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Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. »Das Blaue mit den weißen Wölkchen, das wäre hübsch für die beiden Jungen«, sagte Gusti eifrig. Sie war das älteste und treueste der auf Gut Schoeneich beschäftigten Hausmädchen. »Für Nick und für Henrik, meinen Sie? Ach, denen ist es doch völlig egal, wie das Bettzeug beschaffen ist, in dem sie schlafen«, stellte Denise von Schoenecker lachend fest. Sie kannte ihre beiden Söhne in- und auswendig, den hoch aufgeschossenen sechzehnjährigen Dominik aus ihrer ersten Ehe und den um sieben Jahre jüngeren Henrik. Obwohl die beiden lediglich Halbbrüder waren und ein verhältnismäßig großer Altersunterschied zwischen ihnen bestand, waren sie sich in vielen Dingen völlig einig. Sie legten wenig Wert auf Äußerlichkeiten, und was ihre Bettwäsche betraf, die konnte weiß, grün, lila und bunt gesprenkelt sein, sie würden es nicht einmal bemerken. »Außerdem brauchen wir das Bettzeug für die Quartiere der bei uns untergebrachten Arbeitskräfte«, fuhr Denise fort. »Und denen ist das Bettzeug erst recht egal«, sagte Gusti. »Hauptsache, die Decken sind warm und die Kissen weich.« »Stimmt«, pflichtete Denise der Hausangestellten bei. Sie schlug den Versandhauskatalog, in dem sie geblättert hatte, zu und erhob sich von der lederbezogenen Polsterbank. »Ich denke, am vernünftigsten wäre es, wenn Sie nach Maibach fahren und alles Nötige besorgen. Sie wissen ja, wie viel Meter wir brauchen. Sagen Sie Hermann, dass er Sie fahren soll, denn Ihr Einkauf wird ein ganz schönes Gewicht haben.«
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Seitenzahl: 155
Veröffentlichungsjahr: 2020
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»Das Blaue mit den weißen Wölkchen, das wäre hübsch für die beiden Jungen«, sagte Gusti eifrig. Sie war das älteste und treueste der auf Gut Schoeneich beschäftigten Hausmädchen.
»Für Nick und für Henrik, meinen Sie? Ach, denen ist es doch völlig egal, wie das Bettzeug beschaffen ist, in dem sie schlafen«, stellte Denise von Schoenecker lachend fest. Sie kannte ihre beiden Söhne in- und auswendig, den hoch aufgeschossenen sechzehnjährigen Dominik aus ihrer ersten Ehe und den um sieben Jahre jüngeren Henrik.
Obwohl die beiden lediglich Halbbrüder waren und ein verhältnismäßig großer Altersunterschied zwischen ihnen bestand, waren sie sich in vielen Dingen völlig einig. Sie legten wenig Wert auf Äußerlichkeiten, und was ihre Bettwäsche betraf, die konnte weiß, grün, lila und bunt gesprenkelt sein, sie würden es nicht einmal bemerken. »Außerdem brauchen wir das Bettzeug für die Quartiere der bei uns untergebrachten Arbeitskräfte«, fuhr Denise fort.
»Und denen ist das Bettzeug erst recht egal«, sagte Gusti. »Hauptsache, die Decken sind warm und die Kissen weich.«
»Stimmt«, pflichtete Denise der Hausangestellten bei. Sie schlug den Versandhauskatalog, in dem sie geblättert hatte, zu und erhob sich von der lederbezogenen Polsterbank. »Ich denke, am vernünftigsten wäre es, wenn Sie nach Maibach fahren und alles Nötige besorgen. Sie wissen ja, wie viel Meter wir brauchen. Sagen Sie Hermann, dass er Sie fahren soll, denn Ihr Einkauf wird ein ganz schönes Gewicht haben.«
Gusti nickte. »Und soll ich Frau Keim anrufen?«, erkundigte sie sich noch. »Damit sie herkommt und die Überzüge näht? Oder haben Sie jemand anderen für die Arbeit, Frau von Schoenecker?«
»Nein. Ich bin mit unserer Hausschneiderin sehr zufrieden«, erwiderte die Gutsherrin. »Sie arbeitet flink und sauber. Vergessen Sie nicht, auch Nähfaden und Wäscheknöpfe zu besorgen.«
Gusti nickte abermals und wollte sich entfernen, hielt jedoch nach wenigen Schritten inne und schaute den Mann, der soeben aus seinem Arbeitszimmer in die Halle getreten war, verwundert an.
