Emma verduftet - Tessa Hennig - E-Book

Emma verduftet E-Book

Tessa Hennig

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Beschreibung

Jetzt reicht's! Jahrelang hat sich Emma um Mann, Tochter und Firma gekümmert. Doch dann kommt auf einer Reise nach Südfrankreich die große Enttäuschung: Ihr Mann interessiert sich mehr für russische Schönheiten als für seine Frau und die in Nizza studierende Tochter besucht lieber Partys als Vorlesungen. Kurzentschlossen verduftet Emma und landet unverhofft auf dem Feld des attraktiven Lavendelbauern David. Zusammen mit ihrer besten Freundin, der temperamentvollen Nora, stellt Emma fortan die Männerwelt auf den Kopf. Kann das gutgehen?

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Das Buch

Emma hat ein schönes Haus, ein kleines Architekturbüro, das sie gemeinsam mit ihrem Mann betreibt, und eine hübsche Tochter, die in Frankreich studiert. Sie hat es im Leben geschafft, glaubt sie. Bis sie bei einem Besuch in Nizza feststellt, dass ihre Tochter Lilly keineswegs fleißig studiert, sondern versucht, eine Modelkarriere zu starten. Als ob das nicht schon genug wäre, muss Emma auch noch mit ansehen, wie ihr Mann einer langbeinigen Russin schöne Augen macht. Emmas einziger Lichtblick ist die Wiederbegegnung mit ihrer alten Freundin Nora, die sie noch aus Studientagen kennt. Nora ist Künstlerin und weckt in ihr die alte Lebenslust. Sie ermutigt Emma, sich neu zu entdecken und ihrer heimlichen Leidenschaft nachzugehen: der Kreation von Düften. Der Lavendelbauer David inspiriert Emma zu einem ganz besonderen Duft und ist schon bald nicht nur an Emmas »goldener Nase« interessiert …

Die Autorin

Tessa Hennig ist seit vielen Jahren als freie Journalistin, Regisseurin und Autorin tätig. Wenn sie vom Schreiben und ihrem Wohnort München eine Auszeit benötigt, reist sie auf der Suche nach neuen Stoffen und Abenteuern gern in den Süden.

Von Tessa Hennig sind in unserem Hause bereits erschienen:

Mutti steigt aus Elli gibt den Löffel ab

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Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Originalausgabe im List TaschenbuchList ist ein Verlag derUllstein Buchverlage GmbH, Berlin. 1. Auflage Mai 2012 © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2011 Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München Titelabbildung: © Marunde Satz und eBook: LVD GmbH, Berlin

ISBN 978-3-8437-0267-6

Prolog

Die Essenz perfekter Liebe war umhüllt von geschliffenem Glas, das mit bunten Ornamenten versehen war. Im Schein der ersten Sonnenstrahlen, die sich im Spiegel vor ihr zu einem Lichtstrahl bündelten, begann es regelrecht zu leuchten. Emma hielt den Flakon nun schon eine ganze Weile unschlüssig in der Hand und bewunderte seine vollendete Schönheit. Was für ein charmant verspieltes Artefakt aus der Zeit des Art déco. Allein das Fläschchen musste ein Vermögen wert sein, noch mehr aber dessen Inhalt.

Hatte sie wirklich den Stein der Weisen gefunden, wie ihr Nora im Scherz gesagt hatte? Das, wonach Alchimisten aus aller Herren Länder über Jahrhunderte gesucht hatten? Typisch Nora mit ihren maßlosen Übertreibungen, die sie stets zum Schmunzeln brachten.

Nein! Ein Schmunzeln war das eigentlich gar nicht. Ihr Spiegelbild strahlte sie förmlich an. Bildete sie sich das nur ein oder sah sie nun, mit dreiundfünfzig, jünger und vitaler aus als noch vor wenigen Jahren? Ihre braunen Augen funkelten jedenfalls voller Lebenskraft, ihr brünettes Haar glänzte seidig. Sie war glücklich. Lag dies am Ende an jenem Duft, den sie in ihren Händen hielt? Versuchung pur! – Nicht jetzt!, sagte sie sich, wusste aber zugleich, dass sie sich der hypnotischen Wirkung des schillernden Lichtspiels der Substanz nicht entziehen konnte. »Spür mich, berühr mich!«, schien ihr der Geist der Flasche mit der verführerischen Kraft von Sirenen zuzurufen. Nur kurz, nur daran schnuppern, nahm Emma sich tapfer vor, ein Atemzug, der, obgleich sie nur einen Hauch des Dufts aus dem Behältnis befreite, eine halbe Ewigkeit zu dauern schien. Ein Strom von Duftmolekülen entlud sich im Raum und füllte ihr Herz mit Liebe, aber auch mit der Erinnerung an Leidenschaft, Freundschaft, die bei aller fühlbaren Harmonie nahezu perfekt orchestriert von kleinen dissonanten Tönen unterbrochen wurde und gerade deshalb Neugier weckte. Wie mächtig doch das komplexe Spiel der Essenzen dieser erlesenen Komposition war. Kopf-, Herz- und Basisnote wie wohlklingende Akkorde meisterhaft aufeinander abgestimmt. Prickelnd, originell und auf den Punkt beim ersten Eindruck. Wärmende Geborgenheit und Vertrauen mit blumigen Zwischentönen im Duftverlauf. Solide, aber nicht langweilig. Das Bouquet zudem Boden einer Basis aus edlem Zedernholz – unerschütterlich und dennoch weich auf einem Fond aus Moos gebettet. Sosehr sie den Duft auch liebte, passte er zu ihr? Gab es so etwas wie die »perfekte Liebe« überhaupt? Die Urgewalt dieses Dufts schien ihr dies immer wieder zu suggerieren. Er konnte einen in einen Dämmerzustand hüllen, ließ Raum und Zeit vergessen, als bette er die Seele selbst in einen süßen Traum. Emma starrte immer noch nahezu regungslos auf den Flakon.

