Ende in Sicht - Ronja von Rönne - E-Book
SONDERANGEBOT

Ende in Sicht E-Book

Ronja von Rönne

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Von all den guten Gründen zu sterben, und von all den viel besseren, am Leben zu bleiben.« Hella, 69, will sterben. In der Schweiz, in einem Krankenhaus. Also macht sie sich auf den Weg. Diese letzte Fahrt wird ihr alter Passat schon noch schaffen. Doch kaum auf der Autobahn, fällt etwas Schweres vor ihr auf die Straße. Juli, 15, wollte sich von der Autobahnbrücke in den Tod stürzen. Jetzt ist sie nur leicht verletzt – und steigt zu Hella in den Wagen. Zwei Frauen mit dem Wunsch zu sterben – doch wollen sie zusammen noch, was ihnen einzeln als letzte Möglichkeit erschien? Tieftraurig, elegant und lakonisch erzählt Ronja von Rönne von zwei Frauen, denen der Tod als letzter Ausweg erscheint: ein unvorhersehbares, dramatisches, unangemessen komisches Lesevergnügen. »Wenn Ronja von Rönne mal wieder sterben will, ruft sie entweder mich an – oder schreibt ein großartiges Buch. Jetzt habe ich schon länger nichts von ihr gehört.« Benjamin von Stuckrad-Barre »Das wollte ich doch sagen, Benjamin!« Martin Suter

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 245

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ronja von Rönne

Ende in Sicht

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Für Martin, ohne den ich dieses Buch nicht angefangen hätte, und Ben, ohne den ich es nicht beendet hätte.

»Will the circle be unbroken

By and by, Lord, by and by

There’s a better home a-waiting

In the sky, Lord, in the sky«

 

– Ada R. Habershon & Charles H. Gabriel

FALLWILD

Juli war nicht tot. Zumindest noch nicht. Es regnete, und sie ärgerte sich. Regen war das Einzige, was sie nicht eingeplant hatte. Ihre Softshelljacke hielt, entgegen wilden Versprechungen des Herstellers, dem Wetter nicht stand. Sie zitterte vor Kälte. Wenn es wenigstens ein peitschender Regen wäre, einer, der jene große Entscheidung, die sie für den heutigen Tag getroffen hatte, durch seine Unbarmherzigkeit und Wildheit nur unterstrich. Aber statt Pathos: Nieselregen. Kein undurchdringbarer, wütender Sturm, stattdessen: ein Sprühregen wie der, der im Lebensmittelladen Zucchini und Paprika frisch hielt. Eine Wetterlage, bei der sich ihr Vorhaben seltsam lächerlich anfühlte. Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Augen und ließ das kleine, gestreifte Schneckenhaus zwischen Daumen und Zeigefinger kreisen. Unter ihr spiegelten sich die Scheinwerferlichter der Autos auf der nassen Fahrbahn.

Keiner schaute hoch zu ihr.

 

Dabei war die Brücke, an deren Geländer sie stand, durchaus einen Blick wert. Es handelte sich um eine sogenannte Grünbrücke, grasbewachsen und breit gebaut, damit Rehe und Wildschweine nicht der A33 zum Opfer fielen, sondern die Straße sicher überqueren konnten. Eine Konstruktion, durch die Wild nicht zu »Fallwild« wird, also nicht durch »nicht jagdliche Einwirkungen«, in diesem Falle unter den Rädern des Feierabendverkehrs, verenden sollte. Wenn Juli ein Reh gewesen wäre, hätte sie diese Grünbrücke sicher dankbar und mit Kusshand überquert. Aber Juli war kein Reh. Und Juli plante keine Überquerung. Ganz im Gegenteil: Juli plante, in wenigen Minuten und mit voller Absicht selbst zu Fallwild zu werden.

 

Julis Entschluss war, so wie jede Entscheidung in ihrem Leben, keine spontane Idee. Sie war ja nicht blöd. Andere Fünfzehnjährige mochten, getrieben von irgendwelchen Hormonen oder dem Mangel davon, frierend auf Autobahnbrücken enden. Juli stand hier, weil hier zu stehen die einzige logische Konsequenz aller Optionen bedeutete. Nervös drehte sie das Schneckenhaus zwischen ihren Fingern. Aus Gewohnheit fischte sie ihr Handy aus der Jackentasche, doch der Regen benetzte das Display. Ihr Telefon erkannte sie nicht mehr, zu dunkel war es mittlerweile. Juli konnte es ihm nicht verübeln. Sie war sich, genauso wie ihr iPhone, mittlerweile selbst nicht mehr ganz sicher, ob sie wirklich Juli war.

Kein Wunder, dachte sie wütend, während sie auf dem regennassen Display verzweifelt den eventuellen Todestag ihres Haustieres, ein dicker Hamster, dessen Namen sie längst vergessen hatte, als PIN ausprobierte. Doch ihr Telefon verweigerte weiterhin stoisch jeglichen Zugang, kein Wunder, dass die künstliche Intelligenz uns bald überholen würde. Juli steckte das Telefon schließlich in die hintere Hosentasche. Eh egal.

