Ruhr-Blues - Peter Reidegeld - E-Book + Hörbuch

Ruhr-Blues Hörbuch

Peter Reidegeld

0,0

Beschreibung

Freddy Spieker ist ein Kind des Ruhrgebiets, Blues-Musiker und Besitzer einer wertvollen Gitarre. Als ihm diese gestohlen wird und ihn die Polizei auch noch des Mordes an einem Mitmusiker verdächtigt, gerät seine Welt aus den Fugen. Er beschließt zu handeln und kommt dabei nicht nur der Polizei in die Quere.

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:7 Std. 50 min

Veröffentlichungsjahr: 2021

Sprecher:Peter Reidegeld

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Peter Reidegeld

Ruhr-Blues

Kriminalroman

© 2021 Peter Reidegeld

Überarbeitete Auflage

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-347-23635-6

Hardcover:

978-3-347-23636-3

e-Book:

978-3-347-23637-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Fotos Cover: Fotolia

Coverdesign: Peter Reidegeld

Autorenfoto: Peter Reidegeld

Emscher-Boogie-Cover-Abbildung:

Shutterstock/Peter Reidegeld

Ruhr-Blues

von

Peter Reidegeld

Hoch aufgerichtet stand sie da.

Ihr langer schlanker Hals lief auf einen

elegant geformten Kopf zu.

Der glänzende Korpus war ebenfalls wohlgeraten.

Die weichen, fließenden Formen verlockten jeden dazu,

sie zu berühren, zu bewundern und mit ihr zu spielen.

Die Versuchung, ihr sowohl weiche als auch harte

Töne zu entlocken, war groß.

Lediglich ihr Besitzer war dazu nicht fähig.

Manchmal übergab er sie für kurze Zeit einem

anderen, der sie oft zu hart herannahm.

1

Die Automatiktüren der U-Bahn öffneten sich. Freddy Spieker stolperte heraus. Seine Bassgitarre trug er in einem Gigbag, einer Instrumententasche um die Schulter. Sie rutschte herab und schlug um Haaresbreite auf dem Boden auf. Freddy konnte sich noch rechtzeitig fangen, doch rempelte er eine junge Passantin an, die sich wegen des vermeintlich plumpen Anmachversuches lautstark beschwerte.

Freddy murmelte etwas von »Schulligung«, schaffte es aber nicht mehr, den mächtigen Rülpser, der ihm entfuhr, zu unterdrücken. Die junge Frau wendete sich angewidert ab und bemühte sich, schnell zur Rolltreppe zu gelangen, um Freddy abzuschütteln.

Da sein Alkoholspiegel ohnehin keine Schnelligkeit zuließ, war ihre Eile unnötig. Sie bemerkte nicht mehr, dass Freddy zunächst stehen blieb, um sein Gleichgewicht wiederzuerlangen.

Eigentlich war er zu betrunken, um Bass spielen zu können. Wie jeden ersten Freitag im Monat fand im Kultur-Café der Bochumer Ruhr-Universität eine offene Session der Blues-Musiker des Ruhrgebietes statt. Die Szene traf sich, um gemeinsam (und gelegentlich auch gegeneinander) Musik zu machen. Spontan fand man sich zu lockeren Gruppierungen zusammen. Mitunter hatte man vorher noch nie zusammen gespielt. Natürlich bildeten sich mit der Zeit Lieblingsformationen. Es gab Cliquenbildungen wie früher in der Schule. Eifersüchteleien blieben nicht aus.

Dennoch fühlte man sich als große Gemeinschaft. Vor vielen Jahren von einigen Musikern ins Leben gerufen, hält sich die Institution bis zum heutigen Tag.

Donald Berger, genannt »Don«, stand rauchend vor dem Kultur-Café. Soeben hatte er als Gitarrist seiner Band Blues-Machine das Opening für die Session absolviert. Von drinnen dröhnte bereits die erste Sessionband hinaus auf den Campus. Hier draußen hörte sich alles recht schrecklich an, so, als würde nichts miteinander harmonieren. Das war möglicherweise auch der Fall. Don schien das im Moment nicht zu interessieren, er wartete nur darauf, dass einer seiner Musikerkollegen mit hinauskam, um mit ihm ein kleines Schwätzchen zu halten. Es nieselte ein wenig, der Herbst hatte Einzug gehalten und Don fröstelte.

In diesem Moment hörte er Schritte hinter sich. Als er sich umdrehte, sah er Bogdan herauskommen. Sie kannten sich seit langem, hatten bisher nur gelegentlich in diversen Sessionbands zusammen gespielt. Nach der Auflösung seiner letzten Band, den Blues Bandits und dem Diebstahl seines Schlagzeugs hatte Bogdan einige Zeit gebraucht, um sich ein neues zusammenzusparen, denn eine Instrumentenversicherung besaß er nicht. Er hatte zunächst versucht, seine Hausratversicherung zu betrügen, doch die fiel auf seinen plumpen Versuch nicht hinein und warf ihn hinaus. Er war noch einmal um eine Anzeige herum gekommen.

Schließlich kam er bei Dons Band unter, nachdem der dortige Schlagzeuger ausgestiegen war. Die Band war zwar nicht so erfolgreich wie die Bandits, aber Bogdan war zufrieden, endlich wieder trommeln zu können.

Es gehörte zu Bogdans Angewohnheiten, seine Mitmusiker mit seinen Eheproblemen zu behelligen. Auch seine neuen Bandmitglieder machten inzwischen diese Erfahrung. Allerdings interessierten sich diese nur für seine Trommelkünste, sodass Bogdans obligatorische verzweifelte Frage, was er denn in Bezug auf seine Ehefrau bloß tun sollte, regelmäßig unbeantwortet blieb.

Don war deshalb nicht begeistert darüber, dass sich ausgerechnet Bogdan als Gesprächspartner anbot. Ein erbauendes Gespräch würde dies sicher nicht werden. Als er Bogdans zerknirschten Gesichtsausdruck sah, wusste er schon, was ihn erwartete.

»Was soll ich bloß tun?«, jammerte Bogdan da schon.

Don seufzte. Nicht schon wieder!

»Ich glaube, sie hat einen anderen!«

»Ach!

Das hatte allerdings eine neue Qualität. Bisher war es immer nur darum gegangen, dass sie sich ständig stritten. Die Anlässe waren höchst unterschiedlich, meistens ging es um Banalitäten wie den Müll hinausbringen oder unpünktliches Erscheinen, aber nie ums Fremdgehen. Diesmal war es wohl etwas Ernstes. Don wurde neugierig.

»Was würdest du denken, wenn deine Frau plötzlich ein Telefonat beendet, wenn du in den Raum kommst und immer nur behauptet, sie hätte mit einer guten Freundin gesprochen? Wenn Bogdan erregt war, traten sein polnischer Akzent und die dazugehörige Sprachmelodie stärker zutage. Sonst war hiervon wenig zu merken.

In solchen Momenten fuchtelte er mit den Armen fast mehr als beim Schlagzeugspielen herum und sein Schnauzbart vibrierte.

Er starrte Don an, als er würde er ihn für den Nebenbuhler halten. Dabei kannte dieser Magdalena kaum.

»Gar nichts würde ich sagen. Ich würde die Anrufliste im Telefonspeicher checken, wenn sie mal nicht zu Hause ist«, antwortete Don gelassen.

»Das habe ich getan«, rief Bogdan. »Aber da steht immer nur ’unbekannt’. Da stimmt doch was nicht! Wenn ich dann ihre Freundin frage, behauptet die dann auch noch, dass sie wirklich mit Magdalena telefoniert hat.«

»Vielleicht stimmt’s ja auch!«, erwiderte Don, bei dem sich wieder Desinteresse einschlich. Er hatte Spannenderes erwartet, so was wie unbekannte Herrenslips in der Wäsche oder eine Packung Pariser, womöglich benutzte, aber Bogdan schien nur vage Vermutungen zu haben.

»Nie und nimmer!«, schrie Bogdan. »Sie ist so merkwürdig gut gelaunt in letzter Zeit. Aber trotzdem will sie von mir nichts mehr wissen.«

Oha!, dachte Don, da hat wohl jemand ’nen Hormonstau. Er grinste in sich hinein, sagte aber nichts, weil er nicht wusste, wie Bogdan reagieren würde, wenn er sich darüber lustig machen würde.

»Stell dir vor, sie schmeißt mich raus und holt sich den anderen in die Bude. Was wird dann aus mir?«, jaulte Bogdan. Er war den Tränen nahe.

In einem seltenen und aberwitzigen Anflug von Mitleid sagte Don: »Vielleicht kann ich dir ja dann noch mal ’n bisschen Kohle leihen.«

Er hatte Bogdan schon einmal Geld geliehen, als dieser bei der Blues Machine einsteigen wollte, aber noch nicht genügend gespart hatte, um sich ein Drum Set nach seinen Ansprüchen kaufen zu können. Das geliehene Geld wurde dann mit den eingespielten Gagen verrechnet. Bogdan hatte sich gewundert, dass einer wie Don, der in solch abgerissenen Klamotten herumlief, in der Lage war, großzügig Kredite zu vergeben. Umso mehr wunderte er sich jetzt, dass Don noch mal bereit war, ihm etwas zu leihen.

»Das würdest du tun?«, fragte er dann auch verwundert.

»Kommt drauf an, wie viel du brauchst. Wir können’s ja wieder mit den Gagen verrechnen. Aber wahrscheinlich ist doch gar nichts an der Sache dran«, sagte Don gelangweilt. Er hätte sich gar nicht auf das Gespräch einlassen sollen.

»So war sie noch nie. Diesmal steckt bestimmt ein Kerl dahinter. Wenn ich den erwische …!«

Bogdans Gesichtsausdruck verriet Wut und Verzweiflung. Er schien kurz vor einer Explosion zu stehen. Don musste zugeben, dass auch er ihn so noch nie erlebt hatte.

In diesem Moment sahen sie eine dunkle Gestalt auf sich zu torkeln. Zunächst dachten sie an einen besoffenen Obdachlosen, der seine Habe in einem Sack um die Schulter trug. Doch als die Figur ins Licht trat, erkannten sie Freddy. Bogdan hatte ihn seit der Auflösung der Band nicht mehr gesehen. Er sah zum Erbarmen aus und Bogdan musste sich eingestehen, dass es anscheinend Leute gab, denen es noch schlechter ging als ihm. Kurzzeitig wurde er von seinen eigenen Problemen abgelenkt.

Freddy war trotz seines ungepflegten und abgerissenen Erscheinungsbildes bester Laune, was sicher nicht zuletzt den circa sechs Flaschen Bier und den paar Whiskey zu verdanken war, die er intus hatte.

»Halllllooo!!!«, lallte er dann auch lautstark in Dons und Bogdans Richtung. »Na, ihr alten Strategen! Lange nich gesehen. Alles noch fit im Schritt?!«

Freddy lachte lautstark. Seinen alten Musikerkumpeln schlug bereits aus mehreren Metern eine strenge Alkoholfahne entgegen.

»Bei uns schon, Freddy!«, antwortete Don mit einem unsicheren Seitenblick auf Bogdan. »Bei dir auch? Hast du heute was zu feiern?«

»Na und ob!«, rief Freddy, während er dem verdutzten Bogdan den Arm um die Schulter warf. »Heute ist doch mein Comeback! Wie sieht’s aus, spielen wir gleich ’ne Runde, Jungs?«

Don und Bogdan sahen sich vielsagend an.

»Was is’ los?«, argwöhnte Freddy. »Traut ihr mir wohl nicht mehr zu oder was?«

»Doch doch!«, beeilte sich Bogdan zu sagen. »Aber vielleicht hast du doch ein paar Bier zu viel getankt.«

»Schnickschnack!«, grunzte Freddy. »Gerade jetzt habe ich das richtige Blues-Feeling!«

»Ich weiß nicht, ob wir noch auf die Playlist kommen«, versuchte Don ihn abzuwimmeln. »Heute sind viele Musiker da.«

Freddy starrte ihn verständnislos an.

»Was für ’ne Playlist?«

»Da musst du mit Fritz sprechen, der hat die eingeführt, weil es zuletzt immer so ein Chaos gegeben hat.«

Fritz Krause war einer der besten Blues-Drummer im Umkreis, von dem man munkelte, er habe zu Hause eine ansehnliche Gitarrensammlung, aber nicht die Traute, sich öffentlich mit anderen Gitarristen zu messen. Er moderierte die Session schon seit Jahren, indem er die Eröffnungsband ansagte und versuchte, dem Chaos, das zuweilen auf der Bühne herrschte, Herr zu werden. So hatte er vor kurzem eine Schiefertafel eingeführt, auf der er penibel aufführte, wer mit wem in der nächsten Sessionband spielen sollte. Von dieser Neuerung wusste Freddy noch nichts. Schließlich war er seit einiger Zeit dort nicht mehr aufgetaucht. Fritz schien sich zunehmend in seiner Rolle als Kontrolleur zu gefallen. Er achtete peinlich darauf, dass die Sessionbands ihre Spielzeiten von zwanzig Minuten nicht überschritten. Das brachte ihm einerseits so manchen Ärger ein (ein Musiker drohte ihm auf der Bühne Prügel an, worauf ihm Fritz ein lebenslanges Session-Verbot erteilte), andererseits auch den Spitznamen »Blues-Polizist«.

»Der Fritz kann mich mal am Arsch lecken!«, schrie Freddy. »Und wenn ihr nicht mit mir spielen wollt, dann such ich mir halt jemand anders.«

Er wollte sich gerade in Richtung Eingang aufmachen, als ihm einfiel: »Ist meine alte Freundin Ella eigentlich da?«

»Wie immer!«, antwortete Don. Diese Frage empfand er als überflüssig.

Ella Dörmann, auch als »Blues-Ella« bekannt, gehörte genauso zur lokalen Blues-Szene wie jeder Musiker, ja vielleicht sogar noch mehr. Sie ließ kaum einen Gig einer heimischen Band im Umkreis aus, es sei denn, die Auftritte fanden gleichzeitig statt. Sie kannte jeden und jeder kannte sie, sie war quasi das Maskottchen der Szene und gerade bei den monatlichen Sessions ein fester Bestandteil der Veranstaltung. Die wenigen Male, die sie nicht da war, machten sofort die wildesten Gerüchte von Krankheit oder Tod die Runde. Ella hatte inzwischen längst das Rentenalter erreicht und insbesondere bei den jüngeren Musikern eine Art Mutterstatus. Nie sah man sie schlecht gelaunt. Die Musiker, die auf der Bühne ihr Bestes gaben, wurden von ihr frenetisch angefeuert. Unterstützt wurde sie dabei lautstark von ihrem Mann Horst, der, obwohl ebenfalls Nichtmusiker, genauso wie sie zur Szene gehörte.

Die beiden genossen seit langem Kultstatus. Es hatte sich eingebürgert, dass direkt vor der Bühne des Kultur-Cafés eigens ein Tisch reserviert wurde, der den besten Blick auf die Bühne garantierte. Neben dem »Königspaar« wurden noch Plätze für den »Hofstaat«, also die engsten Freunde und Bekannten, freigehalten. Es hatte den Charakter einer Jury bei einer der unzähligen TV-Casting-Shows, mit dem Unterschied, dass von Ella keine Bewertungen abgegeben wurden. Allerdings konnte man von ihrem Gesicht ablesen, ob ihr das Vorgetragene gefiel oder nicht. Im besten Falle ließ sie ein lautstarkes kopfstimmliches »Huuuuuuuuuuuuuu!!!« ertönen, was für die Band auf der Bühne eine Art Ritterschlag bedeutete.

Freddy kannte Ella und Horst seit langem. Viele seiner Gigs hatten sie besucht und ihm immer treu zur Seite gestanden. Nach der dramatischen Auflösung der Band hatten sie versucht, Freddy zu unterstützen, doch der ließ niemanden an sich heran.

»Sie hat schon gedacht, du lebst nicht mehr«, meinte Bogdan.

»Ha, von wegen!«, lachte Freddy. »Den guten alten Freddy bringt so schnell nichts um! The blues must go on.«

Freddy wechselte den Gigbag auf die andere Schulter, wobei er beinahe das Gleichgewicht verlor. Als er sich wieder gefangen hatte, ließ er seine alten Kumpel stehen und wankte über den kurzen Flur in Richtung Eingang. Dabei schlug ihm der Gestank aus den Toiletten entgegen und Freddy fühlte sich wieder in alte Zeiten zurückversetzt. Bogdan tauchte plötzlich vor ihm auf und versperrte ihm den Weg.

»Äh, Freddy! Vielleicht ist es besser, du gehst heute nicht rein.«

»Wieso?« Freddy glotzte ihn verständnislos an.

»Na ja«, stammelte Bogdan. »Vielleicht sind ja ein paar Leute von früher da, die du nicht unbedingt sehen willst!«

»Was soll ’n das?«, lallte Freddy. »Was für Leute meinst du? Sind doch alle alte Kumpels und Freundinnen von mir. Ich glaub, du siehst Gespenster, Bogdan.«

Er schob ihn zur Seite.

