit, in die ihn das Erbe seiner Mutter versetzt hatte, ermöglichte ihm so einiges, was seinen Kollegen bei der Kripo verwehrt blieb. Er hatte gelernt, tiefzustapeln, um sich nicht zum Außenseiter zu machen.

Er warf einen letzten Blick auf das davonfahrende Cabrio und wandte sich vom Fenster ab. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es langsam Zeit wurde für die Probe, die ausnahmsweise an einem Sonntagabend stattfand. Obwohl er sehr glücklich war, in Braunschweig wieder eine Band gefunden zu haben, in der er Gitarre spielen konnte, verspürte er heute nur wenig Lust auf die üblichen Kalauer seiner Musikerkollegen (Na, Alter, sind die Eier noch warm?).

Viel lieber hätte er sich mit einem Glas Rotwein in seinen geliebten Ohrensessel gesetzt und über den gestrigen Abend nachgedacht. Die liebe Sarah hatte ihn ganz schön umgehauen, mehr, als er gedacht und beabsichtigt hatte.

Er zuckte mit den Schultern. Er würde es einfach auf sich zukommen lassen, jetzt ließ sich sowieso nichts mehr aufhalten. Und warum auch? Er hatte sich seit Monaten schon nicht mehr so gut gefühlt wie heute.

Pfeifend griff er nach seiner Les Paul und verstaute sie in seinem Gitarrenkoffer. All zu spät würde er es heute nicht werden lassen, die letzte Nacht machte sich jetzt doch bemerkbar. Man wurde nicht jünger. Länger als ein, zwei Stunden würde er heute nicht durchhalten, irgendeine Ausrede würde ihm schon einfallen.

Im Auto stellte er das Radio an. Duffy flehte mit rauchiger Stimme um »Mercy« und er grölte laut mit.

»I don’t know what you do, but you do it well!«

Wäre auch mal ein guter Song für die Band, nur hatte der gute Tom nicht ganz die sexy Ausstrahlung der blonden Waliserin. Aber vielleicht sahen das die Frauen ja anders, wer wusste das schon. Er konnte sowieso nie einschätzen, auf wen sie flogen und auf wen nicht.

Seine Exfreundin Ayana hatte regelmäßig Seufz-Attacken bekommen, wenn irgendwo John Bon Jovi zu sehen oder zu hören war. Nicht nachvollziehbar. Als er einmal aus ihr hatte herauskriegen wollen, was denn an dem Mann so Besonderes sei, hatte sie gelacht und gesagt: »Das fragt der Richtige. Guck mal in den Spiegel, ich habe dich nur genommen, weil du ihm ähnlich siehst.«

Grauenhafte Vorstellung. Er hasste Bon Jovis Schmuserock und der ständige Vergleich mit dem blonden Schönling machte die Liebe auch nicht größer.

Er fuhr auf den Parkplatz vor dem Schimmelhof, einem alten Werksgelände, an dem sich ihr Übungsraum befand. Im langen Kellerflur empfing ihn der typische Klangteppich einer Musikprobe: Gelächter mischte sich mit dem Klirren von Bierflaschen und den jaulenden Protesten einer Gitarre, die gerade gestimmt wurde.

Gut gelaunt riss er die schwere Metalltür weiter auf und rief seinen Kollegen einen Gruß zu. Tom hob die Bierflasche. »Na, gut drauf?«

»Klar, warum auch nicht?« Beck stellte seinen Koffer ab.

»Schöne Nacht gehabt, was?« Tom machte eine unmissverständliche Handbewegung.

Verwundert sah Beck auf. »Wieso, hast du in meinem Schlafzimmer eine Kamera installiert?«

»Das auch, aber ich habe dich vor deinem Haus gesehen mit einer Schnuckelmaus. Beine bis unter die Achselhöhlen. Ich hab dir aus dem Wagenfenster zugerufen, aber du warst anscheinend zu beschäftigt.« Tom grinste anzüglich.

Beck fuhr sich verlegen durch die Haare und lachte. Mit lautem Gejohle drückten die anderen ihre neidvolle Anerkennung aus. »Wenn du sie mal nicht mehr willst, ruf an, ich springe ein.«

»Danke für das Angebot, aber erst mal nicht.«

»Hört, hört, unseren Gio hat es aber schwer erwischt. Da sind die Eier aber heute heiß gelaufen, was?« Paul, der Bassist, legte sich sein Instrument zurecht.

War klar. »Können wir jetzt mal das Thema wechseln?« Beck hob abwehrend die Hand. »Was hast du eigentlich vor meinem Haus gemacht, du Spanner?«

»Ich habe was abgegeben für meine Patentante Dagi, guter Junge, der ich nun mal bin. Ihr Bruder wohnt in deinem Haus, Augustus. Du kennst ihn sicherlich.«

»Ach? Augustus von Düren ist dein Onkel?«

»Na ja, eigentlich nicht. Wir sind ja nicht blutsverwandt.«

»Und? Ein Gentleman mit ordentlich Kohle, was?« Beck stimmte nebenbei seine Les Paul.

»Ja, Geld ist ausreichend vorhanden. Was meinst du, warum ich immer so lieb zu Tante Dagi bin?« Tom lachte scheppernd und schüttelte fröhlich die braunen Locken. »Da gibt’s ordentlich was zu erben, bei den beiden. Und keine Kinder – nur der liebe, hilfsbereite Tom.«

Beck schüttelte missbilligend den Kopf. »Erbschleicher.«

»Aber klar doch. Der Erbschleicher hat übrigens einen Gig klargemacht, Ostersamstag im Jolly Jumper.«

»Hey, das ist ja super! Hoffentlich bin ich bis dahin so weit.« Beck verzog zweifelnd den Mund.

»Na klar, das schaffst du schon. Heute machen wir erst mal die Stücke, die wir für das Programm noch brauchen.«

»Und bring deine Maus zum Gig mit.« Panne kroch hinter sein Schlagzeug. »Dann wollen wir doch mal sehen, wer am Ende mit ihr nach Hause geht.«

»Hört euch den Dicken an.« Michael, der zweite Gitarrist, tippte mit dem Fuß auf seinem Effektgerät herum. »Der glaubt immer noch, dass er Chancen bei den Weibern hat.«

»Habe ich auch.« Panne klopfte sich zufrieden auf seinen nicht unbeträchtlichen Bauch, »die meisten Frauen stehen auf richtige Kerle und nicht auf solche Schönlinge wie Gio.«

»Also, bitte, ja …«

Ehe sich Beck ernsthaft zu seiner Verteidigung aufschwingen konnte, griff Tom ein. »Ach ja? Ich möchte mal die Frau sehen, die Meat Loaf nimmt, wenn sie Bon Jovi haben kann. Meine Schwester hat nämlich gesagt, du siehst aus wie der.« Tom wandte sich grinsend an Beck.

Der stöhnte. Kopfschüttelnd stöpselte er seine Les Paul in den Verstärker.