Sie blickte wieder hinab auf den Verkehr. Unter ihr fuhren Menschen ihrem Feierabend entgegen, dachte Juli, heim zu ihren Familien, um dort Kinder ins Bett zu bringen oder mit dem Partner zu schlafen, weil es wieder Donnerstag war, oder um sich auf der Couch liegend in Kommentarspalten des Internets mit Unbekannten zu streiten. Ein Reisebus fuhr unter ihr vorbei. Vielleicht saßen darin ihre Mitschüler auf dem Weg nach Prag. Doch die mussten schon weiter weg sein, wahrscheinlich schon in Thüringen oder Sachsen. Ohne sie.

Für eine Sekunde erschien ihr ihr Vorhaben völlig wahnsinnig, nichts in der Welt hielt sie schließlich davon ab, nach Hause zu gehen und genau wie alle anderen das zu erledigen, mit dem sich Menschen, egal in welcher Altersgruppe, primär beschäftigen: sich erst sorgen und dann trotzdem weitermachen. Um sich selbst, kranke Eltern, Hausaufgaben oder Freunde, die nicht zurückschreiben. Normale Dinge eben: im Kopf peinliche, längst vergangene Konversationen wieder und wieder abspielen und sich schlagfertige Antworten überlegen, die sich längst nicht mehr lohnen. An den nächsten Urlaub denken. Die nächste Klassenarbeit, den nächsten Elternabend. Einfache, alltägliche Sachen. Einen neuen Handyvertrag abschließen. Einen Liebesbrief schreiben und dann doch nicht abschicken. Den Hund füttern. Schlechtes Gewissen beruhigen. Rumwohnen. Katzenstreu online shoppen. Irgendwann Zähne putzen und ins Bett, warten auf den Schlaf. Um sich dann, endlich, keine Sorgen mehr zu machen, zumindest bis zum nächsten Morgen.

Jetzt, wo sie im Halbdunkel nicht mal ein Eichhörnchen erblickte, erschien Juli ihr Vorhaben längst nicht mehr so mutig und entschieden wie noch in der Nacht, den vielen, vielen Nächten davor. Die Realität war immer echt gut darin, die Stimmung zu versauen. Aber nun war es zu spät. Ihr Vater wähnte sie im Bus nach Prag, ihre Klassenlehrerin bedauerte derweil Julis akute Halsentzündung. Im Gegensatz zu ihren Mitschülern war sie deutlich früher an ihrem Ziel angekommen, zwar nicht in Prag, zwar nicht kulturell interessant, aber immerhin im Niemandsland der erfolgreichen Lügen. Nur hätte sie sich diese große Freiheit deutlich trockener vorgestellt.

Sie blickte hinter sich. Aber da war immer noch kein Reh, nicht einmal ein Eichhörnchen. Kein Wunder, denn die meisten millionenschweren Bemühungen von Wildbrücken-Architekten verzeichneten im ersten Jahr statistisch drei Feldhasen und kein Reh. Obwohl sie es sonst immer so schätzte, wenn alles genau ihren Erwartungen entsprach, wünschte sie sich gerade nichts mehr als eine Überraschung, andere würden vielleicht sagen: ein Zeichen. Es musste ja gar kein scheues Reh sein, ein dicker Feldhamster hätte auch gereicht. Aber da war nichts. Juli fror, sah nach unten und spielte weiter mit dem Schneckenhaus in ihrer Hand.

SEKUNDENSCHLAF

Hella schreckte hoch, zum ungefähr achten Mal, seit sie sich heute hinter das Steuer gesetzt hatte. Sie kurbelte unwirsch das Fenster ihres VW Passat herunter und hoffte, der kalte Fahrtwind möge sie zumindest kurzfristig etwas wacher machen. Es half wenig. Sie hatte noch mindestens neun Stunden Fahrt vor sich, falls ihr Wagen durchhielt, worauf sie sich nicht verlassen konnte. Dazu hatte es angefangen zu nieseln und die viel zu alten Scheibenwischerblätter des Passat scheiterten wiederholt bei dem verzweifelten Versuch, trotz der wenigen Regentropfen etwas Klarheit zu verschaffen.

 

Das gelbe Ortsschild von Ibbenbüren hatte sie kurz vor sieben hinter sich gelassen, genau wie das etwas kleinere, mittlerweile rostige Emailleschild darunter, das jedem Touristen etwas zu selbstbewusst Ibbenbüren als »Das Hoch im Münsterland« anpries. Hella verließ den Großraum Osnabrück in diesem Jahr zum zweiten Mal, verwendete aber viel Energie darauf, den ersten Ausflug zu verdrängen. Denn wenn ein Oldie wie sie zu irgendwas in der Lage sein sollte, dann ja wohl zum Vergessen. Trotzdem stellte sich bei ihr keine schusselige Vergesslichkeit ein, im Gegenteil. Die Schmach ihres letzten Auftrittes hatte sich tief eingebrannt. Ein großer Getränkehersteller wollte mit dem Zeitgeist mithalten und hatte auf einer Streuobstwiese seine neue Biolimonade vorgestellt. Das »Festival« hatte seine Besucher dazu eingeladen, »bei guter Musik und einem Gläschen Birnenlimo« selbst Obst zu pflücken. Die wenigen jungen Menschen, die eingetrudelt waren, schauten lieber auf ihr Handy als auf die Bühne, wo Hella sich anfangs jede Mühe um die Gunst des Publikums gab. Irgendwann winkte die Organisatorin des Festivals schließlich Hella von der Bühne, dankte ihr wenig glaubhaft für ihre »Performance« und merkte an, dass die Zielgruppe vielleicht einfach zu jung für eine Hella Licht sei.