»Schatz, bist du schon fertig? Wir müssen.« Die ihr vertraute Männerstimme, die vom Flur ins Badezimmer drang, riss Emma abrupt zurück ins Hier und Jetzt, erinnerte sie daran, warum sie an diesem Morgen so früh aufgestanden war. Eilig verschloss sie den Flakon wieder, doch auch jetzt war immer noch genug von der Substanz im Raum wahrnehmbar. So verführerisch, so hypnotisch. Erneut vernahm sie die dringlich klingende Stimme.

»Schatz, ich fahr den Wagen schon mal vor!«

Aus der Traum, aber wer sagt eigentlich, dass die Realität nicht viel schöner sein kann? Erleichtert darüber, der Kraft der Essenz nun Paroli bieten zu können, stellte Emma den Flakon mit einem Hauch Wehmut zurück in ein Holzschränkchen, natürlich nicht, ohne noch einmal sanft und fast zärtlich mit der Hand über den vergoldeten Verschluss zu streichen.

Kapitel 1

Emma fragte sich, ob die letzte Plastiktüte mit Lillys Tennis­sachen noch in den Kofferraum passen würde, der bereits jetzt bis zum Anschlag vollgestopft war. So etwas nannte man wohl »Umzug auf Raten«.

»Wieso hat sie ihren ganzen Krempel nicht gleich auf einmal mitgenommen?«, beschwerte sich Georg, während er versuchte, den Tennisschläger noch irgendwie zwischen ihre zwei Koffer und die Tüten mit Lillys Klamotten zu pressen. »Diese ganzen Tüten, so was von asozial«, grantelte Georg weiter und warf Emma dabei einen vorwurfsvollen Blick zu.

Wenn dieses rastlose Energiebündel, das sie vor fünfundzwanzig Jahren geheiratet hatte, einmal in Fahrt war, hielt man sich besser mit einer passenden Replik zurück. Eine Tüte konnte gar nicht asozial sein, sondern nur praktisch. Wenn allerdings Georg das Wort »asozial« in den Mund nahm, musste es für alles Mögliche herhalten. In diesem Fall eine unschuldige Plastiktüte, mit der man sich in seinen Augen höchstens im Discounter blicken lassen konnte.

»Wofür haben wir eigentlich die teuren Ledertaschen im Keller?«, blaffte Georg weiter.

Zumindest was ihren Taschenbestand betraf, hatte er ja recht, aber wenn Emma ihm jetzt den Vorteil von kleineren Packstücken erklären wollte, die man flexibler im Kofferraum verstauen konnte, hätte ihn das nur noch mehr in Rage gebracht. Dass es im Kofferraum nach Öl und Metall stank und man diesen dumpfen Mief mit Hilfe der Plastiktüten besser von Lillys Kleidung fernhalten konnte, würde er sowieso nicht gelten lassen. Vermutlich nahm er den Eigengeruch des Kofferraums nicht einmal wahr. Um des lieben Friedens willen erklärte sie die Plastiktütendebatte mit einem devoten Schulterzucken für beendet. Es war sowieso schon ein Wunder, dass er diesmal mitfuhr. Die letzten Besuche bei ihrer Tochter in Nizza hatte sie allein absolvieren dürfen. Nur zweimal war er bisher mitgekommen, was man ihm aber nicht zum Vorwurf machen konnte. Die Arbeit ging nun mal vor. Georg lief Tag und Nacht irgendwelchen Financiers und Neureichen hinterher, die sich ein maßgeschneidertes Haus und somit ihn, einen Architekten, leisten konnten. Kein Wunder, dass gelegentlich die Pferde mit ihm durchgingen. Sein Schatzi, wie er sie gelegentlich nannte, hatte sich um die Buchhaltung und die geschäft­liche Abwicklung zu kümmern, zwar auch ein Fulltime-Job, aber sicherlich weniger stressig als Georgs unermüd­liche Akquise. Ihn so zornig mit den Päckchen und Tüten kämpfen zu sehen hatte auch etwas unfreiwillig Komisches. Georg erinnerte sie nicht zum ersten Mal an das HB-Männchen aus der Werbung, mit der ein Tabakkonzern bis weit in die siebziger Jahre hinein versucht hatte, seine Zigaretten als »Beruhigungsmittel« an den Mann zu bringen. Genau so kam er ihr jetzt vor, wie jenes Trickfilmmännchen, das kurz vor dem Herzinfarkt stand und jeden Moment mit Raketenantrieb gen Himmel abzuheben drohte. »Wer wird denn gleich in die Luft gehen?«, hieß es damals. Auch optisch hatte er, abgesehen von seinen blonden Haaren, etwas von der bekannten Zeichentrickfigur: klein, gedrungen, große Nase und Häschenblick, in den sie sich vor Jahren verliebt hatte, nur dass aus dem Häschen mittlerweile ein schlachtreifer Hase geworden war – Tribut an ungesunde Ernährungsgewohnheiten und das berühmt-berüchtigte Gläschen Wein zu viel.

