Emma Nielsen - Die mit dem Teufel tanzt - Teil 2 - Matthias Rathmer - E-Book

Emma Nielsen - Die mit dem Teufel tanzt - Teil 2 E-Book

Matthias Rathmer

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Beschreibung

Sie dachte, sie würde ihr Leben schon meistern. Irgendwie und irgendwann. So, wie eben jeder denkt. Und sie dachte, dass die Liebe sie einmal für das entschädigen konnte, mit dem die anderen um sie herum sie immerzu bestraften. Wie eben alle so dachten. Sie hätte einfach nicht denken sollen. Als Emma nach einer sonderbaren Begegnung zu entdecken beginnt, dass nichts um sie herum so ist, wie es scheint, sieht sie sich einer Herausforderung gegenüber, die genauso überraschend wie wahnsinnig ist. Senn wenn ausgerechnet der Teufel mit dir tanzen will, solltest du wissen, auf welcher Seite du stehst...

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Seitenzahl: 555

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Emma Nielsen × Die mit dem Teufel tanzt

Teil II

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www.emma-nielsen.de

Matthias Rathmer

Emma Nielsen

DIE

MIT

DEM

TEUFEL

TANZT

Danken möchte ich vor allem Dir, meine liebe Stephanie, für Deine grenzenlose Geduld mit mir und der deutschen Rechtschreibung, für Deine große Unterstützung und all die Zeit und Mühen, die Du Dir genommen und diesem Projekt so einmalig wohltuend geschenkt hast.

Danken möchte ich ebenso allen, die über die Entstehung dieses Romans wussten und sie mit ihren Anregungen bereichert haben. Kiki! Danke für alle Deine Hilfen!  

Emma Nielsen – Die mit dem Teufel tanzt – Teil II

Matthias Rathmer

© 2012 Matthias Rathmer

published by: epubli GmbH, Berlin

Coverfoto by Joseph N. Tran

MEINEN

LIEBEN

ELTERN

und im Besonderen

MEINER

1

Solange sie sich nicht sicher war, wie er zu ihr stand, lösten ihre Gefühle für ihn helle Aufregung denn wohlige Vertrautheit in ihr aus. An Schlaf war nicht zu denken. Aufgewühlt schlug sie ihre Fäuste in die Kissen. Der vergangene Tag, der zur Kür in der Zeit ihres Erwachens hatte werden sollen, war gründlich verlebt. Sie griff erneut nach dem von Kaffeesatz verdreckten Handzettel, der an der Pinnwand hing und auf den sie schon einmal zu schielen begonnen hatte, als sie sich am Abend hingelegt hatte. Ihr Urteil stand nun unwiderruflich fest. Er kam zu kitschig daher, dieser Engel. Er saß auf einer Wolke und lächelte einem so freundlich entgegen, wie es sich wohl die meisten Himmelsfahrer wünschten, wenn sie gestorben und von Gottes Personal in Empfang genommen worden waren.

„Der Mensch ist nur ein Mensch. Weil er liebt. Weil er vergibt,” las sie sich selbst zum wiederholten Male laut vor, als ginge es ihr darum, mit dem Klang dieser Buchstabenreihen ihre Bedeutung besser verinnerlichen zu können.

„Wie soll ich jemandem vergeben, von dem ich gar nicht weiß, ob es sich effektiv lohnt, ihm derart große Geschenke zu machen. Das gehört sich einfach nicht.”

Emma blinzelte angestrengt zurück auf den Diener Gottes. Die Worte des Engels standen auf einem Flyer, den sie vor dem vernichtenden Zugriff der Mutter hatte bewahren können, weil er sonst, ohne ihr Interesse, auf dem Altpapierstapel neben den Bioabfällen gelandet wäre. Immerhin hatte jemand eine Meinung und traute sich ihren öffentlichen Vortrag. Das war selten genug. Der Botschaft dieser klerikalen Hauswurfsendung allerdings konnte sie nur sehr bedingt folgen. Eitel oder narzisstisch wie die meisten im Allgemeinen um sie herum waren, hatte Emma längst aufgehört, anderen vorzugaukeln, dass es bereichernd sein könnte, sie auf ihren Irrfahrten durchs Leben zu begleiten, um entweder zu zweit oder in Ansammlungen ihrer Art doch nur wieder allein zu sein. Emma wollte nicht ungerecht sein. Doch seit langem schon bemäkelte sie den allgegenwärtigen Unsinn menschlichen Handelns. Wider jede Einsicht lebte sich die Mehrzahl scham- und skrupellos aus. Sie taten so, als ginge sie Verantwortung höchstens dann etwas an, wenn sie bezahlt wurde. Dabei kam niemand lebend davon.

„Wer sich für die Warums dieser Welt interessiert, wäre besser dumm geblieben.” Es gab Tage, da reduzierte Emma, hatte sie über die bedeutendsten weltweiten Krisenherde gelesen oder gehört, die Funktion und Daseinsberechtigung der Menschheit allein auf die Umwandlung von Sauerstoff in Kohlenstoff. Über alle anderen Ungerechtigkeiten, über den massenhaften Lug und Betrug in den unzähligen anderen Winkeln dieses Planeten wurde, wie sie mittlerweile begriffen hatte, deswegen nichts gesagt, weil die Berichterstattung darüber entweder manipuliert war, oder Spalten wie Sendeminuten für verblödende Werbung vorgesehen war.

Eine ganze Woche hatte sie in den letzten Frühjahrsferien damit verbracht, Kriege, Katastrophen, Korruption und andere Untaten aus zehn bedeutsamen Illustrierten zusammen zu tragen. Nicht weniger als einhundertzweiunddreißig Ereignisse von Belang hingen schließlich an ihrer Wand, von der einst Robbie Williams seinen Charme als lebensgroße Puzzlegestalt versprüht hatte. Das Leben machte einfach keinen Sinn. Die Menschen machten einfach keinen Sinn. Emma wusste, dass allgemeine Verurteilungen nicht wirklich etwas taugten. Sie veränderten nichts. Sie veränderte mit ihnen nichts. Weil die Defizite vieler einzelner aber in der Regel überwogen, und es keinen gab, zu dem sie hätte aufsehen können, stellte sie die Menschheit als Einheit immer häufiger in Frage. Gute Musik als Ausflug in eine kleine, heile Welt fegte diese Missstände schon lange nicht mehr aus ihrem Hirn.

„Was denkst Du gerade?” hatte sie Oskar gefragt, als sie damals, im nasskalten April, eine ganze Weile schweigend, gelangweilt und genervt nebeneinander im Auto gesessen hatten, weil sich auf der Rückfahrt der Straßenverkehr gestaut hatte. Sie waren ein ganzes Wochenende über auf einem Raverfestival im Brandenburgischen gewesen. Emma hatte diesen Trip deswegen noch so genau im Kopf, weil sie nie zuvor heftigere Ohrenschmerzen und Herzrhythmusstörungen bekommen hatte als während und nach dieser zweitägigen Dauerbeleidigung für ihre Ohren. Dazu hatten sie im Matsch gebadet. Es hatte unaufhörlich geregnet.

Beide hatten bereits in einem der ersten Gespräche, die sie geführt hatten, nachdem sie sich kennen gelernt hatten, vereinbart, dass der jeweils andere zügig und ehrlich zu antworten hatte, wenn einer von beiden diese Frage gestellt hatte. Kein Mensch dachte tatsächlich an nichts.

„Dass neunzig Prozent der Menschen dumm und blöd sind,” war Oskars Antwort gewesen.

„Mehr!” hatte sie sofort ergänzt. „Wenn ich einen schlechten Tag habe, denke ich, dass es weit mehr sind.”

„Das darf man aber um Himmelswillen bloß nicht laut sagen, um nicht ans Kamener Kreuz genagelt und öffentlich mit Katzenkot beworfen zu werden.”

„Kamener Kreuz?”

„Ist da, wo sich die erste und die zweite Autobahn unserer Republik kreuzen. Die, die Hitler einst bauen ließ. Mit all den Dummen und Blöden.”

„Es ist heute genau so,“ seufzte Emma auf. „Neunzig Prozent der Menschen sind wie Knete in den Klauen ein paar weniger. Zerquetscht von Macht und Ohnmacht. Sie sind dumm, ehrerbietig, namenlos, habgierig, zivilfeige und konsumsüchtig. Keine Revolution, kein Krieg, keine Regierung und kein Herrschaftssystem hat daran in den letzten dreitausend Jahren etwas ändern können, nicht einmal die Philosophen, die Künstler, die Denker oder die anderen Großen ihrer Zeit.”

„Stimmt! Mit ihren Büchern und Schriften könnte man im Mittelmeer eine ganze Insel aufschütten lassen, die aber sicherlich niemand besuchen würde, weil sich dort auszuruhen hart und unbequem wäre.”

„Ja! Es ist zum Beispiel total sinnlos, in dieser Blechlawine nach Hause zu schleichen. Alle wissen es, aber alle tun es trotzdem. Wir gehören ganz eindeutig ebenfalls zu den neunzig Prozent. Ich hab es vorher gesagt. Und was war? Nichts war. Wir sind trotzdem gefahren.”

„Schatz! Das nächste Mal hast Du Recht. Ganz gleich, was es ist, ok?” Oskar konnte so herrlich einfach sein.

Von allen Sinnlosigkeiten des Lebens, erinnerte sich Emma an dieses Ereignis zurück, war die damalige Schleichfahrt mit ihm noch einigermaßen erträglich gewesen. Sie waren wenigstens vorangekommen, im Straßenverkehr und in ihrer Freundschaft. Vor allem das war selten genug, zwischen Männern und Frauen.