Die Scham grub sich noch heute, viele Monate später, immer mal wieder, zurück an die Oberfläche des Bewusstseins, und Hella musste sich jedes Mal unwillkürlich schütteln.

Natürlich wusste Hella, dass es durchaus auch mal Abende gegeben hatte, an denen sie leicht beschwipst und glücklich oder sehr beschwipst und glücklich oder stark betrunken und zumindest so etwas Ähnliches wie glücklich gewesen war. Nur schienen diese Augenblicke nicht so klare Spuren hinterlassen zu haben, sie verschwammen wie Fußabdrücke am Strand bei der nächsten Welle.

Die Momente der Scham, des Selbsthasses allerdings waren sich zu gut für kindische Sandabdrücke und bauten unzerstörbare Betonburgen. Und von denen hatte Hella jetzt genug. Deshalb hatte sie den Auftritt in zwei Wochen zugesagt, die Hälfte der Gage sich bereits auszahlen lassen, ohne je geplant zu haben, dort tatsächlich aufzutauchen. BILLIGMOEBEL24 feierte die Eröffnung seiner ersten Offline-Filiale. Schon Wochen vorher hatte ein TV-Sternchen, das sich zuvor als Nacktmodel einen Namen gemacht hatte, in den Werbeblöcken sämtlicher Lokalsender versprochen: »BILLIGMOEBEL24, der einzige Laden, der noch billiger ist als ich!« und dann jedes Mal nervtötend gelacht. Die Nummer der Veranstalter hatte sie unter »Nicht rangehen!!!« eingespeichert, und wenn sie doch aus Versehen mal abhob, versicherte sie stets, sich sehr auf den Auftritt zu freuen.

 

Die Zeit kroch dahin, lange Autofahrten hatte Hella noch nie gemocht. Zu abwechslungsarm, zu viel Zeit zum Nachdenken. Im Geiste ging sie erneut den vergangenen Nachmittag durch. Sie hatte Papiere, einige Fotos und Klamotten in einen alten Koffer gepackt und, in einer ihr selbst befremdlichen Manier, sogar noch den Geschirrspüler eingeräumt und angestellt. Darüber hinaus hatte sie noch einen Brief an alle Nachbarn verfasst, am Computer, nach mehreren Versuchen erfolgreich ausgedruckt und außen mit Tesafilm an ihre Wohnungstür geklebt:

Liebe Nachbarn,

macht euch keine Sorgen! Ich bin nicht tot, nur für eine Zeit lang unterwegs. Ich hab den Müll runtergebracht, wenn es jetzt stinkt, sind es wahrscheinlich, wie ich schon seit JAHREN (!!!!!) der Hausverwaltung sage: Mäuse in den Wänden!

Hella Licht

Die letzten sechzig Minuten hatte sie hauptsächlich damit verbracht, in einem inneren Streitgespräch mit sich selbst auszuhandeln, ob es sich lohnen würde, auf der Strecke ein Motel zu finden, um sich am nächsten Morgen etwas wacher hinter das Steuer zu setzen. Dagegen sprach, dass die meisten Hotels am Rande von Autobahnen beklemmend und lieblos eingerichtet waren. Ihr wurde schon übel bei der Aussicht auf eine durchgelegene Matratze mit Flecken, deren Herkunft man erahnen konnte, aber nicht wollte. Dann doch lieber Geld und Ärger sparen, die Hände vom Lenkrad nehmen und zusehen, wie der Wagen bei 120 km/h mit der Leitplanke verschmolz. Das ersparte auch ein langsames Dahinsiechen in einem asbestverseuchten, deprimierenden Altersheim, in dem man mit Bridge, Tierdokus und Fernsehratesendungen die Zeit verplempern musste.

 

Andererseits: Hella war durchaus bewusst, dass eine Leitplanke definitiv keine sichere »Du kommst aus dem Gefängnis frei«-Karte war. Und im Gegensatz zu Leitplanken versprach die Schweiz einen deutlich glamouröseren Abgang. Auf den Zufall konnte sie sich, je älter sie wurde, immer weniger verlassen. Früher präsentierte sich der Zufall gern als Chance, warf glitzernde Möglichkeiten wie Konfetti durch ihr Leben. Es schien, als sei der Zufall mit ihr gealtert: Zufälligerweise hatten Ärzte keine Sprechstunde, wenn Hella gerade krank war, zufälligerweise war keine Milch mehr da, wenn sie sich gerade einen Kaffee gemacht hatte, zufälligerweise streikte ihr Computer immer dann, wenn sie ihn dringend brauchte. Hella warf einen Blick in den Rückspiegel, der ungeschickt beziehungsweise gar nicht justiert war, und erschrak vor ihrem eigenen Anblick. Das Beste, dachte sie so leise wie möglich, denn der Gedanke war ihr vor ihr selbst peinlich, das Beste war, dass sie in der Schweiz zwei Termine hatte: einen zum Sterben und einen einige Stunden davor: zum Schminken und Frisieren.