Gut, dass nun alles verstaut war. Ob der Kofferraum­deckel zugehen würde, war allerdings fraglich. Georg kämpfte tapfer, drückte immer wieder rhythmisch auf das Blech, bis der ganze Wagen anfing zu wippen. So musste sich ein Fahrzeug bei einem Erdbeben bewegen. Vergebens! Georgs Zorn wuchs im Sekundentakt und entlud sich schließlich in brachialer Gewalt. Wie ein aus dem Meer emporsteigender Pottwal schmiss er sich mit der Wucht seiner Pfunde auf die Abdeckhaube. Zu dumm, dass er sich dabei den Zeigefinger zwischen der Abdeckhaube und der Halterung des hinteren Scheibenwischers einklemmte.

»So ein Scheißdreck!«, fluchte er. Dann überzog jedoch ein selbstironisches Lächeln seine Miene. Wer wirklich dar­an schuld war, stand sowieso schon fest. Wenn Emma nicht dabeigestanden hätte, hätte er sich natürlich besser konzentrieren können, und das kleine Malheur wäre gar nicht erst passiert. Überraschenderweise blieb dieser Vorwurf jetzt jedoch aus. Ansonsten liebte er es aber, sie aufzuziehen und ihr die Schuld an einfach allem zu geben, selbst an einem Börsencrash in China oder einem neuartigen Computer­virus, der das Pentagon lahmgelegt hatte.

»Können wir jetzt?«, hakte er ungeduldig nach.

»Du willst fahren, mit dem Finger?«, wunderte sie sich. Das musste beim Lenken doch ordentlich weh tun. Georg nickte nur gleichgültig und stieg wortlos in den Wagen. Schmollend, versteht sich. Emma warf noch einen letzten Blick zurück zu ihrem Haus. Alle Türen waren verschlossen, doch wer immer auch in ihren Palast aus Glas einbrechen wollte, hätte sowieso leichtes Spiel. Das teure Interieur, ihr Schmuck, der heimkinogroße Plasmafernseher – alles war letztlich nur einen »Steinwurf« weit entfernt.

»Hier bricht schon niemand ein«, sagte Georg genervt. Er konnte es nicht ausstehen, wenn sie sich mehrfach versicherte, ob die Tür auch wirklich verschlossen war.

Also einsteigen!

Zehn Stunden Fahrt lagen vor ihnen und mindestens ein Strafzettel wegen Geschwindigkeitsüberschreitung, sofern es ihr nicht gelingen würde, ihn auf der Fahrt für längere Zeit abzulösen.

Im Auto war aber erst einmal eine Runde Schweigen an­gesagt. Schweigen bis Trento – »Strafe« für seinen eingeklemmten Finger, der mittlerweile eine ungesunde Rötung und Schwellung aufwies. Immerhin hatte Emma auf der Höhe von Innsbruck in sachter Anspielung auf einen gemeinsamen Skiurlaub in Österreich vage versucht, so etwas wie eine Konversation auf Sparflamme in Gang zu bringen.

»War doch schön. Wir sollten mal wieder fahren.« Mehr als einen fragenden Blick ernten zu wollen hätte wohl die Götter herausgefordert, sprich ihn: den »Göttergatten«. Manchmal war er nur noch mit Humor zu ertragen. Sich Georg als kleinen Zeus vorzustellen, der erst zornig seine Blitze verschleuderte und dann schmollend auf einer Schäfchenwolke saß, machte sein Schweigen erträglicher. Ein Gespräch war angesichts des Affenzahns, mit dem er auf der Überholspur allen Geschwindigkeitsbegrenzungen zum Trotz »grenzdebilen Sonntagsfahrern« zeigte, wo »es langging«, sowieso unmöglich, ohne sich dabei zwangs­läufig anzubrüllen, zumal ihr in die Jahre gekommener BMW-Motor ab Tempo hundertsechzig unerträglich laut wurde. Merkwürdig, am Vortag war Georg doch noch so gut drauf gewesen, um nicht zu sagen: so richtig in Fahrt. Sie hatten Freunde eingeladen, und das gemeinsame Essen am offenen Kamin in ihrem Garten war gut angekommen. Georg wusste, wie man Gäste unterhielt, und seine jüngste Reise nach St. Petersburg war genug gewesen, um die Freunde einen Abend lang bei Laune zu halten. Die Strapazen der Reise etwas herunterspielen, den Begriff »Russische Mafia« ein paarmal beiläufig erwähnen sowie einen geklauten Notebook-Akku – und schon stand man als Held da. Zugegebenermaßen hatte er einen sagenhaften Businessdeal an Land gezogen. Rettung war in Sicht für ihre inzwischen fast leergeräumten Geschäfts- und ­Privatkonten. Russische Geschäftsleute hatten ihn engagiert, damit er ihnen eine Traumvilla in Südfrankreich entwarf. Um passende Locations in Bestlage sollte er sich kümmern. Eine Runde Applaus.

Erfolg macht ja angeblich sexy, zumindest hatte sie am Vorabend überraschenderweise einen Hauch von Lust auf Georg verspürt. Warum eigentlich? Emma musterte ihn nun ausgiebig, aber nicht allzu auffällig von der Seite. So verhärmt und verbissen, wie er jetzt am Steuer saß, erschien der Gedanke an diese »Lust« wie ein Alptraum. Hatte sie etwa selbst zu viel getrunken? Hatten die Komplimente seiner neureichen Fangemeinde sie etwa geblendet? Fakt war, dass nach dem Essen wieder einmal nichts gelaufen war – trotz ihrer eindeutigen Annäherungsversuche. Abgefüllt und wie ein Sack Kartoffeln hatte er neben ihr ­gelegen. Allerdings ein erfolgreicher schlapper Sack. Emma konnte gar nicht anders, als sich darüber zu amüsieren und leise vor sich hin zu feixen.