Es war fast zwei Uhr in der Früh geworden. Der Wind hatte nachgelassen. Emma heftete den Flyer zurück an die Pinwand, ließ sich auf den Rücken fallen und stöhnte leise auf. Wo war Ron? Was war Traum? Und was war Wirklichkeit? Es gab Stunden, die zu erleben so schräg war, dass die, die von ihr darüber hörten, nur müde lächelten und sie für hoffnungslos durchgeknallt hielten. Es gab Momente, die zu erleben so verrückt war, dass einem keiner auch nur ein Wort glaubte, obgleich sie wahr gewesen waren. Und es gab Augenblicke, die zu erleben so unvorstellbar war, dass sie darüber eisern schwieg. Alle diese Erlebnisse kannte sie. Was jedoch gerade geschah, machte es ihr unmöglich, eine Bezeichnung dafür zu finden, geschweige denn eine Erklärung. Trotzdem. Sie musste glauben, was ihre Augen gesehen hatten.

Ron hatte tatsächlich die Wahrheit gesagt. Nichts mehr als die reine Wahrheit. Ihr Leben stand auf dem Spiel. Sie würde tun müssen, was er vorgeschlagen hatte. Sie musste einmal durchs Jenseits laufen, die Hölle hinab, am Inferno vorbei, dem Amtssitz Luzifers, den Berg des Fegefeuers hinauflaufen, bis sie das ewige Licht erreicht hatte. Dann erst war sie den Höllenfürst samt seiner Bande von Riesenschnauzern los. Emma erinnerte sich. Sie war ihm gefolgt. Eine Untergrundbahn hätte sie zermalmt, wenn er nicht gewesen wäre. Mit diesem Tag hatte alles angefangen. In diesen Stunden hatte sie eine Entscheidung getroffen, über deren Konsequenzen sie nicht die geringste Ahnung besessen hatte. Ihre Reise durchs Jenseits, das es entgegen vieler Bekundungen und Lehren also doch gab, sollte eine dramatische Enthüllung werden, die nie zuvor ein Mensch gemacht hatte. Und hätte Emma zu diesem Zeitpunkt bereits gewusst, wer im Hintergrund tatsächlich an den Fäden ihres Schicksals zog, hätte sie sich freiwillig für den Rest ihres Lebens in eine kleine, gemütliche Irrenanstalt eingewiesen.

Sie war mit ihm durch die Hölle gegangen. Sie war dem Teufel entkommen, während Ron in dessen Händen verschwunden blieb. Sie hatte die ersten Prüfungen im Fegefeuer bestanden, während von Oskar nach seinem Tod immer noch jeder Hinweis fehlte, wo sie ihn entweder beerdigt oder sonst wo hingebracht hatten. Und obendrein war sie dieser Kaja begegnet, während ihres nächtlichen Spazierganges. Wäre sie nicht aufgewacht, aus jenem Traum in dieser Nacht, hätte sie nicht ins Schlafzimmer gelugt, wäre sie nicht hinaus in die Nacht, hätte sie in der Bar nicht nach einem Bier gefragt, wäre sie auch diesem bornierten Vamp niemals begegnet. Träumte sie etwa immer noch? Emma sinnierte über das Tempo des Lebens, über die Dinge und Menschen, die einem widerfuhren oder begegneten und damit das eigene Dasein so maßgeblich beeinflussen konnten. Sie dachte an Ottokar und an Silvy, an Hölle und Himmel, an die Reiche im Jenseits, die es angeblich nicht gab, an Gott und die Welt, an das, was alles zuvor geschehen war, an diesen skurrilen Gesprächskreis über Neid. Und überhaupt. Woher wusste diese Hure über sie und Ron? Wo bloß war Ron? Was bloß fiel dieser Hexe Kaja ein, sie derart zu beleidigen?

2

Er hatte sich entschieden. Endlich. Seine Strafe und ihr Maß standen fest. Volle zwei Tage hatten sie ihn unbehelligt in seiner dunklen Zelle schmoren lassen. Nach Lage der Dinge rechnete Ron mit der Höchststrafe, mit dem Eissee, die Bestrafung, die sein Verrat vorsah. Seit mehreren Minuten saß er seinem Henker schweigend gegenüber. Ron scheute Blickkontakt. Noch immer blendete ihn Helligkeit. In gesenkter Kopfhaltung hielt er Luzifers Hände im Blick, die eine Kladde hielten. Sein Siegelring glänzte ihm mehrfach in prächtigem Gold entgegen.

Aufmerksam las Luzifer Auszüge in verschiedenen Berichten. Er legte die Akte ab und nahm mit einer auffallend wohlwollenden Geste die Lesebrille von der Nasenspitze. „Nun, wie geht es Dir?”

Ron dachte, sich verhört zu haben. Der Fürst der Finsternis begann ihre Unterredung in der Art eines Sozialarbeiters. Luzifer fragte ihn allen Ernstes nach seinem Befinden. Er wusste nicht, was er antworten sollte.

„Ich habe Deine Geschichte gelesen, und ich frage mich, warum Du sie mitgenommen hast? Ja! Warum hast Du sie mitgenommen? Die Aussicht auf ein amouröses Abenteuer war es wohl nicht, oder doch?” Luzifer verdrehte so lustvoll seinen Kopf und nickte gleichzeitig so heftig, als sei dies die einzige Erklärung für Rons Hilfe, die er akzeptieren konnte.

Ron versuchte, nüchtern zu wirken. „Sie war mir gefolgt. Ich wollte nicht, dass sie durch die Untergrundbahn der Erdlinge den Tod findet. Sie ist noch so jung.”

„Stimmt, das ist sie wohl.” Luzifer setzte seine Sehhilfe wieder auf und beäugte ihn genauer. Mit schwungvollen Armgestiken forderte er Ron auf, sich weiter mitzuteilen. „Aber dann hattest Du ein noch viel größeres Problem.”

„Stimmt, das hatte ich wohl.”

Luzifer missfiel Rons Antwort und belegte ihn mit einem bösen Blick. Er erhob sich und schritt würdevoll auf und ab. „Jetzt ist sie weg. Wohin auch immer. Einfach weg. Hat er eine Erklärung, wie sie das geschafft hat?”

Ron verfolgte seinen Peiniger sorgsam genau. Auch auf diese Frage wusste er nicht sofort zu antworten. Luzifer selbst hatte schließlich Emmas Flucht ermöglicht.

„Nur allzu gern wüsste ich, wie sie das geschafft hat? Das Warum ist mir gleichgültig.” Luzifer trat näher an Ron heran, griff sein Kinn und zog es vor sein Gesicht. „Ich habe gefragt, ob er eine Vorstellung hat, wie sie das geschafft hat.”

„Nein.”

Luzifer ließ wieder von ihm ab. „Ja, ich dachte mir, dass er so antworten würdest.” Er stolzierte neuerlich auf und ab und gab sich wie ein Lehrer, der damit rang, wie er einen seiner Schüler auf den richtigen Pfad der Lösung führen konnte. „Nun, ich will zu ihm ehrlich sein. Je länger ich über Deinen Fehler nachdenke, und dieses Menschenkind in unser Reich zu bringen war ein unverzeihlicher Fehler, weil es gegen die Grundsätze unserer Ordnung verstößt, desto... wie soll ich mich ausdrücken... desto nachdenklicher werde ich.” Luzifer hielt inne und trat näher an ihn heran. Er versuchte an Ron, der es weiterhin vermied, seinen Blick aufzunehmen, eine Reaktion auf seine Worte auszumachen. „Schaue er mich gefälligst an, wenn ich mit ihm rede!”

Ron nahm langsam den Kopf hoch und erwiderte Luzifers Blick. Ein feistes Grinsen erwartete ihn, das zu imitieren niemand in der Lage war.

„Ich will Dir sagen, wie sie das geschafft hat. Durch mich. Ich selbst habe ihr geholfen. Durch meine Hilfe konnte sie aus der Arena fliehen.” Luzifer setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. „Aber das weißt Du sicherlich, oder?”

Ron schwieg weiter. Er hatte sich, als man ihn aus seiner Zelle geholt hatte, vorgenommen, kein Wort zu sagen, nicht um Milde zu bitten und jede Bestrafung ehrenhaft zu erdulden. Emma war im Fegefeuer. Das war das Ziel ihrer Unternehmung gewesen, und das war erreicht.

Luzifer knallte plötzlich harsch mit der Faust auf den Tisch und fauchte Ron an. „Ich habe Dich etwas gefragt.”

„Unser Plan sah vor, sie mit Hilfe der Austauschkommission ins Fegefeuer zu bringen. Unser Plan ist gescheitert. Das wissen Sie doch.” Ron war trotziger geworden. Er hatte nichts mehr zu verlieren.

Luzifer massierte seine Schläfen und versah Ron mit prüfenden Blicken. „Weißt Du! Ich frage mich, warum Du mit Deinem Problem nicht zu mir gekommen bist. Ich meine, es wäre eine Geste des Vertrauens gewesen, wenn Du, als einer meiner Diener den Weg hierher gesucht hättest und mir verdammt noch mal gesagt hättest – Chef! Ich habe ein Problem.” Luzifers Tonfall war nahezu freundschaftlich geworden. „Stattdessen wird Dein Problem zu einer Belastung für uns alle.” Er stand auf, stützte seine Arme und Hände auf dem Schreibtisch ab und baute sich vor Ron auf. „Ein Ereignis von diesem Rang hätte ihn niemals anders handeln lassen dürfen. Hört er? Niemals anders!”

War Ron bereits mit dem Beginn ihrer Unterredung gehörig irritiert, so konnte er ihren Verlauf und die Intention Luzifers noch weniger begreifen. His Infernal Majesty bot sich ihm als unberechenbarer Wirrkopf dar.

„Aber. Es könnte ja sein, dass Du aufgrund Deiner persönlichen Geschichte, damals, aufgrund Deiner eigenen Erfahrungen damals, ein Urteil gefällt hast, dessen Folgen Dir gar nicht bewusst waren. Das kennen wir doch alle. Das Unterbewusstsein hat längst schon geurteilt, bevor das Bewusstsein etwas entscheidet.” Luzifer musterte ihn eindringlich. „Das könnte doch sein, oder?”