Für eine Pause allerdings sprach, dass eine fast Siebzigjährige, die verlässlich alle Viertelstunde einnickte, nicht nur eine Bedrohung für sich selbst war. Im ungünstigsten Fall würde sie achtzehnjährige Fahranfänger namens Malte mit in den Tod reißen. Maltes, die so gar nichts dafür konnten und die doch noch ein ganzes Leben vor sich hatten. Mit einem Mal schien eine Nacht in einem Motel mit dem Namen »Relax Hotel Kraftwerk Brackwede Süd« ein erträglicher Kompromiss. Hella tastete mit der linken Hand in dem Fach der Fahrertür nach ihrer E-Zigarette. Sie zog daran und hustete eine Wolke weißen Rauch mit Piña-colada-Geschmack in den Innenraum des Wagens. Der Dampf vernebelte kurz ihre Sicht, sie fuchtelte mit den Händen vor sich in der Luft herum, irgendjemand hupte, erschrocken verzog sich der Qualm aus dem offenen Fahrerfenster in die anbrechende Nacht. Du liebes Lottchen, dachte Hella, so weit ist es mit mir schon gekommen, so weit, und trotzdem noch neun Stunden.

DÄMMERUNG

Die Welt ist, solange man sie mit der Erde gleichsetzt, ziemlich berechenbar: Sie ist der dichteste, fünftgrößte und der Sonne drittnächste Planet des Sonnensystems. Vor allem aber ist sie, zumindest wenn man Wikipedia vertraut, Ursprungsort und Heimat aller bekannten Lebensformen, und zu denen zählten an diesem Abend auch Juli und Hella.

 

Einer Studie nach, von der weder Hella noch Juli eine Ahnung hatte, war es wissenschaftlich erwiesen, dass jeder Mensch auf dieser Erde jeden anderen Bewohner des Planeten über höchstens sechs Ecken kennt. Ein Beispiel: Juli erinnerte sich daran, wie sie, nachdem sie in der sechsten Klasse im landesweiten Vorlesewettbewerb knapp verloren hatte, enttäuscht die Hand des Ministerpräsidenten geschüttelt hatte. Dieser wiederum kannte die Kanzlerin, diese wiederum war mit dem amerikanischen Präsidenten per Du. Juli kannte also irgendwie das Staatsoberhaupt der USA. Und mit einer hohen Wahrscheinlichkeit war davon auszugehen, dass auch Hella und Juli sich über verschlungene Umwege kennen mussten. Doch weder Juli noch Hella glaubten daran, dass ihre Begegnung irgendeine größere, schicksalsschwangere Bedeutung hatte, als sich ihre Wege einige Sekunden später unter einer Wildbrücke kreuzten.

 

Auf genau diese steuerte Hella geradewegs zu. Sie griff die Chipstüte auf dem Beifahrersitz und versuchte sie mit einer Hand zu öffnen. Als das nicht klappte, steuerte sie mit dem Knie. Der Passat wankte bedenklich und zog leicht nach links über den Mittelstreifen gen Überholspur, was zwar die anderen Autofahrer entsetzt aufhupen ließ, die Chipstüte aber nicht im Geringsten beeindruckte.

Hella gab auf und warf die Tüte entnervt in den Fußraum des Beifahrersitzes, wo schon eine Socke, zwei leere Coladosen und eine dreckige Jogginghose eine Zwangsgemeinschaft bildeten. Auch ihr Klapphandy lag dort, seitdem Hella entsetzt festgestellt hatte, dass Handys aus dem letzten Jahrzehnt nicht über so etwas wie Google Maps verfügten. Es war, wie immer eigentlich, alles gegen sie. Selbst die Zeit machte gerade, was sie wollte.

Es dämmerte bereits, dabei war es doch erst Anfang September und sie nicht mal am Bielefelder Kreuz. Bestimmt war irgendwo auch schon Weihnachtsmarkt, und bevor man sichs versah, standen in irgendeinem Edeka mit hoher Wahrscheinlichkeit goldverpackte Osterhasen an der Kasse.

Hella hatte sich immer etwas neben der Zeit empfunden, mit zwanzig hatte sie sich erwachsen gefühlt, und als sie vierzig war, hatte sie erstaunt festgestellt, dass sie ihr Leben immer noch nicht im Griff hatte.