»Was ist?« Georg erwachte aus seiner Starre.

»Nichts!« Emma konnte ihm ja schlecht die Wahrheit sagen. Es hätte ihn nur verletzt.

Eigentlich war es nicht richtig, sich über den Mann, den man liebte, lustig zu machen, vor allem nicht darüber, dass er schon seit Jahren nur noch selten im Bett in Fahrt kam – Folge des Dauerstresses, dem er ausgesetzt war. Gut, Alkohol und viel zu viele Zigaretten kamen noch erschwerend hinzu. Wenn man dann selbst noch der Typ war, der verführt werden wollte und nur auf einen Kuss, der aber nicht mehr kam, wartete, schlief das Liebesleben zwangsläufig ein. Vielleicht sind Frauen ab einem gewissen Alter nicht mehr attraktiv genug?, fragte sie sich. Konnte das sein? ­Sicher, nicht alles an ihr war noch straff genug, um es mit einer Zwanzigjährigen aufnehmen zu können, aber selbst ihre Falten im Gesicht hatten sich bisher auch ohne Botox in Grenzen gehalten. Was soll’s. Es gab schließlich Schlimmeres im Leben als eingeschlafene Leidenschaft! Georg war fürsorglich und hilfsbereit – ein klares Plus. Vieles passte, und sei es nur sein schräger Humor oder wie er sich über alles Mögliche maßlos und übertrieben aufregen konnte. Nicht zu vergessen gemeinsame Interessen, Werte und Lebensperspektiven. Bekanntermaßen das A und O einer guten und vor allem stabilen Ehe.

»Hast du Hunger?«, fragte er sie völlig überraschend.

Mehr als ein Nicken und einen wohlwollenden Brummlaut, der in Anbetracht der verringerten Geschwindigkeit auch hörbar gewesen sein musste, hatte er nach seinem »Strafschweigen« trotzdem nicht verdient.

Da sehnte man sich danach, dem Grau der heimatlichen Gefilde für ein paar Tage zu entfliehen, hatte ab dem Brenner endlich Sonne pur, und kaum an der Raststätte angelangt, durfte man sich eines Wolkenbruchs erfreuen. Emma erinnerte sich in diesem Moment daran, dass Georg Unglück dieser Art geradezu anzog. Wie hieß es so schön? Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus, jedenfalls im übertragenen Sinne.

»Bleib ruhig hier. Reicht ja, wenn einer von uns nass wird. Was magst du? Panini mit Parma?«, fragte Georg mit einer liebenswerten Selbstverständlichkeit. So viel Fürsorge war ein versöhnliches Lächeln wert. Und schon riss Georg die Fahrertür auf und spurtete zum Betonbunker, der sich Raststätte nannte. Es verstand sich von selbst, dass er dabei mit zwei Kindern, die in Begleitung ihrer Eltern ebenfalls auf das Gebäude zuschossen, kollidierte und zu allem Überfluss auch noch in eine Pfütze stapfte. Durch die geschlossene Scheibe war zwar der Fluch, den er dabei ausstieß, nicht zu hören, aber sein zorniger Blick, den er den Eltern zuwarf, und die Art, wie er sie anblaffte, sprachen Bände. Kein Wunder, dass die Mutter ihre Tochter gleich von diesem »bösen Mann« wegzog und ihm anscheinend eine passende Bemerkung zuwarf.

Ihre kleine süße Lilly! Das Mädchen sah ihr bei näherem Hinsehen zum Verwechseln ähnlich. Was waren das noch für glückliche Zeiten gewesen. Vollblutmutter zu sein. Rund um die Uhr gefordert. Das Leben hatte in dieser Zeit mehr Sinn gehabt. Vielleicht hatte man als Mutter aber auch nur keine Zeit, um über den Sinn des Lebens nachzudenken. Auch Georg hatte seine Vaterrolle genossen, mit Lilly gespielt, gemeinsame Ausflüge mit ihr unternommen, mit seinem süßen Mäuschen, wie er sie genannt hatte.

Ein wirklich schöner Lebensabschnitt, aber wie oft hatte sie sich auch damals trotz allem nach einer Auszeit gesehnt, sich vorgenommen, die Zeit nach ihrem Dasein als Muttertier ausgiebig mit Georg zu genießen: gemeinsame Reisen, spontane Städtetrips. Mal schnell nach London, um ein Musical zu sehen, in Soho zu essen und am nächsten Tag shoppen bis zum Umfallen. Es war aber alles ganz anders gekommen. Noch mehr Arbeit und noch weniger Zeit füreinander. Was so ein starker Regenguss und eine schwarze Wolkenfront doch für eine depressive Kraft hatten. Bald Mitte fünfzig, hämmerte es in ihrem Kopf. Wie viel Zeit würde ihnen noch bleiben, ihr Leben zu genießen? Georg war ja jetzt schon alles zu viel. Samstage auf der Couch, zu Gast bei RTL. Maximal zwei Konzertbesuche pro Jahr und gelegentliche Essen mit Freunden. Das lähmende Gift des Alltags eben. Lilly hatte wohl aus den Fehlern ihrer Eltern gelernt. Eine Karriere im diplomatischen Dienst anzustreben war sicherlich eine kluge Entscheidung. Lilly würde die Welt sehen, interessanten Menschen begegnen. Sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich. Emmas schien schon vorbei zu sein. Umso mehr freute sie sich jetzt auf ihre Tochter. Nur noch wenige Stunden Fahrt, tröstete sie sich und entspannte sich allmählich, zumindest so lange, bis Georg die Tür aufriss und ihr eine Tüte mit Proviant in den Schoß warf, bevor er sich pudelnass auf den Fahrersitz plumpsen ließ.

