Engel aus Eis - Camilla Läckberg - E-Book
SONDERANGEBOT

Engel aus Eis E-Book

Camilla Läckberg

0,0
8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 2,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das Dorf Fjällbacka ist alarmiert: Der pensionierte Geschichtslehrer Erik Frankel wurde ermordet. Der beliebte alte Mann war ein angesehener Spezialist für die NS-Zeit. Die Ermittlungen der schwedischen Polizei konzentrieren sich auf Neonazikreise. Doch Erica Falck vermutet das Motiv in Frankels Vergangenheit. Gemeinsam mit ihrer Mutter hatte er den Widerstand gegen die deutschen Besatzer unterstützt. Dunkle Jahre, über die Ericas Mutter nie gesprochen hat. Für Erica ist es an der Zeit, das große Geheimnis ihrer Mutter zu ergründen. Damit gerät sie ins Visier des Mörders.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 723

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Camilla Läckberg

ENGEL AUS EIS

Kriminalroman

Aus dem Schwedischenvon Katrin Frey

L i s t

Die Originalausgabe erschien 2007unter dem Titel Tyskungenbei Forum, Stockholm.

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wieetwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oderÜbertragung können zivil- oder strafrechtlichverfolgt werden.

List ist ein Verlag derUllstein Buchverlage GmbH

ISBN 978-3-471-92008-4

© 2007 by Camilla Läckberg © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Alle Rechte vorbehalten Satz und E-Book: LVD GmbH, Berlin

FürWille und Meja

In der Stille waren nur die Fliegen zu hören. Das Surren ihrer hektischen Flügelschläge. Der Mann auf dem Stuhl dagegen rührte sich nicht und hatte das auch schon seit geraumer Zeit nicht getan. Eigentlich war er gar kein Mann mehr, jedenfalls nicht, wenn man sich darunter jemanden vorstellte, der lebte, atmete und fühlte. Er war nur noch Nahrung. Eine Herberge für Insekten und Larven.

Fliegen in Massen umschwirrten die reglose Gestalt. Ab und zu ließen sie sich nieder. Kauwerkzeuge mahlten. Dann hoben die Insekten wieder ab und suchten surrend nach einem neuen Landeplatz. Sie tasteten sich vor und stießen zusammen. Rings um die Wunde am Kopf des Mannes war es besonders interessant. Der anfänglich metallische Blutgeruch war längst einem muffigeren und süßeren Duft gewichen.

Das Blut war geronnen. Zu Beginn war es am Hinterkopf hinuntergeflossen, über die Rückenlehne gelaufen und auf den Fußboden getropft, wo es sich schließlich in einer Lache gesammelt hatte. Zuerst war es rot. Da war es noch voller lebender Blutkörperchen. Dann war es schwarz geworden. Nun konnte man nicht mehr erkennen, dass es sich um die Flüssigkeit handelte, die in den Adern eines Menschen fließt. Es war nur noch eine klebrige dunkle Masse.

Einige Fliegen versuchten, ins Freie zu gelangen. Sie waren satt und zufrieden. Sie hatten ihre Eier gelegt. Die Kiefer hatten ihre Arbeit erledigt, und die Bäuche waren voll. Der Hunger war gestillt. Nun wollten sie hier raus. Sie schlugen mit den Flügeln an die Scheibe und bemühten sich vergeblich, die unsichtbare Barriere zu überwinden. Es klang wie leises Klopfen. Früher oder später gaben sie auf, weil sie wieder Hunger bekamen. Sie flogen dorthin, wo einst ein Mann gesessen hatte. Nun war nur noch totes Fleisch von ihm übrig.

Den ganzen Sommer war Erica um das Thema herumgeschlichen, das ihr ständig durch den Kopf ging. Sie hatte das Für und Wider gegeneinander abgewogen und sich auf den Weg zum Dachboden gemacht, war aber immer nur bis zur Treppe gekommen. Sie hätte sich damit rechtfertigen können, dass in den letzten Monaten viel los gewesen war. Die Nachwehen der Hochzeit, das Chaos zu Hause, als Anna und die Kinder noch bei ihnen wohnten. Doch das war nicht die ganze Wahrheit. Sie hatte einfach Angst. Vor dem, was sie vielleicht entdecken würde. Angst, etwas aufzuwühlen. Möglicherweise würden Dinge ans Licht kommen, von denen sie lieber nichts wusste.