»Nimm’ s leicht.« Tom klopfte ihm mitfühlend auf die Schulter. »Stell dir vor, sie würden dich mit George Michael vergleichen, dann hättest du wirklich Grund, dich aufzuregen.«

»Obwohl – jetzt, wo du’s sagst …« Panne betrachtete Beck nachdenklich.

Der ließ entnervt seine Les Paul aufjaulen. »Halt die Klappe, Meat Loaf.«

Panne lachte und beendete die Diskussion mit einem Trommelwirbel.

*

Wie es wohl mit Sarah und ihm weiterging? Hm.

Müde schlenderte Beck durch seine Altbauwohnung und klimperte beiläufig auf seiner Gitarre, den Spott seiner Kumpel über seinen frühen Abgang noch in den Ohren (na, schon mal vorschlafen für die nächste heiße Runde? Gute Nacht, alter Mann). Er musste mehr üben, das war ihm auf der Probe peinlich bewusst geworden. Aber seit er Sarah kannte, war er stinkend faul. Er schien nur noch in irgendwelchen Betten herumzuliegen oder zu turnen, statt sich um sein musikalisches Fortkommen zu kümmern. Und sonst bekam er auch nicht viel gebacken. Missbilligend betrachtete er die zahlreichen kahlen Stellen an seinen Wänden. Vielleicht hätte er doch nicht alle Bilder bei seiner Ex lassen sollen? Schließlich waren die auch von seinem schwer erarbeiteten Geld bezahlt worden, auf zahlreichen kleinen Ausstellungen hatte er sie gemeinsam mit seiner Verflossenen nach und nach zusammengesucht.

Ob Sarah wohl Kunst mochte? Keine Ahnung, er wusste eigentlich noch nicht viel über sie, außer dass sie im Bett einfach eine Granate war. Da passten sie gut zusammen – aber sonst? Man würde sehen. Laut knurrend übertönte sein Magen die nicht verstärkte E-Gitarre und er stellte das Instrument resigniert auf sein Stativ.

Hungrig riss er den Kühlschrank auf und stierte hinein. Natürlich nichts, wie immer. Ob er noch mal losging? Irgendwo hier im östlichen Ringgebiet bekam er bestimmt noch eine warme Mahlzeit. Warum nur konnte er nicht einmal wie ein normaler Mensch für das Wochenende einkaufen? Je länger er darüber nachdachte, desto hungriger wurde er. Oder ob er den Pizza-Service anrufen sollte?

Neidisch dachte er an Sarah und ihr Schlösschen. Die saßen jetzt bestimmt um einen hübsch gedeckten Tisch und aßen irgendetwas Fantastisches aus Astas Küche.

Er stöhnte. Allein, einsam und hungrig, er war wirklich zu bedauern. Ein alternder Hagestolz, der nicht ordentlich für sich sorgen konnte. Vielleicht sollte er Sarah heiraten? Dann war seine Versorgung gesichert.

Er schüttelte den Kopf und zeigte sich selbst einen Vogel. Pfui, was war er nur für ein Opportunist. Heiraten für eine warme Mahlzeit, soweit kam es noch. Schließlich hatte er bei seinen Eltern gesehen, wohin so eine Ehe führen mochte. Zank, Hass, schlagende Türen, Geschrei, Trennung. Nein, danke.

Eilig warf er sich seinen Mantel über und ging in das dunkle Treppenhaus hinaus, um nach einem Restaurant zu suchen, das ihn vor dem Hungertod rettete. In der Wohnung über ihm fiel Licht durch die Glasscheibe der Wohnungstür bis hinunter auf die Stufen in seinem Stockwerk. Leise Klänge drangen an sein Ohr, ein melodischer Gruß aus dem Leben eines anderen. Er blieb stehen und lauschte.

Nein, das war kein Radio, da spielte einer Geige. Von Düren, sein Nachbar von oben. Wunderschön, der war richtig gut. Das Stück kannte er auch. Es war das Violinkonzert in E Moll von Mendelssohn-Bartholdy. Schwermütig und voller Sehnsucht.

Beck sank auf die oberste Stufe seines Treppenabsatzes und hörte zu. Wie schön das war. Seine Seele hob sich den Klängen entgegen, Traurigkeit stieg aus ihren Tiefen empor und füllte seine Brust.

Er atmete tief aus. Nein, das war nicht der Zeitpunkt.

Schnell stand er auf und verschloss sich gegen die schluchzenden Klänge der Violine. Man konnte nicht auf der Treppe sitzen und weinen wie ein trunkener Poet, weil einer Geige spielte.

Das ging einfach nicht. Wenn das einer sah.

*

Beck blickte Sarah tief in die Augen und setzte zu seinem Gitarrensolo an. Beflügelt durch ihre Bewunderung spielte er kreativer und dynamischer als jemals zuvor. Fast hatte er das Gefühl zu fliegen. Hinter ihm schien der Schlagzeuger eine ähnliche Empfindung zu haben, er drosch auf die Bassdrum, als wollte er vor dem Winter noch genügend Brennholz spalten. Irritiert wandte sich Beck in seine Richtung, um ihm zu signalisieren, er solle Lautstärke und Tempo mäßigen.

Aber der Mann hatte den Blick gesenkt und schien völlig von Sinnen zu sein. Seine Schläge folgten immer schneller und lauter, das Publikum schrie abwehrend und hielt sich die Ohren zu. Sarah wandte sich von der Bühne ab und lief nach draußen. Wütend brach Beck sein Solo ab und ging auf das Schlagzeug zu, um dem Drummer die Sticks aus der Hand zu reißen. Ausgerechnet bei dem ersten Konzert seiner Band, das Sarah miterlebte, musste der Kerl seinen Verstand verlieren. Außer sich vor Wut legte er dem Schlagzeuger eine Hand auf den Arm. Der zuckte zusammen und hörte endlich auf zu spielen. Seltsamerweise schlugen die Drums trotzdem weiter.

Beck schlug die Augen auf und fand sich in seinem Schlafzimmer wieder. Er tastete nach seinem Wecker und starrte auf die Anzeige. Kurz vor halb acht. Benommen setzte er sich auf und versuchte das Geräusch einzuordnen, das immer noch in seinen Ohren dröhnte. Jemand schlug an seine Wohnungstür und klingelte Sturm. Er sprang aus dem Bett und stieß dabei das Wasserglas um, das er auf seinem Nachttisch stehen hatte. Fluchend suchte er im Halbdunkel des Zimmers nach seinem Bademantel und warf ihn über. Er hastete durch seinen Flur und schloss die Wohnungstür auf. Eine kleine, rundliche Frau, die ihm vage bekannt vorkam, ließ die erhobene Hand sinken und starrte ihn an.