»Kannst du mir die Tüte nicht normal geben?«, beschwerte sie sich.

Prompt nahm er sie ihr wieder ab, um sie ihr demutsvoll und sanft wie ein Lamm erneut zu offerieren. Er wusste meistens, wann er zu weit ging, und liebte es zweifelsohne, sie zu necken – wie ein kleiner durchtriebener Junge, der nie erwachsen werden wollte. Und wenn er dann noch lächelte wie ein Lausbub, konnte man ihm nicht einmal böse sein.

»Meinst du, Lilly gefällt das?«, fragte er und zog im selben Atemzug aus seiner Jackentasche einen Schlüsselanhänger, an dessen Ring ein silberner Delphin baumelte.

»Klar«, erwiderte sie, bevor sie herzhaft in ihr Panino biss. Schon als Kind hatte Lilly ihre Zimmer mit allerlei Delphinstofftieren vollgestopft. Sie liebte diese Tiere über alles.

Noch etwas zog er aus seinem Jackett und reichte es ihr. Eine Audio-CD mit entspannender Lounge-Musik und eine Eurovision-Song-Contest-CD. Seltsam, dass es so etwas in Italien an einer Raststätte zu kaufen gab. Die Italiener waren doch seit Jahren nicht mehr dabei gewesen. Auf alle Fälle genau ihr Geschmack.

»Danke!«, sagte sie und lächelte erfreut.

Georg war mit seinen Gedanken jedoch ganz woanders. Er rekelte sich und gähnte.

»Soll ich fahren?«, fragte sie ihn.

Er nickte nur. »Aber leg die Lounge-CD ein. Damit halte ich es bestimmt etwas länger aus«, sagte er und lächelte süffisant – in Anspielung auf ihre angeblich so schlechten Fahrkünste.

Das alte Spiel. Dennoch war es nett von ihm, dass er ihr ein paar neue CDs besorgt hatte. Vielleicht würde es ihr sogar gelingen, sich auf der restlichen Fahrt etwas zu entspannen – trotz seiner kleinen Sticheleien, die er einfach nicht lassen konnte. Gott sei Dank hörte es auf zu regnen, was Georg einen wissenden Blick gen Himmel abrang, als wollte er damit sagen, dass es nur seinetwegen vorhin gegossen hatte. Wahrscheinlich hatte er damit sogar recht.

»Gib Gas! Die hat uns geschnitten«, ereiferte sich Georg kurz vor der französischen Grenze.

Inzwischen um Hunderte von Flüchen und Verwünschungen gegen andere Verkehrsteilnehmer reicher, hatte Emma jedoch keine Lust darauf, es der »blonden Schnepfe«, wie er die Fahrerin vor ihr im roten Alfa Cabrio nannte, in irgendeiner Form heimzuzahlen, was sowieso nicht ihre Art war.

»Die lässt du jetzt nicht mehr raus!«, rief er fast schon hysterisch.

Warum um alles in der Welt sollte sie den Alfa daran hindern, wieder auf die linke Spur zu wechseln?

»Du forderst das ja heraus. Wenn man so eine große Lücke lässt, da würd ich auch ausscheren.«

»Das nennt man Sicherheitsabstand. Und ich hab keine Lust auf einen Auffahrunfall«, konterte Emma nun doch leicht gereizt.

Drei Stunden neben Georg als Beifahrer waren mindestens so ermüdend wie ein furchtbar stressiger Arbeitstag im Büro. Daran konnte auch die Entspannungs-CD nichts ändern. Im Gegenteil. An sich wäre ihr jetzt mehr nach hartem Rock, allein schon, um dieses Gekeife vom Beifahrersitz abzustellen.

»Du fährst so was von scheiße!«, ätzte er.

Die alte Leier und fast nicht mehr auszuhalten. Nun könnte sie Georg zwar seinen aktuellen Punktestand in Flensburg vorhalten oder den Umstand, dass er schon zweimal nach Führerscheinentzug wegen Trunkenheit am Steuer fahrzeugtechnisch auf dem Trockenen gesessen hatte, doch dazu hatte sie keine Lust! Also: CD raus und irgendeinen Sender suchen, auf dem laute Musik lief. Egal was! Auf ­Anhieb hatte sie avantgardistischen Italo-Rock eines Privatsenders gefunden – wunderbar grässlich. Aufdrehen, selbst wenn man dabei Gefahr lief, Ohrenkrebs zu bekommen! Es bedurfte keines Seitenblicks zu Georg, um zu spüren, dass er vor Zorn jeden Moment zu platzen drohte. Schon war seine Hand am Autoradio. Die hektische Suche nach einem anderen Sender begann. Es gab kaum etwas Nervenaufreibenderes, als sich bei voller Lautstärke durch diverses Radioknacksen, Fiepen, Piepen, Knallen und atmosphärisches Rauschen zu navigieren, das nur von marktschreie­rischer italienischer Werbung oder sich überschlagenden Moderatorenstimmen unterbrochen wurde. Nun klingelte auch noch sein Handy. Ein Wunder, dass er es bei diesem Lärm überhaupt hörte. Bestimmt Lilly, die wissen wollte, wann sie ankommen würden. Immerhin fand er den Ausknopf des Autoradios auf Anhieb.

