Emily Wildes Kompendium der verlorenen Geschichten - Heather Fawcett - E-Book

Emily Wildes Kompendium der verlorenen Geschichten E-Book

Heather Fawcett

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Beschreibung

Einmal Königin sein im Reich der Feen – Traum oder Albtraum? Im dritten Band in der Sunday-Times-Bestsellerserie findet die Feenforscherin Emily Wilde es heraus. Emily Wilde hat ihr Leben dem Studium der Feen gewidmet. Als renommierte Dryadologin hat sie in ihrer Enzyklopädie der Feen Hunderte von Arten dokumentiert. Jetzt steht sie kurz davor, ihr bisher gefährlichstes akademisches Projekt in Angriff zu nehmen: die Erforschung des Innenlebens eines Feenreichs - als dessen Königin. Zusammen mit ihrem Verlobten, dem exilierten Feenprinzen Wendell Bambleby, beansprucht sie den Thron zu seinem Reich. Für Emily erfüllt sich damit ein Traum: Vor ihr tut sich eine Fülle wissenschaftlicher Schätze auf. Doch der Albtraum folgt auf dem Fuße, denn die beiden werden sofort in die tödlichen Intrigen der Feenwelt hineingezogen. Für Fans von Deborah Harkness, Travis Baldree und T.J. Klune

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Seitenzahl: 524

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Heather Fawcett

Emily Wildes Kompendium der verlorenen Geschichten

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Kemper

 

Über dieses Buch

 

 

Emily Wilde hat ihr Leben dem Studium der Feen gewidmet. Als renommierte Dryadologin hat sie in ihrer Enzyklopädie der Feen Hunderte von Arten dokumentiert. Jetzt steht sie kurz davor, ihr bisher gefährlichstes akademisches Projekt in Angriff zu nehmen: die Erforschung des Innenlebens eines Feenreichs - als dessen Königin.

Zusammen mit ihrem Verlobten, dem exilierten Feenprinzen Wendell Bambleby, beansprucht sie den Thron zu seinem Reich. Für Emily erfüllt sich damit ein Traum: Vor ihr tut sich eine Fülle wissenschaftlicher Schätze auf. Doch der Albtraum folgt auf dem Fuße, denn die beiden werden sofort in die tödlichen Intrigen der Feenwelt hineingezogen.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Heather Fawcett hat bereits zahlreiche Kinder- und Jugendbücher geschrieben. »Emily Wilde« ist ihre erste Fantasyserie für Erwachsene. Sie hat einen Master in englischer Literatur und arbeitete als Archäologin, Fotografin, technische Redakteurin und Backstage-Assistentin für ein Shakespeare-Theaterfestival. Sie lebt auf Vancouver Island, Kanada.

 

Eva Kemper übersetzt seit zwanzig Jahren Literatur aus dem Englischen, neben Emma Stonex’ »Die Leuchtturmwärter« u.a. Werke von Jarett Kobek, Alice Hoffman, Jessie Cave, Jen Beagin und Alina Grabowski.

Impressum

 

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Copyright © 2025 by Heather Fawcett

Published by Arrangement with Heather Fawcett

Die Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel »Emily Wilde's Compendium of Lost Tales« bei Del Rey / Penguin Random House, New York.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2025 S. Fischer Verlage GmbH, Hedderichstr. 114, 60569 Frankfurt am Main

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

Coverabbildungen: Vera Drmanovski, Montreal

Lektorat: Maike Hallmann

ISBN 978-3-10-492179-2

 

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Inhalt

29. Dezember 1910

30. Dezember

31. Dezember

1. Januar 1911

1. Januar – spät

2. Januar

3. Januar

9. Januar

11. Januar

12. Januar

12. Januar – spät

13. Januar

17. Januar

18. Januar

18. Januar – spät

19. Januar

19. Januar, weiter

19. Januar, weiter

19. Januar, immer noch

21. Januar

21. Januar – später

22. Januar

5. Februar

6. Februar

8. Februar – sehr spät

9. Februar

9. Februar – spät

11. Februar

12. Februar

12. Februar – spät

19. Februar

1. März

29. Dezember 1910

Fortsetzung

Wenn Wendell und ich uns bei einem Thema nie einig sein werden, dann bei der Frage, wie klug es ist, eine Katze in die Feenwelt mitzuschleppen. Selbst wenn besagtes Tier eine Feenkatze ist; selbst wenn wir sie nur in die Welt zurückbringen, der sie entstammt, erweist sich das Unterfangen als zutiefst frustrierend. Wendell und ich hatten Orga an der felsigen Küste Griechenlands schon zweimal verloren, als sie Mäusen oder Seemöwen nachjagte, und jetzt, als wir zu guter Letzt an der Schwelle von Wendells Tür standen, war sie wieder verschwunden.

»Das verdammte Biest gehört an die Leine«, sagte ich, allerdings vor allem aus Bosheit. Würde ich mich Orga mit etwas nähern, das einem Geschirr auch nur ähnelt, würde ich die Katze vermutlich am Ende auf dem Kopf tragen, und zwar mit unschönen Folgen für mein Gesicht.

Shadow war wie üblich neben mir, hatte die Schnauze im duftenden Küstengras vergraben und schnüffelte geschäftig. Er würde mich nie im Stich lassen, wie Orga es so oft mit Wendell tat. Hunde sind anständige Gefährten und nicht die verkörperte Launenhaftigkeit.

Wendell gab keine Antwort. Beim ersten Blick auf die Tür war er erstarrt, so sehr, dass er einer vergoldeten Illustration in einem Märchenbuch glich, abgesehen von seinem Mantel, der sich in der salzigen Brise bauschte, die ihm auch die goldenen Haare vor die Augen wehte.

Ich berührte seinen Arm, er kam wieder zu sich und wandte sich mir lächelnd zu.

»Em«, sagte er, »sie ist eine Katze. Du könntest ebenso gut erwarten, dass Shadow sich deinem Willen widersetzt, wie Orga sich ihm unterwerfen würde. Du darfst ihr Wesen nicht vergessen.«

»Ihr arglistiges, hinterhältiges Wesen«, sagte ich. Natürlich tauchte die Katze einen Herzschlag später auf, wie zum Trotz. Ihre goldenen Augen funkelten in ihrem schwarzen Fell, das eigenartig zu wabern schien, wie Rauch in katzenförmigem Glas. Shadow, der zu meinen Füßen saß, warf Orga einen erschöpften Blick zu und bot ihr wie üblich seine Freundschaft an, indem er sie sanft mit der Nase anstupste. Orga machte einen Buckel und fauchte.

»Gib es auf, mein Lieber«, riet ich ihm, aber der arme Hund sah mich nur verständnislos an. In Shadows Welt überschüttete jedermann ihn entweder mit Aufmerksamkeit oder wahrte zu seiner einschüchternd massigen Gestalt respektvoll Abstand. Wenn Orga ihn anfauchte, schien Shadow jedes Mal von einem Missverständnis auszugehen, was zunehmend unwahrscheinlich wurde, je mehr sich diese Vorfälle häuften. Aber seiner Ansicht nach war offenbar ein Missverständnis immer noch weniger unwahrscheinlich als die Möglichkeit, nicht gemocht zu werden.

Wendell betrachtete wieder die Tür – er kostete den Moment aus, vermute ich. Ich war gespannt, ob er eine Rede halten würde oder etwas Ähnliches – immerhin hatte er mehr als zehn Jahre nach diesem Ding gesucht, und jetzt war es hier und schmiegte sich an den Hügel wie eine Schleife an ein Weihnachtsgeschenk.

Recht selbstzufrieden klopfte ich mit dem Fuß gegen einen Stein. Immerhin hatte ich nur ein paar Monate gebraucht, um die Tür ausfindig zu machen, nicht wahr? Ich hatte im November letzten Jahres erfahren, dass er eine Tür in sein Reich suchte, als wir gerade auf Ljosland waren, und im März, kurz nach unserer Rückkehr nach Cambridge, ernsthaft mit der Recherche begonnen. Und jetzt – nach ein paar Umwegen und Sackgassen in Österreich – waren wir hier.

Ich zog mehrere entsprechende Sticheleien in Betracht und verwarf sie wieder, weil sie keinen großen Edelmut bewiesen hätten, und merkte nur an: »Sie ist das Gegenstück zur Tür in St.Liesl.«

Die Tür vor uns war in Form und Stil tatsächlich beinahe identisch – sie passte sich perfekt in die griechische Landschaft ein, die Bemalung ihrer Holzbretter zeigte hellen Fels voller Kiesel und von der Sonne ausgedörrte Pflanzen. Ein kleiner Busch Zistrosen links neben der Tür setzte sich im Gemalten fort, und diese zweidimensionalen Blüten bewegten ihre Köpfe im Wind, im Einklang mit ihren greifbaren Vettern. Noch unmöglicher erschien meinen sterblichen Augen der Türknauf, ein gläserner Quader, in dem ein winziges türkisfarbenes Meer schwappte. Dieser Nexus ist wirklich die eigenartigste Sorte von Feentür, der ich im Laufe meiner Karriere begegnet bin.[1]

Ich hatte zwar erwartet, sie hier zu finden, aber bei Feentüren kann man sich nie sicher sein, und so mischte sich Erleichterung in meine Selbstzufriedenheit.