»Herr Kommissar, schnell, Sie kommen, er ist tot, ich glaube.« Ihr schwerer Akzent zerhackte die Worte in slawischer Schwermut. Verwirrt schüttelte Beck den Kopf und versuchte wach zu werden. »Wer? Wer ist tot?«

»Herr von Düren, schnell!«

*

Das verzweifelte Schluchzen der Putzfrau riss Beck aus seiner Erstarrung. Er wählte eine Nummer auf seinem Handy. »Beck hier. Kommen Sie in die Fasanenstraße 41, ich habe hier eine Leiche aufgefunden. Ja, bei mir im Haus. Nein – erstickt. Wahrscheinlich ein Raubüberfall. Bis gleich.«

Die Eleganz des ehemaligen Studienrates war im Todeskampf einer grotesken Verzerrung seines lebendigen Ichs gewichen. Die verdrehten Gliedmaßen waren fest an einen Stuhl gefesselt, der leicht gekippt auf einem schweren viktorianischen Tisch auflag. Wahrscheinlich hatte von Düren in seinen letzten bewussten Momenten versucht, mit Hilfe der Tischkante das Klebeband von seinem Mund zu entfernen. Vergeblich, das schwarze Kreuz des Isolierbandes verschloss in unerbittlicher Beständigkeit Lippen und das linke Nasenloch.

Beck ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Schwere, kostbare Antiquitäten aus dunklem Mahagoni ließen auf eine sehr gute Pension oder ein persönliches Vermögen schließen. Hier war für einen Einbrecher sicher etwas zu holen gewesen. Schubladen waren herausgerissen und durchwühlt worden.

Beck trat näher an eine Vitrine und inspizierte die davor liegenden Schubfächer. Die Besteckkästen waren leer. Sicher hatte sich schweres Silberbesteck darin befunden.

»Wer tut so etwas? Er war guter Mann!«

Mein Gott, die arme Frau war immer noch im Zimmer. Beck trat zu ihr und führte sie sanft in die gegenüberliegende Küche. Er nahm ein Glas aus einem hübschen Buffet und füllte es mit Leitungswasser. »Setzen Sie sich und trinken Sie etwas.«

Er wartete einen Moment, bis die kleine Frau getrunken und sich die nassen Augen getrocknet hatte. »Wie heißen Sie?«

»Kowalska, Irrrina. Ich bin Putzfrrrau bei Herrn von Dürrren.«

»Wann haben Sie ihn gefunden?«

»Gerrrade eben, bevor ich Sie hole. Ich errrst gedacht, dass er noch lebt, aber …«, ihre Stimme brach und sie zog ihr Taschentuch wieder aus der Kittelschürze.

»Kommen Sie immer montags zu Herrn von Düren?«

»Ja und an Donnerrrstag. War so ein netter Mann, immer frrreundlich.«

Ein melodischer Klingelton schien die Trauer der Frau zu verspotten. »Das werden meine Kollegen sein, entschuldigen Sie.« Er hastete über den Flur und riss die Tür auf.

»Neue Arbeitskleidung?« Kollege Wagner ließ seinen Blick abschätzig über Becks Gestalt gleiten. Die beiden Beamten hinter ihm grinsten.

»Ja, nun, ich hatte noch keine Zeit, mich anzuziehen.«

Konnte der Mann einem nicht erst mal einen guten Morgen wünschen? Beck trat beiseite und ließ die Kollegen vorbei. Ein Blick in den Flurspiegel zeigte ihm einen igelhaarigen Penner mit starkem Bartschatten und schlampig zugebundenem Morgenmantel. Den stylishen Höhepunkt des Outfits bildeten die ledernen Pantoffeln, die haarige, weiße Knöchel sehen ließen. Beeindruckend. Er richtete seinen Mantel notdürftig und folgte den Männern in das Wohnzimmer.

Wagner beugte sich über die Leiche. »Tja, ist wohl ein bisschen in die Hose gegangen, der Einbruch.«

»Ja, sieht ganz so aus. Ich denke nicht, dass der Tod beabsichtigt war. Wann kommt der Arzt?«

Wagner feixte. »Ärztin. Rosi kommt.«

Beck stöhnte. Dr. Rosengarten war sehr hübsch, sehr kompetent und sehr, sehr direkt. »In der Küche sitzt die Putzfrau. Die hat ihn gefunden. Ich zieh mir mal schnell was an.«

»Och, warum denn? Rosi hätte sich bestimmt gefreut. Einen Kommissar im Negligé, das ist doch mal was. Vor allem so ein hübscher.« Wagners Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass dies keineswegs als Kompliment gedacht war.

Arschloch. »Freut mich, dass ich Ihnen gefalle.« Beck drehte sich hastig um und stieß gegen eine zierliche Frau mit langen, rabenschwarzen Haaren. Er lächelte resigniert. »Warum müssen Sie die einzige Frau unter der Sonne sein, die mit ihrer Morgentoilette eher fertig ist als ich?«

»Ich bin schon seit zwei Stunden unterwegs, lieber Herr Beck.« Dr. Rosengarten zog die kühn geschwungenen Augenbrauen hoch und musterte Beck. »Netter Mantel. Vielleicht ein bisschen kühl für die Jahreszeit.«

Wagner lachte krächzend.

»Finden Sie? Ich hab’s gern ein bisschen luftig.«

Der Blick der Ärztin wurde intensiver. »Haben Sie eigentlich darunter was an?«

»Ich …« Beck fehlten die Worte. Die Männer im viktorianischen Zeitalter hatten gar nicht gewusst, wie gut es ihnen ging.

»Dürfte ich Ihre geschätzte Aufmerksamkeit vielleicht einen kleinen Augenblick in Anspruch nehmen? Wir haben hier eine Leiche, die beschaut werden möchte. Lästig, zugegeben, aber doch notwendig.«

Zum ersten Mal war Beck dankbar für Wagners schneidende Kommentare. Er murmelte eine Entschuldigung und hastete in das Treppenhaus.

In Zukunft würde er sich nur noch voll bekleidet ins Bett legen.

2. Kapitel

Sarah nahm die Kiste mit den Materialien für ihren Unterricht aus dem Kofferraum und schleppte sie die Stufen zur Eingangshalle der kleinen Dorfschule hoch. Eine Schande, dass sie die kurze Strecke vom Hof bis zur Schule mit dem Auto fuhr, aber meistens hatte sie zu viel Gepäck dabei, um mit dem Fahrrad fahren zu können. In Berlin war sie häufiger Rad gefahren als hier auf dem Lande. Ziemlich paradox. Sie summte leise die Melodie, die ihr seit dem Aufstehen durch den Kopf ging: »Du bist das Beste, was mir je passiert ist …« Tja, wie das wohl in ihren Kopf gekommen war.

Sie stieß mit dem Fuß die Glastür zu dem kleinen Flur auf, in dem sich ihr Büro befand. Vor ihrer Tür stand eine Frau mit einem schwarzhaarigen Jungen, den sie nicht kannte. Ein neuer Schüler? Sie seufzte leise. Eigentlich hatte sie gehofft, ausnahmsweise in Ruhe die Medien für den Sachunterricht in ihrer vierten Klasse ordnen zu können, aber das schien nun nichts zu werden.

Sie nickte der Frau freundlich zu und stellte ihre Kiste ab, um ihr Büro aufzuschließen. »Guten Morgen. Möchten Sie zu mir? Ich bin Sarah Dittmann, die Schulleiterin.«

Die junge Frau, trotz der morgendlichen Stunde stark geschminkt, nickte und streckte Sarah eine perfekt manikürte Hand entgegen. »Ich möchte meinen Sohn anmelden.«

Sarah bat die beiden herein und bot ihnen Platz an ihrem runden Besuchertisch an, der wie immer mit zahlreichen Unterlagen, Prospekten und Büchern bedeckt war. Sie schob alles so gut es ging an die Seite und sah den Jungen an. Der saß unbehaglich auf die Stuhlkante gekauert und mied ihren Blick.

»Wie heißt du denn?« Sarah konnte das Unbehagen des Kindes gut nachempfinden, es musste scheußlich sein, in diesem Alter aus seiner gewohnten Umgebung gerissen zu werden, mit der Aussicht, für eine ungewisse Zeit mit dem Brandzeichen ›der Neue‹ auf der Stirn über den Schulhof zu gehen.

Die Frau schubste ihren Sohn leicht in die Seite. »Nun sag schon, wie du heißt.«

Der Junge schob die Unterlippe vor und schwieg.

»Lassen Sie ihn nur. Das ist kein einfacher Tag für ihn. Er wäre sicher lieber an seiner alten Schule geblieben.«

Für einen Moment hob der Junge den Blick und sah Sarah aus tiefschwarzen Augen an. Wäre er nicht noch ein Kind gewesen, hätte Sarah seinen Blick zynisch genannt.

Die Frau schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Er geht nicht gern zur Schule, in keine.«

Sarah holte ein Blatt Papier aus dem Drucker, um sich Notizen machen zu können. »Verraten Sie mir seinen Namen, wenn er es schon nicht tun mag?«

»Farid. Farid Askari.«

»Ein ungewöhnlicher Name.«

»Sein Vater ist Iraner.« Ein leichtes Zucken der Mundwinkel ließ erahnen, was die Mutter des Jungen vom Erzeuger ihres Sohnes hielt.

»In welche Schule ging Farid bisher und in welche Klasse?«

Die Frau nannte eine Grundschule in der Braunschweiger Weststadt. »Er geht in die vierte. Aber seine Klassenlehrerin meinte, dass er die wahrscheinlich nicht schafft. Er muss sich mehr anstrengen, hat sie gesagt.«

Farid senkte den Kopf tiefer und verbarg seine Augen hinter den rabenschwarzen Locken.

»Wir werden sehen. Du kommst in meine Klasse, Farid. Es sind nette Kinder, du wirst dich bestimmt dort wohlfühlen.«

Wieder ein kurzer Blick unter den Locken hervor. Du kannst mir viel erzählen, schien er zu sagen. Sarah lächelte den Jungen mitfühlend an, sagte aber nichts mehr zu ihm.

»Wann sind Sie hierhergezogen?«

Die Mutter zögerte und warf ihrem Sohn einen Seitenblick zu. »Eigentlich schon vor zwei Wochen, aber …«

Der Junge sank in seinem Stuhl zusammen.

»Er wollte nicht in die Schule gehen?«

Die Frau nickte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Es ist so schwierig mit ihm. Manchmal weiß ich nicht weiter. Ich habe keine Ahnung, was mit ihm los ist. Als Kleinkind war er völlig unproblematisch.«

Farid rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

Sarah warf einen Blick auf ihre Uhr. »Wir müssen einen Termin unter vier Augen ausmachen, Frau Askari.«

»Dorenkamp. Ich habe meinen Mädchennamen wieder angenommen.«

»Frau Dorenkamp. Ich möchte Farid das Klassenzimmer zeigen und ihn seinen Mitschülern vorstellen, bevor der Unterricht beginnt.« Sie wandte sich direkt an den Jungen. »Du hast in der ersten Stunde Musik. Magst du Musik?«

Ein kurzes Achselzucken war die Antwort.

»Er mag Musik. Er singt wie ein Engel, schon von klein an. Von mir hat er das nicht, ich bin völlig unmusikalisch.« Frau Dorenkamp blickte ihren Sohn mit einem schmerzlichen Lächeln an und rang die Hände mit den blutrot lackierten Nägeln. Wenn sie auf eine Reaktion wegen ihres Lobs gehofft hatte, wurde sie enttäuscht, ihr Sohn verzog keine Miene, sein Blick blieb starr auf den Boden gerichtet.

Sarah reichte der Frau entschlossen ihre Hand, bemüht, die quälende Situation zu beenden. »Wie sieht es aus? Können Sie heute Mittag kommen, nach der Schule, so etwa gegen zwei?«

Frau Dorenkamp nickte und beugte sich zu ihrem Kind herunter. »Farid, ich gehe jetzt. Bis heute Mittag, ja?«

Ihr Sohn drehte den Kopf zur Seite, um ihrem Blick auszuweichen. Seine Mutter erhob sich und zuckte resigniert mit den Achseln. »Bitte, könnten Sie darauf achten, dass er sein Brot isst? Von allein isst er nicht und er ist sowieso schon viel zu dünn.«

»Natürlich, keine Sorge.« Sarah tat die Frau zwar leid, aber sie öffnete dennoch die Tür, um den Abschied einzuleiten.

»Bis heute Mittag.« Frau Dorenkamp zögerte, hoffte auf einen Blick ihres Sohnes, doch der tat ihr den Gefallen nicht.

Sarah legte eine Hand auf Farids Schulter. »Komm, ich bringe dich in deine Klasse.« Mitleidig fühlte sie die schmalen Schultern, die vor Anspannung verkrampft waren. Sie führte ihn den Flur entlang, sein schmaler Rücken starr vor Abwehr gegen ihre führende Hand. Vor der Klassentür blieb sie stehen und hockte sich vor den Jungen. »Farid, wie kommt es, dass du die Schule nicht magst?«

Der Junge schwieg und hob den Blick. Sie zuckte unwillkürlich vor der Wucht seines schwarzen Blickes zurück. Der Hass in seinen Augen schien schmerzhafte Male auf ihrer Haut zurückzulassen. Der Junge war zehn Jahre alt.

Was war ihm zugestoßen?

*

Beck schloss die Mappe mit dem vorläufigen Bericht der Spurensicherung und schüttelte den Kopf. Warum bloß schlossen die Leute ihre Haustür niemals ab? Es hätte sich doch eigentlich inzwischen herumsprechen müssen, dass jeder halbwegs fähige Einbrecher in der Lage war, ein Schloss zu knacken, das nicht entsprechend gesichert war. Ein zweimaliges Drehen des Handgelenkes – und von Düren könnte noch am Leben sein.

Unklar war noch der Zeitpunkt des Einbruchs. Der Tod dürfte wenig später eingetreten sein. Rosis Bericht würde frühestens morgen vorliegen.