Alexander von Schoenecker war groß und schlank. In seinen dunklen Augen lag stets ein ruhiger und zuversichtlicher Ausdruck. Doch heute wirkte sein schmales sonnengebräuntes Gesicht anders als sonst. Es war angespannt, eine steile Falte stand auf der Stirn.
»Ich habe soeben mit dem Krankenhaus telefoniert«, sagte der Gutsbesitzer zu seiner Frau. »Er ist tot. Seinen schweren inneren Verletzungen erlegen. Die Ärzte konnten ihm nicht mehr helfen.«
»Oh.« Mehr wusste Denise nicht zu sagen. Sie schluckte. »Mach dir um Himmels willen keine Vorwürfe, Alexander«, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu, da sie ahnte, was in ihrem Mann vorging. »Dich trifft keinerlei Schuld an dem Unfall. Der Mann hatte einen Führerschein. Nicht nur für Traktoren und Pkw, sondern sogar für Lastautos und Autobusse. Man konnte ihm ohne Weiteres zutrauen, dass er mit dem Traktor in den Lärchenwald fährt, ohne umzukippen. Es war …, es war eben ein besonderes Unheil, dass er die Herrschaft über das Fahrzeug verloren hat, umkippte und von der schweren Maschine begraben wurde.«
»Ein besonderes Unheil?«, wiederholte Alexander mit merkwürdiger Stimme und schüttelte den Kopf. »O nein. Der Oberarzt im Krankenhaus, Dr. Frank, teilte mir mit, dass der Janka 1,5 Promille im Blut hatte – Alkohol! Er hatte getrunken. Weißt du, was das bedeutet, Isi? In seinem angeheiterten Zustand war er gar nicht fähig, die schwere Zugmaschine durch das unebene Gelände des Lärchenwaldes zu lenken!«
Denise schwieg, dafür ergriff Gusti das Wort. »Regen Sie sich doch nicht so auf, Herr von Schoenecker«, sagte sie begütigend. »Dass der Janka ein Trinker war, da können Sie doch nichts dafür.«
»Sie wussten also über ihn Bescheid!«, herrschte Alexander die Angestellte an.
Gusti wich erschrocken zurück. »Hab ich was falsch gemacht?«, fragte sie ängstlich.
Alexander seufzte. Er merkte, dass er sich gegenüber der Frau im Ton vergriffen hatte. Gusti war schon seit vielen Jahren auf Gut Schoeneich tätig, sie gehörte beinahe schon zur Familie. Er strich sich über die Stirn. »Entschuldigen Sie, Gusti«, sagte er. »Ich wollte Sie nicht anfahren. Sie sind ja ebenfalls schuldlos an dem Geschehen. Ich bin allerdings verärgert, weil mir niemand über den Janka reinen Wein eingeschenkt hat. Gestern, unmittelbar nach dem Unglück, sprach ich mit den übrigen Holzarbeitern. Und das Erste, womit der Reinold herausplatzte, war: Tja, wahrscheinlich war der Janka wieder einmal besoffen. Die anderen nickten zustimmend. Offenbar wussten alle über Herrn Jankas Trunksucht Bescheid. Nur ich nicht. Ich begreife nicht, warum mich niemand gewarnt hat!«
»Ich glaube, die anderen Arbeiter hatten Mitleid mit dem Janka«, meinte Gusti.
»So? Beliebt scheint er aber bei ihnen nicht gewesen zu sein. Über den Unfall zeigten sich alle betroffen, doch wirklich erschüttert war keiner.«
»Vielleicht dachten die Leute, dass man den Verletzten im Krankenhaus schon wieder zusammenflicken würde«, warf Denise ein.