Ron hatte auch auf diese Frage keine Antwort, die ihm gefiel, während Luzifer wie ein Kater um ihn herumschlich und ihn mehrfach grinsend aufforderte, dazu endlich etwas von Belang zu äußern.

„Verdammt noch mal, Ron Gellag...”

„Gallagher. Ron Gallagher. Und ja! Das könnte so sein.”

Fast erleichtert schloss Luzifer die Augen. „Sehr schön. Sehr schön. Hätten wir das also geklärt.” Luzifer nahm beruhigt wieder Platz. „Kommen wir zu den Folgen Deines Handelns.” Einem Oberlehrer gleich verschränkte er seine Arme und Hände auf der Brust. „Der Tod dieses Begleiters war der Beginn einer Reihe von Boykottmaßnahmen gegen unser Reich seitens der Himmelsleitung. Das Destino und mehrere andere Kommissionen haben erst nach ihrer Freilassung ihre Arbeit wieder aufgenommen. Deswegen, ich betone deswegen, habe ich dafür gesorgt, dass sie uns verlassen konnte.” Luzifer schob seinen Kopf vor. „Nun! Ich möchte, dass Du ihr folgst, dass Du sie begleitest. Ich traue diesen Brüdern nicht. Ich möchte sichergehen, dass sie unbeschadet ins ewige Licht tritt. Ich möchte, dass sie zügig und vor allem unversehrt auf die Erde zurückkehrt.”

Ron verharrte abermals. Hatte er tatsächlich richtig gehört? Er sollte Emma ins Fegefeuer folgen, um die Interessen des Teufels zu wahren.

Luzifer vernahm seine Skepsis. „Ja, doch! Die können mir doch sonst etwas erzählen. Ich muss Gewissheit haben, dass dieses Menschenkind gerettet wird.”

Er schaute ihn erneut lange an, und so, wie er das tat, wusste Ron, dass es ihm ernst war. Nur aus welchem Grund lag Luzifer wirklich an Emmas Wohl? So viel dämmerte ihm. Emmas sichere Rückkehr war zweifelsfrei ein Vorwand für ein anderes, höherrangiges Motiv.

„Du bist jung und unerfahren. Ich gehe davon aus, dass diese Bande von Verrätern einen schlechten Einfluss auf Dich gehabt haben, dem Du Dich aus Mangel an Erfahrung nur schwerlich widersetzen konntest.” Luzifer wurde nachdenklicher und seufzte auf. „Sarah, meine geliebte Sarah. Was für ein Verlust.” Seine Augen blitzten plötzlich bösartig funkelnd hervor. „Die ewige Eva! Eine Frau eben. Sollte sie mir je wieder unter meine Augen treten, ich werde sie persönlich vierteilen und zwar mit einem Genuss...”

Ron dachte angestrengt nach. Die Aussicht, Emma zu folgen und von hier wegzukommen, gefiel ihm. Gleichzeitig besaß diese unerwartete Milde einen gehörigen Haken. „Darf ich fragen, wie Sie sich diese Begleitung vorstellen?”

Luzifer griff ein Schreiben und versiegelte es mit einem Wachsring zu einer seiner berüchtigten Urkunden. Sein Gemüt hatte erneut anfallartig gewechselt. Mit nahezu gönnerhaftem Benimm schmunzelte er auf. „Das darfst Du, das darfst Du!”

Es entsprach der Natur und Zweckmäßigkeit der Sache, dass seine Ernennung im kleinsten Kreis vollzogen wurde. Ron wurde für seine Mission in den Null-Null-Agentenstatus erhoben. Süffisant hatte Luzifer bemerkt, dass sich mit Sarahs Verrat eine freie Planstelle eröffnet hatte. Er hoffte, dass Ron seine Sache besser machen würde, wie er kurz nur betonte. Über Sarahs Verbleib indes hatte er geschwiegen und nur müde gelächelt.

Ein päpstlicher Zeremonienmeister der mittelalterlichen Kurie ließ Ron in einer Krypta auf das Satanische Manifest schwören. Danach erhielt er eine zweistündige Kopfwäsche über die Organisation des Himmels und des Fegefeuers samt Analyse des Personals und ihrer Aufgaben. Was die Hölle über ihren Gegenspieler diesbezüglich wusste, Ron kannte es nach dieser Infiltrierung ebenfalls. Mit seiner Ernennung zu einem Topagenten übersprang er nicht weniger als sechs Ausbildungsjahre. In seine Mission eingewiesen und einsatzbereit, war er sich dennoch darüber klar, dass er nicht mehr als eine Marionette Luzifers in einem Spiel war, über dessen Dramaturgie er nur mutmaßen konnte.

Luzifer selbst betrachtete sich nach Rons Abgang lange in einem Spiegel. Er war mit sich hoch zufrieden. Er wiederholte einige seiner Aussagen, die er Ron gegenüber gemacht hatte. Er imitierte seinen Benimm, mit der er ihm gegenüber getreten war, und er lobte seine schauspielerischen Leistungen. Alle seine Täuschungsmanöver waren gesetzt. Amüsiert begann er, lauter und lauter zu lachen.

Durch den riesigen, kreisförmigen Treppenaufgang waren sie weitere sieben Mal siebenhundertsiebenundsiebzig Stufen einen Kreis höher aufgestiegen. Entlang der Wände waren wie üblich Bilder mit biblischen Motiven aufgehängt. Immer, wenn sie eine kurze Rast eingelegt hatten, um auf die zu warten, die sich die Stufen hinaufquälten, war ein Engelshelfer vorbeigehuscht und hatte ihnen erklärt, welche Passagen des Alten oder Neuen Testaments auf diese Weise verewigt worden waren. Ein Vaterunser-Gebet hatte das christliche Sendungsbedürfnis stets beendet. Während des Aufstiegs mühte sich Emma nach Kräften zu verstehen, warum ausgerechnet Silvy die Neidprüfung nicht bestanden hatte. Sie schlich als eine der letzten die Stufen hoch, um den allgemeinen Belehrungen zu entgehen, als sie Ottokar erreichte, der auf sie gewartet hatte.

„Kennst Du den? Treffen sich zwei Bundestagsabgeordnete im Zug. Der eine kommt direkt aus einer Debatte im Reichstag. Fragt ihn der andere, was er gesagt hat. Sagt der eine, dass er wie immer gar nichts gesagt hat, worauf der andere entgegnet, dass ihm das klar war und nur wissen wollte, wie er es formuliert hat.”

Emma konnte nicht wirklich lachen.

„Komm! So schlecht ist er nicht.”

„Stimmt! Aber mit Witzen ist das immer so eine Sache. Es kommt nicht nur darauf an, wer und wie ihn erzählt, sondern auch, wann und vor allem warum.”

„Du solltest nicht so viel grübeln.”

„Ach ja?”

„Macht Dich unnötig älter!” Ottokar hielt ihren Schritt. „Silvy wird etwas anderes falsch gemacht haben.”

„Genau darüber denke ich ja nach.” Emma stutzte, weil Ottokar zu wissen schien, was sie beschäftigte. „Nehmen wir mal an, dass das so ist, wie Du sagst. Dann bedeutet das, dass es völlig schnuppe ist, was wir zu diesen angeblichen Prüfungen sagen oder machen.”

„Und was wir nicht sagen oder nicht machen.”

„Was wieder soviel bedeutet, dass alles vorherbestimmt ist.”

„Und das bedeutet, dass wir begleitet werden.”

„Warte! Ich erzähle Dir was. Aber Du musst schwören, dass Du es für Dich behältst.”

Ottokar sicherte ihr seine Verschwiegenheit mit der Geste beider erhobenen Hände zu.

„In der Nacht vor diesem Gesprächskreis hatte ich einen Traum. Und jetzt rate, was ich geträumt habe?”

„Neid! Du hast von Neid geträumt. Wie wir alle.”

Emma war augenblicklich starr vor Verwunderung.

„Ich habe sie alle gefragt. Alle haben wie Du und ich wenige Stunden vor der Prüfung über Neid geträumt.”

Emma hielt inne. „Fragt sich jetzt nur noch, warum Silvy diesen Traum nicht gehabt hat.”

„Sie hat nicht geträumt?”

„Nein! Hab sie danach gefragt.”

„Dann hat sie vielleicht gelogen,” versuchte Ottokar, Emmas Fragen zuvorzukommen. „Fest jedenfalls steht, dass sie nicht mehr dabei ist.

„Ja, wie Amber auch.”

„Wie wer auch?”

„Nichts! Schon gut!”

Eine Weile sprach keiner ein Wort. Ottokar nämlich beschäftigte ein anderer Gedanke. Nach mehreren, kurzen Blicken auf Emma fasste er den Mut, sich zu offenbaren. „Sag mal! Du hast nicht zufälligerweise auch... Du hast..., äh...“

„Muss schlimm sein.”

„Im Gegenteil!”

„Na, dann mal raus damit! Was habe ich nicht zufälligerweise auch?”

„Na ja! Von Deinem ersten Kuss geträumt?”

Emma verharrte augenblicklich ein zweites Mal verschreckt, verdrehte ihren Kopf und beäugte ihn abschätzend.

Ottokar schließlich kicherte verstohlen.

„Du?” fragte Emma unverzüglich nach.

„Ja, ich! Wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege. Das heißt. Ich bin mir sicher, mich nicht zu irren.”

„Das glaub ich jetzt nicht.”

Ottokar berichtete so detailliert über seinen Traum, dass es keinen Zweifel gab. Er war der Junge aus der Mülltonne, Ottokar verdankte sie ihr erstes Schreckerlebnis mit dem anderen Geschlecht. „Na super! Vielen Dank nachträglich!”

„Wie meinst Du das?”

„Dieser Kuss war widerlich. Du hättest Deine Zunge bei Dir behalten sollen. Pah! Richtig ekelig war das!”