 

Mit zunehmendem Alter schienen die Jahre immer schneller zu vergehen, obwohl sie viel weniger erlebte. Die guten Jahre waren einfach verflogen, und alles, was ihr davon blieb, war ein zusammengematschtes Timelapse-Video, lose Trümmerstücke ihrer Erinnerungen, mit einem Spritzer Nostalgie garniert. Und darin auf kaleidoskopartigen Gruppenbildern so viele fremde Gesichter, von denen sie sicher war, dass sie zu irgendeinem Zeitpunkt in ihrem Leben wichtig gewesen waren. Doch sobald sie sich an einen kurzen Augenblick klammerte (sie auf der Bühne; sie in den Armen von Fans; sie am Küchentisch vor einem randvollen Aschenbecher) und versuchte, sich die Situation zu vergegenwärtigen, schienen sich irgendwelche Neuronen in ihrem Hirn kurzzuschließen. Neue Bilder überlagerten die alten, versuchten einen Kontext herzustellen, den es nicht gab, und am Ende blieb Hella erschöpft und alleine mit zusammenhanglosen Bildern zurück. Ihr Metier war immer die Gegenwart gewesen, vorausschauend zu handeln fiel ihr seit jeher sehr schwer.

Schlechte Angewohnheiten, das hatte Hella mittlerweile zumindest theoretisch begriffen, gediehen besonders gut, wenn man eine Zeit lang erfolgreich damit gefahren war. Das galt für ihre Nikotinabhängigkeit, die sie mit fünfundzwanzig und Zigarettenspitze noch verwegen hatte aussehen lassen, genauso wie für ihre notorische Unpünktlichkeit, ihre Unbekümmertheit und ihre Weigerung, für irgendjemanden Verantwortung zu übernehmen, sich selbst eingeschlossen.

 

Hellas Augenlider wurden schwer, das sanfte Prasseln des Regens auf der Windschutzscheibe lullte sie ein. Müdigkeit breitete sich trügerisch wohlig in ihrem Körper aus. Alles fühlte sich wunderbar schwer an, wie es diverse rezeptfreie Baldrianpräparate und Meditationsübungen ihr zwar immer versprochen, aber nie eingehalten hatten. Das Problem war – wie so oft – lediglich der Zeitpunkt. Die Müdigkeit war so penetrant, ein offenes Fenster mit Frischluftzufuhr reichte nicht mehr. Hella blieb nichts anderes übrig, als auf einen Rastplatz zu hoffen. Ansonsten blieb nur der Pannenstreifen. Doch die Metapher auf ihr Leben war selbst Hella zu simpel. Also weiter. Blaue Schilder rechts, kalte Luft von links. Die schwachen Abblendlichter des Passat, die Eintönigkeit der Autobahn, Hellas Sehschwäche und der verdammte Rastplatz, alle hatten sich gegen sie verschworen.

HALTLOS

Bevor Juli fiel, fiel das Schneckenhaus. Ihr war selbst nicht klar, warum sie es noch in der Hand gehalten hatte, als sie über das Geländer kletterte. Es war ihr aus der linken Hand gerutscht und es war vielleicht ein einfacher Reflex gewesen, mit der rechten, die sie noch am so sicheren Geländer hielt, nach dem Schneckenhaus zu greifen. Ein dummer, instinktiver Griff ins Nichts, und bevor Juli irgendwas verstand, fiel auch sie. Im Fallen war sie entsetzt, selbst ihr ehemals so fester Entschluss zu sterben ließ sie in diesem Sekundenbruchteil im Stich. Sie hatte immer gelesen, dass kurz vor dem Tod das ganze Leben an ihr vorbeiziehen würde, wie ein großes Theater, sozusagen ein Best-of, bevor für immer das Licht ausging. Doch da kam nichts und im nächsten Moment schlug sie schon hart auf dem nassen Asphalt der Autobahn auf.

 

Einen Moment lag sie einfach da, unfähig, sich zu bewegen. Nichts war schwarz geworden, da war nur dieser dumpfe Schmerz im Bein und ihrem Unterarm. Mit der linken Hand strich Juli über den Asphalt, verwundert, wie uneben die von oben so glatt wirkende Straße war. Kleine, harte Hügel unter ihren Fingerspitzen. Und ein Stück entfernt: unscharfe Lichter, die sich schnell näherten. Gleich kommt ein Wagen, dann ist es wirklich, wirklich vorbei, dachte Juli, schloss die Augen und wartete. Gleich würde es endlich dunkel. Gleich. Nur ein paar letzte Atemzüge. Doch statt dunkel wurde es laut, und ein weißer Passat kam kreischend vor ihr zum Stehen.

 

Hella stürzte aus dem Auto mit einer Geschwindigkeit und Agilität, die sie sich selbst nie zugetraut hätte. Sie war sogar ein wenig stolz, daran gedacht zu haben, auf dem Standstreifen zu parken und die Warnblinkanlage zu aktivieren. Instinktiv packte sie den Körper des Teenagers, der da vor ihr lag, unter den Achseln und zerrte ihn mit aller Kraft zum grasbewachsenen Rand der Autobahn. Während ein paar Sattelschlepper mit osteuropäischen Kennzeichen an den beiden vorbeidonnerten, stand Hella unbewegt da, starrte außer Atem auf dieses sich kaum regende Mädchen unter ihr. Als Erstes fiel ihr die gerissene Jacke auf, unter der ein schwarzer Kapuzenpullover zu erkennen war, der sich zu Hellas Erleichterung schnell hob und senkte.

