Von wegen Dolce Vita! - Tessa Hennig - E-Book

Von wegen Dolce Vita! E-Book

Tessa Hennig

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Beschreibung

Love and Peace? Nicht mit Oma Angie! Angelika »Angie« Schirner war schon in den 68ern ein echtes Blumenkind und ist im Herzen auch heute noch ein Hippie. Ganz anders ihre Tochter Janis, die ein Leben wie aus der Rama-Werbung führt – spießig und sicher. Zwischen den beiden herrscht seit Jahren Funkstille, deshalb kennt Angie ihre Enkelin Leonie auch nicht, die zu Hause als kiffendes Goth-Mädchen den Aufstand probt. Erst als Leonie nach einem Streit mit ihrer Mutter plötzlich vor Angies Tür steht, darf Angie endlich Oma spielen. Eigentlich wollte sie jedoch mit ihrem museumsreifen Porsche die lange Fahrt nach Sardinien antreten, um mit ihrer alten Kommune 50 Jahre Woodstock zu feiern. Angie nimmt Leonie einfach mit. Und so beginnt für die beiden ein turbulenter Roadtrip durch den Süden – mit Janis im Camper dicht auf den Fersen. Hippies, Herz und Humor – großer Urlaubsspaß von Bestsellerautorin Tessa Hennig

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Von wegen Dolce Vita!

Die Autorin

Tessa Hennig schreibt seit vielen Jahren große TV-Unterhaltung und Bestseller-Romane mit Herz und Humor, die auch erfolgreich verfilmt wurden. Wenn sie vom Schreiben eine Auszeit benötigt, reist sie auf der Suche nach neuen Stoffen gern in den Süden.Von Tessa Hennig sind in unserem Hause bereits erschienen:Alles außer Austern · Bea macht blau · Elli gibt den Löffel ab · Emma verduftet · Lisa geht zum Teufel · Mama mag keine Spaghetti · Mit Oma in Roma · Mutti steigt aus · Nie wieder Amore!

Das Buch

Angelika »Angie« Schirner hat früher flatternde Batikkleider getragen und sich Blumen ins Haar gesteckt. Ihre Tochter Janis fand das schon als Kind peinlich und konnte es kaum erwarten, das wilde Leben ihrer Mutter gegen geordnete Verhältnisse in einem Einfamilienhaus mit Vorgarten einzutauschen. Heute, fünfzig Jahre nach ’68, ist alles noch beim Alten: Angie ist im Herzen ein Hippie, Janis durch und durch Spießerin. Nur eins hat sich geändert: Janis hat mittlerweile selbst eine Tochter, Leonie, die zu Hause als kiffendes Goth-Mädchen den Aufstand probt. Leonie kommt ganz nach ihrer Oma – ohne sie je kennengelernt zu haben, denn Janis hat den Kontakt zu Angie abgebrochen. Doch dann bekommt Angie die Gelegenheit, ihrer Enkelin aus der Patsche zu helfen und ihrer Tochter eins auszuwischen …

Tessa Hennig

Von wegen Dolce Vita!

Roman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Juli 2019© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: © Gerhard GlückE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-2086-1

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

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Cover

Titelseite

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 1

Das Kranzler ist auch nicht mehr das, was es mal war. Angie fiel auf, dass sie sich das jede Woche sagte. Klebten an eingespielten Ritualen etwa wiederkehrende Gedanken? War es ein Zeichen des Alters, dass das Murmeltier sie hier zwar nicht täglich, aber immerhin wöchentlich grüßte? Und wenn schon. Der Film mit Bill Murray aus den Neunzigern, an den sie dachte, war eine Komödie. Angie beschloss daher, ihre sich ständig wiederholenden Gedanken ebenfalls mit Humor zu nehmen. Mit zweiundsiebzig musste man sich chronische Melancholie nicht vorhalten, vor allem, wenn man Stammgast in diesem Café war – und das schon seit einer gefühlten Ewigkeit. Es war einfach schön, auf der Terrasse im ersten Stock zu sitzen und auf das geschäftige Treiben der einst prächtigsten Einkaufsmeile Berlins zu blicken. Sie war auch in die Jahre gekommen. Viele Edelboutiquen und angesagte Ausgehmeilen lagen jetzt eher im Osten. Insofern war ganz Berlin nicht mehr das, was es einmal gewesen war – vor dem Mauerfall, versteht sich, als die ganzen Regierungsbonzen ihr Süpplein noch auf Bonner Sparflamme gekocht hatten. Angie befürchtete, vollends in Melancholie zu versinken, doch daran hinderte sie ein chinesischer Tourist am Tisch gegenüber, der die Milch aus seiner Müslischale so laut schlürfte, dass er selbst den Straßenlärm vom Ku’damm übertönte. Das wäre doch auch einen Artikel wert: andere Länder, andere Unsitten. Aber bestimmt hatte sich bereits jemand dieses Themas angenommen. Es blieb keine Zeit, um weiter darüber nachzugrübeln, denn Elke war im Anmarsch. Wie immer war sie einen Tick zu trendig und jugendlich gekleidet. Und das mit dreiundfünfzig. Man sah ihr das Alter allerdings nicht an, weil sie sich einen Schönheitschirurgen geangelt hatte. Der Faltenbügler zahlte ihr auch die modischen Klamotten. Natürlich alles Markenlabel. Von ihrem Gehalt als Journalistin konnte Elke sich nichts von Prada leisten. Schon stand ihre Label-Handtasche demonstrativ auf dem Tisch.

»Na?«, trillerte sie.

Konnte Elke sie nicht wenigstens einmal wie jeder normale Mensch begrüßen? Mit »Hallo, Angie« oder »Guten Morgen«? Die intellektuelle Herausforderung bestand für Angie in solchen Fällen darin, sich auf diese dämliche Ansprache hin ein Lächeln abzuringen und irgendetwas einigermaßen Sinnvolles darauf zu erwidern.

»Geht so.« Angie entschied sich heute für die knappe Variante.

Elke nickte kurz und schnippte in Richtung der Bedienung. Bei ihr funktionierte das. Auf grauhaarige Stammkundinnen in bunten Schlabberpullis und Jeans reagierte der junge Kellner nur auf vehementen Zuruf.

Elke setzte sich und seufzte. Kein gutes Zeichen.

»Ich brauch ’nen guten Stoff. Dringend!«, gab Angie ihr unmissverständlich zu verstehen, denn schreibtechnisch war sie bereits auf Entzug. Genau so brachte sie das auch rüber.

Elke nickte nachdenklich. Der Mittvierziger in Anzug und Krawatte am Nachbartisch, der bis eben noch in seine Zeitung vertieft gewesen war, blickte daraufhin neugierig zu ihnen herüber.

»Wird schwierig«, erwiderte Elke.

So wie der mutmaßliche Versicherungsfuzzi Elke nun musterte, dachte er sich bestimmt, dass Drogendealer irgendwie anders aussahen. Auf die pralle Prada-Tasche starrte er trotzdem voller Misstrauen.

Elke feixte. Auch sie hatte seinen verstörten Blick bemerkt.

»Adel? Harry und Meghan?«, schlug Angie aus purer Verzweiflung als möglichen Aufhänger für einen Artikel vor.

»Machen doch schon die Kollegen. Da krieg ich dich nicht rein. Das weeßte doch.«

Natürlich wusste Angie das, aber penetrantes Nachhaken bewegte oft Berge. In diesem Fall jedoch nicht.

»Ein klitzekleiner Staatsbesuch vielleicht?« Angie gab die Hoffnung nicht auf, wenigstens einmal wieder etwas Vernünftiges jenseits der Klatschspalten zu schreiben, wie in ihren goldenen Zeiten als Auslandskorrespondentin in London und Paris. Was für ein Scheißgefühl, auf dem Abstellgleis gelandet zu sein. Eine alte Dampflok war gerade noch gut genug für den Regionalverkehr – sprich für Ratsch und Tratsch. Nun war sie es, die seufzte, dabei hatte Elke noch nicht einmal den Kopf geschüttelt. Sie tat es jetzt.

»Es gibt Gerüchte, dass Gottschalk sich die Haare kurz schneiden lässt. Ich kenn seinen Friseur«, deutete Elke bedeutungsschwanger an.

»Sag bloß!«

Elke nickte mit ernster Miene. »Wär das nix? Das krieg ich unter – locker«, behauptete sie.