»Bergmann. Hallo?«, meldete er sich. »Nein, noch nicht, aber ich habe da ein bestimmtes Objekt im Auge … In der Nähe von Grasse … Ich kann es mir morgen ansehen … Selbstverständlich gebe ich Ihnen sofort Bescheid.« Seine Stimme war wie ausgewechselt. Georg der Geschäftsmann in von jetzt auf gleich fast unterwürfiger, um nicht zu sagen serviler Tonlage.

Moment! Hatten sie sich nicht vorgenommen, ein Segelboot zu mieten und einen Tag mit Lilly an der Küste entlangzufahren?

»Die Russen?«, fragte sie, in der vagen Hoffnung zu erfahren, welchen Teil seiner Terminplanung er ihr offenbar verschwiegen hatte.

Georg nickte. »Hat sich so ergeben«, erwiderte er lapidar.

»Aha! Und warum erfahre ich das erst jetzt?«

»Du hast mich ja nicht danach gefragt«, erwiderte Georg trocken und beinahe angriffslustig.

»Ich dachte, du würdest dich auf Lilly freuen.«

»Natürlich freue ich mich auf Lilly. Ist doch nichts dabei. Ich schau mir nur ein Grundstück an«, versuchte er, sich zu rechtfertigen.

»Meinst du, das lohnt sich noch, für einen halben Tag ein Boot zu mieten? Dann können wir ja gleich im Hotel bleiben, oder noch besser: Warum bringen wir Lilly nicht ihre Sachen und fahren gleich nach deinem Termin wieder nach Hause?«

Schweigen! Das übliche Schweigen und der Griff nach der Zigarette.

»Muss das jetzt sein?«

Nun kurbelte er auch noch das Beifahrerfenster komplett herunter. Bei dem Fahrtwind flog die Asche bestimmt ins Auto und der Gestank würde sich im Wagen tagelang festsetzen. Doch das interessierte sie im Moment weniger als die Frage, warum ihre Tochter ihm so wenig wert war.

»Du bist in der ganzen Zeit, seitdem Lilly in Nizza ist, nur einmal zu Besuch gewesen, also erzähl mir nicht, dass du dich freust. Auf den Geschäftsabschluss vielleicht, aber …«

»Nein …«, erwiderte er und wand sich fast ein bisschen schuldbewusst.

Wirkliche Erkenntnis sah anders aus. Stattdessen blies er eine weitere Rauchwolke in Richtung Fenster, wo sie der Fahrtwind erfasste und genau zu ihrer Nase lenkte.

»Ich weiß manchmal wirklich nicht, was in dir vorgeht. Es ist doch nichts dabei, Privates mit Geschäftlichem zu verbinden, aber warum sagst du mir nichts davon?«, versuchte es Emma erneut.

Wieder nur ein intensiver Zug an der Zigarette. In seinem jetzigen Zustand war Georg unerträglich. Sie hatte die Wahl zwischen Zorn und Schweigen. Sofort stellte sich in der Magengegend jenes dumpfe Gefühl ein, jene lähmende Angst, dass seine Stimmung kippen könnte und für den Rest der Strecke so blieb. Vielleicht schätzte sie die Situation ja auch nur falsch ein, machte aus einer Mücke einen Elefanten, aber was tun, wenn die Mücke, die in ihrem Kopf ständig umherschwirrte, keine Ruhe geben wollte? Nein, es war nicht richtig, Lilly eine Bootsfahrt zu versprechen und in dieser Zeit einen Geschäftstermin zu verein­baren.

»Georg, warum tust du das?«, platzte es aus ihr heraus.

»Was?«, fragte er in genervtem Tonfall. Dabei wusste er genau, wovon sie sprach.

»Du bist mein Mann. Und die Firma gehört uns beiden. Wenn dir das aber mittlerweile gleichgültig ist, dann …«

»Mein Gott! Ich hab’s vergessen. Ist das so schlimm?«, rechtfertigte sich Georg.

Sagte er ihr die Wahrheit? Regte sie sich tatsächlich ohne Grund auf? Nein! Hier ging es um Wertschätzung und Respekt, für die eigene Frau, aber auch für Lilly.

»Ich hab immer mehr das Gefühl, dass wir aneinander vorbeileben«, setzte sie nach. Mist! Dies war die Ouvertüre zu einer handfesten ehelichen Auseinandersetzung in Grundsatzfragen.

Georg verdrehte nur die Augen und nahm den letzten Zug von seiner Zigarette, die er anschließend aus dem Fenster schnippte.

»Kriegst du eigentlich noch mit, wenn du andere verletzt?«, fragte sie scharf. Kaum hatte sie es ausgesprochen, erschrak Emma über ihre eigenen Worte.

»Was hab ich dir denn getan?«, fragte er mit dem Blick eines Unschuldslamms.

Diesem temporären Gedächtnisschwund, unter dem er wohl gerade litt, konnte man abhelfen, auch wenn es nicht ihre Art war, olle Kamellen aufzuwärmen. Es ging nicht anders. Das Ventil am Druckbehälter ihrer Seele, einem Verlies, in dem sie alles wegsperrte, was sie verletzte, war schon seit einiger Zeit porös und nun undicht geworden.

»Ostersonntag. Schon vergessen? Wir waren zum Essen verabredet. Du hast mich versetzt. Was glaubst du eigentlich, wie es sich anfühlt, wenn dir andere wichtiger sind als ich?« Sie hatte gekocht, sein Lieblingsessen, und er war stockbetrunken nach einer Sauftour mit neuen Freunden, die er beim Golfen kennengelernt hatte, nachts um halb vier nach Hause getorkelt, hatte Mühe gehabt, seine Schuhe auszuziehen und dabei auch noch debil gekichert.