Hella ging in die Knie und berührte die Schulter des Mädchens, nicht zu fest, und rüttelte leicht. »He, kannst du mich hören?«

Juli stöhnte leise auf und zog die Knie an. Ihre linke Hand tastete nach ihrem Unterschenkel. Ihre Jeans war an dieser Stelle zerrissen, das Schienbein darunter: ein Schlachtfeld. Sie stöhnte erneut auf und versuchte, auf ihr Bein zu deuten.

Hella zog ihre Strickjacke aus und bettete Julis Kopf darauf, dann hastete sie zum Auto und suchte nach ihrem Mobiltelefon, um einen Notruf abzusetzen. Im Fond war es dunkel. Panisch suchte Hella den Fußraum des Beifahrersitzes ab, ertastete schließlich das Gerät und angelte es mit den Fingerspitzen heraus. Das Display war schwarz, der Akku leer. Auch das Handy war gegen Hella. Ab jetzt waren ihre Handlungsoptionen relativ limitiert: entweder da sein, so richtig, mit Helfen und Verantwortung und allem – oder, das zumindest schien immerhin noch machbar: flüchten! Sich hinter das Lenkrad setzen und einfach davonfahren, weiter gegen den Sekundenschlaf kämpfen, statt sich mit dem leise wimmernden Chaos auf dem Pannenstreifen auseinanderzusetzen.

 

Hella wollte nicht helfen. Sich um andere zu kümmern war noch nie ihr Ding gewesen, sie hatte ja schließlich mehr als genug mit sich selbst zu tun. Erst die blöde Chipstüte, dann so was, dachte sie, nie kann mal irgendwas reibungslos funktionieren. Gleich darauf schämte sie sich für den schlechten Vergleich. Sie war müde, und sie wusste nicht, was sie tun sollte. Es war schließlich nicht ihre Schuld, dass Teenager gerade dann vom Himmel fielen, wenn sie selbst auf dem Weg dorthin war. Sie hörte das Mädchen leise wimmern und sah sich panisch um. Entlang des Autobahnabschnitts war, vor allem bei diesen Lichtverhältnissen, nirgendwo ein Notfalltelefon zu erkennen. Fahr einfach weiter, schoss es ihr durch den Kopf, jemand anders wird sicher anhalten. Und morgen erinnerst du dich vielleicht gar nicht mehr daran. Aber dieses Mal konnte der Fluchtinstinkt sie nicht überzeugen. Erstens, weil diese Jugendliche offensichtlich dringend ärztlich versorgt werden musste, und zweitens, nun ja, weil sie nicht als schlechte reißerische Schlagzeile enden wollte:

»Ex-Popstar Hella Licht überfährt Teenager.«

Oder, noch schlimmer, wenn dem bekifften Boulevardvolontär ihr Name nicht mal mehr ein Begriff war:

»War es Demenz? Alte Frau begeht Fahrerflucht, Teenager tot.«

Hella schauderte es. Nee. Das galt es um jeden Preis zu vermeiden.

 

Juli dachte währenddessen gar nichts. Die Schwärze, nach der sie sich gesehnt hatte, hatte sich nicht eingestellt. Der Asphalt neben ihr war lediglich genauso grau wie der Himmel von Nordrhein-Westfalen über ihr. Und dann waren da die Geräusche der Autos, die vorbeizogen, als wäre nichts, als wäre gar nichts, bis auf die kleine Ausnahme, dass eben doch was war. Autos wie Menschen: immer das gleiche Spiel. Da passte es auch gut ins Bild, dass sie noch am Leben war. Zu allem Überfluss knuffte eine alte Frau sie immer wieder vorsichtig an der Schulter und rief dabei zunehmend lauter: »HALLO! HAAALLO! HALLO!«

 

Das Gegenteil vom Tod, schoss es Juli durch den schmerzenden Kopf, war genau das: von einer Fremden angestupst zu werden und von einer hysterischen Stimme angeschrien zu werden. Hellas panische »HALLO«s und »HÖRSTDUMICH«s erinnerten sie an die Animateure in einem All-inclusive-Ferienklub in der Türkei, in dem sie vor Jahren mit ihrem Vater zum ersten und letzten Mal Urlaub gemacht hatte. Aber genau wie damals wollte sie an keiner Zaubershow teilnehmen, sie wollte nicht in der Kinderdisco tanzen oder Tennis spielen, sie wollte, damals wie heute, schlicht in Ruhe gelassen werden.