»Kann sein«, ließ sich Gusti vernehmen. »Allerdings – ich fürchte, sie mochten ihn nicht besonders. Man soll ja den Toten nichts Schlechtes nachsagen …, aber … Also, beliebt war der Janka wirklich nicht. Dazu hat er sich von den anderen zu sehr abgekapselt. Er wohnte ja nicht einmal bei uns, sondern beim Grabner-Bauern. Das hat bei den übrigen Arbeitern teilweise böses Blut verursacht. Zufällig kam ich einmal dazu, wie der Reinold den Janka hänselte und ihm vorwarf, er – der Janka nämlich – würde sich für was Besseres halten und sich punkto Quartier eine Extrawurst braten. Beinahe wären sie sich gegenseitig an die Gurgel gefahren.«
Denise machte große Augen. »Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr«, bekannte sie. »Vorhin sagten Sie, die Leute hätten Mitleid mit Herrn Janka gehabt und aus diesem Grund seine Vorliebe für Alkohol vor meinem Mann geheim gehalten.«
»Ja, das stimmt«, räumte Gusti ein. »Einerseits hatten sie Mitleid mit ihm, andererseits konnten sie ihn nicht leiden. Aber heutzutage, wo die Arbeitsplätze so rar sind, da halten die Leute eben zusammen. Niemand wollte schuld daran sein, dass der Janka seine Arbeit verlor.«
»Es wäre für ihn besser gewesen, die Arbeit zu verlieren als das Leben«, sagte Alexander.
»Ja, gewiss«, gab Gusti zu. »Aber wer rechnet denn schon mit dem Schlimmsten? Sinnlos betrunken hat sich der Janka ja meines Wissens nie. Die anderen Arbeiter munkelten, dass er zu Mittag mit zwei Bier begann, zur Brotzeit auf Wein umsattelte, na ja, und gegen Abend, wenn es kühler wurde, da trat dann die Schnapsflasche in Aktion.«
»Schrecklich!«, entfuhr es Alexander. »Ich will Sie ja nicht tadeln, Gusti, aber Sie hätten mich von diesen Dingen längst in Kenntnis setzen müssen.«
Die Hausangestellte senkte den Kopf und zupfte verlegen an ihrer blütenweißen Schürze herum.
»Du tust Gusti unrecht«, meinte Denise entschuldigend. »Versetz dich in ihre Lage. Sie gehört zum Personal und schnappt dadurch Dinge auf, die uns verborgen bleiben. Wenn sie uns alles tratschen würde, würde ihr erstens bald niemand mehr etwas Vertrauliches erzählen, und zweitens würden die Arbeiter sie schneiden.«
Gusti warf ihrer Arbeitgeberin einen dankbaren Blick zu. »Sie sind so klug, Frau von Schoenecker«, murmelte sie. »Sie kennen sich im Leben aus.«
»Nun, jedenfalls muss ich mit dem Reinold und seinen Kollegen ein ernstes Wort reden«, beschloss Alexander. »Es geht nicht an, dass unter den Holzarbeitern die Schnapsflasche kreist.«
»Das tut sie bestimmt nicht!«, rief Gusti. »Zumindest nicht während der Arbeit. Die Männer sind alle in Ordnung. Der Janka hat vielleicht auch nur getrunken, weil er mit seinen Problemen nicht zurande kam. Irgendjemand erwähnte einmal, dass seine Frau ihn verlassen hätte. Ich weiß nicht, ob daran was Wahres ist. Er soll ja auch ein Kind haben, das hab ich aber nie zu Gesicht bekommen.«
»Ein Kind?«, fragte Denise bestürzt.
»Ja. Es existiert da ein Kind, ein Mädchen«, bestätigte Alexander. »Ich habe die Kleine ebenfalls nie gesehen. Als Herr Janka sich bei mir um eine Anstellung bewarb, hatte er bereits beim Grabner-Bauern eine Unterkunft gefunden. Das Kind wohnt in dem Bauernhof und wird angeblich von der Bäuerin versorgt.« Der Gutsbesitzer zog seine dunklen Brauen nachdenklich zusammen.
»Wir müssen uns um das Kind kümmern!«, rief Denise.
»Ja. Das dachte ich eben auch. Den Vater können wir nicht wieder lebendig machen, aber für die Tochter können wir sorgen. Doch dafür bist du zuständig, Isi.«
»Wenn Sie die Kleine in Sophienlust unterbringen, macht sie einen Haupttreffer. Dort hat sie es bestimmt gut. Wahrscheinlich besser, als sie es bei ihrem Vater gehabt hat«, sagte Gusti, bevor sie endgültig die Halle verließ, um ihre Einkaufsfahrt nach Maibach anzutreten.
Denise blickte der treuen Angestellten schmunzelnd nach.