»Also ein Dreizeiler und irgendein Interview mit einem Friseur?«

Elkes betretenes Lächeln untermauerte den Ernst der Lage.

»Nee. Hör mir auf.« Angie sah keinen Grund, ein Blatt vor den Mund zu nehmen, auch wenn sie Gefahr lief, diese Woche nichts zur Aufbesserung ihrer Rente hinzuzuverdienen und Elke ihr irgendwann gar keine Aufträge mehr zukommen ließ. Dann doch lieber Pfandflaschen aus dem Müll fischen. Heutzutage wurde man dafür nicht einmal mehr schief angesehen. Volkssport. Das wäre doch ein guter Artikel, aber leider wäre der wieder politisch. Die gnadenlose Bissigkeit, für die Angie früher geschätzt und gefürchtet war, kam in diesem Bereich nicht mehr so gut an. Thema Dampflok, doch der Dampf musste schön im Kessel bleiben.

»Meng Meng«, gab Elke nun unvermittelt von sich. Meinte sie damit etwa den schlürfenden Chinesen? Er schaute jedenfalls zu ihnen rüber, als ob er sich angesprochen fühlte.

»Was willst du mir damit sagen?«, hakte Angie nach, weil der Chinese sich wider Erwarten desinteressiert abgewandt hatte.

»Na, der drollige Panda drüben im Zoo. Hat Geburtstag. Der kriegt immer ’ne Riesentorte. Erst frisst er die Möhren und Äpfel und dann sogar das Eis. Das ist so putzig. Macht gute Stimmung. Die Leute lieben so was.«

Angie sah Elke fassungslos an. Gute Stimmung machen, also Propaganda, aber nix Politisches schreiben dürfen.

»Auch die Redaktion steht total auf solche Sachen. Die nehmen das ganz sicher«, fügte Elke mit Nachdruck hinzu.

»Kann ich nicht doch noch die Hörbiger interviewen?«, bettelte Angie, weil sie keine Lust darauf hatte, sich im Zoo zum Affen zu machen und Meng Meng beim Eisschlecken zuzusehen. Letzte Woche hatte sie die Hörbiger noch abgelehnt. Vielleicht ging ja doch noch was.

»Schon weg«, erwiderte Elke. »Du schreibst immer so schön lebendig. Komm. Gib dir einen Ruck. Bringt Kohle.«

Am liebsten hätte Angie ihr in diesem Moment unter die Nase gerieben, wem sie ihren ersten Job bei der größten Tageszeitung Deutschlands zu verdanken hatte. Nun gut, das restliche Stück der Karriereleiter hatte Elke mit der Lewinsky-Methode gut allein bewältigt, aber ihr nun Pandageburtstage aufs Auge drücken zu wollen ging eindeutig zu weit. Undank ist der Welten Lohn.

»Woodstock. Fünfzig Jahre Woodstock. Hippie-Treffen auf Sardinien. Na? Was sagst du?« Angie konnte kaum glauben, dass sie Elke diesen Vorschlag eben unterbreitet hatte, und schrieb dies dem Umstand zu, dass sie sich schon umringt von laut kreischenden Kindern vor dem Gehege des asiatischen Bären hatte stehen sehen.

Elke verzog eine Augenbraue. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie gerade angestrengt nachdachte. Dann zeigte sich ein Lächeln in ihrem Gesicht.

Angie wurde augenblicklich heiß. Hatte sie Marlis denn nicht bereits abgesagt? Sardinien. Die ganzen Reisestrapazen. Die Hitze im Frühsommer. Oh Gott! Was habe ich getan?

»Brillant. Großartig! Das krieg ich unter. Mach mal, ja … Du warst doch mal da unten, in so ’ner Kommune … Genial!« Elkes Zustimmung wich Ekstase.

Angie konnte sie nicht so recht teilen, schluckte und rang sich ein erfreutes Lächeln ab.

»Spesen kannste abrechnen, aber dafür will ich Bildmaterial sehen.«

Angie verfluchte in dem Moment ihre Abneigung gegen Triviales. Aus der Nummer kam sie jetzt nicht mehr heraus. Immerhin ein vernünftiger Auftrag, und das Kranzler kam sicher auch mal eine Woche ohne sie aus.

Als Janis zu ihrem neuen Büro gebracht wurde und die beklemmend enge kleine Parzelle zum ersten Mal betrat, versuchte sie, sich mit dem Gedanken zu trösten, dass sie sich karrieretechnisch richtig entschieden hatte. Hermann Jansen, der grau melierte Leiter der Kreditabteilung und somit ihr neuer Chef, sah das genauso. Fortan würde sie keine kleinen Fische mehr im Privatkundengeschäft betreuen, sondern dicke Firmenkunden an der Angel haben. Der Bürostuhl war zudem bequem und der Schreibtisch geräumig. Dort konnte sie künftig kilometerlang Kundenakten ausbreiten. In ihrem heimeligen Stuttgarter Büro hatte es keine so großen Ablageflächen gegeben, dafür aber Grünpflanzen, eine kuschelige Couch, um Kunden in Wohlfühlambiente zu beraten, und nicht zu vergessen: die herrliche Aussicht auf einen Park, der bei geöffnetem Fenster stets für frische Luft sorgte. All das hatte sie eingetauscht gegen den Blick auf die graue Betonwand des gegenüberliegenden Bürogebäudes, einen ätzend hellblauen Kurzflorteppich, auf dem sie sofort zwei Kaffeeflecken bemerkte, und Wände, an denen keine Monet-Nachdrucke, sondern Werbeplakate für Kreditfinanzierungen hingen. Statt frischer Luft gab es eine Klimaanlage und Fenster, die sich nicht öffnen ließen. Immer schön an die dicken Fische denken! Sie waren es aber nicht allein, die Janis Zuversicht spendeten, denn letztlich war sie nicht derentwegen nach Berlin gezogen. Was tat man nicht alles für die Liebe.

»Ich hoffe, Ihnen gefällt Ihr neues Büro«, sagte Jansen.

»Ich mag es, wenn alles so schön funktional eingerichtet ist«, erwiderte sie, während sie den Blick über die hellgrauen Wandschränke ihres neuen Habitats schweifen ließ. Das war zumindest nicht gelogen. Ihre geringe Begeisterung konnte sie jedoch nicht gänzlich verbergen.

»Am Sims ein paar Grünpflanzen … ein paar persönliche Dinge. Macht hier jeder so. Auf alle Fälle freuen wir uns, Sie wieder hier zu haben. An Bäcker muss ich mich allerdings erst noch gewöhnen«, sagte er. Gut, dass Jansen nicht nachhakte und sie nach ihrem Eheleben fragte. Wer erzählte schon gerne von einer Ehe, die gescheitert war. Warum nur hatte sie nach der Scheidung vor zwei Jahren nicht ihren Mädchennamen angenommen? Vermutlich aus Bequemlichkeit, sagte Janis sich. Der einstige Lehrling war also zurück in der Berliner Sparkasse. Ein komisches Gefühl war das schon, und zwar unabhängig davon, ob er sie nun Schirner, was ihm zweimal herausgerutscht war, oder Bäcker nannte. Damals hatte sie noch zu Hause gewohnt, bei ihrer Mutter. Schon vor ihrer Entscheidung, nach Berlin zu ziehen, hatte Janis der Gedanke zugesetzt, sich fortan auf Schritt und Tritt an ihre Kindheit und Jugend erinnern zu müssen. Gottlob hatte Berlin sich in vielerlei Hinsicht verändert. Die vielen neuen Eindrücke lenkten ab. Der Alltag war so stressig geworden, dass man gar keine Zeit mehr hatte, sich an irgendetwas von früher zu erinnern. Die Stadt war zudem groß genug, um ihrer Mutter nicht über den Weg zu laufen. Ihrem ehemaligen Ausbilder zu begegnen wühlte sie dennoch stärker auf als vermutet.

»Jetzt kommen Sie erst einmal an«, riet Jansen ihr.

Janis nickte und rang sich ein zuversichtliches Lächeln ab.

»Hab einen Termin. Wenn Sie was brauchen … jederzeit«, fuhr er fort und wandte sich zum Gehen. Just in dem Moment huschte eine zu stark geschminkte jüngere Kollegin mit pechschwarzem Haar mit einem Aktenstapel in der Hand an der Tür vorbei. Jansen trat auf den Gang hinaus und winkte sie herbei.

»Ach, Petra … Ich mach Sie noch schnell bekannt. Das ist Frau Bäcker. Sie hat heute ihren ersten Tag«, sagte er an die junge Kollegin gerichtet. »Petra ist am Empfang und kümmert sich um die Post«, erklärte er Janis, bevor er sich mit einem aufmunternden Lächeln verabschiedete.

»Freut mich. Khachararatounian«, stellte sich die Kollegin vor und reichte Janis die Hand.

Versuche, diesen nach Ostblock klingenden Namen richtig auszusprechen, machten bestimmt Knoten in die Zunge.

»Vielleicht doch besser Petra und Janis?«, fragte Janis daher charmant.

»Janis. Was für ein schöner Name. Kommt der aus dem Griechischen?«, wollte Petra wissen.

Da war sie wieder, die Frage, die Janis wie die Pest hasste, auch wenn sie auf der Hand lag, weil Janis ihren Vornamen bewusst nicht englisch aussprach und noch dazu ein südländischer Typ mit dunklem lockigem Haar war. Janis entschied sich dazu, es kurz und schmerzlos zu machen.

»Meine Mutter stand auf Janis Joplin«, erklärte sie etwas genervt, obwohl sie sich vorgenommen hatte, sich diesmal nicht von aufsteigender Galle leiten zu lassen.

Petras Gesicht hellte sich dennoch auf. Janis hätte geschworen, dass das junge Ding mit höchstens Mitte zwanzig nicht einmal mehr wusste, wer Boney M. waren.

»Kenn ich. Coole Stimme. Blues … Rock … Tolle Texte. Ach so, ja, und die sang doch auf diesem Hippie-Festival Ende der Sechziger … Woodstock …«

Nun fing Petra auch noch an, »Me and Bobby McGee« zu summen. Ausgerechnet Mamas Lieblingssong, der mit dem Kratzer auf der Platte, der sie die gesamte Kindheit in Dauerschleife begleitet hatte. Petras wachsende Begeisterung war zermürbend.

»Da hat sich Ihre Mutter bestimmt etwas dabei gedacht. Nomen est omen.«

Janis nickte das kommentarlos ab, denn mit Sicherheit hatte Mutter sich nichts dabei gedacht. Bekifft konnte man nämlich nicht klar denken.

»Willkommen in Berlin!«, sagte Petra so herzlich, dass Janis sich im Moment glatt auf den neuen Lebensabschnitt freute.

Zu gern hätte Angie das überraschte Gesicht von Marlis gesehen, selbst wenn es nur über Skype gewesen wäre. Ob sie wohl ihre Chatnachricht schon gelesen hatte? Online war sie jedenfalls nicht. Wer wusste schon, in welchem sardischen Funkloch sich dieser Vollhippie herumtrieb? Marlis lebte in einem Kaff im Norden der Insel und hatte bis vor wenigen Jahren sogar in einer Felsenbehausung ohne Internet und Handyempfang gewohnt. Dass Angie nun doch zum Treff der alten »Kommune« kam, um mit einigen noch lebenden Protestlern von damals das fünfzigste Woodstock-Jubiläum zu feiern, versetzte Marlis vermutlich in Ekstase. Angie überlegte auf dem Weg zur Sparkasse auch, ob sie sich die Reise überhaupt leisten konnte. Die Rente war zwar nicht allzu mager, für große Sprünge reichte sie dennoch nicht. Zu blöd aber auch, wenn man jahrelang freischaffend und vor allem im Ausland tätig gewesen war, somit Lücken im Sozialversicherungsverlauf entstehen und man als alleinerziehende Mutter noch dazu mit Einkommenseinbußen gestraft wird, weil man sich für sein Kind natürlich Zeit nimmt und weniger arbeitet. Allein schon die Fahrt nach Sardinien kostete bestimmt ein halbes Vermögen. Benzin, Autobahngebühr, Übernachtungen unterwegs. Fliegen wäre billiger, aber das ging nicht, wenn man nicht mehr ganz dicht war, und dabei war nicht der Kopf gemeint, sondern die Blase, die seit zwei Jahren machte, was sie wollte. Sich mit einer Windel in den Flieger setzen? Und ohne? Nee! Einmal erlebt. Nie wieder! Dauerturbulenzen mit Toilettenverbot und anschließendem Flug-Trauma. Das brauchte Angie nicht noch mal. Lieber mit dem Wagen halten, wo die Blase es befahl, und dafür mehr löhnen, koste es, was es wolle. Dann musste eben das Sparbuch herhalten. Auch wenn die Anreise nicht nur aus diesem Grund sicher stressig wurde, der Gedanke an die guten alten Zeiten wirkte zugleich belebend. Raus aus dem Trott. So eine Reise war sicherlich die beste Medizin gegen die vielen Momente schmerzhafter Einsamkeit, in denen sie bereits überlegt hatte, sich einen Hund zuzulegen … Doch wer wusste schon, wann man über den Jordan ging? Der Gedanke, den Hund dann allein zurückzulassen, hatte sie auf der Stelle davon abgehalten, ins Tierheim zu gehen. Angie freute sich nun doch auf Sardinien, weil sie sich in den letzten Stunden beim Sichten teilweise bereits rotstichiger oder vergilbter Fotos an so viele schöne Momente erinnert hatte mit Marlis und dem verrückten Haufen. Marlis war es auch zu verdanken, dass sie nun Angie hieß und ihren richtigen Namen, Angelika, seit Anfang der Siebziger an den Nagel gehängt hatte. Sternenklarer Himmel, bekifft am Strand – was war das für ein schöner Sommer gewesen. Dazu Mick Jaggers Welthit aus einem batteriebetriebenen Kassettenrekorder. Sie hatten den Song mitgegrölt, und zwar so laut, bis jeder im Valle della Luna wusste, wer sie war, nämlich fortan »Angie«. Den summte sie nun, während sie ihre EC-Karte aus dem Portemonnaie friemelte, aber das auch nur, weil sie allein vor dem Bankautomaten im Eingangsbereich der Sparkasse stand. Das verräterische Klicken einer Tür hinter ihrem Rücken ließ ihren Singsang sofort versiegen.

»Frau Schirner. Guten Morgen. Wie geht es Ihnen?«, ertönte eine vertraute Stimme, die der Jansen gehörte, ihres Zeichens Geschäftsstellenleiterin und Angies persönliche Kundenbetreuerin. Bei ihr durfte sie immer betteln, wenn der Dispo ausgeschöpft war.

»Gut. Und Ihnen?«, begrüßte Angie sie.

Erika Jansen war stets so stark geschminkt, dass man diese Frage nicht nur aus purer Höflichkeit stellen musste. An ihrer Mimik oder ihrem Gesichtsausdruck ließ sich das nämlich nicht ablesen. Photoshop brauchte man bei der nicht.

»Kann nicht klagen«, erwiderte sie und blickte leicht wehmütig auf den Geldautomaten. »Schade, dass man sich kaum noch sieht«, merkte sie an.

»Ich fand das früher auch besser, als man noch Geld an der Kasse abheben konnte«, sagte Angie.

»Und die Kunden lassen sich im Internet beraten. Im Prinzip kommen sie nur noch, wenn es Probleme gibt oder irgendwelche Verträge fällig sind«, jammerte Frau Jansen.

»Apropos. Mein Prämiensparvertrag läuft im Herbst aus«, erinnerte Angie sich.

»Den würd ich weiterlaufen lassen. Solche Zinsen kriegen Sie nie wieder, aber was red ich. Ihre Tochter kann Sie bestimmt besser beraten. Sie kennt Ihre Wünsche, was Sie brauchen …«

»Meine Tochter? Wieso meine Tochter?«

»Na, die ist doch jetzt wieder da. Arbeitet bei meinem Mann in der Abteilung.«

Breaking News! Angie hatte nun auch ungeschminkt den gleichen maskenhaften Gesichtsausdruck wie Erika Jansen. Im Spiegel der Glastür sah sie aus wie die Büste einer Geisha.

»Sie hat’s richtig gemacht. Karriere im eigenen Haus geht nicht. Weggehen, sich woanders hocharbeiten, dann nehmen sie einen mit Handkuss«, sagte Jansen mehr zu sich.

Angie nahm das gar nicht mehr auf. Sie musste sich ganz auf eine gleichmäßige Atmung konzentrieren, um ihren Puls in Bereiche zu pegeln, die nicht nach der 112 verlangten. Zugleich stieg Panik in ihr auf, sich eine Blöße zu geben oder schon gegeben zu haben, denn ihre fahle Gesichtsfarbe war Jansen sicher aufgefallen. Sie musterte sie bereits mit sorgenvoll-irritierter Miene. Kreative Fähigkeiten waren nun gefragt. Irgendetwas auftischen, was ihren Zustand erklärte.

»Die Arme wird noch mehr arbeiten müssen …«, sagte Angie daher schnell.

Jansen griff es sogleich auf: »Halb so schlimm. Ich glaube, in der Kreditabteilung für Firmenkunden hat man weniger Stress als hier an der Front.«

Angie nickte Verständnis und Zuversicht mimend.

»Und wenn Sie sich doch in meine Hände begeben wollen … Anruf genügt … Und jetzt hol ich mir ein Sandwich beim Bäcker. Mein Magen kracht schon«, sagte Jansen mit Blick auf ihre Armbanduhr. Sie wandte sich zum Gehen und huschte durch die Tür, die ihr ein junger Kerl aufhielt. Sicher wollte der auch zum Geldautomaten.

Angies Hand zitterte vor Aufregung mittlerweile so stark, dass sie ihm den Vortritt ließ. Sie würde mit der EC-Karte sicher nicht einmal den Kartenschlitz treffen.

Janis war also in Berlin. Es wunderte Angie nicht, dass ihre Tochter sie nicht darüber informiert hatte. Funkstille seit fünfzehn Jahren. Und das nur, weil Angie damals recht behalten hatte. Die Narben der alten Wunden juckten nicht nur, sie spannten und drohten jeden Moment aufzuplatzen. Janis hatte Berlin doch gehasst wie die Pest und Stuttgart in den siebten Himmel gelobt, weil dort alles so sauber und geordnet war. Die konservative Mentalität der Schwaben lag ihr. Schaffe, schaffe sowieso. Ideal für jemanden, der Hypothekendarlehen für Häuslebauer vergab. Warum um alles in der Welt arbeitete Janis dann wieder in der Berliner Sparkasse? Kohle, Karriere? Zielstrebig war sie ja schon immer gewesen. Sollte sie ihre Tochter etwa anrufen, um nachzuhaken? Selbst wenn Janis ihre alten Telefonnummern noch hatte, sie würde sie wegdrücken wie unzählige Male zuvor.

Der Automat fing an zu rattern und spuckte Geld aus. Mit einer einladenden Geste gab der junge Mann Angie zu verstehen, dass nun sie an der Reihe war, doch sie hatte das Gefühl, wie festgewachsen zu sein. Auch dem Nächsten, einem Typen in Anzug und Krawatte, ließ sie den Vortritt. Die Flut an Bildern, die ihren Kopf durchspülte, war nun nicht mehr zu stoppen. Es waren in erster Linie Erinnerungen an die Zeit kurz vor ihrem Zerwürfnis, gleich nach Leonies Geburt. Gerade zwei Mal hatte sie die kleine süße Maus in den Armen gehalten. Angie erinnerte sich noch genau daran, wie glücklich sie in dem Moment gewesen war. Babys hatten einen Eigengeruch, der besser war als jedes Parfüm der Welt. Den hatte Angie nun förmlich in der Nase. Wie oft hatte sie sich in den letzten Jahren gefragt, wie es Leonie ging, was sie tat, welche Charaktereigenschaften sie hatte. Man gewöhnte sich an den Schmerz, das eigene Enkelkind nicht sehen zu dürfen, doch nun brach er mit Urgewalt aus ihr hervor. Nein! Das musste ein Ende haben. Sie waren erwachsene Leute, und auch Leonie hatte ein Recht darauf, ihre Großmutter kennenzulernen. Angie beschloss daher, mit ihrer Tochter zu reden, am besten gleich während Janis’ Mittagspause. Dank Jansen wusste sie nun, wo sie sie finden würde. Wenn Angie sich recht erinnerte, hatte Janis nie in der Kantine der Sparkasse zu Mittag gegessen. Warum sollte sie es jetzt tun? Es gab genügend Restaurants im Umkreis der Hauptstelle, und die hatte neben der Tiefgarage nur einen Ausgang. Jetzt oder nie! Einen Versuch war es jedenfalls wert.

Leonie sah sich kopfschüttelnd in ihrer Loser-Klasse um und stellte fest, dass an ihrer neuen Schule so gut wie alles anders war als in Stuttgart. Lediglich die verglaste Seitenfront ihres Klassenzimmers mit Blick auf den Schulhof sah dem ihrer alten Schule ähnlich. Der Rest konnte übler kaum sein. Die Wände waren verdreckt, der Linoleumboden versifft. Der lag bestimmt schon seit zwanzig Jahren, wenn nicht länger dadrin. Die Zimmerdecke bestand aus gelochten Platten. Hoffentlich holte man sich hier keine Asbest-Vergiftung. Es waren aber vor allem ihre Mitschüler, die für ein gänzlich anderes Unterrichtsfeeling sorgten. Wenn man von einer braven, kleinen Klasse mit gerade mal zwanzig Schülern ins blanke Chaos geworfen wurde, stellte man sich natürlich Fragen. Thema Bildungsniveau. Vorhin in der Mathestunde hatte sich herausgestellt, dass zwei Jahre vor dem Abi in der Berliner Klasse noch niemand wusste, was ein Strahlensatz war. Selbst die Auflösung einfachster linearer Gleichungen gelang den meisten ihrer Mitschüler nicht. Ohne Gehirnprothese konnten die noch nicht einmal rechnen. Wer selbst am Kiosk ums Eck einen Taschenrechner brauchte, konnte später im Leben einpacken. Der Meinung war auch ihr Mathelehrer. Er litt nicht ohne Grund an einem Burn-out und war ständig krank. Die rotzfrechen Berliner Schnäuzchen setzten ihm ordentlich zu. Leonie war nun faktisch der geistige Überflieger, obwohl eigentlich nur eine Stuttgarter Zweier-Schülerin. Spätzlegedopte Gehirnkanone war noch das Charmanteste, was Leonie sich in den ersten Tagen von einigen ihrer Mitschüler hatte anhören dürfen. Sei’s drum. Wenigstens musste sie sich im Unterricht nicht sonderlich anstrengen. Das Leben in Berlin hatte also auch seine Vorzüge – und das nicht nur, was die Penne betraf. Man kam hier leicht an Stoff. Über diese Schiene war man trotz vermeintlich geistiger Überfliegerei schnell in ’ner neuen Clique. Drei Freundinnen in knapp zwei Wochen. Das passte doch! Und was die Clubs anging, so konnte Stuttgart der Bundeshauptstadt natürlich nicht das Wasser reichen. Die Liste auf dem Display ihres Smartphones wurde immer länger, und ein Club sah geiler aus als der andere. Leonies Vorfreude darauf war dennoch etwas verhalten, denn wie sie ihre Mutter kannte, würde sie einen dieser coolen Fummelbunker nicht vor Vollendung ihres achtzehnten Lebensjahres von innen zu Gesicht bekommen. Die Ellis ihrer Mitschüler waren nicht so spießig. Ungerecht! Reinkommen würden sie ja, denn Emma aus ihrer neuen Clique kannte den Türsteher. Leonie überlegte bereits, unter welchem Vorwand sie sich spätnachts noch von zu Hause davonstehlen konnte. Auf die Kinderdisco vor Mitternacht hatte sie jedenfalls keinen Bock.

»Langweile ich dich?«, tönte es mit schneidender Stimme von vorn. Frau Brettner, eine horizontal benachteiligte XXL-Lehrkraft, die es sich aus diesem Grund eigentlich gar nicht erlauben konnte, so enge Blusen zu tragen, hatte offenbar mitbekommen, dass sie nicht bei der Sache war. Warum auch? Den Stoff hatte sie schon letztes Jahr durchgenommen. Geschichte und Sozialkunde langweilten sowieso. Die Verblendungsstunde schlechthin, in der von Schülerseite kein kritischer Ton erlaubt war. Wie die deutsche Sozialversicherung funktionierte und dass die Deutschen sie seit Bismarck an der Backe hatten, wusste Leonie bereits. Außerdem funktionierte sie ja nicht, auch wenn diese systemkonforme Brettner in den höchsten Tönen davon schwärmte. Sie könnte ein Klon von Mama sein, weil sie auch an die heile Welt glaubte und alle, die dies nicht taten, »auf Kurs« bringen wollte.