Der Lärm der Sessionband nahm zu, als er sich der Eingangstür näherte. Er wurde nur von Ellas langgezogenem Heulton übertönt.

Als Freddy sich durch die Leute gezwängt hatte, die die Eingangstür blockierten, brauchte er einen Moment, um sich zu orientieren. Der Alkohol und die plötzliche Reizüberflutung in Form von Lärm, unterschiedlichsten Gerüchen und Hitze, die ihm aus dem Inneren des Kultur-Cafés entgegenschlug, mussten zunächst erst mal verdaut werden. Zudem glotzten ihn alle möglichen Leute an, zum Teil, weil sie ihn wiedererkannten, zum Teil, weil er in seinem Zustand nicht den besten Eindruck machte.

Das Erste, was er registrierte, war der Tisch vor der Bühne, wo Ella und Horst sich von einem ekstatischen Gitarrensolo mitreißen ließen und heftig applaudierten. Ein Blick ins Publikum ließ ihn erkennen, dass viele andere Musiker da waren, die, ihr Equipment in Reichweite, bereit waren, bei nächster sich bietender Gelegenheit die Bühne zu entern.

Der Slow-Blues, den die Band spielte, war an der Stelle angelangt, wo sich die Leadgitarre kreischend dem lautesten und intensivsten Moment, quasi dem Orgasmus näherte, Bass, Schlagzeug und weitere Instrumente mit sich reißend, um danach plötzlich zärtlich flüsternd in sich zusammenzusinken, was eingefleischte Blues-Fans regelmäßig in Verzückung versetzte.

Dieser Moment stand kurz bevor und Freddy registrierte, dass diese Jungs richtig gut waren.

Aber auch der Gitarrensound und die Spielweise kamen ihm bekannt vor. Er blickte zur Bühne, brauchte jedoch einen Moment, um die Situation zu erfassen.

Er erkannte, dass die Gitarre von Ulli Kanderske gespielt wurde.

In diesem Moment braute sich etwas Unheilvolles in Freddy zusammen. Es ergriff plötzlich Besitz von ihm. Er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg, ihm mit einem Schlag heiß wurde und sich seine Beine erst langsam, aber dann immer schneller in Richtung Bühne in Bewegung setzten. Sein Mund öffnete sich wie von selbst und ein heiserer Schrei entfuhr ihm. An das, was dann geschah, konnte er sich später kaum mehr erinnern.

Die meisten hatten Freddy Spieker zunächst nicht bemerkt. Erst als man seinen Schrei zur Rechten wahrnahm, der trotz des Bandlärms zu hören war, sah man ihn. Von diesem Moment an liefen die Geschehnisse vor den Augen des Publikums ab wie im Film. Deutlich hörte man Freddy grölen: »Du verdammter Wichser! Wo hast du meine Gitarre gelassen? Ich mach dich fertig!«

Er rannte in Richtung Bühne, wobei er unkoordiniert Haken schlug, die nur auf übermäßigen Alkoholkonsum zurückzuführen waren. Dabei wuchtete er seinen Gigbag von der Schulter, packte ihn an der Halsseite und hob ihn hoch über seinen Kopf.

Ulli Kanderske war noch vollkommen in sein Solo vertieft. Wie so oft hatte er bei der ekstatischsten Solopassage seine Augen geschlossen. Als er bemerkte, dass irgendetwas nicht stimmte und er sie öffnete, war es zu spät.

Alle Beteiligten waren zu überrascht, um Freddys Ausraster rechtzeitig zu bemerken und ihn aufzuhalten.

Der Slow-Blues erstarb urplötzlich in dem Moment, als Freddy Ulli den Gigbag samt Inhalt auf den Kopf schlug. Zum Glück nahm er sich nicht die Zeit, den Bass vorher noch auszupacken. Der abgemilderte Schlag reichte dennoch aus, Ulli kopfüber in das sich hinter ihm befindende Schlagzeug zu befördern und dieses mitsamt Drummer umzureißen. Freddy hatte durch den Schlag ebenfalls das Gleichgewicht verloren und fiel mit seinem Kopf in das das nach vorne offene Fell der Bass Drum.

Es folgte ein Tumult.

Mit einem Male schienen hunderte von Leuten auf der Bühne zu sein. Jeder schien irgendetwas zu rufen oder meinte wild mit den Armen gestikulieren zu müssen. Freddy hatte sich erstaunlich schnell aufgerappelt und stürzte sich erneut auf Ulli, um ihn laut schreiend und Morddrohungen ausstoßend mit seinen Fäusten zu traktieren. Im nächsten Moment warf sich »Bluespolizist« Fritz auf ihn und versuchte ihn festzuhalten, was Freddy noch wütender machte. Als Fritz ihn mit einem Catcher-Griff losriss und beide zur Seite schleuderten, wurden laut krachend zwei Gitarrenverstärker umgestoßen. Es entstand eine kreischende Rückkopplung, die das Chaos verstärkte. Mittlerweile waren Fritz drei weitere Musiker zu Hilfe geeilt und hatten versucht, Freddy an Armen und Beinen festzuhalten. Dieser schlug wie von Sinnen um sich und stieß die wildesten Flüche aus. Erst als der Pächter des Kultur-Cafés, Wolfhard, ein stämmiger, stets grimmig dreinblickender Kerl, mit anpackte, wurden sie allmählich der Situation Herr. Freddy wurde hochgehoben und mit vereinten Kräften nach draußen geschleppt. Da er sich immer noch nicht beruhigt hatte, wurde er vor den Treppen zum Eingang auf den Boden gelegt und weiter festgehalten, währenddessen Fritz per Handy die Polizei anrief. Unter seinen Bändigern bestand kein Zweifel darüber, dass Freddy Spieker die kommende Nacht in der Ausnüchterungszelle würde verbringen müssen.

Auf der Bühne versuchten in der Zwischenzeit etliche Leute das Chaos zu beseitigen. Einige Leute kümmerten sich um Ulli Kanderske, der noch immer völlig benommen und aus der Nase blutend an der Stelle hockte, wo Freddy ihn zusammengeschlagen hatte. Die Gitarre trug er noch um den Hals.

Überrascht nahm Ella Dörmann zur Kenntnis, dass Bogdans Frau Magdalena, die sonst nur selten bei den Sessions erschien, sich ebenfalls Ullis annahm, misstrauisch beäugt von ihrem Mann. Ella schrieb es der Tatsache zu, dass sie von Beruf Krankenschwester war.

Sie selbst hatte sich während der Schlägerei wie gelähmt nicht von ihrem Platz bewegen können. Auch Horst saß wie versteinert, jedoch mit weit geöffnetem Mund neben ihr und konnte nicht glauben, was er da soeben gesehen hatte. So etwas hatte es in den langen Jahren, in denen sie die Sessions und Konzerte der lokalen Bluesbands besuchten, noch nicht gegeben.

Henning Walters, ein Mundharmonikaspieler, der bei jeder der Sessions anwesend und für sein bescheidenes Temperament bekannt war, schlenderte an Ella vorbei und meinte lapidar:

»Das war’s dann wohl für heute!«

»Ja, das glaube ich auch!«, erwiderte Ella tonlos.

»Der Freddy muss den Verstand verloren haben. Allen Ernstes«, fand Horst seine Sprache wieder. »So kenne ich ihn überhaupt nicht. Entweder er hat einen psychischen Knacks bekommen, oder er hat seine letzten Gehirnzellen versoffen.«

»Oder beides«, sagte Ella.

»Wie dem auch sei, sein ’Comeback’ hätte ich mir wirklich anders vorgestellt. Der braucht sich in der Szene nicht mehr blicken zu lassen. Und ’ne Strafanzeige wegen Körperverletzung und Hausfriedensbruch wird er auch noch bekommen.«

»Wie kann man nur so ausflippen?« Ella schüttelte den Kopf. »Er glaubt immer noch, dass Ulli für den Einbruch in seinem Haus verantwortlich ist, obwohl er nie einen Beweis für seine Verdächtigung hatte. Ich hatte gehofft, dass er irgendwann mal von seiner fixen Idee abkommen würde.«

»Er hat, glaube ich gehört zu haben, immer behauptet, nur er, seine Freundin und die anderen Bandmitglieder hätten von dem Probenraum und dem, was sich darin für ein Equipment befand, gewusst«, dachte Horst laut.

»Deshalb konnte nur einer von ihnen was mit dem Diebstahl zu tun haben.«

»Aber warum hat Freddy nur Ulli verdächtigt, die anderen hätten theoretisch ja auch in Frage kommen können.«

»Freddy würde zumindest nicht seine eigene Freundin verdächtigen. Wie ich hörte, sind zwar Bogdans Schlagzeug und Mikes Mikrofone gestohlen worden, nicht aber Ullis Verstärker. Deshalb hatte Freddy wohl ihn in Verdacht.«

»Ich weiß nicht.« Ella schüttelte den Kopf und presste die Lippen aufeinander.

»Irgendwas passt da nicht zusammen. Ulli hätte doch seinen eigenen Verstärker auch verschwinden lassen, damit er nicht unnötig in Verdacht gerät. Das ergibt doch keinen Sinn. Wahrscheinlich sind die Diebe nur gestört worden.«

Horst zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war es Ulli tatsächlich und er hat die anderen Sachen für gutes Geld verkauft.«

»Glaub’ ich nicht. Ulli hätte das nicht nötig gehabt. Außerdem hätte er niemals die Band dafür aufs Spiel gesetzt. Die Blues Bandits waren sein Leben.«

»Den Diebstahl werden wir wohl heute nicht mehr aufklären. Lass uns mal nachsehen, wie es Ulli geht.« Horst ging zur Bühne.

Man hatte Ulli inzwischen auf die Beine geholfen und zur alten Ledersitzgarnitur, die rechts neben der Bühne stand, geführt. Wie zum Schutz hielt er sich immer noch an seiner Gitarre fest und wirkte benommen. Magdalena sprach ihn an.

»Ulli! Hörst du mich? Wie fühlst du dich? Soll ich einen Arzt rufen?«

»He, was ’n los! Wer war der Bekloppte?«, fragte Ulli leise.

Magdalena sah ihm in die Augen.

»Ulli, alles klar?«

»Ja, ja, geht schon wieder!«

»Bist du sicher?« Magdalena sah auf und schaute in eine Menge skeptischer und sorgenvoller Gesichter.

»Okay, kleiner Test, Ulli. Wie viel Finger halte ich gerade hoch und welchen Wochentag haben wir heute?« Sie machte ein Victory-Zeichen.

»Häh?«

»Wie viel Finger ich hochhalte und welchen Tag wir heute haben, sollst du mir sagen.«

»Äh … keine Ahnung! Welche Finger? Und was soll der Quatsch mit den Tagen in der Woche?«

Magdalena erhob sich und sah die Umstehenden mit wichtiger Miene an.

»Tja, ich schätze, er hat eine Gehirnerschütterung.«

»So ’n Quatsch!« Ulli winkte ab.

»Kein Quatsch!«, sagte Magdalena. »Ich rufe jetzt einen Krankenwagen.«

»Lass den Blödsinn, ich bin okay …«; erwiderte Ulli, machte jedoch urplötzlich ein komisches Gesicht, drehte sich zur Seite und kotzte aufs Sofa.

»Klare Sache!«, meinte Magdalena, zückte ihr Handy und rief den Notarzt an.

Währenddessen versuchten draußen vor der Eingangstür weiterhin etliche Leute Freddy zu bändigen. Er lag noch immer auf dem Boden und wurde an Armen und Beinen festgehalten. Probeweise hatte man versucht, die Griffe zu lockern, worauf Freddy sofort mit heftigen Befreiungsversuchen reagierte. Sehnsüchtig warteten seine »Bewacher« auf das Eintreffen der Polizei. Es näherten sich zwei Uniformierte zu Fuß. Ihr Auto hatten sie an der Treppe unterhalb des Kultur-Cafés stehen lassen und Fritz Krause sah schon das Szenario auf sich zukommen, dass man Freddy die ganze Treppe würde hinunterschleppen müssen.

Zu ihrer Überraschung erkannten die Anwesenden Bodo und Hasso, die bekannten Bochumer Fernsehpolizisten, die durch die von einem Privatsender über sie gedrehte Dokusoap-Serie bundesweite Berühmtheit erlangt hatten. Ein aus drei Leuten bestehendes Fernsehteam war dabei. Ein Kameramann, ein das Mikrofon samt dazugehörigem Galgen haltender Gehilfe und eine junge Frau liefen angestrengt hinter den Polizisten her.

»N’ Abend allerseits!«, begrüßte Bodo locker die Runde und schaute stirnrunzelnd auf Freddy hinab. »Schlenkhoff meine Name. Dass ich von der Polizei bin, brauche ich ja wohl keinem zu sagen. Ich hoffe, von den Anwesenden hat keiner was gegen das Kamerateam einzuwenden. Wenn einer nachträglich unkenntlich gemacht werden will, muss er es den Leuten hier nur sagen.«

Keiner der Anwesenden sagte hierzu etwas, sodass Bodo von einem stillen Einverständnis ausgehen konnte. Was Freddy anbetraf, sah er, dass dieser offensichtlich derzeit nicht zurechnungsfähig war.

»Den da solltet ihr auf jeden Fall unkenntlich machen«, raunte er der jungen Frau zu, während er Freddy anschaute. »Wenn den seine Mutter so sieht, kriegt die glatt ’nen Herzinfarkt!«

»Lasst mich los, ihr Arschlöcher!«, schrie Freddy außer sich und versuchte vergeblich sich zu befreien.

»Ich glaube, Sie brauchen Verstärkung, um den unter Kontrolle zu kriegen!«, meinte Fritz Krause wichtigtuerisch an die Polizisten gewandt.

»Na, schau’n wir mal«, entgegnete Hasso, nahm aber schon mal das Funkgerät zur Hand.

»Erzählen Sie mir erst einmal, was hier eigentlich passiert ist.«

Ruhig und sachlich gab Fritz die Geschehnisse zu Protokoll, währenddessen aus dem Inneren des Kultur-Cafés immer mehr Schaulustige herausströmten.

Nachdem sich die beiden Polizisten in aller Ruhe die kurze Geschichte angehört hatten, ging Hasso auf die immer näher kommende Menschenmenge zu und sagte laut und vernehmlich: »Also, Herrschaften! Hier gibt’s nichts zu sehen. Bitte gehen Sie nach Hause und behindern Sie unsere Arbeit nicht!« Widerwillig zerstreute sich die Menge, nur die vier Leute, die Freddy festhielten und Fritz sowie zwei weibliche Kellnerinnen des Kultur-Cafés waren am Ende noch anwesend.

Bodo versuchte den noch am Boden liegenden Freddy anzusprechen,

»N’ Abend, Meister! Schlenkhoff meine Name, Polizei Bochum. Sind Sie Herr Freddy Spieker?«

»Ja, sicher«, lallte Freddy, der sich inzwischen ein wenig beruhigt hatte. »Das hat Ihnen doch schon der Schlaumeier da gesagt!«, ergänzte er mit einem Seitenblick auf Fritz.

»Sie haben ja hier ganz schön randaliert, sagen Ihre Kollegen hier.«

»Das sind keine Kollegen, das sind alles Verbrecher!«

»So, so. Da fällt mir ein, sieh doch mal nach dem Mann, den er niedergeschlagen hat«, sagte er an Hasso gewandt. »Vielleicht müssen wir einen Krankenwagen rufen.« Im selben Moment hörten sie auch schon das Martinshorn.

»Da kommt er ja schon«, sagte Hasso, »Ich schau trotzdem mal nach und versuche, was rauszukriegen.« Er verschwand im Eingang des Kultur-Cafés.

Bodo wandte sich wieder Freddy zu.

»Wie sieht’s aus mit Ihnen? Wenn die Leute Sie jetzt loslassen, kann ich damit rechnen, dass Sie friedlich bleiben?«

»Ich bin fast immer friedlich!«, antwortete Freddy.

»Ah ja, und heute haben Sie dann mal eine Ausnahme gemacht?«

Freddy glotzte ihn verständnislos an.

»Also, was ist jetzt? Bleiben Sie jetzt friedlich oder muss ich Ihnen Fesseln anlegen?«

»Schon gut! Ich mach nix!«

»Das hoffe ich für Sie! Mein Kollege hat nämlich schon Verstärkung geordert. Die schnüren ein hübsches Paket aus Ihnen und aus dem könnte sich selbst ein Entfesselungskünstler nicht befreien.«

Keiner der Anwesenden konnte sich daran erinnern, dass die Polizisten Verstärkung angefordert hatten und hofften, dass die Finte Erfolg haben würde.

»Lassen Sie ihn mal los!«, forderte Bodo Freddys »Bewacher« auf. »Wir können ihn nicht weiter auf dem kalten Boden liegen lassen.«

Mit skeptischen Blicken ließ man von Freddy ab.

Er setzte sich auf und versuchte umständlich aufzustehen, was ihm jedoch nicht gelang. Fritz half ihm auf, was Freddy nicht mit einem Dankeswort, sondern mit einem unflätigen »Lass mich los, du Penner! Ich komm schon alleine klar!« kommentierte.

Bodo spürte, dass der Vulkan noch nicht erloschen war. Er bedeutete Hasso, der gerade wieder auf dem Weg nach draußen war, vom Funkgerät Gebrauch zu machen.

Währenddessen waren die Sanitäter eingetroffen und verschwanden nach einem kurzen Gespräch mit Bodo im Gebäude, um sich Ullis anzunehmen.

»Also, Herr Spieker«, wandte sich Bodo wieder an Freddy, »wie viel haben Sie denn heute so getrunken?«

»Keine Ahnung! Zwei bis drei Flaschen!«

»Zwei bis drei Flaschen WAS?«

Freddy warf Bodo einen unsicheren Blick zu.

»Bier«, sagte er achselzuckend.

»Das glauben Sie doch wohl selbst nicht.«

»War eben Starkbier«, erwiderte Freddy frech.

»Ach ja. Und das hatte wahrscheinlich so um die fünfzig Prozent. Erzählen Sie mir doch keinen Blödsinn!«

»Was spielt das für ’ne Rolle, was ich getrunken habe?«, lallte Freddy. »Is’ das etwa verboten?«

»Nein. Aber ich würde gerne wissen, warum Sie so ausgeflippt sind«, nahm ihn Bodo in die Mangel. »Und offensichtlich spielt dabei eine große Rolle, dass Sie sich ordentlich einen gekippt haben. Also … erklären Sie mir mal, was das alles hier sollte!«

Freddy knirschte mit den Zähnen.

»Der Penner da drinnen ist in meine Bude eingebrochen und hat so einiges mitgehen lassen. Ich kann ihm aber nix beweisen. Ihr von der Polizei wolltet ihn damals ja auch nich’ drankriegen. Als ich den Arsch dann vorhin wiedergesehen habe, is’ mir der Kragen geplatzt.«

Plötzlich zog Freddy einen Flachmann aus der Tasche und machte sich am Drehverschluss zu schaffen. Bodo traute seinen Augen nicht.

»Das glaube ich ja wohl nicht!«, rief er aus.

»Wieso?«, fragte Freddy gespielt naiv. »Woll’n Sie auch ’n Schluck?«

Ungeachtet Bodos Entrüstung kippte Freddy einen Schluck herunter.

Als er den Flachmann absetzte, griff Bodo schnell zu und nahm ihm das halbvolle Fläschchen ab.

»He, was soll ’n das!«, protestierte Freddy lautstark.

»Wissen Sie was, Herr Spieker, ich glaube, Sie kommen jetzt mal mit uns auf die Wache. Da nehmen wir das Ganze fein säuberlich auf und schauen dann mal, wie es weitergeht. Ihre Vorstellung hier ist heute erst mal beendet. Und ich warne Sie, seien Sie schön friedlich, sonst lernen Sie uns mal richtig kennen.«

Freddy grunzte irgendetwas Unverständliches, während ihm Bodo auch den Schraubverschluss des Flachmanns abnahm, diesen verschloss und quasi als Beweismittel in seiner Jackentasche verschwinden ließ. Vorher überzeugte er sich durch Schnuppern, dass sich in dem Fläschchen offensichtlich Whiskey befand.

»Ich muss noch meinen Bass mitnehmen«, sagte Freddy.

»Keine Sorge! Den nehmen wir allein schon als Beweismittel mit«, meinte Hasso grinsend.

»Beweismittel? Wofür?«, raunzte ihn Freddy an. »Der Schädel von dem Sackgesicht is’ doch heil geblieben!«

»Ach, da kommt der arme Kerl ja«, sagte Fritz plötzlich.

Zwei Sanitäter trugen Ulli Kanderske auf einer Trage liegend an der Gruppe um Freddy und den Polizisten vorbei.

Dieser Anblick schien bei Freddy alles andere als Mitleid auszulösen. Plötzlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck erneut und wurde zu einer entstellten Grimasse. Schon hatte er den Hosenschlitz geöffnet, torkelte die wenigen Schritte hin zur Trage und pinkelte den noch sehr benommen wirkenden Ulli in hohem Bogen an.

»Da hast du ’s, du Schweinehund!«, brüllte er dabei.

Bodo und Hasso zogen ihn hastig zurück, konnten aber nicht mehr verhindern, dass Ulli der erste Schwall voll traf.

»Was soll die Scheiße!«, schrie Freddy, immer noch in hohem Bogen strullend.

Er riss sich los und drehte sich hastig zu Hasso um, wobei auch dieser von ihm getroffen wurde.

»Verdammt noch mal!«, entfuhr es Hasso, der einen Sprung nach hinten machte, um nicht noch mehr von Freddys Urin abzubekommen.

»Ich hau’ dir eins in die Fresse!«, tobte Freddy und stürmte wild fuchtelnd auf Hasso zu.

Er lief direkt in Hassos ausgestreckte Faust.

Die Schwerkraft übermannte ihn.

Als er an der gleichen Stelle zu liegen kam, an der er kurz zuvor niedergehalten wurde, versiegte der Urinstrom allmählich. Für die Umstehenden sah es so aus, als habe man einen Springbrunnen abgedreht.

2

Er kam langsam zu sich. Obwohl es düster in dem Raum war, schmerzten seine Augen, sodass er sie schnell wieder schloss, um sie dann gleich wieder vorsichtig zu öffnen. Alles tat ihm weh. Sein Schädel brummte unerträglich. Besonders die Schmerzen in der rechten Hand waren heftig. Er lag auf dem Rücken und schien zu keiner Bewegung fähig zu sein. Als er sich dann doch rührte, verdoppelten sich seine Schmerzen.

Mit größter Kraftanstrengung richtete er sich auf. Sein Kopf schien zu platzen. Hinzu kam dieser penetrante Uringestank.

Er schaute sich verwirrt um. Wo war er?

Er befand sich in einem leeren Raum, ohne jegliches Inventar. Durch ein kleines vergittertes Fenster drang ein wenig Licht ein. Er saß auf einer mit Kunststoff überzogenen Matratze inmitten des Raumes. Die Stahltür zu seiner Rechten hatte keine Klinke, sondern nur einen runden Knauf und ein kleines Fenster in der Mitte, das aber offensichtlich durch eine Klappe von außen verschlossen war. Erst jetzt bemerkte er, dass er noch angezogen war. Nur seine Schuhe fehlten. Diese waren nirgendwo zu sehen.

Was war passiert? Er konnte sich nicht erinnern.

Er wusste nur noch, dass er sich nach langer Zeit mal wieder dazu entschlossen hatte, die Bochumer Blues-Session aufzusuchen. Zunächst hatte er die Idee wieder verworfen. Schließlich hatte er vor kurzem noch seine Musikerkarriere beenden wollen. Nachdem er sich jedoch ein wenig »Mut« angetrunken hatte, war sein Tatendrang erneut entfacht worden und er hatte sich auf den Weg gemacht. Er wusste noch, dass er mindestens eine leere Whiskeyflasche in den nahe gelegenen Glascontainer geworfen und entschieden hatte, besser doch nicht mit dem Auto zu fahren, sondern die U-Bahn zu nehmen.

Er konnte sich verschwommen daran erinnern, dass er am Kultur-Café angekommen war und ein paar alte Musikerkollegen getroffen hatte.

Von da an … Filmriss!

Nichts mehr.

Er sah sich nochmals in dem Raum um.

Kein Zweifel, das war eine Zelle!

Er hatte Mist gebaut. Aber was?

Er wusste, dass er nicht zu viel trinken sollte, weil er dann unberechenbar werden konnte. Als seine Freundin Elke noch bei ihm war, hatte sie darauf immer geachtet und war rechtzeitig eingeschritten. Seitdem sie weg war, weil er die Sache mit dem Gitarrenraub nicht verwinden konnte, kam es bisweilen vor, dass er zu tief ins Glas sah. Meistens verkroch er sich dabei zu Hause und hörte alte Bluesplatten. Ein oder zweimal hatte er allerdings einen plötzlichen Wutanfall bekommen und einen Teil seiner Wohnungseinrichtung zerschlagen. Danach hatte er sich geschworen, die Finger von harten Sachen zu lassen und sich höchstens ein oder zwei Bierchen zu genehmigen. Offensichtlich war ihm dies gestern Abend nicht gelungen.

Er ekelte sich vor sich selbst.

Es half nichts. Er musste sich bemerkbar machen, um herauszufinden, was geschehen war.

Mühsam richtete er sich auf und brauchte einen Moment, um sein Gleichgewicht zu halten. Er ging zur Tür und versuchte den Knauf zu drehen. Als dies nicht gelang, zog und drückte er und musste feststellen, dass er eingesperrt war.

Resigniert legte er sich wieder auf die Pritsche.

Er spürte, dass er einen neuen Tiefpunkt erreicht hatte. Seine Gedanken kreisten um all das, was in den letzten Jahren geschehen war.

Freddy Spieker spielte den Blues schon lange Jahre. Mit seiner Band Blues Bandits hatte er des Öfteren die Eröffnungsband bei der Session in Bochum gestellt und das Publikum für die bevorstehende offene Session »aufgewärmt«. Abgesehen davon war er mit seiner Blues-Combo auch sonst recht gut gebucht. Zumindest reichte es ihm und seinen Mitmusikern aus, als Semiprofis ein- bis zweimal im Monat durch Auftritte in Kneipen und Clubs im und ums Ruhrgebiet herum ein gutes Zubrot zum eigentlichen Job zu verdienen. Freddy hatte die Band vor fünf Jahren gegründet, nachdem er zuvor schon in einigen Gruppen gespielt hatte. Bei diesen hatte er sich als Bassist immer als fünftes Rad am Wagen gefühlt. Die Blues Bandits führte er zum ersten Mal als »Bandleader« an. Er hatte sich die Leute, mit denen er spielen wollte, selbst ausgesucht und auch die musikalische Richtung vorgegeben.

Als leidenschaftlicher Fan der Blues- und Rock-Gitarrenlegende Johnny Winter machte er die Band mit ihrem knackigen Blues-Rock-Stil bekannt. Um Auftritte zu organisieren, fuhr er quer durch die Region, telefonierte stundenlang mit Kneipeninhabern und Veranstaltern, bis diese, allein um vor ihm Ruhe zu haben, entnervt einen Auftrittstermin mit ihm vereinbarten. Aber die Mühe zahlte sich aus. In der Zwischenzeit, vor allem nach Herausgabe der ersten CD, die sie sinnigerweise »Stolen Blues« nannten, hatten die Blues Bandits bereits eine ansehnliche Fan-Gemeinde, die sie zu ihren Gigs begleitete.

Der stämmige Freddy mit seinem dunklen Bart, der ziemlich unaufgeregt und ständig grinsend seinen Bass zupfte, war bald bei fast allen beliebt.

Als Gitarristen hatte Freddy seinen alten Schulkameraden Ulli Kanderske angeheuert. Ulli hatte wie Freddy bereits ein bewegtes Musikerleben hinter sich.

Als »rauchende Bohnenstange« verulkt, war der hagere Ulli im Revier dafür bekannt, dass er als Mitglied verschiedenster Bands ständig mit einer Zigarette im Mundwinkel seine Lieblingsgitarre, eine abgewetzte rote Fender Stratocaster, so lange malträtierte, bis irgendwann eine Saite riss. Seine langjährige Freundin Karin stand daher bei jedem Auftritt neben der Bühne, eine frischbesaitete Ersatz-Stratocaster in der Hand, die sie ihm blitzschnell in die Hand drückte, wenn Ulli mal wieder sein Spielgerät zerfetzt hatte. Höhepunkt seiner Show war immer, wenn er zum Ende des Gigs in Ekstase vor seinem Verstärker kniend sämtliche Variationen einer Rückkopplung durchexerzierte. Was eigentlich eine Qual für jedes menschliche Ohr war, wurde vom bis dahin bereits größtenteils betrunkenen Publikum grölend bejubelt. Ulli fühlte sich in solchen Momenten wie die Reinkarnation eines Jimi Hendrix. Manchmal übertrieb er es, sodass es einmal passiert war, dass der Wirt einer Szenekneipe ihm den Strom abstellte, worauf Ulli ihm fast den Hals umgedreht hatte. Seinem Ruf als »Gitarrengott des Reviers« tat dies allerdings keinen Abbruch, im Gegenteil verstärkte dies sein Image noch.

Vor einigen Jahren, zu Zeiten eines Blues-Booms, den ein irischer Rockgitarrist namens Gary Moore ausgelöst hatte, konnte Ulli mit seiner Band Roosters sogar leidlich von der Musik leben. Der Boom ebbte jedoch in der Folgezeit ab, sodass er zu seinem Leidwesen doch wieder seinen alten Job als Maler und Lackierer im Familienbetrieb seines Schwagers annehmen musste. Warum er jedoch seine alte Fender Stratocaster nicht neu lackierte, konnte Ulli selbst nicht erklären. Für ihn war sie wie ein Lebewesen, das man nicht mit Farbe beschmieren sollte. Ja, er gab der Gitarre sogar einen Namen. Er nannte sie La Belle, die Schöne, in Erinnerung an eine Urlaubsaffäre, die er mal in Frankreich gehabt hatte. Fortan konnte sich seine Karin eines irrationalen Eifersuchtsgefühls nicht erwehren.

Ulli war Feuer und Flamme gewesen, als ihn Freddy, den er von etlichen Blues-Sessions kannte, gefragt hatte, ob er Interesse an der Gründung einer Blues-Rock-Band hätte. Diese sollte eher im Stil eines Jimi Hendrix, Eric Clapton oder auch Johnny Winter daherkommen, als den Standard-Shuffle der 50er Jahre oder den altbekannten Chicago-Blues zu spielen. Da Freddy zudem gerne slappte, sollten auch Funk-Elemente in den Stil der Band einfließen. Ulli war hellauf begeistert und schlug zu Freddys Freude vor, auch andere Stilrichtungen wie Jazz oder Latin mit einzubringen.

Der Grundstein war gelegt. Freddy hatte glücklicherweise zum gleichen Zeitpunkt einen Probenraum in einem alten Bunker in Herne aufgetan. Wie üblich handelte es sich dabei um ein altes nach Pisse und Bier stinkendes Loch, dass sie sich mit einer Punkband teilen mussten, die den Raum offenbar auch als Feten- und Wohnraum nutzte. Dies führte des Öfteren zu Auseinandersetzungen zwischen den Musikern, insbesondere dann, wenn Freddy und seine Jungs proben wollten, die Punks ihr Saufgelage jedoch noch nicht beendet hatten.

Nach der Probe stanken sie aus allen Löchern. Ihre Frauen und Freundinnen bestanden bei ihrer Heimkehr dann auf einen kompletten Kleiderwechsel und eine Dusche, bevor sie sich ihnen nähern duften.

Nachdem Freddy und Ulli eine, wenn auch stinkende, Bleibe gefunden hatten, machten sie sich daran, die Band zu komplettieren.

In Mike Bruns fanden Sie einen stimmgewaltigen Sänger, der zudem eine gute Blues-Mundharmonika spielte, Songs schrieb und auch sonst keinen schlechten Frontmann abgab. Sein Problem war allerdings sein ausgeprägtes Mitteilungsbedürfnis, was bisweilen dazu führte, dass seine Mitmusiker ihm oft auf drastische Art und Weise den Mund verboten. Bei Gigs, wenn Mike zwischen den Songs das Publikum mit seinen Monologen traktierte, war es unter Umständen notwendig, dass Ulli eine seiner berüchtigten Rückkopplungen vom Zaun brach und diese solange aufrecht erhielt, bis Mike endlich den nächsten Song ansagte. Es wunderte daher keinen mehr, als herauskam, dass Mike von Beruf Versicherungsvertreter war. Seine Provisionen waren Gerüchten zufolge nicht von schlechten Eltern, er versuchte sogar innerhalb der Musikerszene seine Versicherungen zu verkaufen. (Manch ein Musikerkollege fragte sich im Nachhinein, warum er so viele Versicherungen abgeschlossen hatte, die er zuvor noch nicht benötigte.)

Mikes Überredungskünste blieben auch in der Damenwelt nicht unbeachtet. Seine Bandkollegen rieben sich bisweilen die Augen über die Anzahl seiner Eroberungen. Allerdings verlor der gute Mike zwischenzeitlich den Überblick, sodass bei einigen Gigs zwei oder einmal sogar drei seiner Damen anwesend waren. Nach den Auftritten kam es daher oft zu Streitigkeiten zwischen seinen Verehrerinnen. Mikes Rechtfertigungsversuche ließen ausnahmsweise in solchen Situationen viel an Überzeugungskraft zu wünschen übrig. Im Gegenteil mussten ihn zwei seiner Liebschaften per Vaterschaftstest davon überzeugen, dass er der Erzeuger ihrer Sprösslinge war. Dies führte dazu, dass Mike trotz seines guten Verdienstes ständig in Geldnot war.

Auch wenn er bisweilen ihr Nervenkostüm stark beanspruchte, fanden Freddy und Ulli musikalisch in ihm die ideale Ergänzung. Wenn er es nicht übertrieb, war Mikes Art durchaus unterhaltsam.

Ein Fall der ganz besonderen Art war ein Schlagzeuger, den sie erst nach längerer Bedenkzeit in die Band aufnahmen. Es war Bogdan Kobusinski, gebürtiger Pole und ohne Frage einer der besten Drummer im Umkreis. Das Problem war, dass Bogdan das personifizierte Selbstmitleid darstellte. Er nutzte jede sich bietende Gelegenheit, seinen Bandmitgliedern mit großer Leidensmiene seine Eheprobleme zu schildern und nach jedem zweiten Satz zu fragen: »Was soll ich nur machen?« Die zweifelhaften Ratschläge seiner Mitmusiker wie »Schieß die Alte doch in den Wind« oder »Fahr doch mal alleine nach Malle. Da gibt’s Weiber …« ignorierte er. Es kam sogar vor, dass er bei Proben oder Gigs in Tränen ausbrach, wenn seine geliebte Magdalena ihm mal wieder die Hölle heiß gemacht hatte. In Extremsituationen äußerte er dann unentwegt Suizidabsichten. Wenn insbesondere Freddy irgendwann mal der Kragen platzte und er ihm mit dem Rausschmiss aus der Band drohte, schwieg Bogdan beleidigt. Dies konnte mehrere Wochen dauern. Die anderen Bandmitglieder genossen diese ruhigen Zeiten, wohl wissend, dass Bogdans Eheprobleme sie wieder einholen würden.

Die Band wurde gelegentlich durch einen Keyboarder namens Chris Wenzel, einen schlaksigen jungen Typen, der stark kurzsichtig war, ergänzt. Zeitweise spielte auch ein kleiner Saxophonist namens Oliver Kampmann mit, der es schaffte, mit Ausnahme seiner Finger und seiner Lippen völlig regungslos auf der Bühne zu stehen. Zunächst war geplant, die beiden fest in die Band aufzunehmen, was jedoch an deren begrenzter Zeit (Keyboarder und Saxophonisten sind heiß begehrte Leute und spielen in vielen Bands) scheiterte.

Freddy hatte auch zwei Mädels als Backgroundsängerinnen engagiert. Anja Schulte und Renate Thomann machten sowohl als Blickfang als auch über ihre Stimmgewalt eine Menge her. Leider bekamen sich die ansonsten guten Freundinnen wegen Mike derbe in die Haare, umso mehr, als jener ihnen bei dem Versuch, zu schlichten, fröhlich grinsend einen flotten Dreier vorschlug. Da Mike dieses Gespräch um Haares Breite nicht überlebte, sah sich Freddy gezwungen, die Idee, Frauen als feste Mitglieder in die Band aufzunehmen, aufzugeben, zumindest solange Mike mit von der Partie war. Der Beliebtheit der Band tat dies jedoch keinen Abbruch. Zu besonderen Anlässen, wie zum Beispiel bei ihrer CD-Präsentation, engagierte er die Mädels weiterhin.

Der lokale Erfolg der Blues Bandits ließ Profiträume reifen.

Während Freddy die Decke seiner Zelle anstarrte, dachte er wehmütig an diese Zeit zurück. Die Träume waren ausgeträumt, die Band existierte inzwischen nicht mehr und Freddys Gemütslage war katastrophal. Er hatte mehr als nur den Blues. »More than just the Blues«, so hatte einer ihrer Songs geheißen, den Mike und Ulli geschrieben hatten. Zu Zeiten, als die Band und ganz besonders auch er auf einem Höhentrip waren, schlug das Schicksal hart zu. Seitdem war alles schiefgegangen.

Erst jetzt, nach vielen Monaten, hatte er wieder seinen alten Bass hervorgekramt und sich, nachdem er ein wenig darauf geübt hatte, entschlossen, die Session zu besuchen, um mit ein paar alten Kumpels zu jammen.

Zunächst war alles wie im Märchen weitergegangen für ihn. Sein kinderloser Onkel Walter, ein alter Kohlenhändler, war plötzlich gestorben und hatte ihm eine größere Summe vererbt. In seiner Euphorie hatte Freddy jedem, der es hören wollte, lachend erzählt, dass er jede Menge Kohle geerbt habe. Tatsächlich befand sich im Keller des Hauses seines toten Onkels noch ungefähr eine Tonne des schwarzen Goldes. Da zum Teil in der Wohnung verstreut Bargeld gefunden wurde, hatten Freddy und seine Freundin Elke den Keller durchsucht. Ja, sie machten sich einen Spaß daraus, den Kohlenberg zu durchwühlen in der Hoffnung, vielleicht noch mehr Bargeld zu finden. Sich ausschüttend vor Lachen und schwarz wie die Schornsteinfeger waren sie schließlich dem Kohleberg entstiegen. Elke hatte tatsächlich noch ein altes Fünf-Mark-Stück gefunden.

Abgesehen davon hatte Onkel Walter, der jedem misstraute, seine Verstecke gut gewählt. Hinter seinem Schlafzimmerschrank etwa hatte er zehntausend Euro hinter der Tapete versteckt. Nur durch Zufall war Freddy darauf gestoßen.

Letztendlich kamen auch nach Summierung allen Bargeldes und aller Bankkonten an die siebenhundertzwanzigtausend Euro zusammen und Freddy war drauf und dran, seinen Job als Schreiner in einem Baumarkt zu schmeißen, Elke hatte Mühe, ihn davon zu überzeugen, dass das Geld nicht ewig reichen würde und er es doch besser sinnvoll investieren solle. Außerdem musste noch ein gehöriger Batzen Erbschaftssteuer gezahlt werden. (Das gefundene Bargeld unterschlug Freddy allerdings.)

Elke versuchte ihm ein Häuschen im Grünen schmackhaft zu machen, was Freddy zunächst spießig fand. Sein Augenmerk war eher auf einen schicken Ferrari gerichtet. Als Elke ihn jedoch vor die Wahl stellte: »Der Ferrari oder ich«, ließ Freddy seufzend von diesem Plan ab. Elke hatte schließlich die zündende Idee und schlug ihm vor, ein altes Haus zu kaufen und im Keller einen eigenen Probenraum einzurichten. Das stinkende Loch im Bunker in Herne könne man dann endlich aufgeben.

Das überzeugte Freddy. Sie kauften ein stark renovierungsbedürftiges Haus in einer ausgesuchten Wohnlage in Essen-Werden und bauten es nach ihren Bedürfnissen um.

Im Keller richtete er sich den Probenraum ein. Seine Jungs halfen mit, den Raum so schalldicht wie möglich zu gestalten. Er baute sogar ein besonders isoliertes Fenster ein, sodass sie bei Tageslicht proben konnten. Es war der erste Raum im neu erworbenen Haus, der komplett fertig wurde, währenddessen in den Wohnräumen noch einiges zu tun war, was Elke nicht besonders lustig fand. Freddy hatte vorgehabt, alles in Eigenarbeit umzubauen. Da dies sich jedoch immer länger hinzog und Elke immer mehr darauf drängte, die Arbeiten abzuschließen, hatten sie schließlich doch einige Firmen mit der Fertigstellung beauftragt. Schließlich wohnten sie in einem schicken Häuschen in einer besseren Wohngegend und Freddy begnügte sich anstatt eines Ferraris mit einem geräumigen alten amerikanischen Straßenkreuzer, einem Lincoln. Es war ein topgepflegtes Schmuckstück, welches er der Ehefrau eines verstorbenen Sammlers solcher Oldtimer aus den 50er und 60er Jahren zu einem wahren Schnäppchenpreis abgekauft hatte.

Die Blues Bandits waren froh, den stinkenden Bunker verlassen zu können. Auch deshalb, weil sie ihre schwere Anlage nicht mehr über mehrere Etagen schleppen brauchten, wenn sie ihre Autos für die Fahrt zu einem Gig beladen mussten. Von der Hintertür zu Freddys Probenraum führte lediglich eine kleine Treppe in den Garten. Von dort aus waren es nur wenige Meter zum Gartenzaun und zum Straßenrand, wo ihre Fahrzeuge parkten.

Etwas fehlte Freddy allerdings noch zu seinem vollkommenen Glück. Er konnte nicht genau sagen, was es war. Jedenfalls musste es etwas Besonderes sein, das er quasi als Trophäe bei sich beherbergen konnte.

Eines Tages suchte er im Internet nach Tickets für Auftritte des in Ehren ergrauten »King of the Blues«, B.B. King. Es sollten die letzten Auftritte der Blues-Legende in Europa sein. Danach wollte sich der über achtzig Jahre alte B.B. in seiner Heimat, den USA, zur Ruhe setzen. Freddys erste Berührung mit dem Blues waren die Platten des alten Meisters. Diese hatte ihm schon sein Vater vorgespielt. Er sah es als absolutes Muss an, bei den letzten Auftritten seines Ur-Idols dabei zu sein. So kaufte er für sich, Elke und seine Kumpels die besten Karten. Aber was eigentlich seine Aufmerksamkeit erregte war, dass aus diesem Anlass handsignierte Gitarren des großen Meisters verkauft wurden. Es handelte sich um eine streng limitierte Auflage von wunderschönen halbakustischen Gibson-Gitarren, die natürlich alle nach B.B. Kings legendärer Gitarre namens Lucille benannt waren.

Den Preis hierfür verriet Freddy nicht. Er war exorbitant hoch, was Freddy egal war. Er hatte nach all den Ausgaben für das Haus genügend Geld übrig. Die Nachfrage war größer als die verfügbaren Gitarren. Freddy musste mit seinem Kaufersuchen an einer Verlosung teilnehmen. Nach einer kurzen Zeit des Zitterns erhielt er glücklicherweise den Zuschlag und das gute Stück wurde geliefert, kurz bevor sie B.B. Kings letzten Auftritt besuchten. Am Ende des Konzerts hatte Freddy auch noch das Glück eines der original gespielten Plektren des großen Meisters zu ergattern. Diese verteilte B.B. zum Abschluss immer gönnerhaft am Bühnenrand ans Publikum. Ja, er schaute Freddy dabei freundlich lächelnd an und Freddy meinte hinterher sogar, ein »God bless ya« vernommen zu haben.

Das Plektrum wurde eingerahmt und erhielt einen Ehrenplatz im Wohnzimmer. Der Gitarre wurde ein besonderer Platz im Probenraum zugewiesen. Da Freddy allenfalls ein paar Grundakkorde darauf spielen konnte, saß er oftmals nur bewundernd davor, unfähig seinen Blick abzuwenden. Die Gitarre war sein persönlicher Schatz, der heilige Gral für ihn. Elke hielt dies für übertrieben, akzeptierte es aber.

Bei Proben durfte Ulli das kostbare Stück spielen, aber erst nachdem er Freddy versichert hatte, damit pfleglich und nicht so rau wie mit seiner eigenen Gitarre umzugehen. Oftmals passierte es, dass Freddy aus dem Takt geriet, weil er nur auf den Klang von Lucille achtete.

Für Ulli war es etwas Besonderes, auf dem Instrument zu spielen. Er versuchte Freddy zu überreden, die Gitarre zu den Auftritten der Band mitzunehmen. Es sei viel zu schade, dem Publikum einen solchen Sound und eine solche Optik vorzuenthalten. Freddy war damit nicht einverstanden. Das Instrument habe seinen Platz in seinem Haus und sonst nirgendwo. Es sei zu riskant, die Gitarre irgendwelchen grölenden, stinkenden Massen, und damit meinte er das Publikum, wie Ulli verwundert feststellte, auszusetzen. Das Risiko, dass die Gitarre Schaden nehmen könnte, sei ihm einfach zu groß. Ulli akzeptierte es widerwillig. Zudem hatte Freddy seinen Jungs das Versprechen abgenommen, niemand anderem von der Gitarre zu erzählen. Die Gastmusiker und Sängerinnen schloss er damit ein. Wenn mit diesen geprobt wurde, versteckte Freddy Lucille. Die Heimlichtuerei fanden die restlichen Blues Bandits merkwürdig. Der Stimmung in der Band tat dies alles keinen Abbruch.

Freddy war auf dem Höhepunkt. Alles lief bestens.

Dann jedoch kam es zu einem Ereignis, das Freddys heile Welt gehörig ins Wanken und schließlich zum Einsturz brachte.

Eines Freitagabends hatten sich Freddy und Ulli zur Blues-Session in Bochum verabredet. Da sie an diesem Wochenende keinen Gig hatten, beschlossen sie, zur Abwechslung mal wieder mit anderen Musikerkollegen und -kolleginnen zu jammen. Als Elke und Freddy in Bochum eintrafen, war von Ulli jedoch nichts zu sehen. Achselzuckend nahm Freddy dies zur Kenntnis. Da die Session von anderen Musikern gut besucht war, hatte er die Qual der Wahl, mit wem er denn spielen sollte. Auch Mike und Bogdan waren da und kamen ebenfalls zu Kurzeinsätzen. Gegen ein Uhr nachts endete die Veranstaltung. Entspannt und zufrieden machten sich Freddy und Elke auf den Weg nach Hause.

Als sie dort eintrafen, merkten sie, dass etwas nicht stimmte. Das Gartentor stand offen und sie konnten sich nicht erinnern, es nicht geschlossen zu haben. Die Haustür war wie gewohnt verschlossen, sodass sie sich zunächst nichts weiter dabei dachten.

Im Korridor erwartete sie das Chaos. Die Mäntel und Jacken, die an der Garderobe gehangen hatten, lagen wild verstreut herum. Es war eingebrochen worden. Im Wohnzimmer fehlte der riesengroße Fernseher, den sie sich gegönnt hatten. Schubladen standen offen und waren durchsucht worden. Die Küche war übersät von zerschlagenem Geschirr, Besteck lag überall herum. Alle Schränke waren durchsucht worden. Elke entfuhren gleich mehrere hysterische Schreie, vor allem nachdem sie das durchwühlte Schlafzimmer entdeckt hatte. Entsetzt musste sie feststellen, dass fast ihr gesamter Schmuck und die Pelzjacke, die Freddy ihr geschenkt hatte, gestohlen worden waren.

Noch unter dem Eindruck des ersten Schocks stellten sie sich zunächst nicht die Frage, wie die Einbrecher überhaupt hinein gelangt waren. Elke alarmierte per Handy die Polizei, während Freddy fassungslos dastand.

Dann durchfuhr es ihn wie ein Blitz. Die Täter mussten durch die Hintertür zum Probenraum hineingekommen sein. Oh Gott, was war mit Lucille?

Wie gehetzt rannte er in den Keller. Seine schlimmsten Befürchtungen bestätigten sich. Der Probenraum war fast restlos leer geräumt. Bogdans Schlagzeug war verschwunden, die Verstärkeranlage fehlte, der Bassverstärker war weg. Aber das Schlimmste war: Der Platz, an dem Lucille gestanden hatte, war leer!

Freddy wurde schwarz vor Augen. Er musste sich dort, wo er stand, auf den Boden setzen, sonst hätte er sich nicht auf den Beinen halten können. Elke stürzte kurz darauf hinein und erkannte die ganze Tragik der Situation auf den ersten Blick Während sie Freddy tröstend in den Arm nahm, bemerkte sie etwas Ungewöhnliches. Ullis Gitarrenverstärker stand noch an seinem Platz. Auch das Effektgerät war noch angeschlossen. Diese Gegenstände strahlten eine Gleichgültigkeit gegenüber dem umliegenden Chaos aus, die Elke wütend machte.

Kurz darauf traf die Polizei ein. Mit routinierter Gelassenheit nahmen sie die Anzeige auf. Als Erstes untersuchten sie die aufgebrochene Hintertür. Sie war mir roher Gewalt aufgestemmt worden. Freddy hatte dies zunächst gar nicht zur Kenntnis genommen, er war immer noch wie versteinert, während Elke den Polizisten aufgeregt mitteilte, was alles entwendet worden war.

Freddy kam langsam zu sich und sah sich um. Bogdan würde wahrscheinlich einen Nervenzusammenbruch erleiden, wenn er erfuhr, dass sein Schlagzeug weg war. Mike hatte seinen Verstärker für die Bluesharp glücklicherweise zur Session mitgenommen. Dass auch zwei seiner Gesangsmikrofone abhandengekommen waren, war zu verkraften.

Der Verlust seiner Verstärkeranlage war für Freddy ärgerlich, aber nicht allzu tragisch. Im Gegensatz zu Lucille war diese ersetzbar.

Dann bemerkte er Ullis Verstärker. Wieso hatten die Diebe ihn stehen lassen? Waren sie gestört worden? Darauf deutete nichts hin. In der Nachbarschaft schien niemand den Einbruch bemerkt zu haben.

Ulli! Er war nicht zur Session erschienen, obwohl sie sich verabredet hatten.