Neben den pochenden Schmerzen breitete sich eine unendliche Erschöpfung in ihrem Körper aus. Erschöpfung, was für ein Quatsch, dachte Juli, ich liege hier doch nur so rum. Ihr Kopf fiel nach links, und immer wieder sah Juli, was sie hatte vermeiden wollen, nämlich Dinge und Farben und am schlimmsten: eine Person. Es ärgerte sie, dass sich ihre Augen trotz ihrer genauen Planung weigerten, sich endlich hinter müden Lidern für langfristige Dunkelheit zu entscheiden. Stattdessen blendete sie das Licht der Autos. Und über ihr diese Frau, die sie anstarrte.

 

Kurz war Juli erstaunt darüber, dass ein Schatten eine so unangenehm hysterische Stimme besaß, dann war ihr alles wieder angenehm egal. Unbeteiligt beobachtete sie den Schatten, der sich von ihr weg zum Auto bewegte. Sie hob den Kopf leicht an und sah die ältere Frau im Kofferraum herumwühlen. Was für eine komische Vorstellung, dachte Juli, dass man im Leben anderer Menschen meistens nur eine Nebenrolle spielt. Anscheinend hatte sie gerade die Hauptrolle bekommen. Ihr tat alles weh, ihr Plan war so gründlich schiefgelaufen. Und so ließ sie ihren Kopf mit einem lauten Stöhnen wieder nach links kippen.

 

Hella hingegen war diese einsetzende Wirklichkeit gerade viel zu viel und gönnte ihr keine Pause. Ihr Plan war Ruhe gewesen, nicht plötzlich panisch nach einem Erste-Hilfe-Koffer zu suchen, was in Anbetracht der von ihr im Kofferraum über die Jahre liebevoll herangezüchteten Unordnung durchaus eine herausfordernde Aufgabe darstellte. Unzählige Plastiktüten, deren Inhalt sie nicht mal erahnen wollte, ihr ausgestopfter Dackel, Fast-Food-Verpackungen. Alles, nur kein Erste-Hilfe-Koffer. Beziehungsweise fast alles, denn ein Warndreieck konnte sie in dem Verhau des Kombis auch nicht ausfindig machen. Falls sie so vernünftige Anschaffungen überhaupt jemals besessen hatte, waren sie verlässlich unter Schichten von schimmeliger Vergangenheit begraben. So tief, dass das stöhnende Mädchen auf dem Grünstreifen hinter ihr wohl eher an Altersschwäche sterben würde, bevor sie Verbandszeug oder das rote Behelfsverkehrszeichen gefunden hätte. Hella versuchte fieberhaft, sich an ihren letzten Erste-Hilfe-Kurs zu erinnern, der mindestens dreißig Jahre zurücklag. Doch alles, was davon geblieben war, waren sie, die auf dem Brustkorb einer Puppe herumdrückte, und das rote Lämpchen, was stoisch feststellte, dass sie dabei keinen sonderlich guten Job machte.

Ratlos starrte sie in den Kofferraum. Mittlerweile antik anmutende Essensreste schimmelten in Alufolie vor sich hin. Die silbern blitzende Folie erinnerte Hella an etwas, was sie mal gelernt haben musste: Unfallopfer musste man unter allen Umständen wärmen. Rettungsdecke, genau, so hieß das. Kurz, aber wirklich nur sehr kurz, erwog sie die Option, das Unfallopfer mit alten Döner-Alufolien zuzudecken. Sie wühlte weiter, und siehe da – unter einem DDR-Straßenatlas fand sie tatsächlich den Rettungskoffer, der sich nach einigem Bemühen öffnen ließ und ein Päckchen mit einer silbernen Rettungsdecke enthielt.

 

Julis Gesicht fühlte sich plötzlich sehr warm an. Als sie mit der linken Hand nach ihrer Stirn tastete, spürte sie etwas Nasses auf ihrer Wange. Verwundert bemerkte sie das Blut auf ihrer Hand und der Schmerz in ihrem linken Bein schien schlimmer zu werden. Dazu gesellte sich ein altbekanntes Gefühl: Scham. Nicht mal Sterben bekam sie hin, und anstatt endlich Ruhe zu haben vor allem, was wehtat, musste sie irgendwann auch noch auf die panische Frau reagieren, die versuchte, einen Beipackzettel aus dem Koffer zu entziffern.

Hella gab entnervt auf und beschloss, ihrem gesunden Menschenverstand zu vertrauen. So kompliziert konnte die Anwendung einer Aludecke nicht sein. Sie riss die Packung auf und entblätterte auf dem Weg zu Juli das dünne Aluminium. Während sie die Decke um den schmalen Körper wickelte, fielen ihr die Worte ihres Fahrlehrers von vor hundert Jahren ein: stabile Seitenlage. Also bugsierte sie den leise vor sich hin wimmernden Alu-Wrap auf die Seite.

Hella kniete sich zu Boden und betrachtete das Gesicht unter ihr zum ersten Mal genauer. Ein rundes Mädchengesicht, das sie ungeschminkt und verstört anstarrte. Und auf ihrer Wange eine blutende Platzwunde.

»Kannst du aufstehen?«, fragte Hella in das Mondgesicht auf dem Asphalt.

»Ugh«, stöhnte das Gesicht zurück und sah dabei sehr jung aus.