Erica spürte, dass Patrik mehrmals kurz davor gewesen war, sie darauf anzusprechen. Er konnte nicht verstehen, warum sie die Bücher nicht las, die sie auf dem Dachboden gefunden hatten. Gefragt hatte er sie trotzdem nicht. Sie hätte auch keine Antwort gewusst. Am meisten Angst hatte sie wahrscheinlich, ihre Sicht der Dinge könnte sich als falsch herausstellen. Das Bild, das sie von ihrer Mutter und deren Verhalten den Töchtern gegenüber hatte, war nicht besonders positiv, aber immerhin hatte sie eins. Es war ihr vertraut und stand seit Jahren fest, wie eine unumstößliche Wahrheit. Vielleicht würde es bestätigt oder sogar noch deutlicher werden. Doch was, wenn es auf den Kopf gestellt würde? Wenn sie sich einer vollkommen neuen Wirklichkeit stellen müsste? Bis jetzt hatte ihr der Mut dazu gefehlt.

Erica betrat die erste Treppenstufe. Unten im Wohnzimmer brachte Patrik die kleine Maja zum Lachen. Diese Töne waren so beruhigend, dass sie noch einen Fuß auf die Treppe setzte. Noch fünf Schritte, dann war sie oben.

Als sie die Luke aufklappte und auf den Dachboden stieg, wirbelte Staub durch die Luft. Sie und Patrik wollten den Boden irgendwann in ferner Zukunft, wenn Maja älter war und sich ein bisschen Abgeschiedenheit wünschte, gemütlich einrichten, aber bislang gab es hier oben nur rohe Holzdielen und nackte Dachbalken. Der Raum war halbvoll mit Gerümpel. Weihnachtsbaumschmuck, Kinderklamotten, aus denen Maja herausgewachsen war, und diverse Kisten voller Krempel, der für die Wohnräume zu hässlich, aber zum Wegwerfen zu schade war.

Die Kiste stand hinten in der Ecke. Es war ein altes Modell aus Holz und Blech. Erica meinte sich zu erinnern, dass man diese Kisten Überseekoffer nannte. Sie setzte sich auf den Fußboden und strich sanft über den Deckel. Dann atmete sie tief durch, öffnete das Schloss und klappte die Kiste auf. Ein muffiger Geruch schlug ihr entgegen. Sie verzog das Gesicht und überlegte, woher dieser ganz bestimmte und schwere Geruch nach Alter rührte. Wahrscheinlich Schimmel, dachte sie und spürte sofort ein Jucken auf der Kopfhaut.

Sie erinnerte sich noch gut, wie sie und Patrik die Kiste gefunden und ihren Inhalt in Augenschein genommen hatten. Langsam hatte sie einen Gegenstand nach dem anderen herausgeholt. Die Zeichnungen von ihr und Anna. Kleine Dinge, die sie im Werkunterricht produziert hatten. Aufbewahrt von ihrer Mutter Elsy, die früher nie Interesse gezeigt hatte, wenn die Töchter ihr voller Begeisterung die liebevoll fabrizierten Geschenke überreichten. Nun machte Erica es wieder so. Sie nahm jedes Ding einzeln aus der Kiste und legte es neben sich auf den Fußboden. Der entscheidende Gegenstand lag ganz unten. Vorsichtig griff sie nach dem Stück Stoff. Das kleine Kinderhemd war einst weiß gewesen, aber bei Tageslicht besehen war es völlig vergilbt. Doch das war nicht alles. Erica konnte den Blick nicht von den braunen Flecken abwenden, die sie im ersten Moment für Rost gehalten hatte. Bis ihr klarwurde, dass es sich um eingetrocknetes Blut handelte. Der Kontrast zwischen dem zarten Hemd und den Blutflecken war irgendwie herzzerreißend. Wie war das Hemdchen hierher gelangt? Wem gehörte es? Und warum hatte ihre Mutter es aufbewahrt?