»Das haben wir doch schon durch«, antwortete er etwas gelangweilt. »Ich hätte dir Bescheid gegeben, wenn mein Akku nicht leer gewesen wäre. Wie oft soll ich dir das denn noch erklären?«

»Und die anderen? Die hatten auch kein Handy dabei? Und der Wirt hatte bestimmt auch kein Telefon …« Emma merkte, wie die Wut jenes Abends wieder in ihr hochstieg.

»Du hättest das Essen doch auch aufheben können.« Wieder eine seiner Rechtfertigungen, die es zumindest abzuwägen galt. Mücke oder Elefant? Das war die Frage. Er bereute also lediglich, sie nicht angerufen zu haben. Dass man sich mit seiner Frau verabredete und sie dann auch noch an einem Feiertag versetzte, war offenbar zweitrangig. Andererseits, sollte sie nicht Verständnis dafür haben, dass er gelegentlich freie Abende für seine Freunde brauchte? Engte sie ihn am Ende zu sehr ein? Aber gebot es nicht der Anstand, zumindest zu Hause Bescheid zu geben? Warum konnte er nicht verstehen, wie sehr er sie an jenem Abend verletzt hatte? Und das alles nur, um mit ein paar Freunden einen über den Durst zu trinken. Wie auch am Abend ihres letzten Geburtstags, den er lieber mit den Golfern verbracht hatte, als mit ihr gemeinsam zu feiern. Stopp! Emma zwang sich dazu, keine weiteren Erinnerungen dieser Art mehr zuzulassen. So war Georg nun mal. Er meinte es nicht böse. Und so war er schon immer gewesen, wobei es sich nicht leugnen ließ, dass Georg sich noch vor ein paar Jahren so eine Nummer nie geleistet hätte. Kleine und für sich allein betrachtet bedeutungslose Aussetzer, die in jeder Ehe vorkamen, häuften sich. Kurz nach diesem Vorfall war dessen ungeachtet wieder alles gut gewesen. Ihr traumhafter Urlaub in Südafrika. Was hatten sie für Spaß gehabt. Georg hatte vielleicht recht. Sie sollte aus einer ­Mücke keinen Elefanten machen. So jämmerlich und in sich zusammengesunken, wie er jetzt neben ihr saß, tat es ihr sogar fast leid, jenen Abend überhaupt noch einmal angesprochen zu haben. Wenigstens gab er jetzt Ruhe und würde für den Rest der Fahrt nicht mehr an ihrem Fahrstil herummäkeln.

Schon als sie von der Stadtautobahn in Richtung Meer zur Promenade des Anglais abbogen und Emma den süßlich-frischen Piniengeruch durch das geöffnete Fahrerfenster wahrnahm, besserte sich ihre Laune. Französisches Flair partout und in jeder Seitenstraße, an der sie vorbeifuhren das gleiche Bild: der kleine Tabakladen, vor dem sich ein paar Einheimische versammelt hatten und mit Sicherheit über die Neuigkeiten aus dem Viertel plauderten, ein gutbesuchtes studentisches Bistro und gleich daneben ein edles Restaurant mit Geschäftsleuten, aber auch älteren Paaren, die die großartige französische Küche genossen. Emma lief beim Anblick der Meeresfrüchte und Fischgerichte, die verführerisch drapiert auf den Tellern lagen, sofort das Wasser im Mund zusammen. Junge verliebte Pärchen, Studenten wie ihre Lilly, schlenderten an ihnen vorbei. Eine ältere, aber äußerst attraktiv gekleidete Dame ging mit ihrem Hund spazieren. Touristen streiften durch die Gässchen der Altstadt. Das war das Nizza, das sie kannte. Was für ein schönes Jahr hatte sie hier verbracht. Die Erinnerungen an ihre Studienzeit klebten an jedem Stein. Vermutlich studierte Lilly deshalb hier, weil Emma ihr des Öfteren von ihrem großartigen Studentenleben an der Côte d’Azur erzählt hatte. Georg kannte Nizza nur von einigen Besuchen, aber auch ihm schien es zu gefallen.

»Herrlich, diese Luft«, bemerkte er, als sie Nizzas Prachtstraße erreichten, die am Strand entlangführte und mit einem Luxushotel nach dem anderen protzte. Er schien sich also wieder beruhigt zu haben … Aber warum lächelte er so geheimnisvoll, als sie in die Zufahrt eines edlen Hotels abbogen? Wieso hielten sie ausgerechnet hier? Das Negresco war sicherlich eines der schönsten Hotels am Platz, aber wahrscheinlich auch das teuerste. Er hatte doch nicht etwa ausgerechnet hier ein Zimmer gebucht?

»Das ist nicht dein Ernst«, sagte sie und sah ihn fragend an.

»Doch!«, erwiderte er knapp.

Ein paar hundert Euro pro Nacht würden flöten gehen – mindestens. Dagegen war ja nichts einzuwenden, wenn man aus Entenhausen kam und über einen gutgefüllten Geldspeicher verfügte. Hatte Georg etwa vergessen, dass ihre Konten so gut wie leer geräumt waren und sie sich so etwas beim besten Willen nicht leisten konnten?