»Es ist zum Haare ausraufen«, knurrte Alexander. »Die Leute halten zusammen wie Pech und Schwefel. Und du …, du lächelst.«
»Verzeih, Alex.« Denise trat auf ihren Mann zu und legte ihre Arme um seinen Hals. »Ich fühlte mich einen Moment lang geschmeichelt durch Gustis lobende Worte über Sophienlust. Aber das bedeutet nicht, dass ich deine Sorgen nicht begreife, oder dass ich sie missachte. Du leihst mir immer ein mitfühlendes Ohr, wenn ich Probleme mit dem Kinderheim oder mit einem meiner Schutzbefohlenen habe. Glaub mir, Alexander, ich verstehe, dass du außer dir bist, und dass dir der Unfalltod von einem deiner Leute nahegeht. Aber du musst dir klarmachen, dass dich keinerlei Schuld daran trifft. Du konntest ja nicht ahnen, dass dieser Mann Alkoholiker war.«
»Ich hätte misstrauischer sein sollen, als ich ihn einstellte«, sagte der Gutsbesitzer.
»Wieso misstrauischer? Seine Papiere waren doch in Ordnung, oder etwa nicht?«
»Ja, sie waren in Ordnung. Es hätte mich aber stutzig machen müssen, dass er in den letzten beiden Jahren seinen Arbeitsplatz sehr häufig gewechselt hatte. Ich wunderte mich noch, dass er es nie lange an einem Ort ausgehalten hatte, aber ich dachte mir nichts Schlimmes dabei. Noch dazu, nachdem er erwähnte, dass seine Frau ihn verlassen hätte. Ich nahm an, dass hierin der Grund für seine Unrast lag. In Wirklichkeit hat er seine diversen Stellen wohl nicht ganz freiwillig verlassen, doch in seinen Zeugnissen stand kein Wort von Trunksucht.«
»Tja, es ist eben üblich, den Arbeitnehmern bei der Entlassung nur gute Zeugnisse auszustellen. Sonst wären sie ja wertlos. Herr Janka hätte dir bestimmt kein Zeugnis vorgelegt, aus dem zu entnehmen gewesen wäre, dass er dem Alkohol frönte.«
»Damit hast du selbstverständlich recht. Mir bleibt nun nichts anderes übrig, als darauf zu achten, dass Herrn Jankas Beispiel bei den anderen Arbeitern nicht Schule macht.«
»Das wird es nicht«, versicherte Denise. »Selbst falls sie in Versuchung gekommen sind, ihn nachzuahmen – sein Tod war sicher ein heilsamer Schock für sie.«
»Damit hast du wiederum recht! Dann ist da noch das Kind. Wir müssen Schritte unternehmen, um die Mutter ausfindig zu machen. Bist du anderer Meinung?«, setzte Alexander fragend hinzu, denn Denise hatte leicht die Stirn gerunzelt.
»Hm – ja, wir müssen es wenigstens versuchen. Aber, ehrlich gesagt, ich halte nicht viel von einer Frau, die ihr Kind einem Trinker überlässt. Es mag ja eingebildet klingen, aber ich muss Gusti beipflichten. In Sophienlust ist das Kind bestimmt gut aufgehoben.«
Bei diesen Worten löste sich Alexanders Verkrampfung, nun schmunzelte auch er. »Du bist alles andere als eingebildet, Isi«, erklärte er und strich seiner Frau zärtlich über ihr dunkles Haar. »Dabei hättest du alle Ursache dazu. Du kannst stolz auf die Leistung sein, die du vollbracht hast.«
»Du hast mich in meinem Wirken stets unterstützt«, sagte Denise leise. Sie war ein wenig errötet, wie immer, wenn Alexander sie lobte.
Der Gutsbesitzer blickte seiner Frau liebevoll in ihre dunklen Augen. Denise war eine sehr attraktive Frau, aber noch viel mehr zählte, dass sie ein wirklich guter Mensch war. Es war ihr gelungen, den ehemals herrschaftlichen Besitz, der an Gut Schoeneich angrenzte, zu dem zu machen, was er jetzt war – nämlich ein Zufluchtsort für einsame, vernachlässigte oder sonst wie vom Schicksal benachteiligte Kinder. Dominik von Wellentin-Schoenecker, Denises Sohn aus erster Ehe, hatte das alte Herrenhaus und die dazugehörigen Parkanlagen von seiner Urgroßmutter geerbt, mit der Auflage, dass daraus ein Kinderheim entstehen sollte. Dominik war noch minderjährig, seine Mutter hatte für ihn den Plan seiner Urgroßmutter in die Wirklichkeit umgesetzt. Bis zu Nicks Volljährigkeit würde sie Sophienlust noch verwalten, das stand fest. Alexander aber wusste, dass sie auch später weiterhin ihrer Lebensaufgabe treu bleiben würde. Auch wenn Nick das Heim eines Tages übernahm, würde Denise ihm zur Seite stehen. Sie setzte sich stets mit voller Kraft für die Kinder ein, die ihr anvertraut waren.
»Dass ich dich in deinen Bemühungen um Sophienlust unterstütze, ist eine Selbstverständlichkeit«, stellte Alexander ruhig fest. »Ich weiß ja, wie viel dir das Kinderheim bedeutet und wie wichtig deine Aufgabe ist. Du hast schon oft einem verstoßenen, verschüchterten kleinen Menschen Zuflucht gewährt und ihm damit die Möglichkeit gegeben, sich frei zu entfalten.« Er hielt inne und furchte erneut die Stirn.
Denise konnte seine Überlegungen unschwer erraten. »Du denkst an das Kind des Verunglückten«, sagte sie leise. »Mach dir darüber keine Sorgen. Ich werde gleich zum Grabnerhof fahren und die Kleine holen. Dabei werde ich ihr schonend beibringen müssen, dass sie ihren Vater verloren hat.« Die Gutsherrin stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie hatte den toten Holzarbeiter kaum gekannt, er hatte ja nur kurze Zeit auf dem Gut gearbeitet. Dass er eine mutterlose Tochter hinterließ, hatte sie erst heute erfahren. »Das Mädchen ist jetzt praktisch eine Vollwaise«, murmelte sie. »Eine Vollwaise, die ganz allein auf der Welt steht.«
»Vielleicht siehst du die Dinge zu schwarz«, meinte Alexander. »Vielleicht existieren nahe Verwandte, die das Kind mit Freuden bei sich aufnehmen. Oder die Mutter ist nicht ganz so schlecht, wie du argwöhnst.«
Denise zuckte mit den Schultern. »Es hat wenig Sinn, lange herumzureden und Mutmaßungen anzustellen«, erklärte sie. »Ich werde das Kind vorerst einmal nach Sophienlust bringen. Danach können wir in aller Ruhe beratschlagen, wie es weitergehen soll.«
Alexander nickte zustimmend.
*
Der Hof des Grabner-Bauern lag nicht allzu weit von Gut Schoeneich entfernt. Zu Fuß war er über einen schmalen Waldweg zu erreichen. Denise hatte sich jedoch für ihren Wagen entschieden. Sie musste das Ortszentrum mit der Kirche, den Läden und der Volksschule passieren, bevor sie zu einer Schotterstraße gelangte, die direkt zu dem Bauernhof führte.
Das lang gestreckte, weiß getünchte Haus mit dem roten Ziegeldach lag still und friedlich im warmen Sonnenschein. Denise parkte ihren Wagen auf dem schmalen Asphaltstreifen vor dem Eingang, stieg aus und läutete. Es dauerte eine Weile, bis die schwere Haustür sich öffnete.
»Ah, Sie sind es, Frau von Schoenecker!« Die Bäuerin, eine mollige junge Frau mit einem runden Gesicht und sanften blauen Augen, lächelte etwas zaghaft.
»Ich komme wegen des Kindes. Da fällt mir ein – ich weiß nicht einmal, wie es heißt.«
»Annabel. Sie heißt Annabel. Äh …, ich nehme an, Sie meinen die Kleine vom Janka. Ist er …, wie geht es ihm? Mein Mann hat mir von dem Unfall erzählt. Die Geschichte hat sich ja wie ein Lauffeuer im ganzen Ort ausgebreitet. Angeblich soll er ja schon am Vormittag getrunken haben. Dass er am Abend oft stockbesoffen war, also, davon kann ich ein Lied singen. Ein merkwürdiger Mensch. Wie er sich bei uns eingemietet hat, war er mir ja ganz sympathisch, aber nach und nach entwickelte er Eigenschaften, die …«
»Herr Janka ist tot«, unterbrach Denise den Redestrom der Bäuerin.
»Oh!« Frau Grabner sah betreten zu Boden. »Na ja, einem Toten soll man nichts Schlechtes nachsagen«, setzte sie ihrem betroffenen Ausruf nach einer kurzen Pause hinzu.
Denise unterdrückte die naheliegende Frage, was es denn dem Holzarbeiter Schlechtes nachzusagen gäbe, und erklärte stattdessen: »Ich möchte das Kind in Sophienlust unterbringen.«
»Ja, das habe ich mir gedacht. Gleich, als ich Sie erkannte, hab ich mir das gedacht. Es ist ja für das arme Ding wirklich das Beste. Ich kann Annabel nicht behalten, jetzt, nachdem ihr Vater tot ist. Das wäre meinem Mann gar nicht recht. Wir haben ja schließlich drei eigene Kinder, und das vierte ist unterwegs. Mein Mann mag Annabel nicht, sie ist ihm zu brav und zu still. Ich wollte, meine drei wären manchmal so brav wie Annabel!«
»Es besteht für Sie keinerlei Grund, das Mädchen zu behalten«, bemerkte Denise trocken. »Annabel kommt nach Sophienlust. Dort kann sie bleiben, bis ich ihre Verwandten gefunden habe und auch länger, falls niemand sonst Anspruch auf sie erhebt.«
»Ich glaube nicht, dass Sie jemanden finden werden, der Annabel aufnimmt. Die Mutter dürfte zwar noch am Leben sein, aber das ist auch so ein Kapitel für sich. Annabel spricht nie von ihrer Mutter. Und der Janka – wenn der über seine Frau gesprochen hat, dann hat er nur geschimpft, über die Weiber im Allgemeinen und über seine Alte ganz speziell. Also, ehrlich gesagt, ich bin nicht besonders traurig, dass er tot ist. Manchmal hatte ich schon direkt Angst, dass der Janka auf meinen Mann abfärbt, und dass mein Peter genauso ekelhaft wird wie der Janka. Am liebsten hätte ich ihn ja vor die Tür gesetzt, auf das bisschen Miete, das er uns zahlte, war ich wirklich nicht angewiesen. Aber die Kleine, die Annabel, die hat mir leidgetan.« Unwillkürlich senkte die Frau die Stimme, obwohl außer der Gutsherrin niemand da war, der ihr zuhörte. »Der Janka hat die Kleine geschlagen«, flüsterte sie. »Ohne echten Grund. Die Annabel war ja nie schlimm. Aber sie brauchte bloß ein lautes Wort zu sagen, oder zur unrechten Zeit zu lachen, und schon langte ihr der Vater eine. Ich hätte ihn ja deswegen gern zur Rede gestellt, aber mein Mann hat es mir strikt verboten. Peter sagt, dass es nichts Dümmeres gibt, als sich in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen. Man bekommt damit nur Schwierigkeiten. Sagt Peter.«
Denise wurde allmählich ungeduldig. Die Ansichten des Grabner-Bauern interessierten sie herzlich wenig, sie wollte endlich das Kind sehen. Auf ihre diesbezügliche Frage schüttelte die Bäuerin jedoch den Kopf und rief: »Annabel ist nicht da. Ich habe sie wie jeden Morgen zur Schule geschickt. War das ein Fehler? Ich wusste ja nicht, dass Sie kommen würden, Frau von Schoenecker.«
»Nein, das konnten Sie nicht wissen«, bestätigte Denise. »Ich werde das Kind also von der Schule abholen. Wer ist ihr Lehrer?«
»Annabel hat eine Lehrerin, Frau Köstler. Soll ich Annabels Sachen gleich zusammenpacken? Viel zu packen gibt es da ja nicht, ich könnte in ein paar Minuten damit fertig sein. Möchten Sie einen Sprung hereinkommen und solange warten?«
»Nein, danke. Ich fahre lieber gleich zurück zur Schule. Annabels Sachen lasse ich später abholen«, meinte Denise und verabschiedete sich von der Bäuerin.
Auf der kurzen Fahrt zur Schule ging ihr einiges im Kopf herum. Sie fand es empörend, dass Annabel von ihrem Vater geschlagen worden war, und dass niemand diese Misshandlungen vereitelt hatte. Aber es war halt leider so, dass die meisten Leute davor zurückschrecken, sich einem hilflosen Kind zuliebe Schwierigkeiten einzuhandeln. Sie, Denise, war da aus einem ganz anderen Holz geschnitzt. Sie hatte noch nie gezögert, wenn es darum ging, ein Kind vor Ungerechtigkeiten zu bewahren.