„Mir hat es gefallen, soweit ich mich erinnere,” antwortete Ottokar und grinste über beide Wangen.

Sie stampften weiter die Treppen hoch und bespitzelten sich fortan skeptischer, sobald der eine vom anderen abließ.

„Ich war danach so erschrocken, dass ich, immer wenn mich mein Vater in den Arm genommen hat, dachte, dass auch er mir gleich seinen feuchten Rüsselstumpen auf den Mund drückt.”

„Ich hab danach noch Jahre später immer versucht, meine Schwester so zu küssen.”

„Und? Wollte sie?”

„Nie! Sie lief stets schreiend davon.”

„Ach! Und das wundert Dich?”

„Es wurde so schlimm, bis alle dachten, ich sei gestört. Sie haben mich von einem Arzt zum anderen geschickt. Irgendwann hatte ich einfach keine Lust mehr, ihre dämlichen Fragen zu beantworten.”

„Ich hoffe, Du hast diese Krise überwunden.”

„Ist lange her!” Plötzlich blieb Ottokar in nachdenklicher Pose stehen. „Warum? Ich frage mich, warum sie uns ausgerechnet hier wieder zusammenbringen?”

Emma schreckte augenblicklich ein weiteres Mal auf. Wenn es eins gab, was sie sicher nicht wollte, dann wieder mit Ottokar zusammengebracht zu werden. Dem anfänglichen Gedanken ihrer tiefen Abneigung dieses möglichen Kuppelungsversuches folgte das Bedürfnis unbedingter Klarheit. „Sicher nicht, um dieses Zeichen der Zuneigung zu wiederholen.”

„Ja, das denke ich auch. Aber warum dann?”

Emma las in seinen Augen etwas, was sie weiter beunruhigte. „Weiß man’s?”

Ottokar wurde in seinen Worten analytischer. „Was immer ursächlich ist für unsere Begegnung – sie ist gewollt.”

 Mit seiner Äußerung hatte sie endgültig ein Gefühl tiefer Abneigung entwickelt. Sie wollte einfach nicht, dass ein Junge mit dem Profilbild einer Ratte auch nur im Entferntesten daran dachte, ihr neuerlich so nahe zu kommen wie damals in der Mülltonne. Vermutlich würde Ottokar nach jeder noch so kleinen Berührung mit ihr beseelt auf und davon fliegen, so groß wie seine Ohren waren. Daheim, unter den ihren, hätten sie ihn als Querschläger der Natur beschimpft, sich zumindest darauf verständigt, dass Gott mit seiner Einnistung eine Wette verloren haben musste. Hier und jetzt aber war Besonnenheit gefordert.

Beide schritten die Stufen weiter aufwärts.

„Es ist jedenfalls schön, dass Du hier bist.” Er unterstrich seine Freude mit einem zaghaften Griff auf ihre Schulter.

Emma riss sogleich erschrocken ihre Augen auf, befreite sich von seiner Körperlichkeit und hielt es, obgleich sie wusste, wie wenig Männer im Allgemeinen in der Lage waren, nonverbale Auseinandersetzungen richtig zu interpretieren, für besser, zu schweigen.

Im dritten Kreis angekommen, forderte Karim sie auf, sich wieder zu den Gruppen zusammenzufinden, die sie bereits während des Gesprächskreises über Neid gebildet hatten. Emma sackte enttäuscht durch. Insgeheim hatte sie gehofft, Ottokar und auch Kalle mit der Bildung neuer Gruppen bis in alle Ewigkeit nie wiedersehen zu müssen. Sie hatten vier Wände bezogen, die baugleich waren mit dem Saal, in dem der Gesprächszirkel des zweiten Kreises stattgefunden hatte. Architektonisch war das Fegefeuer also auch keine Offenbarung, dachte Emma, als sie die Symmetrie der Korridore und Zimmer entdeckte und beschloss, über die Regeln dieses himmlischen Systems in ruhiger Minute ausführlicher nachzudenken.

In einem Bücherregal reihten sich etwa drei Dutzend Bücher aneinander. Bei näherer Betrachtung stellte Emma fest, dass je eine Ausgabe von drei Buchtiteln entsprechend ihrer Personenzahl vorhanden war. Ein riesiger Videoscreen glänzte ihnen wie neu entgegen, zwölf Kopfhörer hingen an einem Brett. Tische und Stühle standen ungeordnet herum, ein paar Matratzen lagen, wie früher in Jugendzentren üblich, auf dem Boden. Die Tür öffnete sich. Karim brachte den Wiederholer zu ihnen, einen Rollstuhlfahrer, wie alle zunächst verwundert registrierten, dann aber unisono wohl wie Emma den gleichen Gedanken hatten, dass auch Behinderte ihren Platz im Fegefeuer haben mussten.

„Tachchen! Ich bin der Arno! Und eins sag ich gleich. Ich bin ein Guter!” Einen nach dem anderen rollte Arno mit gekonnten Schüben ab und stellte sich mit Handschlag vor. „Ah, eine Prinzessin! Süßes Gesicht, stramme Figur! Edler Hintern.” Er lachte Emma breitbackig an.

Ottokar sah Arno ob seiner peinlichen Vorstellung noch vorwurfsvoller an als Emma selbst.

„Emma. Emma Nielsen. Aber das mit der Prinzessin vergiss gleich mal wieder!”

Karim erläuterte ihnen das weitere Vorgehen. Das Prüfungsthema des dritten Kreises war Zorn. Bis zur Nachtruhe hatten sie Zeit, sich mittels der Bücher und einer audiovisuellen Dokumentation über Zorn zu informieren. Sie sollten die zentralen Inhalte in einem Theaterstück niederschreiben und am Morgen einer Kommission vortragen.

„Auch das noch!” maulte Emma leise. Die heimische Volkshochschule ließ grüßen.

Zwei Männer marschierten im Stechschritt voran. Zwei weitere Vasallen hatten ihn in ihre Mitte genommen. Er trug eine schwarze Kappe, die ihm Sicht und Gehör nahm. Sie hatten es eilig. Ihre Tritte hallten umso mehr, je weiter sie gingen. Die Luft wurde kühler. Sie betraten einen Fahrstuhl und fuhren tief hinab. Dann hatten sie ihr Ziel erreicht. Was Ron vernahm, hatte er dem Inferno so wenig zugetraut. Er stand in der Kommandozentrale der teuflischen Marine. Hinter einer riesigen, zentimeterdicken Glasscheibe sah er sechs kleine Unterwasserboote, die an einer Stahlkonstruktion lagen. Ein Fischschwarm zog vor seinen Augen beruhigend seine Kreise. Mehrere Offiziere saßen vor allerlei technischen Geräten. Dann und wann fiepte es. Rotlicht färbte den Raum. Ein Soldat trat an Ron heran. „Wir sind gleich so weit. Hier!” Er öffnete einen Schrank und reichte Ron zielsicher einen der Taucheranzüge in dessen Größe.

Ein anderer Offizier wandte sich Ron zu, übergab ihm einen Seesack und führte ihn durch einen Tunnelgang in eines der Boote. „Mission Ikarus,” hatte er mehrfach gesprochen und damit jede Tür geöffnet.

„Kommen Sie! Kommen Sie! Immer hereinspaziert. Sieht nicht so aus, aber glauben Sie mir! Sicherer werden Sie nie wieder Unterseeboot fahren. Haifischklasse. Eigenumbau. Dieses Modell haben wir den Israelis geklaut. Warum brauchen die ein Unterseeboot, hä?” Der Steuermann begrüßte ihn und wies Ron den Platz an seiner Seite zu. „Die Aufklärungssonden des Himmelslagers senden nur oberhalb der Wasseroberfläche. Wir kommen also nahe genug heran.” Er reichte Ron eine Uhr. „Wenn Sie das Ding aufklappen, so, genau so, dann kriegen die in der Zentrale ein Signal. Das ist das Zeichen, wenn Sie Ihre Mission beendet haben. Die Uhr zeigt Ihnen und uns an, wann Sie eines unserer Boote wieder zurückholt. An der Stelle, wo ich Sie absetze. Noch Fragen?”

„Jede Menge. Aber keine von wirklicher Bedeutung.”

Etwa eine Viertelstunde dauerte die Fahrt. Der Steuermann manövrierte das Unterseeboot in die kleine Bucht, in der auch Emma an Land des Läuterungsbergs gegangen war. Durch eine Druckkammer gelangte Ron ins Wasser, tauchte ein paar Meter und betrat die Felsausläufer. Er tauschte den Anzug gegen ein Engelshelfergewand, stopfte die Ausrüstung samt ein paar Steinen in den Sack und warf ihn zurück ins Wasser. Auch die Uhr verschwand in der Tiefe. Dann machte er sich auf, den Zugang zum Berginnern zu erreichen.

Es war Abend und der Betrieb eingestellt worden, als Ron den zentralen Gang zu den Registrierungssälen erreichte. Er zog eine Kladde hervor, die die Fälscher im Inferno für seinen Auftrag vorbereitet hatten und machte sich auf den Weg. Unter dem Vorwand, Emma für ein Gespräch vor die Erzengelkommission holen zu müssen, hatte er die zentrale Meldestelle betreten. Es dauerte nur kurz, bis seine Dokumente geprüft waren. Niemand schöpfte Verdacht. Weil die Dienst habenden Engelshelfer aber angeblich nicht wussten, wo sich Emma aufhielt, wurde Ron zunächst in den zweiten Kreis geschickt. Die Angelegenheit war den drei Senioren ausgesprochen lästig, wie Ron urteilte. Er hatte ihr Kartenspiel gestört. Ron wunderte sich über ihren Leichtsinn, maß aber ihre Reaktion eher seinem schlechten Gewissen zu, sie getäuscht zu haben.

Den Aufgang nahm Ron in der Manier eines Treppenläufers. Kraftvoll und ohne jede Pause eilte er stets zwei Stufen gleichzeitig hoch. Im zweiten Ring angekommen, blickte er auf den langen Korridor. Das Büro eines gewissen Professor Bloomfield, in dem er weitere Hinweise über Emmas Verbleib erfahren sollte, war nicht sofort auszumachen. Nacheinander suchte er die Zimmer ab, die von diesem Flur abgingen. Immerzu bot sich ihm das gleiche Bild. Elf Stühle standen im Kreis zusammen, niemand war zu sehen. Dann endlich fand er das Sprechzimmer des Professors. Ron klopfte an, doch niemand antwortete. Auch in seinem Prüfungszimmer war der Prüfer nicht aufzufinden.

Ron vernahm Stimmen. Engelshelfer und Engel saßen in ihrem Aufenthaltsraum und spielten ebenfalls Karten. Sie warteten auf ihren Dienstschluss. Er trat durch die Tür. „Entschuldigt! Aber ich suche Professor Bloomfield.”

„Und wen genau?” Eine Engelshelferin sah auf. Als sie Ron erfasst hatte, lächelte sie entzückt.

„Professor Bloomfield eben.”

„Du bist neu in diesem Kreis, was?”

„Ja, bin ich. Also seid bitte nett zu mir!” Ron setzte eine Portion Charme auf und beschloss, dem zauberhaften Wesen lässiger gegenüberzutreten.

Die märchenhafte Schönheit erhob sich. „Den Gang entlang, rechts, das dritte Zimmer auf der linken Seite.”

„Danke!” Ron warf einen letzten, flüchtigen Blick auf ihre begehrenswerten Weiblichkeiten und war bereits aus der Tür getreten, da war ihm die Engelshelferin gefolgt.

„Warte doch mal! Du! Der Neue!”

Er verharrte. Hatte er etwas falsch gemacht, war sie ihm auf die Schliche gekommen? Die Engelshelferin stand vor ihm und musterte ihn noch intensiver. Sie deutete an, dass sie hier möglicherweise beobachtet werden konnten, nahm seine Hand und zog ihn in einen dunkleren Teil des Korridors. Sie standen sich gegenüber, schweigend, lächelnd, als sie unvermittelt ihre Handfläche auf Rons linke Brust legte. Mit der anderen Hand knöpfte sie sich die beiden obersten Knöpfe ihrer Robe auf. Ihr Brustansatz lag verführerisch im fahlen Licht. Ron wusste es nicht genau, aber so, wie die Dinge lagen, war zu vermuten, dass die süße Engelshelferin ihm soeben ein eindeutiges Angebot unterbreitet hatte. Er registrierte abermals ihre tadellose Figur. Vorsichtig hob er seine Hand, legte sie auf die ihre und gab sich alle Mühe, einen Hauch von Sanftheit in seine Stimme zu legen. „Wie ist Dein Name?”

Die Engelshelferin schwieg. Als seine Handfläche auf ihrer Haut lag, lächelte sie himmlisch auf. Sie war einen Schritt vorgetreten und hatte Rons Handfläche auf ihre Brust geführt. „Es muss wunderschön mit Dir sein,” flüsterte sie. „Um acht, Zimmer vierundzwanzig.” Sie strahlte ihn mit der freudigsten aller Erwartungen in ihren Augen an und entfernte sich langsam mit einem verheißungsvollen Lächeln in ihrem Gesicht, das nur wahre Götter schenken konnten.

Ron schluckte beeindruckt tief durch und schaute vergnügt auf ihren Hintern, mit dem sie lässig liegende Achten in die Luft zauberte. Sein vorfreudiges Grinsen kam ihm selbst reichlich albern vor.

Plötzlich drehte sich die Engelshelferin noch einmal zu ihm herum. „Es liegt in dieser Richtung. Gang rechts. Das zweite Zimmer auf der linken Seite. Ach übrigens! Mein Name ist Silvy. Ich heiße Silvy.” Dann schwebte sie elfenähnlich endgültig zurück in den Aufenthaltsraum.

Ron atmete tief durch. Er war nicht nur angetan von diesem bezaubernden Engelchen namens Silvy, mehr noch schätzte er die Offenheit, mit der hier im Fegefeuer scheinbar bestimmte Bedürfnisse geäußert und gezeigt wurden. Wenn er um acht die Zeit finden würde, wäre diese Frau sicher eine Herausforderung der besonderen Art. Bereits wenige Augenblicke später war er sich sicher. Er würde um acht Uhr Zeit finden müssen, schon allein, um sich nicht ihrem Zorn aussetzen zu müssen, wenn er sie enttäuschte.

Er machte sie auf den beschriebenen Weg und betrat wenig später eine Stube. Auch diesmal hatte niemand sein Klopfen wahrgenommen. Sofort übermannte ihn Erstaunen, als er durch die Tür lugte. Zu seiner großen Verblüffung nämlich saßen gleich zwei Dutzend Professoren beisammen. Alle sahen gleich aus. Alle trugen Tweedanzug, Halbglatze, Vollbart und Hornbrille. Professor Bloomfield war kein Einzelfall. Sie lasen, dösten, spielten Schach und Karten oder sangen in kleineren Gruppen. Etwa zwei Dutzend Kladden und Füllfeder lagen neben der Tür auf einem Tisch. Eine Herde geklonter Intellektueller hatte Ron so gar nicht erwartet. Er erinnerte sich an die Nachfrage der bezaubernden Engelshelferin, wen genau Ron zu sprechen wünschte. Jetzt erst verstand er richtig. Ron schätzte alle Anwesenden ein weiteres Mal ab, klopfte erneut an die Tür und trat in den Saal. „Entschuldigung! Ich suche einen gewissen Professor Bloomfield, der eine junge Frau namens Emma Nielsen im zweiten Kreis geprüft hat.”

Einige der Professoren sahen kurz auf, monierten seine Ruhestörung leise und gingen unbeirrt dem nach, was sie zuvor getan hatten.

Ron wiederholte seine Frage. „Emma Nielsen. Ich suche jenen Professor...”

„Ist ja gut. Ich komme schon. Nur Geduld!” Einer der Männer erhob sich aus seinem Bett und schlurfte zu ihm herüber. „Du meinst diese kleine, freche Göre. Dieses Menschenkind, nicht wahr?”

Ron bestätigte wortlos mit kurzer Geste und lachte innerlich. Emma hatte eindeutig Spuren hinterlassen.

„Was ist mit ihr? Gibt es Zweifel?”

„Nein! Keine Zweifel. Sie soll vor die Kommission. Wissen Sie, wo sie sich aufhält?”

„Heiliger Dreck, Junge! Deswegen bist Du hier? Dachte schon, dass die mich auf ihre Party eingeladen haben. Zwei heiße Weiber, sag ich Dir. Jung, knackig. Und trotzdem alles dran. Die andere, diese Modepuppe! Ich sag Dir. Die hat ein Fahrwerk. Bei der würde ich gern mal unter die Räder kommen. Von der Bettkante würde die keiner schubsen.”

„Erst mal draufkriegen, mein Alter!” Ron trat näher an ihn heran. „Und?”

„Was und?”

„Na, was wohl?”

„Nix und was wohl.” Der Professor schätzte Ron kritischer ab. „Die hatte ihren Einsatzbefehl von ganz oben. Meinst Du, dass ich mir an der die Finger verbrenne? Hab alles so gemacht, wie es in der Akte stand. Wenn es ein Problem gibt, liegt es nicht an mir.”

„Wo sie ist, wollte ich wissen.”

„Keine Ahnung.”

„Und diese Emma Nielsen?”

„Die? Was weiß ich. Im Dritten. Frag die Aufsicht!”

Ron wandte sich ab, um Momente später noch einmal nachzusetzen. „Ach! Wie haben Sie das gerade gemeint? Von ganz oben?”

„Von ziemlich weit ganz weit oben.” Der Professor musterte Ron noch interessierter. „Nimm einen Rat von einer einfachen Ortslehrkraft, Jüngelchen! Solche Weiber schlafen keine Nacht allein. Sie machen nur Ärger. Hol Dir einen runter und vergiss sie!”

Kopfschüttelnd ob seiner eigenartigen Aussagen ließ Ron den Mann stehen und machte sich daran, den Einlass für den Treppenaufgang aufzusuchen. Ohne jede Kontrolle konnte er passieren. Im dritten Kreis angekommen, fiel es ihm leicht, Emma ausfindig zu machen. Die himmlischen Mitarbeiter hatten die Namen aller Prüflinge, die sie in Gruppen eingeteilt hatten, auf einen Zettel geschrieben und an die Türen der Prüfungsräume geheftet. Schon mit dem dritten Anschlag fand Ron Emmas Namen vor. Er sammelte sich, sog tief Luft und trat in das Zimmer.

Emma sah auf, als sich die Tür öffnete, wandte ihren Blick aber wieder ab, weil sie zunächst nur die Gestalt eines Engelshelfers erkannt hatte. Sie lag mit einem Kopfhörer auf beiden Ohren auf dem Boden und verfolgte zum fünften Mal die Dokumentation über Zorn. Augenblicke später jedoch schaute sie abermals zurück. Sie hatte richtig gesehen. Ihrer Verblüffung folgte ein Lächeln, ihrem Lächeln folgte begeisterte Freude. Sie sprang auf. Sie eilte auf ihn zu und schloss ihn lange in ihre Arme. „Ron Gallagher! Was zum Teufel tust Du denn hier?”

Zwei Minuten brauchte Emma, um Ron unter den verwunderten Blicken der anderen aus der Gruppe zu begrüßen, um ihn herumzuschleichen, ihn zu herzen und um sicher zu sein, dass er es tatsächlich war. „Komm! Setz Dich! Erzähl! Was haben sie mit Dir gemacht? Wie bist Du hierher gekommen? Und überhaupt Ron Gallagher! Du darfst gar nicht hier sein!” hauchte sie ihm flüsternd ins Ohr.