»Das Hotel vom letzten Mal hätte es doch auch getan«, merkte sie noch an, doch zu spät. Schon hievten Gepäckträger in Uniform ihre Koffer aus dem Wagen. Für diese Eskapade hatte sie also in den letzten zwei Monaten auf den Einkauf im Feinkostladen zugunsten eines Discounters verzichtet. War Georg etwa immer noch nicht richtig klar, dass sie kurz vor der Pleite standen? Hatte er ihr wieder einmal nicht zugehört? Gut, sie war für die Buchhaltung zuständig. Er kümmerte sich um die Außenkontakte und wickelte die Projekte ab, aber er musste doch mitbekommen haben, dass zwei ihrer Kunden in Konkurs gegangen waren und ein Auftrag geplatzt war.

»Ist doch schön hier. Genieß es.« Georgs Tonfall war ihr zu lapidar, und die lässige Art, wie er die Fassade des Hotels bewunderte und dem Pagen nonchalant gleich zehn Euro Trinkgeld in die Hand drückte, hatte etwas Großkotziges.

»Du hättest das mit mir absprechen können.«

»Ich wollte dich überraschen.«

»Georg, wir können uns das nicht leisten«, protestierte sie.

»Jetzt dramatisier nicht schon wieder. Du musst immer alles zerreden!« Georgs Anspannung stieg sichtlich, was Emma ziemlich wütend machte. Er nahm sie einfach nicht ernst.

»Das sind die Studiengebühren für Lilly, die wir hier verprassen!«, setzte sie nach. Apropos Lilly. Emma blickte auf ihre Armbanduhr. Schon Viertel vor neun. Sie mussten sich sputen, da sie mit ihr gegen neun zum Essen verabredet ­waren. Der uniformierte Page fragte sie bereits, ob er für sie den Wagen in der Tiefgarage des Hotels parken dürfe. ­Georg nickte und reichte dem Uniformierten den Autoschlüssel.

»Hast du das Essen mit Lilly vergessen?«, fragte sie verwundert.

Georg überlegte kurz, schüttelte den Kopf.

»Wieso willst du dann den Wagen parken? Wir haben doch nur noch eine Viertelstunde.«

Er schwieg einen Moment und rang sich dann ab: »Fahr ruhig allein. Ich bin schon sehr müde.«

»Du kannst ihr ruhig persönlich sagen, dass der Ausflug ins Wasser fällt.« Davonstehlen kam nicht in Frage.

Emma drückte auf die Schnellwahlnummer ihres Telefons.

Der Hotelpage ging bereits in Richtung Fahrertür.

»Attendez!«, rief sie ihm zu, was Georg mit einem genervten Blick kommentierte.

Keine Antwort von Lilly. Sie ging nicht ans Telefon.

»Lilly ist nicht zu erreichen.«

»Sie wird unterwegs sein. Vielleicht hat sie es ja vergessen.«

»Lilly doch nicht. Wir haben noch gestern Abend dar­über gesprochen.«

»Hinterlass ihr eine Nachricht auf der Mailbox. Sie meldet sich schon. Ich leg mich jetzt hin.«

Wie konnte Lilly ihrem Vater nur so gleichgültig sein? Er wusste doch genauso gut wie sie, dass Lilly äußerst zuverlässig war und überpünktlich. Irgendetwas stimmte nicht. Sie hätte ihnen Bescheid geben, wenn sie verhindert wäre.

»Wir sollten zu ihr fahren und nach dem Rechten sehen.«

Georg verdrehte nur die Augen.

»Sie ist auch deine Tochter.«

Georgs wachsende Unruhe entlud sich ebenso schlag­artig wie lautstark, so schneidend und aggressiv, dass selbst der Page zusammenzuckte. »Mach doch, was du willst!«, herrschte er sie an. Damit drehte er sich um und verschwand in Richtung der Promenade des Anglais, ohne sie auch nur noch eines Blickes zu würdigen. Er ließ sie einfach stehen.

Wieder einer seiner üblichen Aussetzer. Warum nur hatte er sich nicht im Griff? Vermutlich belastete ihn der existentielle Druck doch mehr, als Emma sich das bisher vorstellen konnte. Vielleicht hatte er das teure Hotel gerade deshalb gebucht. Nannte man so etwas nicht Eskapismus?

»Madame?« Der Page wartete mit ihren Wagenschlüsseln in der Hand offenbar auf eine klare Ansage.

»Non, je prends la voiture«, sagte sie. Am besten, sie fuhr gleich zu Lilly. Nachlaufen würde sie Georg jedenfalls nicht, und allein im Zimmer zu warten, bis er sich wieder beruhigt hatte, kam auch nicht in Frage. Lilly würde sich früher oder später melden, und ihre Gesellschaft würde ihr angesichts dieser desaströsen Anreise sicherlich guttun.

Kapitel2

Die Rue Verdi gehörte zu den Straßen, die typisch für die Wohnviertel von Nizza waren: alte Wohnhäuser aus hellem Stein, verspielt verzierte Fassaden mit hohen Fenstern, die bis zum Boden reichten und mit schmiedeeisernen Fenstergittern versehen waren. Die Häuser hatten Pariser Charme, der jedoch immer wieder von modernen Betongebäuden unterbrochen wurde Bausünden aus den Siebzigern, dafür mit richtigen Balkonen, die in Südfrankreich wegen der Hitze im Sommer aber so gut wie niemand nutzte. Hier war leider nichts mehr von dem Pinienduft, spüren. Es roch nach Abgasen, altem Fett aus dem Abzugsrohr eines nahe gelegenen Imbiss-Restaurants. Die Luft schien an diesem ziemlich warmen Abend förmlich zu stehen.

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