Ich wandte mich um und schirmte meine Augen vor der Sonne ab, um die Umgebung abzusuchen. Nach Möglichkeit wollte ich es vermeiden, plötzlich vor den Augen von Beobachtern zu verschwinden, einfach weil es alles erleichterte – Wendell und ich wollten nicht, dass ein Suchtrupp mit guten Vorsätzen uns in die Feenwelt folgte. Hinter dem kleinen salzverkrusteten Zypressenwäldchen erstreckte sich das Land als Folge blasser Kommata in ein Meer so blau, dass meine Augen tränten. In der Ferne bewegte sich ein Paar zweibeiniger Pünktchen über einen gebogenen Sandstreifen – das war alles. Im näheren Umkreis war nichts außer uns und dem Wind.

»Wie werden sie uns folgen?«, fragte ich, bemüht, meine Beklommenheit zu verbergen.

»Oh – ohne große Mühe«, sagte Wendell geistesabwesend. Ungewohnt zögerlich streckte er die Hand aus und drehte den Knauf.

Wir traten gemeinsam hindurch, wobei Wendells Hand sich um meine schloss. Ich brauchte seine Hilfe nicht, weil ich mich schon ohne die Unterstützung einer Fee durch einige solcher unmöglichen Türen gewagt hatte, aber ich wusste, dass er andere Gründe hatte. Seine Hand zitterte leicht. Ich verschränkte meine Finger mit seinen und hielt ihn ganz fest.

Das Häuschen hinter der Tür war leer, Gott sei Dank – die Winterfee, der es gehörte, streifte jetzt durchs Land und schwelgte in jahreszeitlichen Freuden, wie diese Feen es Wendell zufolge zu tun pflegten. Der Boden war gefegt und das Geschirr im Spülbecken weggeräumt worden, insgesamt wirkte alles sehr ordentlich und sauber, so, wie man ein Haus vor einer längeren Abwesenheit herrichten würde. Vom Kaminsims und der grausigen »Kunst« der Fee hielt ich meinen Blick fern.

Orga und Shadow waren uns gefolgt. Shadow hatte neugierig an der Tür geschnuppert, bevor er hereingekommen war, davon abgesehen aber nicht gewirkt, als wäre es für ihn etwas anderes, als mein Büro in Cambridge zu betreten. Wendell schloss die Tür hinter uns, und wir betrachteten die sechs Knäufe auf ihrer Innenseite.

Ich hätte ihn gern nach diesen Knäufen gefragt – genauer gesagt hätte ich sie gern näher untersucht, weil zwei von ihnen mir ein völliges Rätsel waren und ich wissen wollte, wohin sie führten – aber dafür war keine Zeit. Seine Finger glitten an dem Knauf vorbei, der uns wieder auf den Peloponnes geführt hätte – und jetzt den obersten Platz in der Reihe einnahm –, und weiter vorbei am Knauf für die österreichischen Alpen. In diesem steckte ein großer Schlüssel, der aussah, wie aus Knochen gefertigt. Der Knauf war versperrt.

Wendell entriegelte das Schloss – ich stellte mir vor, wie die kleine Tür in den Alpen schimmernd wieder Gestalt annahm –, zog den Schlüssel heraus und legte ihn auf den Tisch. Er hielt kurz bei dem Knauf inne, der mit einem Blumenmuster verziert war, bevor er zum moosbedeckten zurückkehrte, der sich jetzt aus irgendeinem Grund in der Mitte befand. Als Ariadne und ich im Oktober durch das Haus der Winterfee gekommen waren, war er an unterster Stelle gewesen. Wendell öffnete die Tür.

Licht.

Es war heller Morgen, und vor meinen Augen erblühten Farben. Vor allem Grün, aber auch das Gelb von Moos und Flechten auf Stein, das Violett der Hasenglöckchen, die sich am Waldrand zusammendrängten, das Gold der Sonnenstrahlen und das satte Azurblau des Himmels. Die Tür führte auf eine kleine Lichtung auf einem Hügel, hinter der eine Wand aus Bäumen wie zur Begrüßung ihre Äste im Wind nicken ließ. Die Luft war noch feucht vom letzten Regen und erfüllt vom Geruch wachsenden Grüns – alles wie in meiner Erinnerung.

Wendell drückte meine Hand, damit ich stehen blieb. Sein Blick folgte Orga, die ihre Nase hoch in die Luft reckte, schnupperte und dann auf die Lichtung schritt. Sie hatte die Ohren wachsam gespitzt, aber bald verließ die Anspannung ihren Körper, und sie setzte sich und knabberte an einem Grashalm.

»Ich dachte, meine Stiefmutter lässt diese Tür vielleicht bewachen«, murmelte Wendell. »Falls sie überlebt hat.«

»Sie hätte sie auch versiegeln können«, stimmte ich zu. »Andererseits ist nicht anzunehmen, dass sie wusste, wie Ariadne und ich entkommen sind, es sei denn, eine der gemeinen Feen hätte unsere Flucht bemerkt und es ihr gesagt.«

Wendell nickte, blieb aber weiter zögernd auf der Schwelle stehen. Im Schatten des Hauses der Winterfee sah er blass und erstaunlich jung aus; er erinnerte mich an ein nervöses Kind, das sich hinter dem Bühnenvorhang versteckt und nicht hervorkommen will, wenn sein Stichwort fällt.

Ich trat ins Sonnenlicht, eine willkommene Veränderung nach dem nasskalten Haus der Winterfee. Mich durchlief ein leichter Schauer, ob vor Angst oder Aufregung, vermochte ich nicht zu sagen. Manchmal frage ich mich, ob meine Furcht vor Wendells Königreich, die sich durch die berufliche Lektüre zahlreicher finsterer und unangenehmer Geschichten aufgebaut hat – ganz zu schweigen von meinen früheren Erfahrungen hier, die zu vagen Erinnerungen mit albtraumhafter Aura verblasst sind –, mich je ganz verlassen wird.

Ich ruckte spielerisch an seiner Hand. Er sah mich an, immer noch blass, aber er schien in meinem Gesicht etwas zu erkennen, das ihm Halt gab, und ließ sich von mir durch die Tür ziehen.

Nach ein paar Schritten sank er plötzlich in sich zusammen und vergrub das Gesicht in den Händen. Orga platzierte sich zu seinen Füßen und beobachtete aufmerksam den Wald. Shadow bedachte sie mit einem Blick, den ich nur als anerkennend beschreiben kann.

Ich ging zur Hügelkuppe, um Wendell einen Moment Zeit zu geben und auch, um nach Problemen Ausschau zu halten. Der Hügel war nicht hoch genug, um einen Blick über den gesamten Wald zu gewähren, allerdings konnte ich das vertraute Glitzern eines fernen Sees ausmachen, auf den silbriger Regen fiel. Ich lehnte mich gegen einen der verwitterten Menhire, die den Hügel krönten – dabei erklang ein erschrockenes Rascheln, und ich sah, wie ein kleiner Fuß blitzschnell unter dem Stein verschwand, als hätte jemand seine Zehen in der Sonne gewärmt.

Die gemeinen Feen wussten jetzt also, dass wir hier waren. Aber das war unvermeidlich.

Ich ging den Hügel wieder hinter. Ich hatte erwartet, Wendell ganz verzückt über die Hasenglöckchen und den Wald vorzufinden – vielleicht sogar über das grausliche Ding, das am schattigen Rand der Lichtung lauerte und dem Ort, an dem die Bäume Augen haben, seinen Namen verleiht. Aber nein – er hatte seine Tränen fortgewischt, und jetzt stützte er das Kinn auf die Hand und beäugte mich mit diesem rätselhaften Gesichtsausdruck, den ich immer noch nicht deuten kann und vielleicht nie werde deuten können. Mit einem Feenblick, so nenne ich es insgeheim.

»Was?«, fragte ich.

Er stand auf und schüttelte den Tau von seinem Mantel. »Du hast wieder diesen Blick.«

Seine Gedanken spiegelten meine eigenen, weshalb ich grundlos finster die Stirn runzelte. »Welchen?«

»Den Blick, den du immer aufsetzt, wenn du mich in irgendeinem Bereich übertriffst.«

»Na ja«, begann ich schulterzuckend, dann hielt ich inne. Mein Edelmut ging zur Neige, fürchte ich. »Habe ich das nicht auch?«

Er lachte, ein klarer, heller Klang, und bevor ich wusste, wie mir geschah, hatte er mich hochgehoben und drehte sich mit mir im Kreis, dass das Grün und der Schatten des Waldes ineinander verwischten.

»Meine geliebte Emily«, flüsterte er mir ins Ohr.

»Ja, ja, schon gut«, sagte ich, ohne mich aus seiner Umarmung zu befreien. Meine Selbstzufriedenheit war zurück und mit ihr eine wohlige Genugtuung. Es war eine Freude, ihn so glücklich zu sehen.

Hinter uns öffnete sich die Tür, und plötzlich hallte Lärm über die Lichtung. Zuerst strömten die Wächter, angeführt von Razkarden, unter wildem Flügelschlagen heraus. Als sie in den smaragdgrünen Morgen drangen, legten sie ihren Blendzauber ab und verwandelten sich von blassen Eulen in Kreaturen aus schlimmsten Albträumen – in der Hauptsache immer noch Eulen, aber zerlumpt und sehnig, die Augen milchig vor Katarakten. Statt Vogelbeinen ragten sechs riesige spinnenartige Gliedmaßen aus ihren Torsos.

Razkarden landete auf Wendells Schulter – besser gesagt Schultern, denn die Füße fanden nicht auf einer Seite Platz – und arrangierte mit erstaunlicher Behutsamkeit seine scheußlichen Beine, was mich abrupt von Wendell zurückweichen ließ. Wendell blieb wie üblich ungerührt, streichelte Razkardens Schnabel und sprach leise mit ihm. Das Feenungeheuer schwang sich in die Luft und setzte sich zu den anderen in die Bäume.

Dann folgten die Trolle, mit den klappernden Werkzeugen in ihren Rucksäcken die bei weitem am wenigsten erschreckenden Mitglieder unserer zusammengewürfelten Armee gemeiner Feen. Erfreutes Tuscheln breitete sich aus, als sie zum ersten Mal Wendells Königreich sahen. Einer marschierte zu einem Baumstumpf und klopfte darauf, als wollte er prüfen, wie gut sich das Holz als Baumaterial eignen würde, anderen schien es ein Häufchen Steine besonders angetan zu haben.

Die Baumfaune hielten sich zu meiner Erleichterung nicht lange auf der Lichtung auf, sondern schlichen sofort in den schattigen Wald, ihre wilden Hunde dicht auf den Fersen. Es gibt auf der Welt reichlich Feen, die uns hässlich erscheinen, aber es fällt mir keine ein, die in dieser Hinsicht die Baumfaune mit ihren verschorften, verdrehten Hörnern und verwucherten Gesichtszügen übertreffen würde.

Zuletzt kamen die Fuchszwerge, die mit aufgeregt wedelnden Schwänzen als rotbrauner Fluss durch die Tür strömten. Es machte den Eindruck, als hätten sich mehrere Dutzend bereitgefunden, uns zu begleiten; die genaue Zahl ist schwierig zu bestimmen, weil die Biester selten stillhalten.

»Endlich«, frohlockte Eisglöckchen und lief an die Spitze der Meute. »Jetzt beginnt die Mission! Und sie wird viel aufregender als die letzte sein, weil dieses Mal nur ein sterblicher Trampel dabei ist.« Er setzte sich neben mich, als wollte er Besitzansprüche ankündigen, putzte sich das Gesicht und knurrte zwischendurch jeden an, der sich zu nahe heranwagte. Es fällt mir weiter schwer, die fuchsartigen Feen auseinanderzuhalten, Eisglöckchen allerdings ist leicht zu erkennen, weil er ständig mit seiner Rolle in meinem letzten Abenteuer angibt.

Wendell warf einen Blick auf die Bäume, seine Ehrfurcht war Heiterkeit gewichen.

»Wollen wir unser Königreich zurückerobern, Em?«, fragte er.

Mich überlief ein Zittern. Er hatte zur Feensprache gewechselt, die ich natürlich schon von ihm gehört hatte, aber wie er es tat, hatte etwas Verstörendes. Er streifte die Sprache der Sterblichen ab wie einen unpassenden Mantel, wenn sich die Jahreszeit gewechselt hat. Unwillkürlich streckte ich eine Hand nach Shadows Kopf aus, und der Hund drückte sich gegen meine Handfläche, was mir Halt verlieh.

»Ich würde sagen, wir können ruhig damit anfangen.« Ich antwortete in derselben Sprache.

Am Fuß des Hügels fanden wir den Weg, den Ariadne und ich im Oktober genommen hatten. Ich hatte fast erwartet, dass er verschwunden sein würde – warum sollten die Wege der Feen weniger launisch sein als ihre Türen? –, aber er war noch da, wenn er auch stärker Richtung Norden zu verlaufen schien als in meiner Erinnerung.

Unsicher sah ich nach rechts. »Diese Richtung?«

Wendell folgte meinem Blick. »Eher nicht. Auf den alten Wegen würde es zu lange dauern. Zum Schloss ist es recht weit, und ich möchte nicht unnötig Zeit verlieren.«

Damit marschierte er ins dichte Unterholz und machte mit der Hand eine Geste, als wollte er etwas vertreiben. Dann …

Vor seinen Füßen öffnete sich ein Pfad, ihm immer ein paar Schritte voraus. Bäume und Gras und Steine glitten einfach beiseite, so geschmeidig wie Wellen, die sich vom Ufer zurückziehen.

»Wendell«, sagte ich matt.

Er hatte sich schon umgedreht, um nach mir zu sehen, und kam auf dem gerade erschaffenen Weg zurück. Ich beobachtete, ob die freie Fläche hinter Wendell sich wieder schließen würde, aber das tat sie nicht, zumindest nicht so schnell, wie sie erschienen war; an den Rändern schien sie sich ein wenig aufzulösen, Pflanzen schoben sich wieder über die feste Erde.

Wendell umfasste meine Hände, sein Blick strahlte Wärme und nicht wenig Schabernack aus. »Für eine große Besichtigungstour fehlt uns die Zeit, das stimmt – aber ich will dir zeigen, was ich kann. Möchtest du das?«

Damit zog er mich natürlich auf – die Antwort kannte er ebenso gut wie ich. Die Gefahren, die uns erwarteten, die Beklommenheit über meine Entscheidung, hierherzukommen, ihn zu begleiten – sie wurden von etwas deutlich Vertrauterem hinweggefegt, bei dem mein Herz vor Aufregung flatterte.

Wissenschaftliche Neugier.

»Dann weise uns den Weg«, sagte ich und nahm den dargebotenen Arm.

Der Pfad weitete sich, bis wir bequem Platz hatten. Shadow hielt neben mir Schritt, während Orga immer wieder in den Wald schlich, manchmal vor und manchmal hinter uns wieder auftauchte, gelegentlich mit einem kleinen, zappelnden Wesen im Maul. Die anderen folgten wie eine lange, hässliche Prozession. Die Wächter sah ich nicht, aber so unbesorgt, wie Wendell wirkte, versteckten sie sich wahrscheinlich in den Baumwipfeln und beobachteten uns wie schon bei meinem ersten Besuch, wobei sie dieses Mal weniger mordlustige Absichten hegten – hoffte ich. Eisglöckchen hielt sich zurück, was er meist tut, wenn Wendell in meiner Nähe ist. Ich glaube, er hat vor Wendell ebenso viel Angst wie Poe, drückt sie aber auf eher verstörende Art aus. Nicht nur einmal habe ich gehört, wie er mit seinen Gefährten über die Menge an Blut spekulierte, die Wendell bei der Rückeroberung seines Königreichs vergießen würde, über mögliche Überbleibsel für die Fuchszwerge und wie sie wohl schmecken würden.

Wendell plauderte unterwegs und unterbrach sich immer wieder, um auf etwas hinzuweisen – über sein Reich besitzt er ein umfangreiches botanisches Wissen, mit dem er vermutlich geboren wurde; ich kann mir nicht vorstellen, dass er es sich auf anderem Wege angeeignet hat. Als ich ein Notizbuch hervorholte, strahlte er mich an – an unserem ersten Tag in der Feenwelt hatte ich nur beobachten und noch keine Daten sammeln wollen, aber er freute sich so, wenn ich meinen Bleistift hob, dass ich sehr viel aufschrieb. Meine Konzentration litt ein wenig unter der drohenden Gefahr, trotzdem musste ich meine Begeisterung in keinem Moment vorheucheln, und ich stellte viele Fragen, auch wenn seine Antworten nicht immer hilfreich und tendenziell unsinnig waren. Einige ausgewählte Einblicke will ich hier festhalten.

Über die geographischen Gegebenheiten des Ortes, an dem die Bäume Augen haben

Die Region besteht vorwiegend aus einer Mischung aus Wald und Heidelandschaft, dazu kommen einige Sumpfgebiete und eine Bergkette, die das Reich im Osten begrenzt. Die Berge sind als Blaue Haken bekannt. Es gibt drei Seen: den Kaventsmann, der der größte ist, den Silberliliensee, neben dem das Schloss steht, und im Süden den Unteren See, einen dunklen Ort im Gebiet der hexenköpfigen Rehe, in das wir uns nicht wagen würden.

Ich bat Wendell um Hilfe, eine Karte dieses Reichs zu zeichnen, was sich wenig überraschend als recht vergeblich herausstellte. Es ist eine allgemein anerkannte Tatsache, dass der räumliche Aufbau der Feenwelt ähnlich viel Bestand hat wie ein Traum; ein Berg mag am Dienstag an einem Ort sein und beschließen, den Mittwoch an einer gefälligeren Stelle zu verbringen. In verschiedenen Momenten unseres Gesprächs erklärte Wendell mir: dass die Seen und die Bergkette Fixpunkte seien; dass die Blauen Haken das Reich früher vollständig umschlossen hätten und sich gelegentlich in die Länge streckten; und dass der Untere See ein eigenwilliges Wesen besäße und manchmal den Platz mit dem Silberliliensee tauschte.

Über Feenschnecken

Nach meiner unerquicklichen Begegnung mit diesen eigenartigen Bewohnern während meines letzten Besuchs – ich kann immer noch spüren, wie ihre Gehäuse unter meinen Händen und Knien zersplitterten, und höre ihre hauchfeinen Schmerzensschreie – wollte ich mehr über sie erfahren. Wendell schüttelte sich allerdings nur und riet mir, sie mir nicht zum Feind zu machen. Offenbar verfügen sie über eine primitive Intelligenz und schätzen ihre Würde über alles; daher verbringen sie den Großteil ihres Lebens mit Rachefeldzügen. Ihre Vergeltung mag auf sich warten lassen, aber am Ende bekommen sie immer ihre Rache.

Über die verdammten Bäume

Ich möchte nicht über sie schreiben. Aber was für eine Erforscherin der Feenwelt wäre ich, wenn ich mich vor jedem Schrecken verstecken würde?

Nein. Ich kann es nicht.

Aber ich muss. Herrje, dieser Eintrag ist ein wahres Chaos aus Klecksen und Durchgestrichenem geworden. Bringen wir es so schnell wie möglich hinter uns.

Die Bäume, die Wendells Reich seinen Namen verleihen, werden auch Aufmerksame Eichen genannt, ein typischer Feeneuphemismus. Sie stehen hier und dort in den Wäldern verteilt, finden sich jedoch meist in den dunkleren Ecken, um, so vermute ich, Vorbeikommende besser überraschen und ihnen reichlich Material für Albträume bescheren zu können. Hätte jeder Baum nur ein Paar Augen, wäre es vielleicht erträglich, aber es sind Hunderte, wenn nicht Tausende. Denn aus jedem Blatt starrt ein Auge, das schmal vor Wut oder überrascht aufgerissen sein kann, von einem schweren Lid beschattet oder blutunterlaufen, als wäre in jedem eine eigene Persönlichkeit gefangen, und wer vorbeigeht, dem folgen sie mit einem feuchten Rascheln und beobachten ihn.

Wendell betrachtet diese Monstrositäten natürlich philosophisch. »Hast du in der Feenwelt nicht schon schlimmere Dinge gesehen, Em?«, fragte er. »Lass sie einfach in Ruhe, dann musst du dir um nichts Sorgen machen. Gib ihnen keinen Grund, beleidigt zu sein.«

»Wie vermeidet man es, einen Baum zu beleidigen?«

Er zählte es an seinen Fingern ab. »Sprich nicht grob zu ihnen. Reiß keine Blätter ab. Spalte sie nicht, um zu sehen, ob sich darin ein anderer Feenkönig versteckt, der eher deinem Geschmack entspricht.«

Das würdigte ich keiner Antwort. »Ist das alles?«

Er überlegte. »Pass in den Herbstmonaten auf, wohin du trittst.«

Gott.

Beim Weitergehen konnte ich nicht umhin zu bemerken, dass der Weg, den Wendell für uns entstehen ließ, deutlich fröhlicher wirkte als derjenige, dem Ariadne und ich gefolgt waren; wir überquerten sonnige Lichtungen und Waldwiesen voller Hasenglöckchen und von Heidelbeeren überwachsene Moore unter freiem Himmel, auf denen oft beeindruckende Menhire standen. In den Baumwipfeln glitzerten silberne Kugeln, etwa so groß wie Globen und leicht wie Luft, die manchmal mit dem Wind von einem Baum zum anderen geweht wurden. Wendell ließ mich wissen, dass sie tatsächlich eine Art Feensteine waren und Verzauberungen enthielten, die Reisenden Trost spenden sollten. Allerdings warnte er mich davor, sie zu zerbrechen, weil einige von den Bogles manipuliert worden waren und man ihnen nicht mehr trauen konnte.

»Willst du die finsteren Teile deines Reichs absichtlich vor mir verbergen?«, fragte ich, als der Weg uns eine weite Aussicht auf den Kaventsmann eröffnete. »Ich war schon mal hier, weißt du. Mir ist bewusst, dass es nicht nur aus sonnenüberfluteten Wiesen und harmloser Archäologie besteht, du musst dich also nicht wie ein nervöser Galan von deiner besten Seite zeigen.«

Sein überraschtes Lachen zeigte mir, dass ich recht gut geraten hatte. »Kannst du mir verübeln, dass ich dich ein wenig beeindrucken möchte? Außerdem hausen in den dunkleren Wäldern unerfreuliche Bogles und Biester. Ich gehe davon aus, dass sie das Knie vor mir beugen würden, aber ich möchte lieber keine Unannehmlichkeiten riskieren. Davon erwarten uns genug, wenn wir das Schloss erreichen.«

Unterwegs nutzte er seine Magie so freizügig, wie ich es noch nie erlebt hatte, wie ein Aristokrat, der Münzen aus seiner Kutsche warf. Er drückte seine Hand an Bäume, um sie wachsen oder blühen zu lassen, ließ auf Wiesen, denen seiner Meinung nach Farbe fehlte, Unmengen von Hasenglöckchen wachsen und befahl an einer Stelle einem schroffen Hügel, beiseite zu rücken, damit wir nicht über ihn klettern mussten. Ich beobachtete ihn und spielte in Gedanken verschiedene Theorien durch.

Nach etwa einer Stunde legten wir – natürlich auf seinen Vorschlag hin – neben einem Bach auf einer sonnigen Lichtung eine Rast ein, um Erfrischungen zu uns zu nehmen. Wendell klopfte an einen der Menhire, und ein paar winzige Brownies eilten mit einem silbernen Tablett heraus, auf dem sich leicht dampfende Scones stapelten. Sie stellten es auf einen Stein am Bachufer, verbeugten sich vor Wendell, und nachdem kaum ein Wort gesprochen wurde, huschten sie auch schon wieder hinter den Menhir.

Einen Moment lang starrte ich blinzelnd auf die Stelle, an der sie verschwunden waren. Dann schüttelte ich mich.

Du wirst an diesem Ort weitaus seltsameren Dingen begegnen, rief ich mich streng zur Ordnung.

Ich setzte mich neben Wendell, der einen der silbernen Feensteine zu sich gerufen und an einem Stein zerschlagen hatte, woraufhin die Scherben sich in ein glitzerndes Teeservice verwandelt hatten. Er schöpfte mit den Tassen Wasser aus dem Bach, rührte es um und hatte Tee, dampfend heiß und nach Honig und Wildblumen duftend.

Mehr Zauberei, dachte ich und machte eine gedankliche Notiz.

»Wie weit ist es zum Schloss?«, erkundigte ich mich und nippte am Tee – der natürlich köstlich war, süß und kräftig zugleich. »Gehen wir durch die Rundhügel?«

»Das möchte ich lieber vermeiden.« Geistesabwesend schwenkte er seine Hand im plätschernden Bach, so zufrieden wie eine Katze in einem Sonnenstrahl. Seine Schönheit wirkte noch ätherischer, seit wir durch die Tür getreten waren – oder bildete ich es mir nur ein? Seine Haare schimmerten wie dunkles Gold im Feuerschein. »Die meisten Rundhügel umgeben ganze Dörfer«, fuhr er fort, »jedes mit einem eigenen Herrscher oder einer Herrscherin.«

Ich nickte. Wir waren uns einig, dass wir unsere Anwesenheit so gut wie möglich verschleiern sollten, sowohl vor der Fee, die im Schloss herrschte, als auch vor irgendwelchen Höflingen, die aus dieser Information einen Vorteil ziehen könnten.

»Ich hoffe, wir erreichen es vor Einbruch der Nacht«, sagte er und riss ein Stück von einem Scone ab. »Wir müssen den Kaventsmann passieren und werden unterwegs zweifellos Gefahren begegnen. Danach –«

Ich wartete, aber er machte nur eine ausladende Geste, die jemand, der ihn nicht so gut kannte wie ich, vielleicht bezaubernd geheimnisvoll gefunden hätte.

Er sprach den Satz zu Ende: »… werden wir sehen.«

Ich sah ihn staunend an, das musste ich erst verdauen.

»Du weißt nicht, wo wir sind«, sagte ich ungläubig.

»Doch, doch, so in etwa.« Meine Bestürzung schien ihn zu verwirren. »Na, aus welchem Grund hätte ich mich früher so weit vom Schloss entfernen sollen? Was natürlich nicht heißt, ich hätte das Gelände in meiner Kindheit nie verlassen. Viele Adlige hegen eine große Vorliebe für die Kaskadenbecken, wo der Fluss Weißgischt eine Schlucht hinunterstürzt und eine Reihe von Becken mit kristallklarem Wasser füllt, in denen man wunderbar baden kann. Dann gibt es noch den Wildtann, einen Wald mit Sumpf, der als Jagdgebiet nur der Königsfamilie und unseren ausgewählten Begleitern offensteht; dort findet man ungewöhnlich große Wildschweine und eine ganz seltene Art von Rehen, deren Geweih aus reinem Silber besteht …«

Er schwärmte weiter von den Badestellen und dem Jagdgebiet. Als er endlich einmal Luft holte, sagte ich so neutral wie möglich: »Wendell. Wir sind hier, um dein Königreich zu erobern. Das wird schwierig, wenn du nicht weißt, wie wir zu dem verdammten Thron kommen. Jetzt sag es mir so oder so – haben wir uns verirrt?«

»Ach, Em«, sagte er zärtlich. »Du machst dir zu viele Sorgen – vergiss nicht, dass wir in meinem Königreich sind, nicht an irgendeinem gottverlassen vereisten Hof oder in einer bergigen Einöde. Nein, wir haben uns nicht verirrt, nicht in dem Sinn, wie du es meinst. Ich weiß, wo das Schloss ist – wie wichtig ist da schon, wo wir sind?«

Nach dieser ärgerlich unsinnigen Antwort klopfte er wieder an den Menhir, dieses Mal, um ein wenig Marmelade für die Scones zu verlangen.

 

Damit niemand annimmt, Wendell und ich seien völlig ohne Plan in eines der gefährlichsten Feenreiche marschiert, die man kennt: Ich kann Ihnen versichern, dass es nicht der Fall war.

»Wir sollten noch einmal alle Möglichkeiten durchgehen«, hatte ich an einem Abend Ende Oktober gesagt, als wir in Wendells Wohnung vor dem Kamin saßen. Ein oder zwei Wochen zuvor waren wir aus Österreich zurückgekehrt.

Er sah von dem Buch auf, das er gerade las, eine alberne Liebesgeschichte – er las nicht viel, und wenn doch, bewies er fragwürdigen Geschmack. »Hm?«

»Wem wir gegenüberstehen könnten, wenn wir in dein Reich zurückkehren«, sagte ich. »Falls deine Stiefmutter tot ist, wer könnte den Thron für sich beansprucht haben? Wer hätte die Stellung und den Einfluss, um die Loyalität des Adels zu verdienen? Vielleicht der Halbbruder deiner Stiefmutter, Lord Taran?«

»Taran?« Wendell legte den Kopf schief und dachte nach. »Er kam mir nie besonders machtgierig vor. Möglich wäre es wohl. Wie gesagt, Em, ich hatte nur wenig mit ihm zu tun und er ebenso wenig mit mir. Mein Onkel ist uralt und hat mich sicher als einfältiges Kind betrachtet, das seiner Beachtung nicht wert war.«

Leise frustriert fragte ich: »Wen gibt es denn noch? Hatte dein Vater Geschwister?«

»Oh – einen Bruder. Vielleicht zwei Brüder.« Er überlegte. »Zwei. Er hat sie lange vor meiner Geburt hinrichten lassen.«

»Großer Gott«, murmelte ich. Ich hatte schon gewusst, dass Wendells Königshof eine Schlangengrube war, aber allmählich kam mir der Verdacht, dass die Geschichten die Wahrheit eher beschönigten.

»Wer sonst?«, drängte ich. »Cousins? Ein angesehener Berater? Freunde?«

»Der einzige wahre Freund meines Vaters war meine Mutter.« Wendells Blick schweifte zum Feuer. »Das hat er immer gesagt. Sie haben in allem übereingestimmt, ihre Ansichten und Vorlieben waren sich so ähnlich. Nur sie hatte Blut der oíche sidhe in sich, aber man hätte meinen können, er stamme auch von den kleinen Haushältern ab. Ich schätze, auch deshalb hat mein Vater sie geheiratet, obwohl es tabu war. Unter seinem Dach musste alles makellos sauber sein. Und er und meine Mutter haben zusammen genäht und gewebt, mit ihrer vereinten Magie haben sie einmalige königliche Gewänder geschaffen … und nicht nur Kleidung, auch Jagdnetze, die beachtliche Beute einfangen konnten, und Wimpel, so kunstvoll gewebt und von solcher Strahlkraft, dass es heißt, die Feinde meines Vaters hätten selbst im hitzigen Kampf den Blick kaum von ihnen losreißen können.« Er starrte in die Flammen. »Ich wüsste nicht, dass er nach dem Tod meiner Mutter noch jemandem nahe war. Vielleicht meiner ältesten Schwester. Aber sie ist auch nicht mehr bei uns.«

Er schüttelte sich und griff nach seiner Teetasse. Während sein anschließendes Exil ihn schmerzte, hatte ich selten den Eindruck, dass die Ermordung seiner Familie Wendell sonderlich berührte; ich schob es normalerweise auf sein Naturell als Fee. So ist es weniger beunruhigend, was nicht bedeutet, es sei nicht beunruhigend. Es gibt fundamentale Unterschiede zwischen dem Kleinen Volk und den Sterblichen, eine Tatsache, die ich manchmal immer noch schwer mit Wendell in Einklang bringen kann. Ich wartete ab, ob er weitersprechen würde, aber er tat es nicht.

»Du hast gesagt, dass deine Stiefmutter Kinder hatte«, hakte ich nach. »Dass sie ihr eigen Fleisch und Blut auf dem Thron sehen wollte.«

»Ja – als sie seiner überdrüssig war«, antwortete er trocken. »Sie und mein Vater hatten eine Tochter, die noch ein Kind war, als ihre Mutter beschloss, ihren Vater und ihre Halbgeschwister zu ermorden.« Er rieb sich die Stirn. »Deilah. Sie müsste immer noch sehr jung sein – schwer vorstellbar, dass der Adel sie ernst nehmen würde. Ich weiß nicht. Ich bezweifle nicht, dass eine ganze Reihe von Feen es auf meinen Thron abgesehen hat. Aber ich verstehe so wenig von Politik.«

Ich schüttelte den Kopf. »Dein Vater hat dir doch sicher in irgendeiner Form politische Bildung angedeihen lassen. Irgendetwas musst du doch gelernt haben, schon, indem du ihm zugesehen hast.«

»Em …« Mit gequälter Miene schlug Wendell sein Buch zu. »Ich war kaum neunzehn, als ich verbannt wurde. In diesem Alter gelten Feen nahezu als Kleinkinder, zumindest in Hinsicht auf ihre Weisheit. Es wird erwartet, dass wir Lustbarkeiten und Bälle besuchen und noch mehr Lustbarkeiten und Bälle und unseren Eltern diverse Problemchen bereiten, und das war so ziemlich alles.« Er seufzte. »Möglicherweise war ich Feiern stärker zugeneigt als die meisten Jugendlichen. Mein Vater hätte meine politischen Fähigkeiten nicht geringer schätzen können. Außerdem standen fünf Brüder und Schwestern zwischen mir und dem Thron, und so beliebt Attentate in meinem Königreich auch sind, hat doch kaum jemand geglaubt, ich könnte ihm je nahe kommen.«

Ich zögerte, als mir die Tragweite seiner Antwort klar wurde. »Dann – hast du keinen Schimmer, wie man ein Königreich regiert?«

»Das hat doch niemand.« Er nahm meine Hand, sein Unbehagen wich plötzlich Ernsthaftigkeit. »Wir werden es zusammen lernen.«

»O Gott«, sagte ich schwach.

Er musterte mich. »Ist es so schlimm? Du weißt jetzt schon mehr über Feenkönigreiche als jeder andere Sterbliche.«

»Geschichten.« Ich zog meine Hand zurück. »Ich kenne Geschichten.«

Er bedachte mich mit einem eigenartigen Blick. »Und hast du je etwas anderes gebraucht? Hast du nicht ein Königreich bis in die Grundfesten erschüttert, eine Tür in ferne Anderlande gefunden, eine Königin gestürzt? Gibt man dir das richtige Buch mit Geschichten, bist du zu allem fähig.«

Nun, ich muss wohl kaum beschreiben, wie wenig mich sein vorbehaltloses Vertrauen beruhigte. Mir war längst klar gewesen, dass Wendell einen großen Teil seiner Jugend vergeudet hatte, aber ich hatte angenommen, er habe wenigstens etwas über seinen Hof gelernt, darüber, was es bedeutete, Macht zu haben. Jetzt begriff ich die Wahrheit: Er wusste nichts über das Herrschen, und nun stand er so kurz davor, seinen Thron zu beanspruchen, und fand diese Tatsache nahezu bedeutungslos, als wäre sie ihm noch nie in den Sinn gekommen. Kein Wunder, dass manche Dryadologen glauben, alle Feen seien verrückt.

»Ich bin Wissenschaftlerin«, sagte ich. »Ich beobachte. Ich schreibe auf. Ich kann nicht – niemand wird mich je als Königin ansehen.«

»Nein?« Er schlug sein Buch wieder auf. »Sehr dumm von ihnen. Ich könnte wohl einfach das Vorgehen meines Vaters übernehmen und Razkarden schicken, damit er meinen Feinden Augen und Eingeweide herausreißt.«

Ich konnte nicht erkennen, ob es ein Scherz sein sollte, was meinen Wunsch, dieses Gespräch fortzusetzen, im Keim erstickte. Und damit ließen wir die Sache mehr oder minder auf sich beruhen.

 

Allerdings dachte ich weiter darüber nach.

Ich grübelte, als wir uns wieder auf den Weg machten und mein schwerer Rucksack auf meinem Rücken hin und her rutschte. Ich hatte vier Bücher eingepackt – zwei von ihnen hatte ich aus der Sondersammlung der dryadologischen Bibliothek in Cambridge[2] geschmuggelt, was mein Gewissen durchaus belastete, aber was hätte ich anderes tun sollen; in einer Welt, in der sich die Zeit gerne mal einen anderen Verlauf gibt, kann man keine Rücksicht auf Fälligkeitsdaten nehmen –, und alle vier befassten sich mit dem Wenigen, was über die politischen Gegebenheiten an Königshöfen der Feen bekannt ist. Nachdem lange angenommen wurde, dass die Herrscherinnen und Herrscher des Kleinen Volks vor allem durch Macht regierten, wobei der Adel seinen Zauber geschickter einsetzen konnte als die restlichen höfischen Feen, weckt die jüngere Forschung Zweifel an der Vorstellung, Feenherrscher besäßen weder strategische Kompetenzen noch konventionelle Führungsqualitäten.[3] Und tatsächlich liefert die Thronbesteigung von Wendells Stiefmutter, halb Fee, halb Mensch, weitere Hinweise, die diese Sichtweise unterstützen.

Ich habe Wendell noch nicht viel davon erzählt, weil das Projekt zurzeit nicht mehr als eine vage Idee ist, aber ich mache mir Notizen über die Prinzipien der Feenherrschaft, die ich meiner Lektüre entnehmen kann. Es versteht sich von selbst, dass vor mir noch kein Dryadologe die Herrschaft über einen Hof des Kleinen Volks vom Thron selbst beobachten konnte und daher niemand in einer besseren Lage war als ich, ein Buch über die Politik der Feen zu schreiben.

Schon wenn ich diese Worte denke, überläuft mich ein Schauer der Vorfreude. Sollte Wendells Stiefmutter uns töten lassen, bevor ich zu dieser wissenschaftlichen Debatte etwas beitragen kann, wäre ich sehr enttäuscht.

Auf unserem Weg durch den Wald folgte Wendell und mir stetes Geflüster. Ich hatte das Gefühl, von vielen Augenpaaren beobachtet zu werden, aber keine Fee, weder höfische noch gemeine, wagte es, uns zu begrüßen.

»Wenn wir doch nur etwas Neues in Erfahrung bringen könnten«, sagte ich. Die ärgerliche Wahrheit lautet, dass wir nahezu nichts darüber wissen, was uns erwartet. Ich habe mit Poe gesprochen, der sich durch seine zahlreichen Besucher aus ganz unterschiedlichen Feenreichen als außergewöhnlich gute Quelle für Klatsch herausgestellt hat, aber er wusste nur, dass in Wendells Königreich Chaos ausgebrochen war, nachdem ich die Königin vergiftet hatte. Poe zufolge meiden nomadische Feen meist Reiche, in denen solche Unruhen herrschen.

Wendell sah sich um. »Warum fragen wir nicht sie?«

»Wen?«

Wendell blickte zu einem Ast hinauf. »Du musst dich nicht verstecken. Ich werde dir nichts tun.«

Ich wartete, aber aus dem Wald kam weder eine Antwort noch ein Anzeichen von Bewegung. Wendell seufzte genervt und pflückte die Fee vom Ast – die Fee, die ich nicht gesehen hatte, weil sie einen Umhang aus gewebtem Moos trug. Mit der hochgeschlagenen Kapuze und so zusammengekauert war sie nicht mehr als eine Krümmung des Astes gewesen, eine bedeutungslose Laune im Muster des Waldes.

Die Browniefrau krächzte panisch und hielt dann wieder ganz still. Sie war nicht größer als dreißig Zentimeter, hatte ein engelsgleiches Gesicht, das zur Hälfte von Moos verdeckt war, und ganz schwarze Augen, wie bei Wesen ihrer Art üblich.

»Eure Hoheit!«, rief die Browniefrau mit ihrer dünnen Stimme. »Ich habe Euch nicht gesehen! Vergebt mir!« Als Wendell sie absetzte, warf sie sich ihm zu Füßen aufs Gesicht und plapperte etwas, das ich nicht verstand – weitere Entschuldigungen, glaube ich, allerdings erwähnte sie auch häufig Moos, das sie pflegte oder flickte, vielleicht um es Wendell zu schenken? Sinn und Verstand waren schwer auszumachen.

»Steh bitte auf«, sagte Wendell. »Im Moment bin ich noch keine Hoheit, also musst du nicht – ach, wie lästig.«

Sein verärgerter Ton schien zu der verzweifelten Fee eher durchzudringen als seine Worte. Das Wesen stand zitternd auf.

»Wir werden dir nichts antun«, wiederholte ich, aber sie sah mich nur kläglich an. Mitleid kam in mir auf.

Wendell strich seinen Mantel schwungvoll zur Seite und hockte sich vor die Fee. »So«, sagte er, »antworte mir rasch, dann kannst du umso eher zu deiner Mooshöhle zurückkehren. Was ist mit meinem Reich passiert?«

Die Fee plapperte erneut los, begleitet von ausgiebigem Händeringen und heftigem Gestikulieren. Wieder konnte ich kaum verstehen, was sie sagte, obwohl ich die Feensprache fließend beherrsche; die Browniefrau nuschelte und sprach einen Dialekt, in den sich viel Irisch mischte. Nach kurzem Zuhören hob Wendell eine Hand.

»Nichts besonders Nützliches«, sagte er zu mir und stand auf. »Die Kleinen hatten in letzter Zeit arge Probleme mit Feen, die auf ihren Reittieren durch den Wald jagen und ihre Höhlen zertrampeln. Es wurden Schlachten gefochten, und viel Magie wurde eingesetzt, was Brownies wie diesen in große Angst versetzte. Einige sind in die Berge geflohen und haben ihre Bleiben ganz aufgegeben.« Er wirkte ehrlich bestürzt. »Aber sie wissen nicht, was vor sich geht, auch nicht, wer daran beteiligt ist, nur, dass es ihnen das Leben sehr unerfreulich macht. Wie scheußlich!«

Er fuhr sich durch die Haare. »Es fing mit meiner Stiefmutter an – ihre Entscheidung, ihr Königreich zu vergrößern, indem sie die benachbarten Reiche erobert, wurde offenbar nicht von allen Bewohnern dort begrüßt, und jetzt schicken sie regelmäßig Stoßtrupps, die unser Kleines Folk schikanieren. Seit deinem Besuch ist die Lage noch labiler geworden.«

Ich wandte mich an die Browniefrau. »Lebt die Königin noch?«

Weiteres Gestikulieren und dicker Dialekt. Dieses Mal wirkte sogar Wendell verwirrt.

»Ja«, sagte er. »Aber das ist nicht alles – sie sagt, meine Stiefmutter sei geflohen. Allerdings hat die Kleine ein ungewöhnliches Wort dafür benutzt. Eines, das beschreibt, wie herabgefallenes Laub auf der Erde vergeht und Teil des Waldbodens wird.«

Wir sahen uns an, und ich merkte, dass wir gleicher Ansicht waren; die Sache verhieß nichts Gutes. »Sonst noch etwas?«, fragte ich.

»In der Nähe ist ein Schlachtfeld – die Kleine hat angeboten, es uns zu zeigen. Vielleicht erfahren wir dort mehr.«

»Also gut«, sagte ich, und damit brachen wir auf. Die Fee huschte wie eine grüne Welle vor uns den Weg entlang.

Fußnoten

[1]

Leider wird mein Aufsatz über das Thema – der zurzeit der Britischen Zeitschrift für Dryadologie zur Prüfung vorliegt – noch im Begutachtungsprozess aufgehalten. Offenbar sind viele Wissenschaftler noch nicht bereit, die Existenz von Feentüren anzuerkennen, die mehrere Orte miteinander verbinden, und ich werde möglicherweise weitere Belege sammeln müssen, um die Skeptiker umzustimmen, oder vielleicht andere Wissenschaftler davon überzeugen, dass sie selbst nach Österreich reisen und meine Erkenntnisse überprüfen.

[2]

Die Irische Monarchie: Geschichten der Feenkönige und Feenköniginnen von der vorchristlichen Zeit bis zur Moderne, John Murphy, 1772, und Der Spiegelkönig: Eine spekulative Biographie von Schottlands ältestem Feenherrscher, Douglas Treleaven, 1810.

[3]

Siehe z. B. Anna Queiroz’ jüngster Artikel über die beiden Feenkönigreiche auf Madeira, von denen eines in der lokalen Folklore lange als graues, unwirtliches Land unter der Herrschaft eines raubgierigen Königs beschrieben wurde, während das andere von einem Königspaar regiert wird, das unter anderem turnusmäßig Strafgerichte zur Klärung von Streitfragen abhält und regelmäßig sterbliche Musiker entführt, die Propagandaballaden über seine Herrschaft schreiben müssen; sein Königreich ist deutlich größer und veranstaltet einige der phantastischsten Feierlichkeiten, von denen die Wissenschaft weiß, ein typisches Kennzeichen prosperierender Feenreiche.

30. Dezember

Also! Es hat sich viel ereignet, seit ich dieses Tagebuch zuletzt aufgeschlagen habe, und ich weiß nicht recht, was ich von all dem halten soll. Nicht gerade ein neues Gefühl, seit ich mich mit Wendell zusammengetan habe.

Die Schlacht hatte auf einem Moorgebiet neben einem Sumpf stattgefunden, einem Ausläufer des Kaventsmanns, vermute ich. Hier und da schwebten kleine Lichter – die Überbleibsel der während der Schlacht eingesetzten Magie, die Irrlichtern ähnelten.[1] Wir fanden auch mehrere unerklärliche Artefakte, allen voran eine efeubewachsene Treppe, die nirgendwohin führte, und etwas, das ich nur als riesigen Fuchs beschreiben kann, der mitten in der Verwandlung zu einem Baum eingefroren war. Eine Aufmerksame Eiche war genau in der Mitte gespalten worden, wodurch ein sauberer Durchgang entstanden war, nur hatte es das Wesen offenbar leider nicht getötet. Gelegentlich ertönte eine Art Dröhnen, das aus dem Erdreich zu kommen schien. Alles in allem war ich recht froh, dass ich die Zauber, die in dieser hitzigen Schlacht gewirkt wurden, nicht miterlebt hatte.

Es gab weder Leichen noch Verwundete. Die einzige Bewegung stammte von den Farnen am Waldrand, durch die sanft der Wind strich. Zahlreiche Theorien versuchen zu erklären, was nach dem Tod mit den Körpern der Feen geschieht; Wissenschaftler haben sterbliche Überreste von nicht wenigen Arten der gemeinen Feen dokumentiert – einige sind sogar im Museum für Dryadologie und Ethnofolklore in Cambridge ausgestellt –, aber nie von höfischen Feen. Der führenden Theorie von Thanatodryadologen zufolge findet bei den meisten höfischen Feen eine Art spontaner Auflösungsprozess statt, möglicherweise nach einer gewissen Zeitspanne. Die Geschichten sind sich darüber allerdings nicht einig, und es gehört zu den Fragen, die ich Wendell, wohl meiner eigenen Schwächen wegen, bisher nicht gestellt habe.

»Hinter dieser Anhöhe wurde besonders heftig gekämpft«, sagte Wendell.

»Geh allein«, sagte ich mit Blick auf Shadow, der den Kopf gesenkt hatte, um aus einem Bach zu trinken. In der letzten Stunde war er hinter uns zurückgefallen, und wir hatten unser Tempo drosseln müssen. »Ich bleibe mit ihm hier. Ich glaube, er wüsste eine Pause zu schätzen.«

»Armer Schatz.« Wendell beugte sich vor, um Shadows Ohren zu kraulen. »Wenn ich meinen Thron wieder einnehme, stelle ich eine ganze Schar von Bediensteten für seine Bedürfnisse ab. Sie werden für ihn in jedem Zimmer ein samtenes Bett herrichten, neben jedem soll ein Feuer brennen, und er soll die Knochen meiner Feinde genüsslich kosten.«

»Es fing so schön an, aber das Ende hat mir weniger gefallen«, sagte ich.

Natürlich lachte Wendell nur darüber und macht sich auf den Weg zur Anhöhe. In mir kam nicht zum ersten Mal existenzielle Panik auf, in der ich alles hinterfragte, was mich zu diesem Punkt geführt hatte, bevor ich sie unter eher praktischen Überlegungen begrub, wie ich es immer tue. Wenn ich eines Tages unkontrollierbar schreiend in den Wald renne und mir die Haare ausreiße, wer außer Wendell wird dann die Schuld tragen?

Ich kramte die Salbe gegen Shadows Arthritis hervor und rieb dem Hund damit die Gelenke ein. Er schloss zufrieden die Augen, dreht sich auf die Seite und genoss die Sonne auf seinem Fell, was meine Sorgen nicht linderte. Für solche langen Wege ist er jetzt zu alt, er verbringt den Großteil des Tages lieber bei einem Nickerchen vor dem Kamin.

»Alles in Ordnung, mein Lieber?«, murmelte ich und rieb seine Ohren.

Schnaubend schlug Shadow mit dem Schwanz aufs Gras.

Unsere kleine Armee gesellte sich nicht zu mir auf die Lichtung, sondern blieb im Schatten des Waldes – ich bin nicht sicher, ob es für meine Nerven so besser war, aber zumindest musste ich sie nicht ansehen. Mit Ausnahme von Eisglöckchen natürlich, der auf meinen Schoß sprang und mich erwartungsvoll ansah. Wachsam kratzte ich ihn hinter den Ohren – für ihn eine angenehme Erfahrung, vermute ich, für mich allerdings weniger, weil die fuchsartige Fee solcher Zuwendungen ohne Vorwarnung überdrüssig wird und knurrend nach meinen Fingern schnappt.

»Ich kenne den besten Weg zum Schloss«, klagte Eisglöckchen und schlug mit dem Schwanz. »Es wäre schneller, wenn wir meinen Weg nehmen würden.«

»Dann sag das Seiner Königlichen Hoheit.« Mir war klar, dass er das auf keinen Fall tun würde und nur prahlen wollte.

»Dein Fell glänzt heute wunderbar«, sagte ich ihm, um weiteren lästigen Klagen zuvorzukommen. Und tatsächlich richtete der Fuchszwerg sich auf, sprang auf den Boden und begann auf einem sonnigen Fleckchen, sich zu putzen, um noch mehr Eindruck zu schinden.

Zufrieden verbrachte ich etwa eine halbe Stunde damit, den letzten Tagebucheintrag fertigzustellen. Als ich gerade ein Buch aus meinem Rucksack holen wollte, betrat Lord Taran mit weiten Schritten die Lichtung.

»Da seid Ihr ja«, sagte er so beiläufig, als hätten wir gerade Tee getrunken und ich hätte mir nur kurz die Füße vertreten.

Mit einem erstickten Schrei sprang ich auf, wobei mein Tagebuch und der Stift ins Gras fielen, und wich zurück. Er blieb stehen und betrachtete mich gelassen, seelenruhig trotz des riesigen Schwerts mit der dunklen, nassen Klinge in seiner Hand, ganz zu schweigen von den Flecken auf seiner mit Silber durchwobenen Tunika und den Blutspritzern auf seinem blassen Gesicht. Ganz offensichtlich hatte er bei der Schlacht auf diesem Moor eine bedeutende Rolle gespielt.

Ich dagegen war alles andere als ruhig. Lord Taran war kein großer Mann – eher durchschnittlich für höfische Feen, die meist ein wenig größer als Sterbliche sind –, aber er strahlte eine solche Präsenz aus, dass ich den Blick nicht abwenden konnte, so sehr ich es auch wollte. Wenn ich blinzelte, nahm ich durch die geschlossenen Lider manchmal eine skelettartige Gestalt wahr, wie aus Ästen, bedeckt von glitzerndem Moos als zerrissenem Sonntagsstaat. Bei unserer letzten Begegnung hatte er mich an den König der Verborgenen erinnert, nur hatte ich in den Augen des Königs gewaltige Gletscher und weite Schneelandschaften gesehen; in Lord Tarans Blick hingegen lag die undurchdringliche Dunkelheit im Herzen eines uralten Waldes.

»Ich – verzeiht, mein Herr«, stammelte ich und machte hastig einen Knicks. »Ich hatte nicht erwartet, dass Ihr mir die Ehre Eurer Anwesenheit –«

»Schon gut.« Er strich sich die dunklen Haare aus der Stirn. »Hat unser werter verschollener Prinz dieses Mal nicht geruht, Euch zu begleiten? Oder seid Ihr hier, um eine weitere Katze zu entführen? Er hatte nur die eine, wisst Ihr.«

Sein Blick wirkte amüsiert, aber es lag nicht die geringste Freundlichkeit darin. In seiner spöttischen Art, mich zu mustern, spürte ich eine grundlegende Grausamkeit, die von etwas im Zaum gehalten wurde, das ich nicht verstand.

Ich wusste nicht, welche Antwort ihm gefallen würde, also hielt ich mich an meinen Instinkt. »Eine Katze ist für mich mehr als genug, vielen Dank. Diesmal bin ich allerdings wegen des Throns hier.« Als er lächelte, wurden mir vor Erleichterung die Knie weich.

»Wirklich?«, fragte er. »Nun ja, warum nicht? Dieses Königreich wurde schon von halben Feen und Haushältern regiert, eine sterbliche Königin wird uns kaum noch weiter deklassieren.«

Und einfach so hatte ich wieder festen Boden unter den Füßen. Zumindest festeren. Was dieser Mann auch sonst sein mochte, er war ein ebensolcher Snob wie die meisten höfischen Feen.

»Warum übernehmt Ihr den Thron nicht selbst, wenn Euch die Abstammung seiner früheren Inhaber so stört?«, fragte ich, was recht dreist war, allerdings finden viele höfische Feen eine gewisse Kühnheit bei Sterblichen charmant, so wie wir es reizend finden, wenn ein Kätzchen seine Zähne zeigt.

Er schnaubte. »Weil mir mein Kopf lieb ist, darum. Es ist mir seit vielen Jahrhunderten gelungen, ihn zu behalten – weit länger als alle, die in dieser verdammten Löwengrube von Königshof die Macht begehren.«

Das war so weit von dem entfernt, was ich erwartet hatte, dass ich kurz schwieg. »Wie weise von Euch«, sagte ich schließlich.

Die boshafte Belustigung kehrte zurück. »Danke – ich kann Euch nicht sagen, wie sehr ich die Meinung von Sterblichen schätze, vor allem von jungen Mädchen, die immer wieder in gewalttätige Feenreiche geraten.«

»Kein Grund, unhöflich zu werden«, sagte ich verärgert. »Und zu Eurer Information, ich bin einunddreißig.« Ich war viel ruhiger geworden, weil ich es nicht mehr für wahrscheinlich hielt, dass er mir schaden wollte; nicht aus irgendwelchen moralischen Gründen, sondern weil – so mein Gefühl – ich ihm genug Zerstreuung bot, um sich zurückzuhalten.

»Wir können durchaus Weisheit besitzen, Professorin Wilde«, sagte er. »Einige von uns. Also, wo ist Prinz Liath?«

Ich habe keine Ahnung, wie ich in diesem Moment die Haltung bewahrte. Natürlich wusste ich, dass Wendell einen anderen Namen hatte, aber ich hatte ihn nie danach gefragt – vermutlich, weil ein Teil von mir in ihm nichts anderes sehen will als Wendell. Außerdem hatte er mir erzählt, dass Feen nur selten andere beim Namen nennen, sie benutzen nicht einmal die Kurzform ihrer echten Namen, die keine Magie in sich trägt.[2] Aus Wendells vagen Erklärungen hatte ich geschlossen, dass es als unhöflich gilt, ähnlich einem Sterblichen, der jemanden, den er nicht besonders gut kennt, mit dem Vornamen anspricht. Stattdessen benutzen sie Anreden wie »Onkel«, »Weber«, »Dame« und so weiter. Es ist ein faszinierendes Beispiel für die Umgangsformen der Feen, das sicher von ihrer Abneigung herrührt, ihre wahren Namen zu verraten; mir fallen mindestens vier mögliche Ansätze ein, diese Frage in einem wissenschaftlichen Aufsatz zu behandeln.

»Wenn ich wüsste, wo er ist, hätte ich es Euch schon gesagt«, antwortete ich nach einer winzigen Pause. »Es ist nicht so, als hätte mich meine Begeisterung für Plaudereien mit mächtigen, blutbefleckten Feen davon abgehalten.«

»Er wird kommen, wenn Ihr ihn ruft«, sagte Taran beinahe sanft.

Ich musterte ihn – ich weiß nicht, was ich hoffte, dabei zu erkennen; es war, als wollte man die Motive eines Gottes deuten. Ich holte Luft und rief: »Wendell!«

Einen Moment lang kam ich mir sehr albern vor. Einen sehr kurzen Moment lang nur, denn ich hatte noch nicht ganz wieder eingeatmet, als Wendell aus einem Baum trat.

Ich würde gern sagen können, dass ich mich daran gewöhnt habe, aber um ehrlich zu sein, habe ich es nicht, und so musste ich ein kindisches Kreischen unterdrücken. Wie er das tut, hat etwas zutiefst Verstörendes; würde es von einer Rauchwolke begleitet oder einem Zittern oder irgendetwas, das auf Magie hinweist, wäre es vielleicht nicht so schlimm, aber er tritt einfach aus Bäumen, als wären sie offene Türen.

Er blickte von mir zu Taran, ohne die leiseste Überraschung, aber voller Feindseligkeit. In einer Hand hielt er ein Schwert, das er vermutlich vom Schlachtfeld hatte. »Was tut Ihr da, Onkel?«

»Ich unterhalte mich, mein Lieber«, sagte Lord Taran. »Wonach sieht es denn aus?«

»Es sieht aus, als stündet Ihr drohend mit einem Schwert vor meiner Verlobten.«

»Wendell«, sagte ich erschrocken, weil seine Miene einen Ausdruck annahm, den ich früher schon gesehen hatte, eine Art böswilliger Ruhe. Ich war entschieden der Ansicht, dass wir uns Lord Taran nicht zum Feind machen sollten, wenn es nicht nötig war, auch nicht seine Freunde, die es vermutlich nicht begrüßen würden, wenn Wendell in Zorn geriet und ihm den Kopf abschlug.

Aber Lord Taran klopfte nur träge mit seinem Schwert auf den Boden und betrachtete Wendell von oben bis unten. »Wie reizbar Ihr seid!«, sagte er. »Das Gemüt Eurer Großmutter hat eine Generation übersprungen, was? Euer Vater hat es nicht geerbt, so blutrünstig er zum Ende hin auch war. Und Eure Mutter hat ihren Ärger natürlich eher beim Wäschewaschen abgebaut, wie die meisten ihrer Art. Aber Ihr zieht ein Schwert einem Besen vor, nicht wahr? Wie konventionell.«

»Wendell, er hat mir geholfen«, warf ich ein. »Uns beiden. Er hat mir den Weg ins Schloss gezeigt. Ohne seine Hilfe hätte ich dich wahrscheinlich nicht heilen können.«

Wendell sah mich nur verwundert an, als wäre ihm nicht klar, warum das wichtig sein sollte.

»Das habe ich, nicht wahr?«, fragte Taran. »Wenn es auch eher Callums Idee war als meine; er hatte schon immer eine Abneigung gegen meine Schwester wegen der Kriege, die sie so gern anzettelt. Er würde lieber Euch auf dem Thron sehen, Prinz, trotz Eurer Jugend. Er glaubt, eine Rückkehr zur alten Königsfamilie würde dem Reich mehr Beständigkeit bringen.« Er breitete die Hände aus. »Ich halte mich lieber aus der Politik heraus, aber als jemand, der noch nie den Kopf verlieren wollte, kann ich diesem Argument nicht widersprechen. Außerdem bin ich generell geneigt, Callum zu geben, was immer er will, ob ich es nachvollziehen kann oder nicht. Aber! Da wäre noch das kleine Problem, dass ich Eurem Vater einen Eid geleistet habe.« Er verzog das Gesicht auf eine Art, die bewusst unaufrichtig wirkte. »Wisst Ihr, der alte König hatte nur wenig für seinen Erstgeborenen übrig – für Euren ältesten Bruder, mein Prinz, der recht ungehobelt und dumm war und außerdem kaum Talent für Magie besaß. Deshalb musste ich dem König schwören, zu verhindern, dass jemand den Thron besteigt, der nicht stärker ist als der König selbst. Ich glaube, es war sein Wunsch, dass ich seinen Erstgeborenen töte, damit sein zweites Kind – Eure älteste Schwester – an die erste Stelle der Thronfolge rückt. Er war zweifellos überrascht, als ich untätig blieb und zuließ, dass meine eigene Schwester sich den Thron durch Mord sicherte, aber im Grunde blieb ich nur meinem Eid treu, nicht wahr? Sie bewies auf ihre eigene Art, dass sie stärker war als ihr Mann.«

Er seufzte tief. Es machte mir deutlich den Eindruck, dass er die Situation genoss, dass hinter jeder kummervollen Geste grausame Belustigung lauerte. »Und damit kommen wir zum eigentlichen Problem, Prinz – Ihr seht, ich kann Euch erst gehen lassen, wenn Ihr Euch als stärker als Euer Vater erwiesen habt. Wenn Ihr zum Schloss zurückkehrt und den Thron erobert, habe ich meinen Eid gebrochen.«

Diese ganze absurde Rede schien Wendell nicht zu überraschen. Den Kopf leicht schiefgelegt, wirkte er in Gedanken versunken. Er drehte sich um und warf mir einen Blick zu, den ich nicht verstand, als wollte er etwas abschätzen. Jetzt weiß ich, dass er nicht mich, sondern meinen Mantel ansah.

»Wir sollten –«, setzte ich an. Ich weiß nicht, was ich sagen wollte – ob ich einen echten Rat hatte oder nur Zeit schinden wollte, damit wir einen Weg aus dieser neuen Gefahr finden konnten. Es war egal, denn es dauerte keinen Atemzug, da lehnte Lord Taran nicht mehr lässig auf seinem Schwert, sondern richtete es auf Wendells Brust und stürmte auf ihn zu.

Fluchend sprang Wendell zur Seite. Selbst ich wich zurück, obwohl ich von der Klinge weit entfernt war – eine solche Geschwindigkeit und solchen Ingrimm wie in Tarans Bewegung hatte ich noch nie erlebt. Wendell landete in einem Büschel Farne und tauchte ins Grün ein wie in ein tiefes Becken – einen Sekundenbruchteil später hatte Tarans Schwert die Spitzen der Wedel abgeschlagen.

»Euer Vater konnte mich nicht schlagen«, sagte Taran, drehte sich und suchte die Umgebung ab, weil Wendell noch nicht wieder aufgetaucht war. »Er war der beste Schwertkämpfer, gegen den ich je angetreten bin, aber am Ende gehörte der Sieg nach unseren Geplänkeln doch immer mir. Also, Prinz – Ihr müsst mich nur einmal entwaffnen, dann betrachte ich die Angelegenheit als geklärt. Damit beweist Ihr, dass Ihr stärker seid als Euer Vater.«

»Wendell, das ist lächerlich«, rief ich. Shadow neben mir knurrte tief. Ich versuchte zu erkennen, wo Wendell stecken könnte. »Wir können doch sicher eine Lösung aushandeln.«

»Ich fürchte, das ist unmöglich.« Wendell tauchte aus einem Baum am anderen Bachufer auf. Er beobachtete Lord Taran wachsam, was mich erstarren ließ, weil Wendell mit einem Schwert normalerweise der Inbegriff der Selbstsicherheit ist. »Wenn er seinen Eid bricht, ist sein Leben verwirkt.«

Lord Taran nickte. »Wie gesagt – mein Kopf ist mir lieb.«

»Ach, um –« Meine Stimme kippte, weil ich nicht glauben konnte, dass es nach allem hier enden könnte. Ich musste etwas übersehen haben, es musste einen anderen Ausweg geben –

Taran griff an, aber dieses Mal war Wendell bereit. Ihre Schwerter trafen in einem silbernen Hiebregen aufeinander, die Sonne fiel auf die Klingen und ließ grelle Blitze über die Lichtung zucken. Vor meinen Augen huschten dunkle Flecken umher, aber ich zwang mich zuzusehen – was nicht viel half. Die beiden Männer bewegten sich so schnell, dass ich überhaupt nicht folgen konnte; es war, als wollte man das Diamantenmuster von Sonnenlicht auf dem aufgewühlten Meer aufzeichnen. Als sie sich trennten, stand Wendell auf der anderen Seite des Bachs, und Taran starrte ihn vom Ufer aus an.

»Ihr seid –« Lord Taran stockte. Er wirkte nicht überrascht – es wäre interessant zu wissen, ob er zu einer solchen Emotion noch in der Lage ist –, aber in seinem Blick lag neues Interesse. »Es ist, als würde ich wieder gegen Euren Vater kämpfen.«

»Mich hat noch niemand im Schwertkampf besiegt«, sagte Wendell beinahe geistesabwesend.

»Auch mich nicht«, sagte Taran. »Deshalb hat Euer Großvater, der alte König, mich wohl zu seinem General ernannt. Ebenso wir vor ihm seine Mutter. Euer Vater wollte es auch tun – aber ich bin den Krieg leid.«

Jetzt sprach er ohne Bosheit oder Belustigung, nur mit einer unermesslichen Ruhe; in seiner Stimme hallten ganze Zeitalter nach. Wendell weiß nicht genau, wie lange sein Vater menschlichen Maßstäben nach regiert hat, nur, dass es Jahrhunderte waren, nicht Jahre. Und Lord Taran hatte den Aufstieg und Untergang von mindestens zwei Herrschern vor ihm miterlebt?

»Wendell –«, versuchte ich es noch einmal, als sich Furcht in mir festsetzte.