„Pst!” Ron versuchte, Emmas Wiedersehensfreude zu zügeln, denn insbesondere Ottokar, Kalle und Arno warfen ihm bereits erste fragende bis missbilligende Blicke entgegen. Vor allem Ottokar belegte Ron mit Gesten und Zügen wachsenden Argwohns.

Zwei Stunden waren vergangen. Emma hatte berichtet, und Ron hatte berichtet, wobei sich Rons Ausführungen über das, was sich nach ihrer Festnahme und Trennung im Inferno ereignet hatte, auf wenige Minuten beschränkte.

„Er hat Dich ziehen lassen, um mich zu begleiten?” Emma blickte ihn verstört an. „Da stimmt doch was nicht?”

„Denke ich auch.” Ron sah Emma sorgenvoll an. „Gestorben wird auf der Erde.”

Emma verharrte. „Wie? Gestorben wird auf der Erde. Natürlich! Wo sonst?”

„Ich will damit sagen, dass er Dich deswegen hat ziehen lassen. Erst mal weg mit allen Problemen.”

„Und wenn ich wieder zurück bin...”

„... ist auch er wieder da.”

„Na super! Hört das denn nie auf?” Emma ließ enttäuscht den Kopf sinken.

Ron griff ihre Hand und versuchte, sie zu beruhigen. „Du hast es bis hierher geschafft. Hab weiter Vertrauen! Uns fällt auch dazu etwas ein. Ganz bestimmt. Jetzt gilt es, von hier so schnell wie möglich wegzukommen.”

Emma stimmte ihm wortlos und gedankenverloren zu. „Hast Du was von Oskar gehört?”

Ron schüttelte verneinend den Kopf. Er spürte, wie sich in Emma neuerlich Enttäuschung und Trauer breit zu machen begannen.

Sie hielten einen langen und vertrauten Blick, als Ottokar unvermittelt vor ihnen stand. „Ich will nicht stören, Emma! Aber Du solltest Dich lieber wieder auf die Prüfung konzentrieren und Dich der Gruppe widmen.” Ottokar sah auf ihre Hände, die sie immer noch verbanden.

„Emma?” Ron holte sie zusammen mit einem sanften Rütteln aus ihrer Trauer zurück in die Gegenwart.

Emma sah hoch zu Ottokar. „Ah, ja! Ottokar! Das ist Ron. Ron! Das ist Ottokar.”

„Freut mich. Du bist...?” Ottokar reichte seine Hand zur Begrüßung.

„Ein guter, alter Freund. Von der Erde,” bemerkte Emma kleinlaut, als Ron den Handschlag entgegnete.

„Ein sehr alter und sehr guter Freund, was?” Ottokar ließ mit stechendem Blick nicht mehr von ihm ab. „Und auf dem Weg, Karriere zu machen, wie?”

Ron haderte mit sich, weil er nicht sofort wusste, was er Ottokar antworten sollte.

„Du musst mir unbedingt mal erklären, wie sie hier das Personal auswählen. Ist bestimmt nicht einfach, in eine solche privilegierte Position zu kommen. Man muss bestimmt noch ’ne Ausbildung machen, was?”

Emma wollte, der Vorsicht wegen, die Fortsetzung ihres Gesprächs unterbinden. „Du hast Recht. Lernen wir, was wir noch nicht über Zorn wissen.”

Ron verstand Emmas Manöver, schwatzte für Ottokar noch daher, dass er es als intelligenter Bursche durchaus mit einer Bewerbung, in den Himmelsdienst aufzusteigen, versuchen sollte und verabschiedete sich mit dem Hinweis, dass er sie, wenn sein Nachtdienst es zuließe, später noch einmal besuchen könnte. Emma und Ottokar sahen ihm gemeinsam nach, als er den Saal verließ.

„Ein sehr junger, alter Freund.”

„Es soll Menschen geben, Ottokar, die sind noch früher gestorben als Du.”

„Mag sein! Aber sagtest Du nicht, dass Du mit Jungs so viel am Hut hattest wie Kalle mit Verstand?

„Weiß man’s?” Emma versuchte, sich so kokett wie möglich zu geben. Ihr gefiel, Ottokar mit dem Auftauchen Rons zu zeigen, dass sie sich, wenn überhaupt, für eine so ganz andere Qualität eines männlichen Äußeren interessierte, als es Ottokar verkörperte.

Es war Viertel vor acht, als Ron vor der Tür mit der Nummer vierundzwanzig stand. Ein Engelchen schwebte nahezu lustvoll, auf dem Rücken liegend und wie ein Baby mit den Beinen strampelnd, auf einer Wolke am Türblatt. In geschwungenen Lettern stand Silvys Name darunter geschrieben. Ron klopfte zunächst zaghaft. Von Silvy war nichts zu hören. Er schlug kräftiger auf das Holz, doch Silvy meldete sich erneut nicht. Er drehte sich ab, um zu gehen, da stand sie in ihrer ganzen vollendet verführerischen Schönheit wie herbeigezaubert vor ihm.

„Du bist zu früh!” Silvys Blicke inspizierten ihn lüsternd von Kopf bis Fuß. „Ich will hoffen, dass das kein Grundsatz von Dir ist.” Sie stand vor ihm, nur verhüllt in einen Bademantel aus Seide, ein Handtuch um den Kopf gewickelt. Sie tänzelte nahezu graziös an ihm vorbei und bat Ron hinein.

„Ich kann später kommen.” Ron stand in der Tür und verfolgte, geblendet von ihrer Anmut, jeden ihrer Schritte.

Silvy wandte sich ihm zu. „Das nun wieder wäre ebenfalls sehr schade.” Sie nahm das Handtuch vom Kopf und strich sich durchs nasse Haar. Sie vernahm Rons Vorfreude, seine kleine Verlegenheit, lächelte, warf das Handtuch zur Seite, verharrte für einen Moment und ließ, mit dem laszivsten jeden erotischen Benimms, ihren Bademantel zu Boden gleiten. Sie trat vor ihn, nahm seine Hand, zog ihn langsam in das Zimmer und schob die Tür zu.

„Also schön, Kinder! Fassen wir zusammen, was wir Wichtiges über Zorn gelernt haben.” Pfarrer Friedrich war zur gleichen Zeit ganz in seinem didaktischen Sendungsbewusstsein aufgegangen. Er hatte sich aufgedrängt, für ihre Aufführung eine Art Regisseur zu spielen.

„Pfarrer Friedrich! Ich bin nicht Dein Kind!” Emma war seiner ständigen Bevormundungen und Belehrungen der Marke moralischer Zeigefinger überdrüssig geworden.

„Heißt es nicht, wenn Ihr nicht werdet wie die Kinder.” Molly blickte fragend in die Runde.

„So ein Blödsinn! Dass wir wie Kinder werden, rein und fein, ist dummes Zeug von gestern. Wir können höchstens zu verhindern versuchen, dass die Kinder so werden wie wir.” Emma war genervt. Neuerlich drohte eine gruppeninterne Diskussion, die vor allem zwei Dinge kostete – Zeit und Nerven. Sie lehnte sich zurück und verschränkte genervt die Arme vor ihrer Brust.

Ottokar hatte sie aufmerksam beobachtet, schenkte ihr eine kleine Schelmerei, tat es Emma gleich und nahm die gleiche Position ein.

Emma durchzuckte schlagartig ein ungutes Gefühl. Ottokar wollte ihr einmal mehr zeigen, wie nahe er ihr war, wie sehr er sich mit ihr verbunden fühlte.

„Hier wird niemand zu irgendetwas gezwungen. Jeder hier handelt nach seinem freien Willen. Also bitte! Fangen wir an.” Pfarrer Friedrich ignorierte ihren Protest.

Eine Zeit lang äußerten sie, einer nach dem anderen, verwertbare Inhalte über Zorn, wobei alle ausnahmslos die Informationen vortrugen, die sie zuvor aus der Materialsammlung zum Thema vorgefunden hatten.

„Zorn ist ein ausgeprägter emotionaler Zustand, der denjenigen, der ihn in sich trägt, im schlimmsten aller Fälle ausgesprochen aggressiv und angriffslustig macht.”

„Zorn beherrscht dazu jede andere Gefühlsregung.”

„Zorn ist eine Art Ärger, die zu unkontrollierten Handlungen oder Aussagen führen kann.”

„Es gibt aber auch zum Beispiel den Zorn Gottes, eine Art gerechtes Erzürnen hinsichtlich der Missstände, die von Menschen verursacht worden sind.”

„Zorn ist immer gegen eine bestimmte Person gerichtet, die nicht das tut, was man sich vor ihr erhofft.”

„Zorn ist hirnlose Raserei. Nimm den ehemaligen amerikanischen Präsidenten George Bush. Der Idiot hat vor lauter Jähzorn über ein paar Dutzend fanatische Glaubenskrieger einen Religionskrieg angezettelt, der die Menschheit auf Jahrzehnte bedroht.” Emma schaute einen jeden prüfend an. „Ja, was denn? Ihr könnt ruhig mal was von Bedeutung sagen, statt ständig das zu wiederholen, was sie vorgegeben haben. Hallo? Habt Ihr alle Euren Verstand ausgehängt?”

„Wer seinen Zorn bezwingt, hat seinen Feind besiegt.”

„Eine Strafe im Zorn kennt weder Maß noch Ziel. Sobald der Mensch in Zorn gerät, ist er im Irrtum.”

„Der Gegensatz von Zorn ist Sanftmut.”

Fabiana kam mit der Niederschrift ihrer Aussagen nicht mehr nach und bat um eine kleine Unterbrechung.

Emmas Einwand hatte niemanden interessiert. „Ich kann nicht mehr. Ich knall gleich durch!” Sie verabreichte sich selbst eine Unterbrechung und suchte Abstand.

„Hey, Lady! Nur weil Du schlappmachst, müssen wir nicht darunter leiden. Ich sag Dir. Die Jungs, die uns morgen früh prüfen, sind unberechenbar. Man muss zocken können, um bei denen zu bestehen. Zocken, verstehst Du?”

„Arno, richtig? Arno Blecker, so heißt Du doch, richtig?”

„Jaman, Lady! Ich bin der Arno.”

„Also, Arno! Erstens. Wann und wie lange ich mich mit was oder wem beschäftige, ist allein meine Sache. Wie käme ich dazu, auf Dein Gequatsche auch nur mit einer Schwingung zu hören. Zweitens. Ich bin nicht Deine Lady!”

Kalle trat an Emma heran. „Lady! Bleib locker! Sitzen doch alle im selben Boot. Brauchst wohl mal wieder ’ne ordentliche Verbürstung, wie?” flüsterte er ihr hämisch zu.

Emma spürte, wie ungehaltener ihre Laune wurde. „Du hast mir gerade noch gefehlt. Lass mich doch einfach in Ruhe.” Sie stockte innerlich, als sie durch die Runde schaute. Setzte sie sich weiter mit denen aus der Gruppe auseinander, die sie nicht mochte, wurde sie noch wütender. Und nach Wut kam Zorn. Sie wandte sich ab, nahm einen Tee und ein Stück Trockenfleisch, das ihr eine Engelshelferin am Nachmittag gebracht hatte und setzte sich, den anderen ihren Rücken zukehrend, abseits an einen der Tische.

Emma wusste von sich selbst nur allzu gut, wann sie ungerecht wurde, meistens jedenfalls. Das war so ein Moment. Sie war mit sich selbst ausgesprochen unversöhnt. Ron hatte ihr gewissermaßen das alte Leben ins Bewusstsein gerückt. Oskar war tot. Ihre Reise durchs Jenseits gestaltete sich schwieriger, vor allem aber länger als angenommen. Zugegeben. Im Fegefeuer war es auszuhalten. Doch die Zeit rannte. Ihre Mutter machte sich sicher schon große Sorgen, und dass Luzifer ihr weiter nachstellte, vorausgesetzt, sie würde das ewige Licht tatsächlich erblicken, bedrückte ihr Gemüt in einem Maß, das sie zu überfordern drohte.

Sie verfolgte wieder den kleingeistigen Aktionismus um sie herum. Pfarrer Friedrich, Sophia, Molly und Holger waren auserkoren, das Theaterstück zu schreiben, das sie am nächsten Morgen zum Thema Zorn vortragen sollten. Kalle, Sergej, Ottokar, Fabiana und dieser Freak von Arno saßen, wie zu einer Quizshow bereit, nebeneinander und verfolgten zum wiederholten Male die Dokumentation. Alle trugen Kopfhörer. Emma malte sich aus, wer von ihnen wohl die Prüfung nicht bestehen würde. Mehr und mehr war eine Feststellung in ihr gereift. Das Prüfungsthema Zorn war nur ein Vorwand. Tatsächlich war längst schon entschieden, wer in die Warteschleife musste. Ottokar maß sie so viel Verstand zu, zu einer gleichen Einschätzung gekommen zu sein. Doch der verfolgte entweder aufmerksam die einstündige Zusammenfassung zum Stoff auf dem Screen oder las in einem der Bücher. Vermutlich konnte er bereits alle Beiträge auswendig. Dieser Arno konnte von der Zornprüfung am vergangenen Morgen nichts Wesentliches berichten. Alle hatten ihn sofort ausgiebig danach gefragt. Emma wertete diese Nullinformation als weiteres Indiz für ihre Einschätzung. Längere Zeit beobachtete sie ihn. Hatte er vielleicht etwas mit dem eigentlichen Test zu tun? Er war Rollstuhlfahrer, er war behindert und obendrein ein ziemlich schräger Vogel. Ein Großmaul eben, über das sie sich bereits nach wenigen Worten gehörig ärgern konnte. War Arno als Reizfigur eine Hürde für sie? Emma beschloss den Gedanken. Derart einfältig konnte Gottes Personal nun wirklich nicht sein. Oder doch?

Eine gute Stunde später, Emma hatte vor sich hin gedöst und war von Arno reichlich unsanft aus ihrem Zustand geweckt worden, saßen alle wieder beisammen. Pfarrer Friedrich verteilte die Rollen ihres entwickelten Werkes. Dazu gab er jedem eine Beschreibung der Figuren an die Hand. Fabiana hatte sich mit ihrer Schreibarbeit ein Fleißsternchen verdient. Auf eine Probe wurde verzichtet. Ihre Kreativität sollte weder bestimmt noch gebändigt werden, wie alle einstimmig festhielten. Die Stärke ihres Vortrags sollte die Improvisation sein. Jedenfalls waren sie alle der Legende nach Verschollene auf einer einsamen Insel. Sie alle trugen Zorn in sich, aus unterschiedlichen Gründen. Sie alle waren aufeinander angewiesen. Sie alle mussten sich arrangieren, ihren Zorn zügeln. Das war der Inhalt ihrer Vorführung. Brecht ließ grüßen, dachte Emma und erinnerte sich dunkel ebenso an den Deutschunterricht zum Thema Improvisationstheater wie auch an den anschließenden Theaterbesuch mit der Klasse, bei dem eine gewisse Mutter Courage bewies. Genaueres hatte sie vergessen.

Wer wollte, konnte die Nacht über in dem Raum bleiben, um sich weiter auf die Prüfung vorzubereiten. Emma wollte nicht. Auch, weil von Ron weit und breit nichts zu sehen und zu hören war. Ausgestattet mit zwei Wachsbällchen, die sie am Nachmittag aus einer Kerze geformt hatte, legte sie sich in der üblichen Gemeinschaftsunterkunft auf einer der Matratzen ab. Sie hatte geduscht und ein weiteres, allen anderen so artfremdes, Bedürfnis erledigt. Emma war müde. Ihr Körper holte sich zurück, was sie in den letzten Tagen an Kraft gelassen hatte. Gegen elf Uhr fiel Emma in einen festen Schlaf, der erst endete, als ein Hahn unerträglich laut durch die Lautsprecher krähte.

Um acht Uhr bereits saßen alle wieder in jenem Saal zusammen, ganze zwei Stunden vor der Prüfung. Einige lasen in den Büchern, andere verfolgten zum unzähligen Male die Dokumentation. Emma spürte die Nervosität aller. Es kam ihr so vor, als wenn die meisten befürchteten, über Nacht ihres Wissens vom gestrigen Tag verlustig geworden zu sein.

Ron betrat das Zimmer, und augenblicklich gehörte Emmas Aufmerksamkeit allein ihm.

Ottokar verfolgte, wie Emma aufsprang, auf ihn zueilte, ihn zur Seite nahm und herzlich umarmte.

„Das tut so gut, Dich zu sehen. Wo warst Du?” Emma genoss unverkrampft seine Nähe. Sie wollte sich endgültig fallenlassen, da verharrte sie für einen Moment. Ron roch anders, wie sie immer noch vernahm, doch sie konnte den Duft in ihrer Nase so gar nicht einordnen.

„In einer der Personalunterkünfte,” bemerkte Ron wie selbstverständlich und entzog sich Emmas Umarmung.

Emma spürte seine Verlegenheit. „Was ist los?”

„Nichts! Was soll sein?”

„Ron Gallagher! Was ist mit Dir los?”

„Ich hab mich umgehört. Eine Verkürzung kannst Du vergessen. Der Zugang zum Treppenhaus öffnet sich nur in festgelegten Zeitfenstern. Und auch nur von Kreis zu Kreis.”

„Das war doch irgendwie klar.” Emma musterte ihn strenger. „Aber das habe ich weder gefragt noch gemeint. Mit Dir stimmt doch was nicht. Jetzt sag schon! Haben sie Dich etwa enttarnt?”

„Nein!”

„Also dann! Was ist los?”

„Sagte schon – nichts!”

„Ron Gallagher! Ich glaube Dir kein Wort!” Je mehr er herumdruckste, desto beharrlicher drohte Emma nachzuhaken.

Ottokar gesellte sich plötzlich zu ihnen, was Ron als willkommene Störung empfand, die Emma davon abhielt, ihn weiter zu bedrängen. „Ron! Emma!” Er wandte sich Emma zu. „Kann ich mal mit Dir sprechen?”

Emma stutzte kurz und folgte ihm, als Ottokar bereits ein paar Meter abseits getreten war.

Sichtlich nervös ging er vor ihr auf und ab. „Also! Ich muss das jetzt mal loswerden. Ich habe damit schon lange genug gewartet. Was eigentlich bildest Du Dir ein?”

„Bitte? Ich verstehe nicht. Wieso bilde ich mir etwas ein?” entgegnete sie ihm überrascht.

„Ich frage Dich noch einmal, was Du Dir einbildest!”

„Ottokar! Was willst Du?”

„Die Wahrheit. Ich will nichts mehr als Wahrheit. Ja! Ich brauche Wahrheit. Das, was Du mir verschweigst.” Ottokar starrte auf Ron, der seinerseits fragend auf Emma blickte.

Allmählich beschlich Emma eine erste Ahnung, was Ottokar bedrückte. „Du meinst Ron? Du bist doch nicht etwa... eifersüchtig? Natürlich! Du meinst Ron! Und Du bist eifersüchtig.” Sie setzte sich vor ihm auf die Tischplatte. „Ich wüsste nicht, was Dich das angeht.”

„Und ob mich das was angeht. Wenn Du jemandem schöne Augen machst, dann solltest Du wissen, was das bewirkt. Dann solltest Du Dir auch Deiner Verantwortung bewusst sein. Oder hast Du es nicht so mit Wahrnehmung?”

„Was redest Du da? Ich habe Dir keine schönen Augen gemacht. Wie käme ich dazu?”

„Und was war das dann im Gesprächskreis?”

„Ich weiß nicht, was Du meinst. Hilf mir!”

„Das ist ja wohl...”

„Was ist das?” Emma suchte abermals Rons Blick, der ihr Gespräch interessiert verfolgte. Sie wandte sich Ottokar wieder zu. „Was soll das werden? Eine Szene etwa? Szenen sind etwas für Paare. Wir aber sind, wenn überhaupt, ein Team. Zwei mit einem gemeinsamen Interesse. Mehr nicht.”

Ottokar nahm seinen Kopf hoch. Er zitterte. Er klapperte mit den Augenbrauen, und sein Kopf wackelte leicht hin und her. So hatte sie ihn noch nie erlebt. Ottokar glich einem Psychopathen, den das Pflegepersonal bei der morgendlichen Medikamentenvergabe vergessen hatte. „Du kleine Schlampe!” stieß er ihr schließlich entgegen.

„Bitte? Was hast Du gesagt?” Emma war zunächst verblüfft und Momente später entsetzt. Hatte sie tatsächlich richtig gehört? Sie hatte.

„Ich sagte, dass Du eine Schlampe bist.” Er erhob sich, sprang auf den Tisch, blickte hinunter auf Emma und schrie auf sie ein. „Schlampe! Du bist eine kleine Schlampe. Wie alle Frauen. Eine widerliche kleine Schlampe!”

Alle im Raum wurden sofort auf beide aufmerksam. Ron ging auf Emma zu, doch sie hielt ihn auf Abstand.

„Ottokar! Du hast schlecht geschlafen. Entspann Dich!”

Noch nervöser und aufgebrachter geworden rieb sich Ottokar beide Hände. „Ich bin entspannt,” raunzte er auf und war so entspannt wie ein Fisch, der an einer Angel zappelte. „Und sag mir nie wieder, was ich zu tun oder zu lassen habe!” Mit feuerrotem Kopf setzte er seine Wutrede fort. „Die Prüfung hättest Du ohne mich nie und nimmer geschafft. Ich habe Dir geholfen. Und Du? Was tust Du? Du wirfst Dich gleich sofort diesem Typen da an den Hals. Und warum tust Du das? Weil er besser aussieht als ich. Weil er besser fickt als ich. Du bist wie alle. Verblendet, blind und blöd. Von wahren Gefühlen hast Du doch keine Ahnung. Du spielst mit den Gefühlen anderer. Du bist berechnend. Ja! Du bist eine berechnende, kleine Schlampe!” Wütend kickte er mehrfach seinen rechten Fuß ins Leere. „Wahrscheinlich warst Du das Senftöpfchen in Deiner Straße. Jeder durfte mal sein Würstchen reinstecken. Und Du bist es immer noch. Vor Frauen wie Dir hat mich meine Mutter immer gewarnt. Du interessierst Dich doch allenfalls für die Cover von Büchern. Der Geist von Menschen ist Dir scheißegal. Du denkst, Du klimperst mit den Augen, und jeder liegt Dir zu Füßen.” Ottokar sprang vom Tisch und baute sich vor Emma auf. „Sieh mich an! Los! Sieh mich an!”

Emma setzte augenblicklich den strengsten Blick auf, den sie entwickeln konnte.

„Ich sage es noch einmal, vor allen anderen hier. Du bist das mieseste Aas von Frau, das mir je untergekommen ist.” Ottokar grinste sie hämisch an. „Heute Nacht. Fünf Mal! Fünf Mal, liebe kleine Emma! Und es war herrlich! Du kannst Dich als gefickt betrachten.”

Emma war tief getroffen. Instinktiv holte sie aus, um ihrem Ärger mit geballter Energie freien Lauf zu lassen.

Ottokars Tonfall wurde noch garstiger. „Na, los! Schlag zu! Schlag zu!”

Kurz bevor Emma ihm tatsächlich eine kräftige Ohrfeige versetzen konnte, stürzte Ron herbei und hielt ihren Arm zurück. „Nein! Emma, nicht!”

Ottokar grinste sie weiter gehässig an, als Emma kopfschüttelnd vor ihm stand.

Zwei Engel betraten sogleich den Raum und nahmen ihn in ihre Mitte. „Ottokar Wiegand. Komm doch bitte mit uns!” Die Engel führten ihn ab. Ottokar ließ sie willenlos gewähren. Er fing an zu lachen. Immer lauter lachte er, während alle anderen irritiert seinen Abgang verfolgten.

„Hey, Lady! War ’ne coole Show! Hast souverän reagiert. Jaman, das hast Du!” Arno war an Emma und Ron herangerollt und wollte seine Anerkennung weiterbekunden, da betrat Karim den Saal und verkündete eine weitere Überraschung an diesem Morgen.

„Hopp, hopp! Ihr Lieben! Der gute Ron und ich werden Euch jetzt einen Kreis höher führen. Im Zimmer nebenan löscht Euch ein Erzengel einen Eurer Buchstaben. Ihr habt die Prüfung bestanden.”

Alle tuschelten sogleich untereinander, einige sackten erleichtert durch, andere blickten immer noch ungläubig umher. Die Freude darüber, einen Kreis weiter aufsteigen zu dürfen, überwog schließlich. Allen war Ottokars Schicksal gleichgültig. Emma selbst war zur Prüfung geworden. Die Kommission hatte sie und Ottokar zusammengeführt, um Ottokar zu seinem Zornausbruch zu verführen.

„Dabei. Ich hätte ihm so gerne eine geknallt. Hab selten so ein starkes Gefühl gehabt, jemanden ordentlich zu verprügeln.  Gar nicht auszudenken.”

Emma und Ron stiegen eine Viertelstunde später nebeneinander die Treppen zum vierten Kreis hinauf, während sie die Geschehnisse resümierten.

„Vergiss es einfach!”

Emma blieb stehen. „Ron Gallagher! So einfach ist das nicht. Nichts ist, wie es scheint. Schon vergessen?”

Ron blickte sie verwundert an.

Emma verharrte immer noch. Sie erinnerte sich an die Beiträge ihrer Mitstreiter, die sie über Zorn zusammengetragen hatten. Einer Anleitung gleich war Ottokar all diesen Regungen erlegen. Noch etwas beschäftigte sie. Genau so, wie Ron gerade neben ihr stand, hatte Ottokar neben ihr gestanden. Genau so, wie sie mit Ottokar die Stufen hochgegangen war, hatte Ron soeben an ihrer Seite den Aufstieg genommen. „Ich frage mich, was die hier wohl noch so alles anstellen.”

Karim hatte ihnen erklärt, dass an diesem Tag genug Zeit war, auch die vierte Prüfung anzugehen. Trägheit des Herzens also war zu büßen. Emma erinnerte sich an den alten Mann ohne Gesicht, der ihr das Boschbild von den sieben Hauptsünden erklärt hatte. Ein Priester hatte es sich in einem Stuhl bequem gemacht. Die Bibel lag geschlossen neben ihm. Der Ausschnitt des Gemäldes symbolisierte die Gleichgültigkeit gegenüber Gott und dem Glauben an ihn. Ging es jetzt um diese Ignoranz, befürchtete Emma, war diese Form von Trägheit durchaus ein echtes Thema für sie.

Sie hatten erneut einen Saal betreten. Einzeln wurde ein jeder von Engelshelfern aufgerufen und herausgeführt, ohne Vorbereitung, ohne jeden Hinweis. Verängstigte Nachfragen beantwortete Karim immer gleich, nämlich gar nicht.

„Sie wollen, dass man sich auf sie einlässt,” fasste Ron die wenigen Informationen zusammen, die einen Rückschluss zuließen, was die Prüfung parat halten konnte. Seine Befürchtung, dass sich ihre Wege neuerlich trennen würden, behielt er genauso für sich wie seine Unwissenheit, wo und wie sie sich im nächsten Kreis wieder treffen konnten.

„Sie wollen, dass man sich auf ihn einlässt,” entgegnete Emma ihm nüchtern.

„Auf wen?” fragte Ron eher beiläufig zurück.

„Ron Gallagher! Auf Gott natürlich!”

Ron atmete schwer durch.

„Schon klar, dass Du damit Stress hast. Gott sei Dank, was?”

„Ich verstehe nicht. Was meinst Du?”

„Dass sie mich prüfen wollen.” Emma rutschte näher an ihn heran und flüsterte ihm zu. „Du würdest auf immer und ewig ein kleiner Engelshelfer bleiben, Ron Gallagher!”

Gerade, als Ron auf ihre kleine Spitze antworten wollte, trat Karim vor sie. „So! Und nun Ihr beide! Bitte!”

„Wir?”

„Wir?” fragte auch Emma überrascht nach.

„Gewiss doch! Es ist Eure gemeinsame Prüfung.” Karim lächelte sie vielsagend an.

„Moment mal! Was genau soll das heißen. Was bitte...”

„Emma Nielsen, bitte! Keine Widerrede. Ach, und das sei Dir dazu mitgeteilt. Wir machen Dir nichts vor, und erwarten, dass Du uns nicht täuschst.”

Emma und Ron waren wie vor den Kopf geschlagen. Wusste Karim etwa, wer Ron tatsächlich war? Er wusste, dachte Emma. Zögerlich betraten sie nach wenigen Minuten einen Raum, der Emma neben ihrer Verblüffung zu allem Übel auch noch an das Behandlungszimmer ihres Zahnarztes erinnerte. Zwei Stühle standen in der Mitte des Zimmers. In der Decke darüber war ein großes Glasfenster eingelassen.

Ein Erzengelanwärter saß hinter mehreren Monitoren und begrüßte sie sogleich. „Ich habe alles vorbereitet. Wir können sofort beginnen.” Er deutete mit freundlicher Geste auf die beiden Stühle.

Emma suchte bei Ron nach Hilfe, ihrer wachsenden Verstörtheit mit einigermaßen tauglichen Erklärungen zu begegnen. Außer diesen beiden Stühlen und dem Arbeitsplatz des Erzengelanwärters, der den Benimm eines peniblen Buchhalters zu besitzen schien, war nichts auszumachen, das verriet, was sie hier erwartete. „Womit beginnen?”

„Bitte! Nehmt Platz!”