»Du hast doch sicher ein Handy. Soll ich jemanden für dich anrufen?«, fragte Hella.

Juli antwortete nicht. Sie hatte Hellas Frage gehört, aber statt über ihr Handy nachzudenken, ließ sie ihren Blick in Richtung Himmel schweifen. Juli ahnte, dass die Frau, die da über ihr hing, sich Sorgen machte, aus irgendeinem Grund, vielleicht Zivilcourage, vielleicht Empathie, egal. Ihre linke Wange fühlte sich klebrig an. Auf dem Pannenstreifen einer Autobahn liegen, das Gesicht voller Blut: Das war etwas, was anderen Leuten passierte. Etwas, von dem man in den Lokalnachrichten hörte. Was für eine absurde Idee, dass es sich dabei dieses Mal um sie selbst handelte.

 

Es ist ein großes Missverständnis, dass Schock zu Klarheit führt. Juli hatte keinen Moment der Klarheit, stattdessen sah sie die Sterne über sich und wunderte sich über die alten Griechen, die genau wie sie vor Jahrhunderten in einen ähnlichen Himmel gestarrt haben mussten. Im Gegensatz zu Juli allerdings hatten die alten Griechen höchstwahrscheinlich in dem Moment, als sie die blitzenden Himmelslichter bewunderten, nicht voller Selbsthass darüber nachgedacht, warum sie sich nicht von einer höheren Brücke gestürzt hatten, sondern stattdessen die Astronomie erfunden. Aber Juli war gerade nicht in der Lage, eine neue Wissenschaft ins Leben zu rufen, geschweige denn einen klaren Satz zu formulieren.

 

Die Dame über ihr bombardierte sie mittlerweile mit Fragen. Wie sie hieße. Wo ihr Handy sei. Und ob sie aufstehen könne. Ob sie wisse, wie man eine Rettungsdecke richtig verwendet. Sie würde sie jetzt ins Krankenhaus bringen.

Nein, wollte Juli sagen, nein zu alldem, aber als Hella ihre Hand griff, ließ sich Juli hochziehen, bis sie, etwas wackelig, stand. Der Schmerz im Bein pochte noch stärker, wenn sie auftrat, und so humpelte Juli, gestützt von Hella und zu müde für jeden Protest, zur Beifahrertür des Passat. Einen letzten Blick warf sie auf die Autobahn und sah eine weiße Kalkspur neben dem Mittelstreifen: die Scherben ihres Schneckenhauses, das im Gegensatz zu ihr einem Achtzehntonner zum Opfer gefallen war.

Kraftlos ließ sich Juli auf den Sitz fallen. Hella dachte sogar daran, das fremde Mädchen anzuschnallen, dann setzte sie sich ans Steuer und startete den Wagen. Sie hielt, mittlerweile hellwach, nach der nächsten Ausfahrt Ausschau. Es war still im Wagen. Immer wieder tastete Hella in der linken Tür nach alten Servietten, und als sie eine zu fassen bekam, reichte sie diese an Juli.

»Fest draufdrücken«, und bei ihren Worten deutete Hella auf die Platzwunde in Julis Gesicht. »Nicht, dass du mir die Sitze vollblutest.« Juli folgte stumm der Anweisung.

Um die Stille zu vertreiben und das Kind neben ihr von seinen Schmerzen abzulenken, schaltete Hella irgendwann sogar das verhasste digitale Autoradio an, das sie sich vor Jahren hatte aufschwatzen lassen und dessen Bedienung sie bis heute nicht wirklich begriff, und suchte nach einem Sender, der Juli gefallen könnte.

 

»Und gleich spielen wir das geheimnisvolle Geräusch für unsere Lieblingshörer und Hörerinnen! Siebenhundert Euro sind im Jackpot, ruft an unter der 0800 93939393.«

 

Kurz verstummte das Radio, dann ertönte ein helles »PLING«, und der Moderator peitschte die Zuhörer unbarmherzig weiter durch sein Abendprogramm: »Und in genau zwei Minuten heißt es aufgepasst, da spielen wir euch das Geräusch noch mal. Aber jetzt erst mal unser nächster Hit aus den 80ern: Falco mit »Out of the Dark«. Das hier ist 98,6 FM, euer Rock- und Popsender.«

 

Hella blickte kurz auf den von ihr abgewandten Rücken auf dem Beifahrersitz und sagte: »Wenn du mich fragst, ist das ’ne Mikrowelle.«

Das Mädchen antwortete nicht. Vielleicht hatte sie Hella nicht verstanden? Vielleicht konnte sie nicht gut Deutsch? Sehr langsam und laut fragte Hella: »Ist dir mal aufgefallen, dass sich das Geräusch von Mikrowellen seit den Siebzigern nicht mehr verändert hat?«

Juli fragte sich mittlerweile, ob ihre Fahrerin wohl dement war, und antwortete vorsichtshalber nicht.

Hella ließ sich nicht entmutigen, hob den linken Arm an und imitierte das Summen einer Mikrowelle: