Emscher-Boogie - Peter Reidegeld - E-Book

Emscher-Boogie E-Book

Peter Reidegeld

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Beschreibung

Freddy Spiekers zweiter Fall: Freddy Spieker ist Bluesmusiker im Ruhrgebiet und neuerdings Privatdetektiv. Als er beschließt, sich wieder ganz seiner Musik zu widmen, erhält er einen lukrativen Auftrag und stößt auf ein bisher nicht aufgeklärtes Verbrechen. Je mehr er nachforscht, umso mehr gerät er in turbulente Abenteuer.

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Seitenzahl: 369

Veröffentlichungsjahr: 2020

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www.tredition.de

Peter Reidegeld

Emscher-Boogie

Ein Ruhr-Blues-Kriminalroman

www.tredition.de

© 2020 Peter Reidegeld

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

978-3-347-08205-2 (Paperback)

978-3-347-15521-3 (Hardcover)

978-3-347-15522-0 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Fotos Cover: Shutterstock

Coverdesign: Peter Reidegeld

Autorenfoto: Peter Reidegeld

Ruhr-Blues-Cover-Abbildung: Fotolia/Peter Reidegeld

Emscher-Boogie

Ein Ruhr-Blues-Kriminalroman von Peter Reidegeld

Ihre Urahnin stammte aus Böhmen.

Ein Mann namens Joseph Richter erschuf sie vor

zweihundert Jahren,

damit die Menschen seiner Heimat ihre Lieder leicht erlernen und spielen konnten.

Fortan nahm sie ihren Siegeslauf in den

deutschsprachigen Ländern.

Jahre später schaffte sie mit Auswanderern den Sprung über

den Großen Teich.

Niemand konnte erwarten,

was auf der anderen Seite des Ozeans

aus ihr werden würde.

1

Der Mann saß auf einem alten Holzstuhl. Er war benommen. Er hörte diese schrille Stimme, die in seinen Ohren schmerzte, konnte aber ihren Sinn nicht erfassen. Ihm war, als müssten die Teile seines Verstandes wie einzelne Puzzlestücke wieder zusammengefügt werden.

Ihm war übel. Plötzlich musste er sich heftig übergeben. Er fand nicht die Zeit, sich weiter vorzubeugen, sodass das Erbrochene auf seiner Hose landete.

»Iiiiiiiiiiiih …!«

Wieder schmerzte es in seinen Ohren. Die Stimme kam ihm bekannt vor. Im nächsten Moment fiel ihm ein, dass es die seiner Tochter Tanja sein musste.

Er keuchte und wollte sich den Mund abwischen. Aber es ging nicht. Seine Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden. Er brauchte einen weiteren Moment, um dies zu realisieren.

Als er den Kopf drehen wollte, um zu sehen, wie seine Hände fixiert waren, spürte er, dass etwas um seinen Hals gelegt war. Das grobe Seil kratzte auf seiner Haut.

Was war geschehen? Seine Erinnerung ließ ihn im Stich.

Er schaute nach oben und dabei direkt in das Licht einer Taschenlampe. Es brannte in seinen Augen. Er drehte den Kopf mit einem Stöhnen zur Seite.

Speichel und Schleim tropften aus seinem offenen Mund und vermengten sich mit dem Erbrochenen. Er versuchte zu spucken. Es gelang ihm nicht.

»Jetzt hat sich das alte Schwein auch noch vollgekotzt.«

Den verächtlichen Tonfall kannte er gut.

»Hanna?«

Seine Stimme krächzte, als er den Namen seiner Frau aussprach. Im nächsten Moment musste er husten. Beim Sprechen hatte er bemerkt, dass der Strick um seinen Hals doch ein wenig strammer war, als er zunächst bemerkt hatte.

»Hanna?!«

Seine Stimme klang jetzt schon kräftiger. Die Puzzleteile in seinem Kopf setzten sich nach und nach zusammen.

Allmählich dämmerte es ihm, dass Hanna für seine Lage verantwortlich war. Ärgerlich versuchte er sich mit heftigen Armbewegungen von den Fesseln zu befreien. Er scheiterte.

»Ja, mein Gebieter?«

Die höhnische Antwort war typisch für sie.

»Nimm die verdammte Taschenlampe weg! Was soll das das ganze Theater hier?«

Er wurde klarer und spürte den Schmerz an verschiedenen Stellen seines Körpers. Was hatten sie mit ihm gemacht? Wo war er? Dem muffigen Geruch und der Dunkelheit außerhalb des Scheins der Taschenlampe nach befand er sich im Keller. Wie war er dort hingekommen? Er erinnerte sich an das gemeinsame Abendessen. Es war wie immer. Seine Frau war offensichtlich schlecht gelaunt, was keine Seltenheit war. Merkwürdig kam ihm nur vor, dass seine Tochter mit am Tisch gesessen und sich nicht wie üblich mit einem dürftigen Bissen in ihr Zimmer zurückgezogen hatte.

Ab da hatte er einen Blackout.

»Macht mich los! Seid ihr bescheuert? Soll das ein Witz sein?«

Hanna lachte hässlich. »Dreimal darfst zu raten, warum du hier sitzt! Meine Frage vorhin hast du ja offensichtlich vergessen.«

»Wenn ihr mich nicht augenblicklich losmacht, schlage ich euch windelweich.«

»Horst, Horst, Horst!«, erwiderte Hanna mit gespieltem Bedauern. »Du mieser, kleiner Drecksack! Jetzt wirst du für all das büßen, was du uns angetan hast.«

Sein Kopf dröhnte, aber er war wieder bei klarem Verstand. Eine Ahnung überkam ihn. Dennoch leugnete er.

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Und ob du das weißt! Verarsch uns nicht!«

Das war Tanja. Sie hörte sich an wie ihre Mutter, als sie jung war. Hannas freche Art hatte ihn damals heiß gemacht, als sie sich kennenlernten.

Er versuchte aufzustehen, aber seine Beine waren an die Stuhlbeine gebunden. Jetzt konnte er erkennen, dass es offenbar starkes Textilband war. Seine Arme waren auf die gleiche Art zusammengebunden.

Wütend ruckelte er hin und her, in der Absicht zu Fall zu kommen und dabei den Stuhl zu zerbrechen. Aber dieser wurde von den beiden Frauen festgehalten.

»Ruhig Blut! Das nützt dir nichts. Erst musst du uns sagen, was du damit gemacht hast.«

Zunächst hatte er den Impuls zu fragen, was Hanna mit »damit« meinte. Aber es wusste es.

Wie waren sie nur darauf gekommen? Er hatte das Bargeld, den Schmuck aus dem Einbruch vor einem Jahr und das Sparbuch doch im Schließfach. Und den Schlüssel trug er immer bei sich. Er entschied sich, zunächst weiter den Unschuldigen zu spielen.

»Reg‘ dich nicht auf! Es ist in Sicherheit!«

Die Taschenlampe war weiterhin auf sein Gesicht gerichtet. Er konnte nicht erkennen, ob sie ihm glaubten.

Einen Moment lang herrschte Schweigen.

»Und weiter?« Hannas Stimme klang ungeduldig.

»Nichts weiter! Ich habe es bei einer anderen Bank eingezahlt. Eine kleine Geldwäsche sozusagen.«

»Und bei welcher Bank?«

»Einer kleinen Privatbank am Rande des Ruhrgebiets.«

»Name?«

»Kennst du eh‘ nicht!«

Sie packte ihn an Haaren und zog seinen Kopf mit einem Ruck nach hinten. Er schrie auf.

»Wie heißt diese scheiß Bank und warum hast du mir davon nichts gesagt?« Sie kreischte. Er spürte ihren heißen Atem auf seinem Gesicht.

Es war schwierig, sich in dieser Situation eine neue Lüge einfallen zu lassen. Irgendein Name musste her, um Zeit zu gewinnen. Ein Fantasiename. Irgendwann mussten sie ihn losmachen.

»Danhofer Institut!«

Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er auf diesen Namen gekommen war. Vielleicht hatte er irgendetwas in der Werbung gesehen.

»Nie gehört!«

»Sag‘ ich doch.«

»Google das mal.«

Seine Tochter hatte ihr Smartphone sofort zur Stelle. In Zeiten des Internets konnten sich Lügen schnell verbreiten. Oder auch sehr kurze Beine haben.

»Häh! Hier steht irgend so ein Quatsch von Musikschule Graz!«

Hanna versetzte ihm eine Ohrfeige. Es fühlte sich für ihn an, als habe sie mit einem Baseballschläger zugeschlagen. Das Mittel, das sie ihm offensichtlich ins Essen gemischt hatte und das für seine Ohnmacht verantwortlich war, hatte Nachwirkungen. Heftiger Kopfschmerz machte ihn erneut benommen.

»Was hast du mir da ins Essen gemischt, du verdammte Schlampe?«

Hanna lachte. »Schon mal was von K.O.-Tropfen gehört? Scheinen dir nicht besonders gut zu bekommen! Tanja und ich waren auch nicht zimperlich, als wir dich schweren Sack die Treppe hinunter geschleift haben. Oder hat dich der Strick um deinen Hals kotzen lassen?«

Sie hielt die Taschenlampe zur Seite und sah ihm direkt ins Gesicht. »Ich fand es merkwürdig, dass du in letzter Zeit so gut gelaunt warst. Und als du dann so komisch reagiert hast, als ich den Schlüssel für das Schließfach haben wollte, dachte ich mir, ich lass dich mal ’ne Runde schlafen, Tanja hineinschauen und das Sparbuch holen.«

Sie kramte das rote Heftchen hervor, blätterte auf die letzte Seite mit den Einträgen und hielt es ihm direkt vors Gesicht. »Erklär’ mir das mal! Und wo ist das Bargeld hin? Wenn du mich noch einmal anlügst, werde ich mir noch ganz andere Dinge für dich einfallen lassen!«

»Hanna, hör‘ auf mit dem Scheiß! Das Geld ist in Sicherheit.« Seine Gefühle schwankten zwischen Panik, Wut und der Hoffnung, sie wieder herumkriegen zu können. Wenn er ihr in der jetzigen Situation die Wahrheit sagte, musste er damit rechnen, dass sie ihm spontan etwas antun würde.

»Wenn du mich losmachst, werde ich dir alles erklären.«

Er hatte nicht die leiseste Absicht, ihr die Wahrheit zu sagen. Sobald sie ihn befreit hätte, würde er sie zunächst zusammenschlagen, seiner Tochter ein paar kräftige Ohrfeigen geben, sie aufs Zimmer schicken und erklären, dass er das Geld verspielt habe und sie verdammt nochmal aufhören sollten, ihn als Lügner zu bezeichnen. Sodann würde er ein paar Sachen zusammenpacken und so schnell wie möglich verschwinden. Länger konnte er nicht warten. Er hatte seinen Abgang zwar anders geplant, aber da die beiden nun mal bemerkt hatten, dass das Geld nicht mehr da war, blieb ihm keine Wahl mehr.

Es herrschte Stille im Raum. Er hörte nur seinen eigenen schweren Atem. Er versuchte es auf die weiche Tour.

»Ich verstehe, dass ihr sauer seid. Okay, vielleicht hätte ich es euch vorher sagen sollen, aber ich wollte nur unser Bestes. Das müsst ihr mir glauben.«

Wenn es für ihn kritisch wurde, war es ihm bisweilen mit dieser Masche gelungen, seinen Willen durchzusetzen.

»Na gut! Binde seine Beine los!«

»Aber, Mama!«

»Du sollst seine Beine losmachen, habe ich gesagt!«

Der Hauch eines Lächelns huschte über sein Gesicht. Die Panik verflog. Er war sich sicher, bald wieder Herr der Lage zu sein. Es kam sogar ein wenig Vorfreude darüber auf, dass er die beiden bald ordentlich verdreschen würde.

Er spürte, wie seine Tochter ihm das Band von seinen Beinen löste.

Schließlich konnte er mit wackeligen Beinen aufstehen. Seine Arme waren nicht mit der Stuhllehne zusammengebunden worden, sodass er sie einfach abstreifen konnte. Er erwartete, dass sie ihm jetzt die Handfesseln lösen würde.

Stattdessen verschwand die Taschenlampe vor seinem Gesicht. Seine Augen brauchten einen Moment, um sich von der starken Blendung zu erholen. Allmählich erkannte er Tanjas Gesicht. Sie starrte ihn hasserfüllt an.

Er wollte sie gerade anfahren, worauf sie denn noch wartete, als der Strick seinen Hals so stark nach oben zog, dass ihm die Luft wegblieb.

»Steig auf den Stuhl!«

Hannas Stimme klang merkwürdig ruhig.

Das irritierte ihn.

Je hysterischer sie war, umso mehr war er sich sicher, dass er sie mit Gewalt wieder gefügig machen konnte. Ihr anschließendes Gewimmer war immer ein Triumph für ihn.

Jetzt hatte sie Gewalt über ihn. Das musste er so schnell wie möglich ändern. Er versuchte, mit heftigen Bewegungen zu reagieren. Nebenbei bemerkte er, dass Tanja aus seinem Blickfeld verschwand und sich der Zug auf seinen Hals verstärkte. Er röchelte. Bald würde sein Sauerstoffvorrat aufgebraucht sein.

»Du sollst auf den Stuhl steigen, habe ich gesagt!«

Einen Moment lang versuchte er sich zu befreien. Woher hatten die beiden nur diese Kraft?

Als er bemerkte, dass er kurz vor der Ohnmacht stand, begann er auf den Stuhl zu steigen, was in dieser Situation nicht so einfach war. Er musste sich zur Seite drehen und mit verbundenen Händen aufsteigen, ohne den Stuhl sehen zu können.

Im ersten Versuch warf er ihn um. Er bemerkte, dass sich der Strick um seinen Hals etwas lockerte und dass der Stuhl wieder aufgestellt wurde.

»Los jetzt!«

Einen kurzen Moment dachte er daran, eine Ohnmacht vorzutäuschen. Seine Panik ließ dies jedoch nicht zu. Beim zweiten Versuch gelang ihm der Aufstieg unter größten Schwierigkeiten. Er spürte, dass Tanja ihn stabilisierte und den Stuhl festhielt. Fast hätte er sich für die Hilfestellung bedankt.

Keuchend und nass geschwitzt stand er endlich oben. Der stramm gespannte Strick ließ ihm gerade so viel Luft, dass er leise sprechen konnte. Er erkannte jetzt die Ziegelsteine des Kellergewölbes. Die Metalltür war geschlossen. Ob ihn jemand hören würde, wenn er um Hilfe schrie?

Tanja blickte mit verschränkten Armen und grimmigem Blick zu ihm hinauf. Ihre rot gefärbten Haare, die Tattoos auf ihren Unterarmen und die stabförmigen Piercings in ihren Ohren gaben ihr etwas Diabolisches. Nie hätte er gedacht, dass er einmal Angst vor seiner Tochter verspüren würde.

Er blickte zur Seite und sah, wie Hanna den Strick an einem der unterhalb der Decke entlang führenden metallenen Wasserrohre verknotete. Oberhalb führte das Seil durch einen an der Decke befestigten stabilen Haken.

Hanna stellte sich neben ihre Tochter. »Na, meine geliebter Ehegatte. Möchtest du uns etwas sagen?«

Das Sprechen fiel ihm schwer. Die nächste Lüge fiel ihm spontan ein. »Das Geld ist im Ausland.«

»Im Ausland? Lass mich raten, in der Schweiz?«

Hanna klang so, als habe sie den Köder geschluckt.

»Genau. Da kommt kein noch so raffinierter Fahnder dran.«

»Und wie ist es dort hingekommen?«

»Ich habe meinen alten Kumpel Jens beauftragt, dahin zu fahren und es sicher anzulegen. Er hatte dort selbst geschäftlich zu tun. Hat mich zwar zweitausend gekostet, aber es hat funktioniert.«

Hanna lachte laut auf. »Als ob du jemandem so viel Geld anvertrauen würdest. Und ausgerechnet Jens, der würde alles Mögliche mit der Kohle anstellen, aber nicht für dich in der Schweiz deponieren. Und selbst wenn es stimmen würde, warum verschweigst du uns solch eine Aktion?«

Sie kam näher an ihn heran, packte seine Hoden und drückte zu. Ein kurzer Schrei entfuhr ihm.

»Ich will dir sagen warum. Du wolltest dich mit der Kohle aus dem Staub machen. Du hättest dir dann ein schönes Luxusleben gegönnt. Wir hätten von scheiß Hartz IV leben können.«

Sie ließ ihn los und betrachtete ihn verächtlich.

»Komisch! Früher hast du immer einen Ständer bekommen, wenn ich deine Eier gequetscht habe.«

Tanja lachte kurz, verstummte aber, als ihre Mutter sie mit einem strengen Blick bedachte.

Horst atmete laut, der Schmerz ließ langsam nach. Fieberhaft dachte er nach, wie er der Situation entkommen konnte. Die Wahrheit war dabei die allerletzte Option. Dann wäre er erledigt. Er hatte trotz seiner kritischen Lage nicht die geringste Absicht, das Geld mit dieser Schlampe, mit der jetzt schon lange genug verheiratet war, zu vergeuden. Sie war in die Jahre gekommen, kurz vor ihren fünfzigsten.

»Du Arschloch!«, schrie Hanna. »Du willst mir doch nicht ernsthaft solch einen Scheiß verkaufen. Du lässt Jens mit der ganzen Kohle in die Schweiz fahren, ohne auch nur im geringsten eine Sicherheit zu haben, dass du jemals an das Geld herankommst? Für wie blöd hältst du mich eigentlich?«

Sie hatte sich derart in Rage geredet, dass ihm einerseits klar wurde, dass er sie von dieser Version nicht überzeugen konnte, andererseits verlor sie zusehends die Kontrolle über sich. Dies war gefährlich, konnte aber auch ein Vorteil für ihn sein. Vielleicht würde er sich befreien können.

Sie stand jetzt in einer Entfernung von ihm, dass er sie mit einem gezielten Tritt an den Kopf außer Gefecht setzen konnte. Dann war zwar noch Tanja da. Aber er war sich sicher, sie ohne den Einfluss ihrer Mutter und mit einer neuen Lüge wieder gefügig machen zu können. Gleichzeitig versuchte er, den Kopf in der Schlinge in eine Stellung zu drehen, die es ihm ermöglichte, herauszuschlüpfen. Dies war nicht so einfach, da zum einen das Seil um seinen Hals recht straff und zum anderen der Zug nach oben etwas locker war, sodass er dann ein wenig in die Hocke würde gehen müssen.

In dem Moment als er sein rechtes Bein mit aller Kraft zur Seite schwang, so wie er früher die Eckbälle in seinem Fußballverein getreten hatte, war er überzeugt, dass er Erfolg haben würde. Er hatte nicht einkalkuliert, dass sein letztes Match viele Jahre her war und er infolge der K.O.-Tropfen weiche Knie hatte.

Das Bein verfehlte Hanna zudem um Haaresbreite. In einer Reaktion, die er ihr nicht zugetraut hätte, wich sie aus, wodurch sein Bein hoch nach oben schwang, während das andere wegknickte. Im gleichen Moment kippte der Stuhl mit einem Ruck zur Seite.

Das Seil spannte sich heftig unter dem beachtlichen Gewicht von einhundert Kilogramm.

Als sie das hässliche Knacken hörten, ahnten Hanna und Tanja, dass sie als Erben dieses Mannes leer ausgehen würden.

2

Die Röhren des Gitarrenverstärkers glühten hellrot. Die Lautstärke war vergleichbar mit der eines startenden Düsenjets. Der junge Gitarrist drosch auf sein Instrument ein, als wolle er auf jeden Fall vermeiden, dass die Saiten hielten. Mit dem letzten Akkord schaffte er es, die hohe E-Saite zu durchtrennen.

Sein Arm schwang windmühlenartig nach. Das hatte er einmal bei Pete Townshend von The Who gesehen und er hielt es für einen guten Showeffekt. So beeindruckte man sein Publikum.

Seine Ekstase legte sich. Er sah sich erwartungsfroh im Musikproberaum um. Er hatte nicht mitbekommen, dass der Rest der Band längst zu spielen aufgehört hatte. Die Lautstärke seiner E-Gitarre hatte alles andere übertönt und jetzt schaute er in eine Reihe skeptischer Gesichter.

Was hatten die anderen denn? Die mussten doch völlig begeistert sein von seinem Spiel. Einen besseren neuen Gitarristen konnten sie gar nicht bekommen.

Einen Moment lang herrschte Stille. Nur sein voll aufgedrehter Verstärker brummte einsam vor sich hin. Irritiert sah er von einem zum anderen.

Schließlich räusperte sich der stämmige Bassist, der ihn zum Vorspielen eingeladen hatte, und kratzte sich nachdenklich am unrasierten Kinn.

»Ja, so schon mal gar nicht!«, war der knappe und vernichtende Kommentar.

Er hatte sich als Freddy Spieker vorgestellt. Der Gitarrist hatte bereits beim ersten Telefonat gemerkt, dass der Mann keine großen Worte machte, sondern umgehend auf den Punkt kam.

Freddys angedeutete Vokuhila-Frisur schwang ein wenig hin und her, als er langsam den Kopf schüttelte.

»Wir spielen hier kein Death Metal, sondern Blues.«

Der Gitarrist fühlte sich in seiner Ehre gekränkt. Hatten die denn gar nicht mitbekommen, über welch exzellente Spieltechniken er verfügte?

»Oder bist du im Auftrag eines HNO-Arztes hier, dem die Patienten ausgehen?«

Und der Sound seines Marshall-Verstärkers? Der war doch grandios.

»Hm. Oder wolltest du die Schalldichte unseres Proberaumes testen?«

Jetzt grinste ihn Freddy auch noch an. Der Schlagzeuger und der Keyboarder ließen sich ein kurzes Lachen entlocken, während sich der Sänger seufzend aus dem abgewetzten und durchgesessenen Sessel mühte, der Teil einer alten Sitzgruppe war, die in einer Ecke des Raumes stand. Dabei nahm er demonstrativ die Wattebäuschchen aus den Ohren und warf sie zielsicher in den Abfalleimer direkt neben den Gitarristen.

Was waren das denn für Ignoranten? Das sollten die weit über die Grenzen des Ruhrgebiets bekannten Blues Bandits sein?

Er sah an sich herunter. Die gerissene E-Saite baumelte an seiner Ibanez-Gitarre. Dabei fühlte er sich, als stünde er mit heruntergelassener Hose da. Allein diese Gitarre hatte einen Wert, der den der Verstärkeranlage überstieg.

Er versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen, sah für die anderen aber vermutlich ziemlich bedröppelt drein. Im nächsten Moment stieg Ärger in ihm hoch. Er drückte den Rücken durch und richtete den Gitarrenhals wie den Lauf eines Gewehres auf Freddy.

»Was habt ihr denn erwartet? Vielleicht solltet ihr gleich bei Eric Clapton anrufen. Ich fürchte nur, dafür seid ihr nicht gut genug!«

So! Das hatte gesessen. Für wen hielten die sich?

Zu seiner Überraschung reagierte Freddy nicht beleidigt, sondern grinste ihn immer noch an. Kurz hatte er eine Augenbraue gehoben, als er »nicht gut genug« vernahm. Lässig hatte er ein Bein auf eine Monitorbox gestellt und sich vorgebeugt. Die Arme hingen locker über Hals und Korpus seiner Bassgitarre.

»Jetzt mal ernsthaft… äh, wie war noch mal dein Name?«

»Sven!«

»Genau! Du weißt schon, welche Art von Musik wir machen? Ich habe dir doch unsere letzte CD zugeschickt. Oder hast du sie dir nicht angehört?«

»Klar habe ich sie mir reingezogen. Und ich habe mir gedacht, ein bisschen mehr Pep könnte der Sache nicht schaden.«

Freddy überlegte kurz und stellte dann seinen Bass ab. Er begab sich zur Sitzgruppe und fläzte sich auf die Couch.

»Weißt du, mehr Pep heißt nicht unbedingt mehr Lautstärke. Schon gar nicht, wenn dem Rest der Band dabei die Ohren abfallen. Mehr Pep heißt für mich mehr Groove und Gefühl und vor allem …«

Er beugte sich vor und sah Sven scharf an. »… mehr Zusammenspiel mit der Band. Solointerpreten suchen wir hier nicht.«

Sven stand noch immer wie festgewurzelt da, während sich die anderen zu Freddy gesellten.

Er kam sich vor wie ein Schuljunge, der vor versammelter Klasse vom Lehrer bloßgestellt wurde. Klar, er war mit Anfang zwanzig recht unerfahren. Einige der Blues Bandits konnten seine Väter sein. Aber hatte ihm sein Gitarrenlehrer nicht außergewöhnliches Talent bescheinigt, ja ihm sogar Hoffnung auf eine Profikarriere gemacht?

In einer Annonce hatte er dann gelesen, dass die Bandits einen neuen Gitarristen suchten. »Keine Anfänger« hatte darin gestanden und »Bühnenerfahrung« wurde verlangt. Das mit der »Liebe zum Blues« hatte er nicht so ernst genommen. Aber genau daran schien es jetzt zu mangeln.

Freddy schaute in die Runde, um die Gemütslage seiner Mitmusiker abzuschätzen.

Mike Bruns, der Sänger, hatte scheinbar mit der Sache abgeschlossen und seinen Gesangspart während des Probestückes abgebrochen, als ihm Svens Gitarre mit einem überlauten Solo das Wort abgeschnitten hatte. Jetzt saß er wie abwesend, den Blick an die Decke gerichtet, auf einem der abgeschabten Sessel und kramte eine Mundharmonika hervor. Er spielte You gotta move, was von allen außer Sven als Aufforderung verstanden wurde, dass sich der Vorspielende vom Acker machen sollte.

Mike war eine gepflegte Erscheinung Mitte vierzig. Stets modisch gekleidet schwebte er immer in einer Wolke teuren AfterShaves. Er hasste es, wenn er sich wegen der Lautstärke der Band heiser sang. Da nützte es oft auch nichts, das Mikro lauter zu stellen, da es dann Rückkopplungen verursachte.

Mike und Freddy hatten dramatische Geschehnisse in der Vergangenheit zusammengeschweißt. Trotz oder wegen der tragischen Umstände, die einige Musiker das Leben gekostet hatten, waren sie sich einig, die Blues Bandits wieder in neuer Formation aufleben zu lassen. Seit Wochen hatten sie neue Instrumentalisten gecastet.

Zunächst waren sie schnell fündig geworden. Sie hatten den Keyboarder Chris Wenzel, einen schlaksigen, jungen Typen, der stark kurzsichtig war, fest engagiert. Er hatte die Bandits in früheren Zeiten schon als Gastmusiker begleitet.

Chris war ein schweigsamer Mensch. So auch jetzt. Er saß da mit verschränkten Armen und schaute den Gitarristen direkt an. Es war nahezu unmöglich, seine Gefühlslage zu deuten.

Schlagzeuger Steve Ofori konnte man als kompletten Gegenentwurf zu Chris bezeichnen. Und das nicht nur, was das äußere Erscheinungsbild anbetraf. Im Gegensatz zu dem kalkweißen Chris, dessen Gesicht nur die gelblichen Zähne etwas Farbe verliehen, fiel Steve mit seiner dunkelbraunen, fast schwarzen, samten schimmernden Haut und seinen schneeweißen Zähnen jedem auf. Er hatte ein offenes, gewinnendes und freundliches Naturell. Kaum jemand konnte sich dem entziehen. Selbst Chris ließ sich ein ums andere Mal von Steves Humor und Lebensfreude zu einem gelben Lächeln hinreißen.

Steve stammte aus Ghana, lebte aber seit seinem achten Lebensjahr in Deutschland, als seine Eltern, ein Diplomatenpaar, übergesiedelt waren. Er war erst der zweite Schlagzeuger, der ihnen vorgespielt hatte und hatte mit seinem einmaligen Rhythmusgefühl und seiner Explosivität die Bandits auf Anhieb überzeugt.

Schnell hatte er sich vor allem mit Freddy angefreundet. Dass er es bisweilen mit der Pünktlichkeit bei Probeterminen nicht so genau nahm, verzieh man ihm. Schließlich war er neben den Bandits ein gefragter Studiomusiker.

Den jungen Gitarristen sah er jetzt breit lächelnd an. Auf Sven wirkte es jedoch, als hätte Steve seine Zähne nur aus Eitelkeit entblößt. Wollte er sich über ihn lustig machen?

Sven kam sich vor wie bei einer dieser TV-Castingshows und erwartete jeden Moment einen weiteren beleidigenden Kommentar. Es fehlte nur der blonde Typ mit dem norddeutschen Akzent, der in den achtziger Jahren mit dieser fürchterlichen Musik, die sich immer gleich anhörte, Karriere gemacht hatte. Wie hieß der noch gleich?

Es reichte ihm. Er entledigte sich seiner Gitarre und zerrte wütend an der zerrissenen E-Saite, die sich jedoch sträubte und deren Anfang sich nicht so leicht vom verwickelten Ende lösen ließ.

»Langsam, junger Freund! Nicht so hektisch«, hörte er Freddy sagen. »Man muss erst an der Kurbel drehen, um die kaputte Saite entfernen zu können.«

Steve lachte laut auf. Jetzt reichte es Sven. Er bugsierte seine Ibanez unsaft in den Gitarrenkoffer, was er sonst nie tat. Er hatte sein Instrument immer pfleglich behandelt. Das Kabel riss er aus seinem Verstärker und schaltete diesen mit dem Fuß aus. Er wollte nur noch raus hier. Bands gab es wie Sand am Meer. Andere würden seine Fähigkeiten mehr zu schätzen wissen.

»Wo willst du denn so schnell hin?« Freddy beobachtete belustigt die hektischen Aktivitäten des jungen Gitarristen.

»Wir sind doch noch gar nicht zu unserem Urteil gekommen.«

»Urteil? Welches Urteil? Sehe ich so aus, als ob ich euer Urteil nötig hätte?«

Sven hatte sich wieder den Musikern zugewandt. Jetzt stand er da, breitbeinig, die Arme trotzig verschränkt.

»Ich denke schon. Schließlich willst du ja den Job haben. Oder irre ich mich da?«

Freddy fand offensichtlich Gefallen daran, den jungen Mann zappeln zu lassen. Jetzt war Sven irritiert. Was denn nun? Die Sache schien doch schon gelaufen zu sein.

»Wenn ich dann mal um das Urteil der Jury bitten dürfte …«, warf Freddy in den Raum und schaute seine Mitmusiker an.

Mike hatte zu spielen aufgehört und sah nachdenklich seine Mundharmonika an.

»Nun ja«, begann er. »Ich versuche, mir die Darbietung des jungen Künstlers mit einer akustischen Gitarre vorzustellen. Und ich muss sagen, das wäre gar nicht mal so übel.«

Er richtete den Blick auf Sven und zog seine Augenbrauen zusammen. »Aber …«, ergänzte er bedeutungsschwanger, »wenn es der Herr Gitarrist noch einmal wagen sollte, seinen Verstärker gemäß der englischen Einstellung so weit aufzureißen, dass ich genötigt bin, mir tonnenweise Wattebäuschchen in die Ohren zu stopfen, dann …«

Er beugte sich vor und hob den Zeigefinger. »… dann schnappe ich mir seine Gitarre und haue ihm diese höchstpersönlich um die Ohren. Anschließend werde ich ihn in hohem Bogen aus dem Raum werfen.«

Sven schluckte.

Steve warf sich lauthals lachend in eine Ecke des Sofas.

»Englische Einstellung?«, fragte Sven eingeschüchtert.

Mike verdrehte genervt die Augen.

»Na hör mal. Als Besitzer eines Marshall-Verstärkers müsste dir das aber ein Begriff sein«, mischte sich Freddy ein.

Als er den fragenden Blick des Gitarristen bemerkte, erläuterte er: »Also, man nehme die linke flache Hand…«.

Er stand auf, stellte sich neben den Verstärker und begann seine Demonstration, »… lege diese auf die linke Seite der Klang- und Lautstärkeregler und schiebe diese mit einem schwungvollen Ruck nach rechts, sodass alle Regler auf Maximum eingestellt werden.«

Er unterbrach seinen Vortrag, ohne die Handbewegung zu vollziehen, und sah sich den Amp genauer an.

»Oh, wie ich sehe, hast du das schon getan.«

»Wie ich bereits sagte,« bemerkte Mike trocken.

Freddy setzte sich wieder hin.

»Okay! Weiter im Text! Steve, lass hören!«

Steve streckte sich genüsslich, wobei er nicht sein breites Grinsen verlor. »Sag mal, Stan …«

»Sven!«

»Genau! Du hattest nicht zufällig vor, eine Heavy Metal-Band zu gründen?«

»Nein! Aber ich will Profi-Musiker werden.«

Steve nickte anerkennend. »Und du meinst, die Blues Bandits sind der richtige Einstieg dafür?«

»Nun ja. Ihr seid ja ziemlich bekannt, und nach der Sache, die mit euren ehemaligen Mitmusikern passiert ist …«

Freddy stand auf. Sein Lächeln war verschwunden.

»Was soll das heißen? Bist du etwa nur hier, um aus dieser Katastrophe persönlichen Nutzen zu ziehen?«

»Aber das wollt ihr doch auch, oder?«

Freddy nahm eine drohende Haltung an. Seine Stimme wurde laut. Er machte einen großen Schritt auf Sven zu, der erschrocken zurückwich.

»Hör zu! Wir brauchen hier keine Leute, die geil darauf sind, sich auf Kosten anderer zu profilieren. Die Sache hat mich fast den Hals gekostet. Von dem ganzen Theater drumherum will ich erst gar nicht reden …«

Freddy war aufgewühlt. In der Tat hatten ihn die einige Jahre zurückliegenden Ereignisse reichlich Nerven gekostet. Er war des Mordes verdächtigt worden, hatte in Untersuchungshaft gesessen und war Anfeindungen ausgesetzt gewesen, als seine Unschuld schon längst erwiesen war. Erst durch eigene Nachforschungen war er dem wahren Täter auf die Spur gekommen und dabei selbst mehrfach in Lebensgefahr geraten.

Mike erhob sich und schob Freddy sanft zurück. »Beruhige dich, Freddy! Wir wissen, was du alles durchgemacht hast. Tja, und ganz unrecht hat der Junge nicht.«

»Wie bitte?«

Jetzt starrte Freddy Mike wütend an und Sven war erleichtert, dass sich der Zorn nicht mehr gegen ihn richtete.

»Weißt du noch, wie wir darüber diskutiert haben, ob wir die Band weiterführen sollen?«, fuhr Mike fort. »Es warst du, der mehr oder weniger scherzhaft bemerkte, dass wir ja durch die Mordgeschichten doch reichlich Publicity bekommen hätten. Das würde sich doch positiv auf Konzertbesucherzahlen und CD-Verkäufe auswirken. Es wäre die Gelegenheit, seine Popularität auszunutzen.«

»Da war ich besoffen, als ich das gesagt habe.« Freddy war jetzt nicht in der Stimmung, etwas zuzugeben. Mike wusste das. Ihm war klar, dass er gegen Freddys Sturheit ankämpfen musste.

»Na und? In vino veritas, wie schon die alten Griechen sagten …«

»Römer!«, unterbrach ihn Steve, sich krümmend vor Lachen.

»Wie auch immer! Du hattest recht! Und wir sollten uns nichts vormachen. Es funktioniert doch! Du weißt selbst, wie uns alle möglichen Leute mit der Frage nerven, wann wir endlich wieder auftreten.«

Freddy entkrampfte sich langsam.

Schüchtern meldete sich Sven wieder zu Wort. »Du bist ja so was wie ein Held. So habe ich das gemeint. Viele haben dich bewundert, wie du es geschafft hast, die Morde aufzuklären. War echt ’ne coole Sache, Mann!«

Freddy wusste nicht recht, wie er darauf reagieren sollte. Er war misstrauischer geworden in den letzten Jahren. Früher war er freimütig auf jeden zugegangen, hatte keine Berührungsängste. Jetzt, nach all den nervenaufreibenden Ereignissen, schaute er sich die Menschen genauer an. Er hatte sogar Kurse bei der Volkshochschule und anderen, privaten Anbietern belegt, die das Thema Menschenkenntnis behandelten.

Dies hatte auch einen praktischen Grund. Die Aufklärung der Verbrechen hatte Freddys Talent als Ermittler offenbart. Ausdrücklich war er öffentlich vom Bochumer Polizeipräsidenten dafür gelobt worden (wenn auch nicht ohne den erhobenen Zeigefinger, dass man solche Angelegenheiten doch besser der Polizei überlassen sollte).

Freddy hatte sich daher entschlossen, eine Detektei zu eröffnen und seinen Job im Baumarkt an den Nagel zu hängen. Das hierfür benötigte Führungszeugnis war leider nicht lupenrein. Aufgrund seiner Belobigung hatte er es geschafft, eine Ausnahmegenehmigung zu erhalten. Die ersten Aufträge waren schnell hereingekommen, was seinem Promi-Bonus geschuldet war. Mit der Zeit hatte sich die Auftragslage aber verschlechtert. Die Arbeit bestand zu einem überwiegenden Teil daraus, untreuen Eheleuten auf die Schliche zu kommen. Ein Job, dem Freddy nicht unbedingt mit Begeisterung nachkam.

Höchste Zeit daher, die Blues Bandits neu zu beleben. Er brauchte auf Dauer ein zweites berufliches Standbein und hoffte, später einmal von der Musik leben und den ungeliebten Detektiv-Job an den Nagel hängen zu können.

Er und Mike hatten über die ihnen bekannten Gitarristen diskutiert. Aus den unterschiedlichsten Gründen kam keiner davon infrage, sodass gecastet werden musste.

Und jetzt stand Sven vor ihm, lächelte ihn unsicher an und erwartete sein Urteil.

»Also weiter im Text. Wie lautet das Urteil der restlichen Jurymitglieder?« Freddy setzte sich wieder. Er hatte sich beruhigt und schaute Steve erwartungsvoll an.

»Wie schon gesagt. Ich kann mir dich besser in einer Heavy Metal-Combo vorstellen. Aber vielleicht befindest du dich ja in einer spätpubertären Findungsphase und bist für den Blues noch nicht verloren. Am besten, ich leihe dir mal ein paar CDs. Die musst du dir dann genau anhören.«

»Klar. Mach ich.«

Er wollte seine Gitarre schon wieder in die Hand nehmen, als Freddy Chris aufforderte, sein Urteil abzugeben.

Der Keyboarder musterte den jungen Gitarristen zunächst schweigend. Der verunsicherte Sven ließ seine Gitarre zunächst im Koffer.

»Meiner Meinung nach ist der junge Mann noch nicht so weit«, begann Chris im Stile eines Personalchefs. »Die Spieltechnik ist beim ersten Hinhören zwar beeindruckend, aber viele Mängel werden durch die extreme Lautstärke und Verzerrung überdeckt. Ich empfehle daher ein erneutes Vorspielen in gedämpfter Lautstärke und unverzerrtem Sound, damit ich zu einer genaueren Beurteilung gelangen kann.«

»Wow! Sag mal, was bist du in deinem normalen Job?« Steve war zum einen beeindruckt und zum anderen belustigt über Chris’ Urteil.

»Ich bin Beamter«, antwortete Chris trocken, ohne Sven aus den Augen zu lassen.

Freddy nickte anerkennend. »Tja, äh, Sören …«

»Sven.«

»Genau. Wenn ein deutscher Beamter einen Antrag gewähren soll, muss man ihm schon ein paar gewichtige Argumente liefern. Und obwohl ich kein Beamter bin, sehe ich die Sache genauso wie Chris. Ich denke mal, du musst dir Gedanken über dein Equipment machen. Hast du noch andere Verstärker als den Marshall?«

»Ich habe mehrere Marshalls.«

»Okay. Ich verstehe. Schau mal da hinten. Da steht ein alter Fender-Röhrenverstärker. Den greifst du dir jetzt und spielst ihn so, wie er ist, ohne Effektgeräte. Und noch etwas …«.

Freddy kramte einen mit dunkelbraunem Leder überzogenen Gitarrenkoffer hinter dem Sofa hervor.

Er legte ihn neben Sven auf den Boden und öffnete ihn,

Eine Gibson-Gitarre, ein B.B.-King-Modell namens Lucille strahlte Sven an. Es war das Instrument, das Freddy gestohlen worden war und das er unter dramatischen Umständen wiedergefunden hatte. Es war ein Signature-Modell, dazu noch ein besonderes. Die Signatur auf dem Kopf des Instrumentes war von dem inzwischen verstorbenen König des Blues eigenhändig graviert worden. So besagte es das Zertifikat, das Freddy besaß.

Freddy baute sich mit wichtiger Miene vor Sven auf.

»Für diese Gitarre wurde schon gemordet. Es ist ein Heiligtum. Quasi die Stradivari unter den E-Gitarren. Ich hoffe, du weißt zu schätzen, welche Ehre es für dich ist, darauf spielen zu dürfen.«

Sven nickte beeindruckt. Er wagte nicht, das Instrument anzurühren.

»Nun nimm sie dir schon. Ich kann eh’ nur einige simple Akkorde dreschen. Dein Equipment ist für echten Blues nicht geeignet.

Viel zu synthetisch. Aber wenn du es schaffst, meiner Lucille ihre Seele zu entlocken, sind wir schon einen großen Schritt weiter.«

Sven schloss die Gitarre an den Fender-Verstärker an und spielte ein paar Akkorde. Es machte sich Erleichterung im Raum breit.

»Gar nicht übel,« urteilte er betont zurückhaltend, spielte den Coolen und wollte sich nicht anmerken lassen, welch warmes, ja überwältigendes Gefühl der Klang des Instrumentes in ihm ausgelöst hatte.

Sven spielte ein paar technisch anspruchsvolle Läufe. Die anderen nickten anerkennend.

Als er fertig war, war erneut Chris zu vernehmen. »In Sachen Technik steht der Bewilligung des Aufnahmeantrages nichts mehr im Wege.«

Steve erlitt einen Lachkrampf. Chris schaute sich in der Runde um und entdeckte nur zufriedene Gesichter.

Freddy kraulte nachdenklich seinen sich noch in der Entstehung befindenden Vollbart. »Das kriegen wir schon hin. Du wirst mit uns ein paar Jam-Sessions besuchen. Da lernst du jede Menge Gitarristen kennen, von denen du dir was abschauen kannst.«

Sven nickte.

Wahrend die Musiker sich wieder an ihre Instrumente begaben, meldete sich Freddys Smartphone mit Sweet Home Chicago von den Blues Brothers.

»Ja?«

Freddy hörte angestrengt zu, sagte mehrmals »Ja« und »hmm«. Sein Mienenspiel wechselte ständig zwischen Überraschung, Sorge, Freude und Nachdenklichkeit.

Er beendete das Gespräch mit einem knappen »Okay« und steckte das Handy ein.

Dann sah er Sven mit ernstem Ausdruck an.

»Keine Zeit mehr für Experimente. Du bist engagiert.«

3

»Was ist das denn für'n Scheiß?«

Der Postbote war auf die Frage, die ihm der Mann an der Haustür entgegenschleuderte, vorbereitet. Der vorwurfsvolle Blick, der ihn traf, verunsicherte ihn kaum. Nachdem er tief durchgeatmet hatte, schaute er sich den Betreff der gelbgefärbten Zustellungsurkunde an.

»Ist ein Schreiben von der Stadtverwaltung«, antwortete er so freundlich wie möglich. »Bußgeldbescheid vom …«

»Lesen kann ich selber!«, unterbrach ihn der Kunde barsch und riss das Dokument an sich.

Ein »Was fragst du dann so blöd?« verkniff sich der Postbote. Der Spruch lag ihm schon seit seiner ersten Begegnung mit Dieter Walters auf den Lippen, aber er hatte gelernt, sich zu beherrschen. Es erfüllte ihn mit Schadenfreude, dass der ungehobelte Kerl nicht zum ersten Mal einen für ihn ärgerlichen Bescheid der Behörde erhalten hatte. Seit er vor einem Jahr diesen Zustellungsbezirk zugeteilt bekommen hatte, war dies inzwischen bereits der vierte oder fünfte Bußgeldbescheid für Walters. Und immer wieder hatte er diese bescheuerte Frage gestellt.

»Einmal hier unterschreiben!«

Dieter Walters blitzte ihn böse an, als mache er ihn für das Bußgeld verantwortlich.

»Und wenn ich es nicht tue?«

Auch diese Frage hatte Walters nicht zum ersten Mal gestellt. Der Postbeamte sagte wieder seinen Spruch auf.

»Dann werfe ich dieses Schreiben hier in Ihren Briefkasten. Die Zustellungsurkunde erhält die Stadtverwaltung mit dem Vermerk, Annahme verweigert, aber zugestellt, zurück.«

Der Postbote blieb so sachlich wie möglich. Es brodelte in ihm. Er hatte noch einige Straßenzüge vor sich und keine Zeit für Diskussionen.

Wortlos streckte er dem Querulanten seinen Kugelschreiber entgegen und stellte sich vor, es handle sich um einen Revolver.

»Bußgeldbescheid!« Walters spuckte das Wort verächtlich aus. »So was darfst du eigentlich gar nicht wissen. Fällt unter Datenschutz.«

Er sah den Zusteller drohend an. Der verspürte plötzlich Lust, die Nachricht in der ganzen Siedlung zu verbreiten.

»Wo …?«, fragte Walters sein Gegenüber dann endlich.

Der Postbote deutete auf die leere Unterschriftszeile.

Nachdem sein Kunde seine krakelige Unterschrift darunter gesetzt hatte, händigte er ihm das Schreiben aus und nahm ihm den Kugelschreiber aus der Hand. Fast hätte ihn dieser Kerl eingesteckt.

Walters wollte gerade die Tür schließen, als der Postbote erneut das Wort ergriff. »Hier ist noch ein Schreiben von der Stadtverwaltung.« Er drückte es Walters in die Hand.

»Bei dem weiß ich aber nicht, was drin steht.«

Fast wäre ihm ein »leider« herausgerutscht. Ihre Blicke trafen sich erneut. Der Postbote spürte, dass Walters versuchte, seine letzte Bemerkung zu deuten.

»Schönen Tag noch …«, verabschiedete sich der Beamte, während die Tür zugeworfen wurde und »… Arschloch!«, nachdem er sich zum Gehen gewandt hatte.

Walters warf den Brief mit dem Bußgeldbescheid in den Papierkorb. Immer dieser Ärger mit den Behörden! Das letzte Schreiben der Polizeibehörde hatte ihn 120 Euro gekostet, dazu drei Punkte in Flensburg. Er war ein sportlicher Autofahrer, daran würden diese Schikanen auch nichts ändern. Was aber stand in dem anderen Brief? Er riss das Kuvert auf.

Der Inhalt des Schreibens versetzte ihn erst recht in Rage.

Vor einem Monat erst hatte Sina Gewrinski die Prüfung zum gehobenen nichttechnischen Verwaltungsdienst, wie es im Amtsdeutsch hieß, erfolgreich abgeschlossen und war nun Beamtin auf Probe bei der Stadtverwaltung Gelsenkirchen. Ihre Laune über die bestandene Prüfung wurde nicht dadurch getrübt, dass sie ihre erste Planstelle beim Sozialamt bekommen hatte. Keiner der Lehrgangsabsolventen wollte dorthin, da man schon die reinsten Horrorgeschichten darüber gehört hatte. Einige ihrer Kommilitonen hatten hier einen praktischen Ausbildungsabschnitt hinter sich gebracht. Ihre negativen Erfahrungsberichte erschienen Sina reichlich übertrieben. Der Job ließ sich dann auch besser an als erwartet. Die Arbeit war zwar anspruchsvoll, aber die Kollegen nett und der Publikumsverkehr - meist hatte man es mit den Angehörigen und Betreuern von Altenheimbewohnern zu tun - verlief ohne große Probleme.

Das Telefon schrillte. In der Überzeugung, ein freundlicher und hilfsbereiter Mensch zu sein, ergriff sie den Hörer.

»Sozialamt Gewrinski! Guten Tag, was kann ich für Sie …?«

»Walters! Ich hab’ da so ein bescheuertes Schreiben von euch bekommen. Was soll das bedeuten?«

Die männliche Stimme klang aggressiv.

Oh je!, schoss es Sina durch den Kopf. Zum ersten Male würde es ein wenig ungemütlich werden. Was hatte sie nochmal in den Seminaren »Bürgerorientiertes Verhalten« und »Umgang mit

schwierigen Zeitgenossen« gelernt? In ihrem Kopf erschienen die Bilder der lustigen Rollenspiele, die sie seinerzeit gemacht hatten.

Aber das war jetzt der Ernstfall! Na ja, besser, dass es erst einmal telefonisch passierte, als dass dieser Mann leibhaftig vor ihr stand.

Sie nahm sich zusammen. Unter Stress konnte es mitunter vorkommen, dass sie in Tränen ausbrach. Das durfte ihr jetzt nicht passieren. Sie glättete ihre ohnehin perfekt gebügelte Bluse und strich sich über ihr nach hinten gekämmtes Haar.

»Sagen Sie mir bitte mal das Aktenzeichen«, flötete sie ihn den Hörer.

»Wo steht das?«, erklang es ruppig zurück.

»Rechts oben.«

Sie hörte ein Rascheln in der Leitung, kurz darauf nannte ihr der Mann eine Nummer.

Während sie die Akte aus dem Schrank heraussuchte, überlegte sie fieberhaft, wie sie eine verbale Eskalation vermeiden konnte. Sachlich und freundlich bleiben, redete sie sich ein. Verständnis zeigen für die Belange des Bürgers, auch dafür, dass er sich über das Schreiben aufregte.

Sie schlug die Akte auf und sah sich die Durchschrift der Mitteilung, die Herr Walters bekommen hatte, an.

»So, was möchten Sie denn wissen?«

Sina flötete einen Ton höher.

»Was ich wissen will?«

Die Stimme von Herrn Walters wurde einen Ton lauter.

»Ich will wissen, warum ich 800 Euro Unterhalt für meine Mutter zahlen soll. Die muss doch genug Kohle haben. Und außerdem wollt ihr wissen, ob sie mir in den letzten Jahren Geld geschenkt hat. Was soll das?«

Sina schluckte. Hastig las sie das Schreiben nochmals durch. Sie war in der Einarbeitungsphase und mit der Materie noch nicht ganz vertraut. Aber das würde Herrn Walters nicht interessieren. Sie musste Verständnis für ihn haben, nicht er für sie.

Es handelte sich um eine »Mitteilung über den Übergang von Unterhaltsansprüchen«. So schnell wie möglich erfasste sie den Inhalt.

»Also…«, begann Sina etwas stockend und legte sich die nächsten Worte sorgsam zurecht.

»Also …?«

Der Kerl äffte sie nach. Das hatte sie nie leiden können.

Einfach ignorieren!

»In dem Schreiben steht nicht, dass Sie 800 Euro zahlen sollen, sondern dass die Stadtverwaltung so viel an Sozialhilfe für Ihre Mutter aufwenden muss. Ob Sie überhaupt etwas zahlen müssen, muss noch geklärt werden.«

Puh, die ersten Sätze waren raus!

»Ach so!«

Zum ersten Mal klang die Stimme am anderen Ende der Leitung etwas besänftigt.

»Aber dazu müssen Sie uns Ihren letzten Steuerbescheid vorlegen und die Frage nach Schenkungen in den letzten zehn Jahren beantworten«, ergänzte Sina.

»Einen Dreck muss ich!«

Einen kurzen Moment hatte Sina gehofft, dass sich Herr Walters wieder beruhigt hatte. Sie setzte sich kerzengerade hin, um ihm freundlich aber bestimmt klarzumachen, dass er hierzu verpflichtet sei. Soweit kam sie nicht.

»Wieso musste die alte Hexe eigentlich ins Altersheim? Meine Schwester, diese verwöhnte Ziege, hätte sie doch bei sich aufnehmen und ihr den Arsch abwischen können. Wenn sie die Alte ins Heim gesteckt hat, dann soll sie den Mist doch selbst bezahlen. Was habe ich damit zu tun?«

Sina schluckte. Eine Kollegin hatte ihr kurz von dem Fall erzählt. Die Familie war untereinander zerstritten, was leider kein Einzelfall war. Es kam des Öfteren vor, dass Altenheimbewohner den Kontakt zu ihren Kindern, aus welchen Gründen auch immer, verloren hatten. Wenn diese Kinder oft nach Jahren durch einen Brief des Sozialamtes wieder etwas von Ihren Eltern hörten und dazu noch zu Zahlungen aufgefordert wurden, rissen alte Wunden auf. Den Frust darüber bekamen dann die Sachbearbeiter zu spüren.

Sina, dachte sie, jetzt kommt der Teil, bei dem man dem Bürger Verständnis entgegenbringen sollte.

»Herr Walters, ich verstehe, dass Sie verärgert sind …«

»Nein, das verstehen Sie nicht!«

»… aber über die Vorgeschichte der Heimaufnahme wissen wir nicht viel …«

»Und wieso nicht?«

»Fest steht, dass Ihre Mutter …«

»Mutter? Ich habe keine Mutter mehr!«

»… pflegebedürftig geworden ist und die Notwendigkeit von der Pflegeversicherung …«

»Die Alte hätte was ganz anderes nötig!«

»… bestätigt worden ist. Leider reichen Rente und Ersparnisse Ihrer Mutter zur Finanzierung der Heimkosten nicht aus, so dass wir Sozialhilfe zahlen müssen.«

Sie hatte sich durch seine Zwischenbemerkungen nicht irritieren lassen, in der Hoffnung, ihn dadurch zur Einsicht bringen zu können.

Es war jetzt verdächtig still in der Leitung. Kurzzeitig fragte sie sich, wie sich Angehörige so entzweien konnten. In ihrer Familie war das unvorstellbar.

»Bevor ich Ihnen auch nur eine einzige Lohnabrechnung einreiche …«

Herr Walters hatte seine Stimme gesenkt. Der Tonfall war jetzt ruhig, aber drohend. Unheimlich, dachte Sina.

»… will ich wissen, was meine sogenannte Mutter mit der ganzen Kohle von meinem toten alten Herrn gemacht hat. Ich weiß genau, dass es eine fette Summe war. Habt ihr vom Sozialamt das mal überprüft?«

»Moment, da muss ich mal in die Hauptakte schauen!«

Sie vernahm ein unwilliges Stöhnen, als sie den Hörer beiseite legte. Nachdem Sie die Akte gefunden und hastig durchgeblättert hatte, stellte Sie fest, dass von ihrem Vorgänger, der sich seit kurzem im wohlverdienten Ruhestand befand, umfangreiche Ermittlungen durchgeführt worden waren. Da sie den Sachverhalt so schnell nicht wiedergeben konnte, entschloss sie sich, den Anrufer zu vertrösten. Hoffentlich würde er sich in der Zwischenzeit wieder beruhigen.

»Hören Sie, die Angelegenheit hat bisher ein inzwischen pensionierter Kollege bearbeitet. Ich muss mir die Sache nochmals in Ruhe ansehen und schlage vor, ich rufe Sie nachher zurück …«

»Wissen Sie was? Am besten ich komme jetzt einfach mal vorbei und verschaffe mir Akteneinsicht!«

»Oh, ich weiß nicht, ob das im Rahmen der Datenschutzbestimmungen möglich …«

»Jetzt kommen Sie mir bloß nicht so! Sonst muss ich mal Ihre Büromöbel zurechtrücken!«

»Herr Walters, ich muss Sie dringend bitten … Hallo?«

Sie hörte ein Tuten in der Leitung. Walters hatte aufgelegt.

Mit zitternden Händen legte Sina Gewrinski den Hörer auf, während sich Ihre Augen mit Tränen füllten.

»Sicherheitsdienst? Fräulein, äh .., Frau Gewrinski, jetzt übertreiben Sie mal nicht!«

Herr Terboven, seines Zeichens Abteilungsleiter, lehnte sich entspannt zurück und betrachtete die vor seinem Schreibtisch stehende Sachbearbeiterin amüsiert.

»Wissen Sie, in all den Jahrzehnten, die ich beim Sozialamt tätig bin, habe ich die Erfahrung gemacht, dass man es in solchen Fällen meistens mit Maulhelden zu tun hat. Hunde, die bellen, beißen nicht.«

»Aber der Mann klang, als sei nicht mit ihm zu spaßen.«

»Fräu …, Frau Gewrinski, Sie sind jung. Wenn Sie erst einmal meine Berufserfahrung haben, werden Sie mit solchen Situationen schon umzugehen wissen. Da müssen Sie jetzt durch, das ist die Nagelprobe.«