»Wie viel zahlt denn der Arbeitgeber?«, fragte Brettner ketzerisch nach. Sie geiferte förmlich danach, dass Leonie es nicht wusste.

Leonie lag bereits ein »Willst du mich verarschen?« auf der Zunge.

»Fünfzig Prozent. Dazu noch die betriebliche Altersvorsorge. Eine Zeit lang war der AG-Anteil höher.« Leonie wusste, dass die Brettner über die letzten zwei Punkte noch nicht gelabert hatte, und hoffte, dass sie den aufgequollenen »Leerkörper« mit ihrer präzisen Antwort mundtot machen konnte.

»Mir wäre es trotzdem lieber, wenn du dich am Unterricht beteiligen könntest«, sagte die Brettner vorwurfsvoll.

»Aber ich weiß es doch«, rechtfertigte Leonie sich, was ihr zustimmendes Gemurmel der anderen einbrachte. Sie ergötzten sich stets daran, wenn jemand Stress mit einer Lehrkraft hatte.

»Dann bring dich ein. Darüber diskutieren. Nachdenken, ob die Rente sicher ist …«, versuchte die Brettner, sie zu ermutigen.

»Darüber kann man nicht diskutieren. Die Rente kann rein rechnerisch aufgrund der gegenwärtigen demografischen Entwicklung überhaupt nicht sicher sein. Und wir, die Jungen, müssen immer höhere Beiträge bezahlen, um die Rentner zu finanzieren. Wir schuften dann bis siebzig, mindestens, und der Staat dreht den Stresspegel so hoch, dass sowieso keiner mehr die Rente erlebt. Alles klar?«

Brettner stand wie gelähmt vor ihr. »Darüber kann man auch anderer Ansicht sein«, gab sie dann mit deutlich weniger Autorität in der Stimme von sich.

»Soll ich noch auf die Pflegeversicherungsproblematik eingehen oder vielleicht eine Diskussion darüber anregen, warum sich die Deutschen gut die Hälfte von ihrem Lohn abknöpfen lassen, ohne dabei zu murren? Und wie wär’s mit Altersarmut?«, hakte Leonie amüsiert nach. Das war der Vorteil, wenn man zu Hause quasi eingesperrt war. Man informierte sich und saugte alles in sich auf, um sich auf die Freiheit, das Leben auf eigenen Füßen, vorzubereiten. Gewappnet für die Realität, auch wenn sie grausam war. Sich in eine heile Welt hineinzuträumen, wie Mama und diese Leerkraft es machten, kam jedenfalls nicht infrage.

Leonies Mitschüler schauten Brettner fragend an. Die machte prompt einen Rückzieher. Anders ließ sich ihre pikierte Schnute nicht interpretieren.

Bim Bam Bong. Halleluja. Pause! Die Socken scharf machen. Schnell auf die Mädchentoilette im vierten Stock. Dort gab’s Gras. Anders war die Tristesse ihres Daseins auch kaum noch zu ertragen.

Die Fahrt mit dem Aufzug hinunter zum Foyer nutzte Janis für ein Zwischenfazit des ersten Tages in ihrer neuen alten Firma. Nette Kollegen, anspruchsvolle Arbeit nicht nach Schema F, deutlich mehr Gehalt. Die Erlaubnis, sämtliche schnöden Werbeplakate mit impressionistischen Farbdrucken zu ersetzen, und niemand, der einem unentwegt auf die Finger sah. So viel zum Thema Job. Dazu kam noch das traumhaft schöne Einfamilienhaus mit Eckgrundstück in Schöneberg, das viele Grün drum herum, und natürlich Sven, für den nun endlich genug Platz im Haus war. Das ständige Pendeln von ihm zu ihr hatte ein Ende. So einen Mann hatte Janis sich immer gewünscht. Gleiche Ziele, gleiche Wertvorstellungen. Er wusste das Schöne zu schätzen, genau wie sie, und, womit ein Mann bei Janis punkten konnte, er hatte Manieren, Anstand und Einfühlungsvermögen. Gleich zwei Anrufe, wie der erste Tag verlaufen war. Und zugehört hatte er auch noch. Das alles zusammengenommen rechtfertigte Berlin und sollte eigentlich ausreichen, um sich nicht über die Nähe zu ihrer streitsüchtigen Mutter zu sorgen. Wenn sie nicht umgezogen war, dann wohnte sie sowieso in ausreichender Distanz und verließ so gut wie nie ihren Kiez. In Lichtenberg hatte sie schließlich alles, was sie brauchte. Außerdem ging es übermorgen erst einmal in den Urlaub nach Schweden – wohlverdient nach dem stressigen Umzug. Zwei Tage in der Bank reichten zudem, um sich einen Überblick zu verschaffen, und offiziell sollte sie ja sowieso erst nach dem Urlaub anfangen zu arbeiten. Fleißarbeit nannte sich das. Alles bestens. Es war höchste Zeit für einen gemütlichen Belohnungslunch, um ihren ersten Tag mit kulinarischen Genüssen abzurunden. Janis war nach Fisch, auch wenn sie den in Schweden wahrscheinlich jeden Tag vorgesetzt bekommen würde. Wenn einem dann noch der Pförtner mit strahlendem Lächeln und einladender Geste die Tür öffnete, konnte eine Mittagspause gar nicht besser beginnen.

»Janis?«

Ihr Name hob sich deutlich vom Stimmengewirr der Kunden vor dem Eingang und der Passanten auf der Straße ab. Es gab nur einen Menschen, der ihren Vornamen englisch aussprach. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Das konnte doch gar nicht sein. Ihre Mutter? Janis drehte sich um. Es wunderte sie nicht, dass sie vorhin achtlos an ihr vorbeigelaufen war. In das schattige Eck am Eingang, neben dem Abfalleimer mit Ascher, hatte sie sich verkrümelt. Von dort trat sie nun hervor. Janis’ Schreckensstarre hielt an. Ihr Puls fing an zu rasen.

»Janis. Komm. Lass uns endlich reden«, sagte ihre Mutter im Tonfall einer Bittstellerin und mit hängenden Schultern. Hatte sie etwa auf einmal Schuldgefühle? Zu Recht.

»Woher weißt du, dass ich hier bin?«, wollte Janis zunächst wissen.

»Die Jansen …«

Janis holte tief Luft. Natürlich, die Frau ihres neuen Chefs.

»Ich habe keine Lust, mit dir zum x-ten Mal dort anzufangen, wo wir vor Jahren aufgehört haben. Es bringt nichts. Das weißt du genauso gut wie ich.« Janis wunderte sich, dass ihre Stimme noch nicht versagt hatte, denn aufwühlender konnte die Begegnung mit ihrer Mutter kaum sein. Und der schien es ähnlich zu ergehen, denn sie war weiß wie eine frisch getünchte Wand. Janis überlegte für einen Moment, einfach auf dem Absatz kehrtzumachen, doch dann überwog die Neugier auf die Frau, die sie in die Welt gesetzt und jahrelang genervt hatte. Sie war ihre Mutter! Und wie alt sie geworden war. Noch mehr Falten. Das Gesicht war irgendwie spitzer. Aber immer noch das lange Haar einer jungen Göre, auch wenn es mittlerweile ganz ergraut war – und die Klamotten … Grausam! In dem Aufzug mit dem schlabbrigen bunten Pulli und der nicht mehr ganz zeitgemäß geschnittenen Jeans konnte sie locker zum Casting für das Musical Hair gehen. Nur ihre Augen hatten sich nicht verändert. Sie strahlten nach wie vor Strenge aus, doch heute lag in ihnen auch ein flehender Touch.

»Janis. Jetzt, wo ihr wieder in Berlin seid … Findest du nicht, dass meine Enkelin ihre Großmutter zumindest einmal sehen sollte? Die Jahre sind nur so verflogen … Ich hab sie zuletzt gesehen, als sie noch ein Baby war«, sagte sie mit überraschend ruhiger Stimme.

»Wozu soll das gut sein? Sie hat jahrelang ohne dich gelebt, und sogar recht gut.« Einen gegenteiligen Beweis konnte ihre Mutter unmöglich erbringen.

»Du hast sie mir schließlich vorenthalten. Was hätte ich denn tun sollen? Sie entführen?«

Und schon hatte die Stimme ihrer Mutter diesen bekannten vorwurfsvollen Grundton. Wie Janis es sich gedacht hatte. Es brachte nichts, mit ihr zu reden. Sie gab ihnen noch genau zehn Sekunden, bevor die Fetzen flogen.

»Du musst ja nicht dabei sein … Ich weiß, dass zwischen uns … Und ich akzeptiere deine Entscheidung, aber Leonie kann doch nichts dafür …«, versuchte ihre Mutter, sie zu überreden, und zwar so sanft wie ein Lamm. Auch das kannte Janis von früher. Zuckerbrot und Peitsche. Die alte Masche. Aber die zog schon lange nicht mehr.

»Und dann? Gegen mich aufhetzen? Dich wie so oft in alles einmischen?« So weit käme es noch. Ihre Mutter würde es glatt fertigbringen, sie gegeneinander auszuspielen. Das Kind war schon schwierig genug, da brauchte es nicht noch eine weitere Komplikation, die sich Angelika Schirner nannte.

»Das würde ich niemals tun«, versuchte Angelika, ihr zu versichern, jedoch ohne Erfolg.

»Hast du früher doch auch getan, oder?«, hielt Janis ihrer Mutter vor, denn wenn sie etwas mit der Präzision eines Uhrwerks tat, dann das. Aus Fehlern lernt man.

»Früher, früher … Hör doch auf mit früher. Es geht um Leonie«, sagte ihre Mutter.

»Aha. Dann gibst du es also endlich zu!«

»Lass uns nicht wieder über Werner reden«, schlug ihre Mutter vor.

Allein schon sein Name versetzte Janis’ Blut in Wallung. »Du musst dich doch wochenlang in deinem Triumph gesuhlt haben.« Janis hatte es förmlich vor ihrem geistigen Auge.

»Jetzt werd nicht albern …«

»Ich hätte auf dich hören sollen. Das liegt dir doch schon auf der Zunge.«

Ihre Mutter schwieg. In ihren Augen glaubte Janis jedoch zu lesen, dass sie ins Schwarze getroffen hatte.

Ausgerechnet jetzt musste auch noch Petra aus dem Sparkassengebäude herauskommen.

»Mahlzeit«, rief Janis ihr zu, wie es unter Kollegen üblich war, und hoffte, dass sie sich nicht zu ihnen gesellte. Small Talk war in ihrer jetzigen Verfassung nämlich nicht mehr drin. Und tatsächlich ging Petra weiter. Bevor das Gebäude noch weitere Kollegen ausspuckte, war es wohl besser, dieses Gespräch zu beenden.

»Lass uns einfach in Ruhe. Hörst du?«, gab Janis ihrer Mutter zu verstehen.

»Ein Kind braucht seine Großmutter«, setzte Angelika eindringlich nach.

»Ich weiß, was für Leonie gut ist und was nicht. Wenn wir eines im Moment nicht gebrauchen können, dann den Umgang mit dir.« Augenblicklich tat ihr die Vehemenz leid, mit der sie ihrer Mutter entgegengetreten war. Sie schaffte es immer wieder, ihr ein schlechtes Gewissen zu machen, doch schon schossen Erinnerungen an unzählige ihrer alten Streitereien aus den verborgensten Winkeln ihres Gedächtnisses hervor. Ihre Mutter würde anfangen, ihr Ratschläge zu erteilen, sich bei Leonie einschleimen, um letztlich in allen Dingen recht zu haben. Dafür lebte diese besserwisserische Frau doch, die sich davon nährte, andere zu belehren.

»Akzeptier es einfach, okay?« Schon wandte Janis sich von ihr ab, denn aus Mutters Gesicht war die bekannte Härte gewichen. Du wickelst mich nicht wieder um den Finger, sagte Janis sich und eilte zu einem der wartenden Taxis am Eck. Der Appetit war ihr vergangen, die Vorfreude auf den neuen Job und den Urlaub dahin. Und wem hatte sie das zu verdanken?

Dass Janis sie einfach stehen gelassen hatte, unversöhnlich und angriffslustig wie eh und je, steckte Angie ganz schön in den Knochen. Waren erste Falten und graue Haaransätze normalerweise nicht ein untrügliches Zeichen dafür, dass jemand reifer wurde? Gelassener? Janis war wohl die berühmte Ausnahme von der Regel. Noch immer ritt sie auf den ollen Kamellen herum. Werner! Sie wurde einfach nicht damit fertig, dass ihre Mutter recht behalten hatte. Sitzen gelassen hatte er sie – mit Kind! Und natürlich hatte sie aus diesem Grund seinerzeit Genugtuung darüber empfunden, dass sie Werner richtig eingeschätzt hatte. Sich dafür schämen? Es sich schönreden? Lieber biss Angie sich die Zunge ab. Und nun? Janis und Leonie lebten nun in Berlin, und sie durfte ihre Enkelin nicht sehen. Das könnte Janis so passen!

Angie eilte zum Taxistand. Ein junger schnittiger Banker tat es ihr gleich. Er erreichte das Taxi als Erster. Zu seinem Pech hatte er aber seine Hände gerade nicht frei, weil er eine Aktentasche trug und mit seinem Smartphone telefonierte. Angie machte sich dies zunutze, riss die hintere Wagentür auf und ließ sich schnell wie der Blitz auf die Rückbank des Taxis plumpsen.

»Hey!«, protestierte der Banker, bevor sie die Tür von innen zuzog.

»Ich glaub, der Herr war vor Ihnen da. Der hat schon von Weitem gewunken …«, versuchte ihr der indisch anmutende Taxifahrer zu vermitteln, obwohl der Banker sich bereits verzogen hatte und nach einem anderen Wagen Ausschau hielt.

»Keine Zeit zu diskutieren. Bitte fahren Sie los. Rechts abbiegen und dem Kollegen folgen, der gerade vor Ihnen stand. Machen Sie schnell. Die Ampel wird sicher gleich wieder rot«, wies sie ihn an.

»Wohl zu viel James Bond gesehen?«, fragte er lakonisch.

»Zwanzig extra!«

So schnell konnte Angie gar nicht schauen, wie er losfuhr. Die Reifen quietschten herrlich. Die Ampel überfuhr er bei Dunkelgelb. Somit stiegen die Chancen, das Taxi ihrer Tochter noch zu erwischen.

»Da ist doch vorhin ’ne Frau eingestiegen. Hat die was ausgefressen?«, fragte er, nachdem er rechts abgebogen war.

»Könnte man so sagen.« Mehr musste er nicht wissen. Hauptsache, er klemmte sich an das Taxi, das bereits aus der Distanz zu sehen war.

»Schaffen Sie das?«, fragte Angie mit Fingerzeig auf die nächste Ampel, die noch grün war.

Er beantwortete die Frage, indem er das Gaspedal durchtrat und diesmal sogar noch die Grünphase erwischte.

»Die fahren nach Schöneberg«, stellte er zwei Kreuzungen weiter aufgrund der Fahrtrichtung fest. »So, wie die aussah. Ist doch ’ne Bankerin, oder? Neukölln wohl eher nicht«, sagte er.

Und er sollte recht behalten. Auf den Instinkt eines Taxifahrers war Verlass. Eigentlich hätte sich Angie denken können, dass ihre Tochter in einer schönen Gegend wohnen würde. Ihr Haus in Stuttgart musste sie verkauft haben. Für ihren schwäbischen Luxusbunker hatte sie sich damals ordentlich ins Zeug gelegt. Die Kohle reichte dann wohl für etwas in dieser Gegend. In Stuttgart hatte sie in einer Allee gewohnt. Nun hielt das Taxi vor der Berliner Version an.

»Tolles Haus«, kommentierte der Taxifahrer.

Angie konnte es erst sehen, nachdem sie sich nach vorn gebeugt hatte und durch die Windschutzscheibe zum linken Straßenrand lugte. Eckgrundstück mit Garten. Genau wie in Stuttgart. Eine verglaste Terrasse hatte Janis dort aber nicht gehabt. Das Teil hier war supermodern und ein Palast im Vergleich zu ihrem vergammelten Reihenmittelhaus in Lichtenberg, für das sie sich noch nicht einmal mehr den Anstrich leisten konnte, um unschöne Graffiti an den Außenwänden loszuwerden.

»Macht zwanzig, dreißig plus Moneypenny-Bonus«, verlangte der Taxifahrer und lächelte dabei verschmitzt.

»Hier haben Sie vierzig, und bestehen Sie jetzt ja nicht auf die dreißig Cent«, sagte sie und drückte ihm die Scheine in die Hand. Verdient hatte er es sich ja.

»Danke. Jederzeit wieder«, erwiderte er.

»Ich steig erst aus, wenn sie drin ist, und dann lieber noch ’ne Minute warten«, wies Angie ihn an.

Er nickte bereitwillig.

Wie oft war Janis zurück zum Wagen geeilt, weil sie den Schirm liegen gelassen hatte, ihr Handy oder die Handtasche. Heute anscheinend nicht.

»Viel Glück«, rief der Taxifahrer Angie zu, während sie ausstieg.

Angie suchte sofort Deckung hinter einer der Linden. Was tun? Hier Wurzeln schlagen? Sie wusste nun, wo Janis wohnte. Und was fängste damit an? Tag-und-Nacht-Überwachung, hier stundenlang herumstehen, nur um einen kurzen Blick auf die Enkelin zu erhaschen? Das wäre zudem äußerst schwierig, weil ihre Füße dabei sicher nicht mitspielen würden. Angie blickte auf ihre Armbanduhr. Die Schule müsste doch bereits aus sein und Leonie zu Hause. Vom anderen Ende des Zauns konnte man bestimmt einen Blick in den Garten und möglicherweise sogar auf die Terrasse werfen. Angie schlenderte daher möglichst unauffällig hinüber und musste nur noch darauf warten, bis ein Typ mit zwei angeleinten Hunden an ihr vorbeispaziert war. Freie Sicht – jedenfalls auf Zehenspitzen, wie eine Ballerina. Das Kind! Leonie! Sie saß am Tisch der supermodernen Küche. Mein Gott. Wieso trug sie denn schwarze Sachen? Und erst die Haare. Irgendwie total verschnitten und fransig. Was hatte Janis nur aus Leonie gemacht? Schon hatte Angie das Lächeln des Babys vor Augen, das sie vor so langer Zeit in den Händen hatte halten dürfen. Was war das für ein glücklicher Augenblick gewesen. Wie hatte sie Leonie angestrahlt. Und kitzlig war die Kleine gewesen. Einmal am Bauch entlangzufahren genügte, und sie hatte gegackert wie ein Huhn. Angie brauchte augenblicklich eine Verschnaufpause, weil sich ihre Zehen mittlerweile so anfühlten, als würden sie jeden Moment absterben. Die Neugier bezwang jedoch den Schmerz. Oh! Das sah da drinnen sehr nach einem Streit aus. Angie konnte erkennen, dass Janis mit ausgestrecktem Zeigefinger herumfuchtelte. Das tat sie immer, wenn sie jemandem die Leviten las. Leonie stand abrupt auf und rannte aus der Küche. Janis ließ sich kraftlos auf einen der Küchenstühle nieder. Das kannte Angie. Oft genug nach einem Streit mit Janis erlebt. Und wer war eigentlich der Typ in der Küche? Werner? Aber Werner war doch weg! Auch wenn die Füße bereits unerträglich schmerzten, musste Angie das jetzt genau wissen. Noch mal ein Stück weiter nach oben strecken, um den buschigen Ast zu überragen, der ihr die Sicht auf den Mann nahm.

Nein! Nicht Werner, aber der sah auf den ersten Blick allein schon outfittechnisch in seiner legeren Sporthose glatt so aus wie der Mistkerl von früher. Und was machte das Wohnmobil auf dem Grundstück? Das war doch eigentlich gar nicht Janis’ Ding.

»Was machste da?«, blaffte sie jemand vom Nachbarzaun her an, der aus einem Spalt in der Hecke zu ihr herüberlugte. Für einen Einbrecher würde der bärtige Mittfünfziger eine alte Frau ja wohl nicht halten. Angie beschloss dennoch, ihm sicherheitshalber eine glaubhafte Ausrede aufzutischen.

»Die Jalousien. Sind die nicht schön? Ich wollte eigentlich Vorhänge, aber … ich hab die jetzt gesehen … und … ja, werden wohl Jalousien«, erklärte sie. Wer sich ein halbes Leben lang Geschichten aus den Fingern gesogen hatte, für den waren Ausreden ein Kinderspiel.

»Ja. Aber was die da drüben haben, ist teuer«, kam es zurück.

Die Haustür ging auf und spuckte Leonie aus.

Keine Zeit mehr für Jalousiegespräche, denn Leonie eilte durch den Vorgarten zur Gartentür, die zur Straße führte.

»Na, dann geh ich mal in den Baumarkt«, sagte Angie, machte auf dem Absatz kehrt und hoffte, dass Leonie ihr Schritttempo nicht erhöhte, denn auf Dauer würde sie da nicht mithalten können.

Kapitel 2

Wenn Mama im Stress war, dann drehte sie am Rad. Was musste sie auch freiwillig noch vor ihrem Urlaub in die Bank schneien? Leonie kam auf dem Weg zum Bus zu dem Schluss, dass ihre Mutter von falschem Ehrgeiz geritten wurde. Angeblich würde sie das ja entstressen, weil sie dann wüsste, was nach dem Urlaub auf sie zukäme beziehungsweise wie die neuen Kollegen so drauf waren. Nachvollziehbar, wenn man ein Kontrollfreak war. Von »entstresst« konnte aber keine Rede sein. Erst hatte Mama den Hausschlüssel im Flur aufs Ahornparkett fallen lassen, dann eine Tasse aus dem Schrank der Einbauküche. Der Boden hatte eine Delle, und die Tasse war zersprungen. Trank man in so einem Zustand auch noch Kaffee? Sven war ihr aufgelöster Zustand ebenfalls nicht entgangen: »Schatz, was ist los? So schlimm?« Erst in seinen Armen hatte sie sich einigermaßen beruhigt. Der neue Arbeitsplatz schien es wirklich in sich zu haben. Kein Mitleid, denn Mama wollte es ja so. Wer Karriere machen will, muss dafür Opfer bringen – und für die Liebe sowieso. Wenn Sven sich nicht geweigert hätte, ins seiner Meinung nach zu konservative Schwabenland zu ziehen, wären sie wohl nie in Berlin gelandet. Immerhin das musste Leonie ihm anrechnen.

»Jetzt haben wir erst mal Urlaub. Ich freu mich so.« Svens Ansage war sicher Balsam für Mamas von was auch immer angefressene Seele.

»Der Umzug, der neue Job … Vielleicht alles gerade ein bisschen zu viel.« Mamas Begründung geisterte Leonie durch den Kopf. Sie glaubte ihr kein Wort, denn Malochen, ob im Büro oder im Haus, war ihr noch nie zu viel gewesen. Ihr Glücksrausch über das neue Haus mit dem »hochwertigen Ahornparkettboden«, auf dem Mama mit Wonne herumrobbte, um ihn sauber zu halten, aber auch die »großzügige Wohnküche«, die nach vorn komplett verglast und sogar mit einem »Dampfgarer« ausgestattet war, hatte komischerweise bis gestern angehalten. Was war in der Bank passiert? Nicht meine Sache, sagte sich Leonie. Der Urlaub hingegen ging sie sehr wohl etwas an – Elend! Mit Mama und ihrem Neuen im Wohnmobil nach Schweden zu fahren, und das auch noch, ohne einen Stopp in Stockholm einzulegen, war der pure Horror. Leonie war nicht nach Idylle, weiten Seelandschaften und roten Holzhäusern in einschläfernder immergrüner Flora. Verdammt! Warum bin ich nicht wenigstens schon sechzehn? Den Ibiza-Urlaub mit ihren Freundinnen hatte Mutter ihr verboten. Milena war auch erst fünfzehn, Emma und Selina sechzehn, und ihre Eltern hatten ihnen wie selbstverständlich das Jugendcamp auf Ibiza gezahlt. Offiziell nannte es sich so, doch wie Milena wusste, ging da was. Party inklusive. Mama ahnte das wohl. Also Schweden mit diesem Spießer. Die Vorstellung, mit den beiden jeden Tag vor dem Camper frühstücken zu müssen und nachmittags in den Wäldern nach Elchen Ausschau zu halten, konnte Fluchtinstinkte in einem wecken. Ohne Kohle aber nicht machbar. Dann wenigstens für ein paar Stunden raus aus diesem Spießerviertel.

Der Bus bog endlich in ihre Straße, um sie und zwei Frauen etwa in Mamas Alter aufzuklauben. Noch eine ältere Dame hechelte von der anderen Straßenseite zur Haltestelle. Typisch Rentner. Haben den ganzen Tag Zeit, aber stressen sich, als ob der Teufel hinter ihnen her wäre. Wieso glotzte die sie eigentlich so merkwürdig an? Leonie war nicht der einzige Goth in Berlin. Für einen Moment sah es fast danach aus, als würde sie sie auf ihr Äußeres ansprechen wollen. Man konnte den Alten ansehen, wenn ihnen etwas nicht passte – schon oft genug erlebt. Leonie nahm sich vor, die Frau zu ignorieren. Sie stieg ein und suchte sich einen der hinteren Plätze direkt beim Ausstieg. Es kam zwar so gut wie nie vor, aber gelegentlich wurden auf der Strecke die Fahrscheine kontrolliert, und das letzte Taschengeld war für Joints draufgegangen.

Leonie nahm Platz und stellte fest, dass die Alte ebenfalls in den hinteren Reihen nach einem Sitzplatz Ausschau hielt. Vorn im Bus waren aber noch viele Plätze frei. Das gab Leonie zu denken – und das ungute Gefühl, beobachtet zu werden. Sie folgte der Frau mit Blicken und bekam mit, dass sie sich nur eine Reihe hinter ihr setzte, natürlich auf der gegenüberliegenden Seite, damit sie sie im Auge behalten konnte. Und tatsächlich: Die Alte starrte sie immer noch an. Leonies Nackenhaare stellten sich prompt auf. Was soll’s. Ohrenstöpsel rein, MP3-Player einschalten, Pink-Playlist anwählen. Das entspannte augenblicklich. Der nächste Adrenalinstoß ließ allerdings nicht lange auf sich warten. Fahrscheinkontrolle! Und ausgerechnet auf der längsten Strecke zwischen zwei Haltestellen. Wenn der Bus wenigstens rappelvoll wäre wie morgens auf dem Weg zur Schule. Die Frau mit dem Kinderwagen vorn kramte noch in ihrer Handtasche. Hoffentlich fand sie den Fahrschein nicht so schnell. Die beiden Frauen, die mit ihr eingestiegen waren, hatten ihren schon parat, damit es möglichst schnell ging. Zwischen ihr und den Mama-Klonen saßen nur noch ein Farbiger und eine japanische Touristin. Oh nein! Das war’s. Das gab Ärger daheim, und zwar so was von.

»Ihren Fahrschein bitte«, kam es prompt keine drei Atemzüge später, auch noch von so ’nem fiesen Typen Mitte fünfzig. War früher bestimmt mal ein hohes Tier bei der Stasi. Wache kalte Augen. Aufgesetztes Grinsen. Der war auf Beute aus und schien förmlich zu riechen, dass das Mädchen in Schwarz blank war.

»Na?«, fragte der Sadist und baute sich so vor ihr auf, dass es kein Entrinnen mehr gab. Es half also auch nicht, auf Zeit zu spielen, um an der nächsten Haltestelle abzuhauen.

Weil Leonie wie gelähmt dasaß und auch noch leichenblass wurde, war sein »Aha!« nur allzu verständlich. Er zückte bereits seinen Block.

»Das wird teuer«, ergötzte er sich.

»Sie ist meine Begleitperson«, grätschte die Alte plötzlich dazwischen und wedelte von ihrem Platz aus mit einem hellgrün schimmernden Ausweis.

»Und wieso sitzen Sie dann nicht nebeneinander?«, fragte er ketzerisch.

»Steifes Bein. Ich brauche Platz, um es auszustrecken. Und junger Mann, wenn ich Ihnen das sagen darf: Wo ich sitze, geht Sie überhaupt nichts an!«, fuhr sie ihn an und ließ den Schwerbehindertenausweis gleich wieder in ihrer Handtasche verschwinden.

Leonie löste sich daraufhin von ihrer Schreckstarre und nickte eifrig. Es blieb ihm nichts anderes mehr übrig, als sich zu trollen.

Der Bus hielt. Er stieg aus. Diesmal ohne fette Beute. Erst jetzt wagte es Leonie, sich bei der Frau zu bedanken.

»Schon gut«, erwiderte ihre Lebensretterin.

Vorhin war es Leonie noch unangenehm gewesen, dass die Alte sie unentwegt verstohlen angesehen hatte. Nun nicht mehr. Für einen Augenblick verharrten ihre Blicke aufeinander. Leonie fragte sich, was sie mehr an der Frau irritierte: ihr warmes Lächeln oder ihre Augen, in denen keine lüsterne Neugier, sondern viel Zuneigung zu lesen war. Warum tat sie das? Sollte sie sich etwa mit ihr bis zum Ziel ein wenig unterhalten? Small Talk oder gar nachfragen, warum sie ihr aus der Patsche geholfen hatte? Dem stand allerdings ein einschlägiger Erfahrungswert gegenüber, denn wenn man sich einmal auf ein Gespräch mit alten Menschen einließ, bekam man sie nicht mehr von der Backe. Leonie hatte keine Lust darauf, sich Geschichten aus der Nachkriegszeit anzuhören oder dass früher, vor dem Mauerfall, alles besser gewesen war – vor allem bei älteren Berliner Semestern ein beliebtes Thema. Dafür blieb sowieso keine Zeit mehr, denn sie musste an der nächsten Haltestelle aussteigen. Leonie stand schon mal auf und stellte sich an den Ausstieg.

Die Alte tat es ihr gleich.

Leonie schenkte ihr ein eher verlegenes Lächeln, bevor sie ihren Vorsatz zu schweigen dann doch brach.

»War echt cool«, sagte sie. Leonie erntete dafür lediglich ein Schulterzucken. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass die Frau sie nun zuschwallen würde. Sie hielt sich damit zurück. Netter Zug. Überhaupt entsprach sie nicht mehr so ganz dem Klischee, das Leonie im Kopf gehabt hatte. Trugen Frauen in ihrem Alter denn nicht eher beige oder braune Sachen, so langweiliges Zeug? Dieses Exemplar jedenfalls nicht. Sie stand auf kunterbunt und allem Anschein nach auch noch auf Secondhand. Erst jetzt machte sich Leonie bewusst, dass langes Haar bei älteren Menschen auch etwas ungewöhnlich war. Keine Dauerwelle, kein Dutt. Und von wegen steifes Bein. Flink wie ein Wiesel, stieg sie nach ihr aus. Weil Leonie ihre »Gehbehinderung« offenkundig prüfend in Augenschein nahm, fing die Alte an zu feixen. Das konnte man nicht unkommentiert im Raum stehen lassen.

»Der Ausweis. Ist nicht Ihrer, oder?«, fragte Leonie keck, nachdem der Bus mit Getöse weggefahren war.

»Von meiner Freundin. Sieht mir ähnlich«, erklärte die Alte.

»Geliehen?«

»Nicht direkt.«

In Leonies Hirn fing es an zu rattern. Die lief klamottentechnisch rum wie ’ne Pennerin. Am Ende hatte sie den Ausweis geklaut.

»Erna hat gesagt, dass ich mir aus ihrer Wohnung nehmen kann, was ich will, wenn sie mal nicht mehr ist«, erklärte sie.

Leonie musste unwillkürlich schmunzeln. Die Alte gefiel ihr.

»Sie haben es ja faustdick hinter den Ohren.« Das Kompliment kam gut bei ihr an.

»Fährste aus Prinzip schwarz?«, wollte die Alte wissen.

»Grad keine Kohle. Das Taschengeld reicht hinten und vorne nicht«, gab Leonie unverhohlen zu.

»Ich heiße Angelika und du?«, stellte sie sich vor.

»Leonie«, schoss es aus ihr heraus. Sich älteren Semestern, die man erst seit ein paar Minuten kannte, vorzustellen, entsprach sonst nicht ihrer Art.

»Witzig. Meine Großmutter heißt auch so«, fügte Leonie gedankenverloren hinzu.

»Du magst sie sicher sehr gerne«, spekulierte Angelika.

»Ich kenn sie ja nicht einmal!«

Dies schien die Frau ziemlich zu treffen. Sicherlich war das für Außenstehende nur schwer nachvollziehbar.

»Was ist passiert?«, fragte Angelika einfühlsam nach.

Ging sie das überhaupt etwas an? Leonie beantwortete ihre Frage dennoch: »Hat sich vor Jahren einfach so aus meinem Leben ausgeklinkt. Da war ich noch ein Baby. Und was meine Mutter alles über sie erzählt hat … Muss ’ne voll blöde Kuh sein.«

»Eine blöde Kuh?«, wunderte Angelika sich.