Es musste schrecklich sein, zu ersticken. Wie lange hatte von Düren noch gehofft, gekämpft, gezappelt? Wann hatte der Einbrecher gemerkt, dass er einen Menschen umgebracht hatte? Hatte er es überhaupt bemerkt?

Es konnte nur nachts geschehen sein, obwohl ein Einbrecher entgegen der landläufigen Meinung selten in der Dunkelheit kam. Und gegen Abend hatte er selbst von Düren ja noch Geige spielen hören. Wann war das gewesen? Zwischen sieben und acht, er war ja nicht lange bei der Probe gewesen. Mittags hatte er ihn sogar noch gesehen, nicht wissend, dass es das letzte Mal sein würde.

Hatte der Einbrecher womöglich vor der Tür im Auto gesessen, das Haus beobachtet, als er auf der Suche nach einer warmen Mahlzeit das Haus verlassen hatte? Möglich, aber unwahrscheinlich. Wahrscheinlich hatte der Einbruch viel später stattgefunden.

Wieso hatte sich der Einbrecher einen Zeitpunkt ausgesucht, zu dem der alte Herr mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit zu Hause sein musste? Alte Menschen lagen nachts nun mal schlafend im Bett und zogen nicht um die Häuser. Ungewöhnlich.

Die meisten Diebe vermieden diese Situation. Dem Ganoven musste viel an seiner Beute gelegen haben. Warum war er nicht einfach geflüchtet, als er merkte, dass er nicht allein in der Wohnung war oder der Alte aufgewacht war? Die Kaltblütigkeit, einen Menschen zu fesseln und zu knebeln, um dann in aller Ruhe die Wohnung auszuräumen, besaßen nur wenige Diebe.

Beck runzelte die Stirn. Irgendetwas war hier nicht stimmig, jedenfalls hatte der Einbrecher gegen einige Regeln der Zunft verstoßen. Hatte er verheißungsvolle Informationen über den Umfang der Beute gehabt? Von wem?

Beck dachte an die jungen Männer, die häufig bei von Düren zu Besuch gewesen waren. Vielleicht hatte einer seiner Schüler Geld gebraucht und das Vertrauen seines ehemaligen Lehrers missbraucht? Er setzte sich elektrisiert auf. Das war es! Natürlich! Wahrscheinlich hatte von Düren seinem Mörder noch freundlich lächelnd die Tür aufgemacht!

Nein, das konnte nicht sein. Am Schloss waren Spuren von Werkzeugen zu sehen gewesen. Dennoch. Er musste sofort in Erfahrung bringen, wer die Besucher waren. Beck griff zum Telefon, um von Dürens elfenhafte Schwester anzurufen. Trauer hin und her, das musste jetzt leider sein.

Die Tür ging auf und Pumuckl, seine Sekretärin – mit bürgerlichem Namen Cosima Levandowski – steckte den signalroten Wuschelkopf durch den Spalt. »Ich wollte nur sagen – die neue Espressomaschine ist eben gekommen.«

Beck ließ den Hörer sinken. »Gelobt sei der Herr! Sollte die Ära des säurehaltigen Pappkaffees tatsächlich vorbei sein?«

Pumuckl grinste und blinkerte mit den metallisch grünen Augenlidern. »Sieht ganz so aus, Chef! Wollen wir sie ausprobieren?«

»Fragen Sie das im Ernst? Auf diesen Tag warte ich, seit ich mir hier das erste Mal den Magen verätzt habe! Ich muss nur noch jemanden anrufen, dann kann’s losgehen.«

Becks Laune hatte sich schlagartig gehoben. Das waren die Freuden des Alters: Ein magenschonender Kaffee und eine funktionierende Prostata.

*

Nachdem die Tür hinter Farids Mutter ins Schloss gefallen war, nahm Sarah ihre Schultasche vom Schreibtisch und sah auf den verwaisten Schulhof hinaus. Im Wind schwang die Schaukel leise hin und her, als säße immer noch ein Kind auf ihr, unsichtbar, eine vergessene Seele. Ein kleiner Schauder ran eisig ihren Rücken hinunter und sie wandte sich hastig ab.

Wenn sie doch nur in ihre Kinder hineinsehen könnte, in ihre Herzen. Sie dachte an die Verzweiflung der Mutter über ihr Kind, das keines mehr war. Irgendwo auf seinem kurzen Lebensweg hatte Farid sein Vertrauen verloren, die kindliche Zuversicht, willkommen und geliebt zu sein. Er ließ Sarah nicht an sich heran, auch seine Mitschüler hatte er keines Blickes gewürdigt. Mit unbewegter Miene hatte er heute stumm und teilnahmslos ihren Unterricht verfolgt, kein Scherz, kein Lächeln in seine Richtung hatte irgendeine Wirkung gezeigt. Würde Farid ihr eines Tages vertrauen? Oder war die Verletzung zu groß, die Wunde zu tief, die irgendetwas, irgendjemand ihm geschlagen hatte? Sie seufzte und ging zu ihrem Wagen. Heute würde sie nichts mehr bewegen können.

Gedankenverloren fuhr sie durch Avessen. Ihr Wagen kannte den Weg und fuhr brav die von hübschen Fachwerkhöfen gesäumte Straße entlang. Über den Häusern erhob sich sanft geschwungen der Elm, seine Buchen noch im silbrig kahlen Winterkleid. Eine italienische Sonne strahlte von einem leuchtend blauen Himmel und ließ die bevorstehende Verwandlung durch den Frühling bereits ahnen.

Ein Glücksgefühl ließ ihre Brust weit werden. Bald war Frühling und sie war verliebt – nein, verknallt. Mehr würde sie einfach nicht zulassen.

Schwungvoll bretterte sie auf den Schlosshof und hätte fast Muffin überfahren, die sorglose Golden-Retriever-Hündin ihrer Tante Asta. Schimpfend stieg Sarah aus und kraulte die Todeskandidatin hinter den Ohren. »Hast du überhaupt keine Instinkte? Man sollte doch meinen, dass ein normaler Hund wegläuft, wenn ein Auto auf ihn zufährt.«

Dümmlich grinsend ließ Muffin ihre Zunge seitwärts aus dem Maul hängen und stellte eindeutig klar, dass es sich bei ihr um keine normale Vertreterin ihrer Rasse handelte.

Sarah schüttelte den Kopf und lud ihre Reisetasche aus dem Auto. Sie umrundete das Rondell mit den Rosenbüschen, die anklagend ihre dornigen Finger in den Himmel reckten. Eine der nackten Putten, die inmitten der Rosen froren, hatte einen Flügel verloren, wahrscheinlich durch den Frost. Verwittert, verfallen, vermodert, wie alles hier im Schloss.

Seufzend nahm sie die Tasche in die andere Hand und ging, schon weniger beschwingt als zuvor, weiter über den Hof auf das Haupthaus des Schlösschens zu, in dem sie wieder wohnte, seit sie aus Berlin nach Avessen zurückgekehrt war.

Auch hier sickerte der Verfall aus allen Rissen im gelben Putz des Schlosses, ein grüner Fensterladen hing schief, die Treppe zur Halle musste unbedingt ausgebessert werden, die Stufen waren lebensgefährlich. Über das riesige, tief heruntergezogene Dach des alten Barockschlosses mochte Sarah erst gar nicht nachdenken, ständig wurde daran herumgebessert und doch war es nie wirklich dicht.

Trotzdem, immer wenn sie über einen Verkauf nachdachte, zog sich ihr Herz zusammen. Sentimental und unvernünftig wahrscheinlich, aber sie hing an dem alten Gemäuer, genau wie Luise und Asta, ihre Tanten, mit denen sie den morbiden Charme dieser Behausung teilte.

Sie ging durch die große, kalte Halle, die von einem riesigen Lüster nur notdürftig erhellt wurde, in ihr Schlafzimmer und stellte die Reisetasche ab. Kalt.

Bibbernd zog sie eine dicke, graue Strickjacke aus dem Schrank und eilte in ihre Küche im Untergeschoss des Schlosses. Wie immer ließ sie die Stufe mit dem dunklen Fleck aus, der Legende nach Blut eines ermordeten Butlers. Sie hätte gern geglaubt, dass es in Wirklichkeit Sonnenblumenöl war, aber an alten Legenden war doch meistens etwas dran, oder?

Schreiend wich Sarah auf die Treppe zurück, als sich die schwere Küchentür knarrend öffnete. »Asta! Mein Gott, hast du mich erschreckt! Was machst du denn hier?«

»Kind, was bist du schreckhaft! Hast du wieder den ganzen Tag nichts gegessen? Das ist doch nicht gut für die Nerven!« Ihre Tante Asta führte alle Gemütszustände auf Mahlzeiten, deren Qualität oder deren Abwesenheit zurück.

»Ne, seit dem Frühstück nichts mehr.« Sarah presste eine Hand auf ihr klopfendes Herz und atmete aus.

»Dann komm mit rüber, ich habe gerade ’ne Quiche im Ofen. Ich dachte, du hättest vielleicht noch Reibekäse, aber natürlich Fehlanzeige. In diesem Haus würde ja nie eine was essen, wenn ich nicht ab und zu für Nahrungsmittelzufuhr sorgte.« Missbilligend schüttelte Asta ihre hennaroten Flechten und rückte ihren langen violetten Wollrock zurecht.

»Ja, das sieht man ja hier …« Sarah klopfte sich auf ihre Hüften. »Keine Sorge, ich verhungere bestimmt nicht, dafür bin ich viel zu verfressen. Nur wenn ich mit Giovanni zusammen bin, vergesse ich das Essen manchmal.« Sie lächelte ihre Tante an.

»Ja, ich kann es mir vorstellen. Hach. Ich weiß gar nicht mehr, wie das ist, einen Mann zwischen meinen Beinen zu haben.«

»Asta!«

»Ja, was, Asta? Glaubst du, bloß weil ich die 50 überschritten habe, schwitze ich mir alles aus? Ich bin noch nicht tot, weißt du? Ein, zwei Hormone wallen schon noch in mir herum!«

»Ja, bestimmt, aber das will ich gar nicht wissen. Du bist doch die heilige Asta, Heilerin und Tantenmutter.«

»Tantenmutter …« Asta seufzte und betrachtete sich in dem riesigen, üppig mit Gold umrahmten Spiegel, der in der eisigen Halle hing. »Schöner Nachruf. Sie hatte keinen Sex, aber sie war eine gute Tantenmutter.«

»Na ja. Sex ist auch nicht alles. Ich darf gar nicht darüber nachdenken, wie es wohl weitergeht mit Giovanni und mir.«

*

Wagner pfiff anerkennend durch die Zähne, als das repräsentative Haus hinter hohen Buchsbaumhecken sichtbar wurde. »Scheint ja nicht gerade arm zu sein, die Familie derer von Düren.«

»Ne. Wer sich in Riddagshausen auch nur einen Bretterverschlag leisten kann, dürfte sicher nicht von Hartz Vier leben.« Beck ließ den Blick über die gepflegte, pfirsichfarbene Fassade des säulengeschmückten Gebäudes gleiten, in dem von Dürens Schwester wohnte. Hübsch. Hier würde er auch gern leben. Stadtnah und trotzdem mitten in der Natur. Zwar war das ehemalige Dörfchen Riddagshausen das regelmäßige Wochenendziel ganzer Völkerscharen, aber wenn man sich hinter diesen dichten Hecken verkriechen konnte, war das ja nicht weiter störend.

»Kommen Sie?« Wagner stand schon vor der Haustür und trappelte ungeduldig mit den Füßen.

»Ja.« Mein Gott, dieser Mann hatte wirklich überhaupt keine Geduld. Wie gut, dass er nicht mit Wagner in den Urlaub fahren musste, der würde bestimmt von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten hetzen. Er grinste, als er sich mit Wagner traulich im Hotelbett liegen sah. Na, Schatz, hast du gut geschlafen?

Wie kam er bloß auf so etwas? Wenn überhaupt, fuhr er vielleicht mit Sarah in den Urlaub. Oder war das noch zu früh? Wohin sie wohl …

»Herr Beck?« Wagner zog genervt eine Augenbraue hoch.

»Ich komme.« Beck eilte die Stufen empor und verschob seine Urlaubsplanung auf später.

Auf Wagners Klingeln öffnete eine zierliche Dame die Tür und nickte freundlich auf Becks Gruß hin. Zu seiner Erleichterung wirkte sie trotz des Unglücks völlig gefasst.

»Ach, die Herren von der Polizei. Kommen Sie doch herein.« Sie strich den Rock ihres zartgelben Kostüms glatt und trat zur Seite. Ein langer, dunkler Flur ließ am Ende einen sonnendurchfluteten Raum nach Süden ahnen. Sie ging voraus und wies auf eine Sitzgruppe mit Blick in den noch frühlingsnackten Garten. Ein sorgfältig gedeckter Tisch mit drei Gedecken lud zur Teestunde.

»Nehmen Sie doch Platz. Ich habe ein wenig Tee und Gebäck vorbereitet, wenn es Ihnen recht ist?«

»Gern.« Beck nahm neben Wagner auf einem Biedermeiersofa Platz, das mit steiler Rückenlehne jeden Besucher in eine aufrechte Haltung zwang. Die Damen mit den Fischbeinkorsagen waren bestimmt dankbar dafür gewesen, Beck war es nicht. Er fühlte sich wie ein Schuljunge auf Besuch bei der Erbtante.

»Sie leben allein hier, Frau von Düren?«

Die kleine Frau nickte energisch, was jedoch keine der sorgfältig gelegten weißen Wellen in Bewegung brachte. »Ja, es ist mir lieber so. Augustus liegt – lag mir immer in den Ohren, ich sollte jemanden mit ins Haus nehmen, eine junge Frau, die mir zur Hand geht. Aber ich möchte das nicht. Nicht, solange ich noch gut allein zu recht komme. Ich habe eine Zugehfrau, das reicht.« Sie schenkte mit sicherer Hand Tee aus einer silbernen Kanne in die Tassen. »Ein wenig Gebäck?«

Sie reichte einen Teller mit kunstvoll verzierten Petits Fours herum, die Becks Magen mit lautem Knurren begrüßte. »Verzeihung. Das Frühstück ist schon ein bisschen her.«

Frau von Düren lächelte mitleidig. »Ja, Sie haben bestimmt zu viel zu tun, um regelmäßig an das Essen zu denken.«

»Sie haben Ihrem Bruder den Haushalt geführt?« Wagner hatte mal wieder genug vom Vorgeplänkel und brach durch die Tür.

»Nun, das wäre zu viel gesagt. Ich habe hin und wieder nach dem Rechten gesehen, den Kühlschrank geleert, die Tischwäsche zur Heißmangel gebracht, all diese Dinge, für die Männer nun mal keinen Sinn haben.«

»Haben Sie auch für ihn gekocht?« Beck meinte sich zu erinnern, dass sie bei ihrem zufälligen Treffen im Treppenhaus so etwas erwähnt hatte.

»Ab und zu. Im Allgemeinen ging Augustus lieber aus zum Essen. Wir alten Leute müssen sehen, dass wir aus dem Haus kommen, hat er immer gesagt. Das sorgt für Disziplin und Reinlichkeit.« Sie lachte wehmütig und erstmals schimmerte eine Träne in ihren Augen auf. »Das war ihm sehr wichtig.«

»Ja, das kann ich mir denken. Er war ein auffallend gepflegter Mensch.« Beck zögerte einen Moment. »Er hatte häufig Besuch von jungen Männern.«

»Ja. Ehemalige Schüler. Sie hingen sehr an ihm.« Sie biss zierlich in ein Gebäckstück.

»Das mag sein – ich finde es dennoch ziemlich ungewöhnlich, dass so junge Männer regelmäßige Besuche bei ihrem alten Lehrer machen.«

»Was wollen Sie damit sagen?« Frau von Düren legte das angebissene Petit Four auf ihren Teller zurück.

»Gar nichts. Ich hoffte, Sie hätten eine Erklärung dafür.«

»Mein Bruder war nicht homosexuell, falls Sie darauf anspielen.« Eis klirrte in der mädchenhaften Stimme Frau von Dürens.

»Nun, das wollte ich auch nicht unbedingt andeuten. Kennen Sie die ehemaligen Schüler, zu denen ihr Bruder Kontakt hatte?«

»Ja. So viele waren es auch gar nicht. Drei sind es und sie stammen alle aus der letzten Klasse meines Bruders. Da ist es doch verständlich, dass er vielleicht ein bisschen mehr an ihnen hing als an all den Jungs, die früher durch seine Hände gegangen sind – im übertragenen Sinne, natürlich.«

»Jungs? Hat Ihr Bruder denn keine Mädchen unterrichtet?« Beck rechnete nach. Nein, die Zeit der Jungengymnasien und Mädchenlyzeen lag zu lange zurück.

»Früher war es so. In seiner Anfangszeit als Studienrat hat er an einem Jungeninternat unterrichtet. Dieser Zeit hat er immer hinterhergetrauert. Mit Mädchen konnte er nicht viel anfangen. ›Mir fehlt der Zugang zu diesen kichernden Parfümwolken‹, hat er immer gesagt.«

»Hat Sie das nicht geärgert? Sie waren doch auch einmal ein Mädchen.«

Sie lächelte. »Mich und unsere Schwester hat er natürlich von dieser Einschätzung des weiblichen Geschlechts ausgenommen.«

»Sie haben eine Schwester?«

»Hatte. Sie ist schon vor vielen Jahren … gestorben.« Abwehr lag in ihrer Stimme und Traurigkeit. Es war sicher beängstigend, als einzige von drei Geschwistern noch am Leben zu sein.

»War ihr Bruder jemals verheiratet?« Wagner hatte seine Petits Fours verspeist und war wieder gesprächsfähig.

Frau von Düren lachte silbern auf. »Augustus und eine Frau? Nein, niemals hätte er einer Ehefrau Rechte in seinem Leben zugestanden. Dabei hat es ihm an Verehrerinnen wirklich nicht gemangelt, selbst als älterem Herrn nicht.«

»Und dennoch schließen Sie Homosexualität aus?« Wagners Tonfall ließ keinen Zweifel an seiner persönlichen Sicht dieser Tatsache.

»Völlig.« Frau von Düren richtete sich kerzengerade auf.

»Hm. Wir benötigen die Namen und Adressen der drei jungen Männer, die noch Kontakt zu Ihrem Bruder hatten.«

»Warum? Keinem von ihnen ist ein Mord zuzutrauen.« Ihre Stimme zitterte ein wenig und sie faltete die Hände im Schoß.

»Sicherlich war auch kein Mord beabsichtigt. Ihr Bruder war nicht unvermögend. In seiner Wohnung befinden sich zahlreiche wertvolle Gegenstände, auch jetzt noch, nach dem Einbruch.«

»Sie meinen …?«

»Jemand könnte sein Vertrauen missbraucht haben, ja.«

»Nun – der eine ist der Sohn des Bürgermeisters, Gabriel Oppermann.«

Beck unterdrückte ein Stöhnen. Konnte er einmal einen Fall abwickeln, ohne der Prominenz auf die Füße zu treten?

»Ein anderer hieß Bela Fröhlich, ein einprägsamer Name, und Philipp … Karsten, Kasten oder so ähnlich.« Sie runzelte die zarte Stirn.

»Das bekommen wir heraus. Ich muss Sie auch bitten, uns eine Liste der Gegenstände anzufertigen, die in der Wohnung Ihres Bruders fehlen.«

»Oh Gott.« Jetzt rang die kleine Frau doch um Fassung. »Muss das sein?«

»Ich fürchte, ja. Wir haben sonst niemanden, der den Besitz Ihres Bruders gut genug kennt.«

»Nun gut. Wann?«

»So bald wie möglich. Heute noch, oder gleich morgen früh. Das ist sehr wichtig für unsere Ermittlungen. Meistens tauchen gestohlene Dinge irgendwo wieder auf und geben uns Hinweise auf den Dieb.«

Sie nickte ergeben, das Grauen angesichts der vor ihr liegenden Pflicht war ihr deutlich anzusehen.

Beck warf Wagner einen Blick zu und erhob sich. »Es tut mir leid, Frau von Düren. Ich möchte Ihnen noch einmal mein aufrichtiges Beileid aussprechen.«

Sie stand auf und begleitete die beiden Beamten zur Tür. »Morgen. Ich möchte morgen die Wohnung meines Bruders durchsehen, meine ich. Gleich morgen früh.« Sie straffte den Rücken und blickte Beck an.

»Natürlich, wenn Sie es so möchten, können wir es einrichten.« Beck blickte sie mitfühlend an. Arme Frau.

Ein kurzes Nicken, dann schloss sich die schwere Tür vor Becks Nase.

»Die war ja sehr gefasst, wenn Sie mich fragen.« Wagner klang missbilligend. Aber das tat er ja meistens.

»Contenance, Contenance. Sie ist nicht die Sorte Frau, die vor wildfremden Menschen weinend zusammenbricht.«

»Trotzdem. Nicht, dass ich meine Schwester besonders leiden könnte, aber wenn sie umgebracht würde – da wäre ich schon etwas mehr aus der Fassung.«

Warum überraschte es Beck nicht, dass Wagner noch nicht mal seine eigene Schwester leiden konnte?

*

»Dürerstraße. Das ist gleich bei mir nebenan.« Beck legte sein Handy beiseite und startete den Wagen.

»Ist doch praktisch. Da hat er keinen weiten Weg gehabt, um seinen Lehrer kalt zu machen.« Wagner lachte blechern.

»Sind Sie nicht ein bisschen voreilig?«

»War doch nur ein Spruch. Kerle, die nach der Schule noch bei ihrem Lehrer aus und eingehen, sind mir ziemlich suspekt. Wer macht denn so was? Bisschen krank, finden Sie nicht?« Unter akrobatischen Verrenkungen zog Wagner eine zerknitterte Zigarettenschachtel aus der Manteltasche.

»Tja, ist schon ungewöhnlich. Andererseits war Herr von Düren auch ein besonderer Mensch, soweit ich das beurteilen kann. Ich kann mir schon vorstellen, dass er für Jungs ein Vorbild, vielleicht sogar eine Vaterfigur darstellen konnte. Wir hatten damals auch so einen Lehrer, mit dem man über vieles reden konnte.« Bukow, Heinrich Bukow. Wie oft hatte er sich während seiner Internatszeit gewünscht, dass dieser verständnisvolle Mann sein Vater wäre? Ein Vater, der einem zuhörte, der einen unterstützte, an Stelle des Eisblocks, der seinen Sohn nur selten und widerwillig zur Kenntnis nahm. Schön wär’s gewesen.

Wagner schnaubte verächtlich und zündete sich eine Zigarette an. »Sie haben doch nichts dagegen?«

»Ne.« Wenn Wagner ihm ständig eine vorquarzte, dauerte es wahrscheinlich nicht mehr lange, bis er auch wieder anfing. Aber das sagte er lieber nicht. Wer wusste, wie gallig sein lieber Kollege erst wurde, wenn er unter Nikotinentzug stand. Nicht auszudenken.

Natürlich war die Dürerstraße zugeparkt bis zum Anschlag. Ging hier eigentlich nie einer arbeiten? Einen Parkplatz im östlichen Ringgebiet gab man anscheinend nur im Todesfall auf. Genervt quetschte sich Beck in eine nicht vorhandene Lücke zwischen einem Müllcontainer und einem schlecht geparkten Kleinwagen.

»Hier komm ich nicht raus«, nörgelte Wagner.

»Dann klettern Sie über den Fahrersitz«, Beck knallte die Tür gegen den Container und wand sich aus dem Wagen.

Wagner folgte knurrend. »Hoffentlich ist er überhaupt da, wenn ich mir hier schon einen Bandscheibenvorfall turne!«

Beck entfloh in Richtung Nummer 17 und drückte auf den Klingelknopf. Während er Wagner hinter sich schnaufend und murmelnd näher kommen hörte, ertönte das Rauschen der Gegensprechanlage.

»Wer ist da?«

»Beck, Kriminalpolizei.«

»Kriminalpolizei?«

»Ja. Machen Sie bitte auf.«

Der Türöffner summte und Beck drückte gegen die schwere Glastür. »Vierter Stock«, rief er über die Schulter seinem Kollegen zu und grinste schadenfroh in sich hinein.

»Verdammt.« Wagner hielt es mit Churchill: ›No Sports‹.

Beck hatte allerdings auch schon lange kein Fitnessstudio von innen gesehen. In Berlin hatten sie eins in der Behörde gehabt, aber in Braunschweig … na ja. Jetzt im Frühjahr würde er aber wirklich mal wieder joggen, im Prinzenpark, gemeinsam mit einer Hundertschar anderer Bürohengste, die wie er die Hoffnung hatten, im Grünen ihren schlaffen Waden und runden Bäuchen wegrennen zu können.

Das Nichtrauchen zahlte sich aus, er war schon oben, als Wagner noch im zweiten Stock herumkeuchte. Wieder mal ein Pluspunkt auf dem schwarzen Konto, das sein Kollege für ihn führte. Er wartete, bis Wagner nach Luft japsend die letzte Stufe erklommen hatte, und klingelte erneut. Die Tür wurde prompt geöffnet und ein irritiert blickender Endzwanziger erschien in der Türöffnung. Sein eleganter, silbergrauer Anzug ließ darauf schließen, dass er gerade erst von der Arbeit gekommen war.

»Herr Karstens?« Beck zückte seinen Ausweis. Nach einem prüfenden Blick bat der junge Mann sie mit einer entsprechenden Handbewegung hinein.

Sie folgten ihm durch den für die Braunschweiger Altbauwohnungen typischen schlauchförmigen Flur in ein geräumiges Wohnzimmer mit einem hohen Kachelofen, der Becks Ästhetenherz neidvoll zucken ließ.

Phillip Karstens wies einladend auf eine großzügige Sitzlandschaft, deren cremefarbener Lederbezug so makellos schimmerte wie in einem Möbelkatalog. Beck fragte sich, wie manche Menschen es schafften, ihr Zuhause in einem perfekten, jederzeit vorzeigbaren Zustand zu halten. Schließlich hatte Karstens nicht gewusst, dass sie kommen würden. War er eigentlich der Einzige, der seinen Sofabezug nach Schmuddelkompatibilität aussuchte?

Ein hohes Fenster eröffnete den Blick auf die reich verzierten Balkone gegenüberliegender Häuser aus der Gründerzeit. In einer Loggia machte sich bereits eine Frau an ihren Balkonkästen zu schaffen. War das nicht noch ein bisschen früh? Von Blumen hatte er wirklich überhaupt keine Ahnung als Großstadtpflanze, die er nun mal war.

»Setzen Sie sich doch. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

Beck und Wagner verneinten. Karstens lächelte wohlerzogen und nahm ebenfalls Platz.

»Herr Karstens, in welcher Beziehung stehen Sie zu Herrn von Düren?«

Entweder war der junge Mann ein sehr guter Schauspieler oder die Frage überraschte ihn wirklich. Das verbindliche Lächeln bröselte aus seinem glatten Gesicht. »Zu … Herrn von Düren? Wie …? Warum fragen Sie?«

Wagner hustete und setzte zu einer seiner Freundlichkeiten an.

»Beantworten Sie bitte meine Frage«, Beck lächelte freundlich und warf einen warnenden Blick in Wagners Richtung. Wann würde der Kotzbrocken endlich begreifen, wer hier die Ermittlungen leitete?

»Ich … Herr von Düren war mein Lehrer am Schlossgymnasium.«