Behutsam legte Erica das Hemdchen neben sich. Als Patrik und sie es fanden, war ein Gegenstand darin eingewickelt gewesen, aber der befand sich nun nicht mehr in der Kiste. Ihn hatte sie als Einzigen herausgenommen. Das schmutzige Hemdchen hatte einen Naziorden umschlossen. Die Gefühle, die dessen Anblick im ersten Moment in ihr weckten, hatten sie überrascht. Ihr Herz schlug schneller, ihr Mund wurde trocken, und Bilder aus Wochenschauen und Dokumentarfilmen über den Zweiten Weltkrieg flackerten an ihrem inneren Auge vorüber. Was hatte ein Naziabzeichen hier in Fjällbacka zu suchen? In ihrem Haus, unter den Habseligkeiten ihrer Mutter? Das Ganze erschien ihr absurd. Am liebsten hätte sie das Abzeichen zurück in die Kiste gelegt und den Deckel wieder zugemacht, aber Patrik bestand darauf, dass sie es zu einem Sachverständigen brachten, um vielleicht mehr herauszufinden. Widerwillig hatte sie zugestimmt. Sie hatte das Gefühl, in ihrem Innern unheilverkündende Stimmen flüstern zu hören. Es hörte sich wie eine Warnung an. Irgendetwas sagte ihr, dass sie den Orden verstecken und vergessen sollte, doch ihre Neugier gewann die Oberhand. Anfang Juni hatte sie das Ding einem Fachmann für den Zweiten Weltkrieg übergeben, und mit etwas Glück würde sie bald mehr über seine Herkunft wissen.

Am meisten interessierten Erica jedoch die vier blauen Notizbücher ganz unten in der Kiste. Auf dem Buchdeckel die Handschrift ihrer Mutter. Es war ihre elegante, nach rechts geneigte Schrift, allerdings in einer jüngeren und bauchigeren Version. Nun nahm Erica sie heraus und strich mit dem Zeigefinger über das oberste. Auf allen stand »Tagebuch«. Das Wort weckte gemischte Gefühle in ihr. Neugier, Aufregung, Begeisterung. Aber auch Angst, Zweifel und die starke Empfindung, in die Privatsphäre eines anderen Menschen einzudringen. Durfte sie die Bücher überhaupt lesen? Hatte sie das Recht, an den intimsten Gedanken und Gefühlen ihrer Mutter teilzuhaben? Tagebücher waren im Allgemeinen nicht für fremde Augen gedacht. Ihre Mutter hatte sie nicht geschrieben, damit jemand anders von ihrem Inhalt erfuhr. Vielleicht wollte sie auf gar keinen Fall, dass ihre Tochter sie las. Doch Elsy war tot, und Erica konnte sie nicht mehr fragen. Sie war ganz auf sich gestellt und musste selbst entscheiden, wie sie sich verhalten sollte.

»Erica?« Patrik riss sie aus ihren Gedanken.

»Ja?«

»Die Gäste kommen!«

Erica sah auf die Uhr. War es etwa schon drei? Maja feierte heute ihren ersten Geburtstag, und die engsten Freunde und Verwandten waren eingeladen. Patrik musste denken, sie wäre hier oben eingeschlafen.

»Ich komme!« Sie klopfte sich den Staub von der Hose, nahm nach kurzem Zögern die Bücher und das Hemdchen mit und kletterte die steile Dachbodentreppe hinunter. Unten hörte sie Gemurmel.

»Willkommen!« Patrik ließ die Gäste herein. Es waren Johan und Elisabeth, die einen Sohn im selben Alter wie Maja hatten. Dieser Junge liebte Maja heiß und innig, doch ab und zu war er etwas zu stürmisch. Kaum hatte William Maja erblickt, raste er mit der Wucht eines Bulldozers auf sie zu und rempelte sie mit der Routine eines Spielers aus der National Hockey League um. Da Maja dieses Manöver zu seinem großen Erstaunen nicht recht zu würdigen wusste, mussten die Erwachsenen zu Hilfe eilen und den freudestrahlenden William von der heulenden Maja entfernen.

»Hör mal, Junge, so geht das nicht. Mit Mädchen muss man vorsichtig umgehen!« Johan blickte seinen verliebten Sprössling streng an und hielt ihn unter Einsatz seiner ganzen Körperkraft von einem erneuten Vorstoß ab.

»Seine Anbaggertechnik erinnert mich sehr an deine«, lachte Elisabeth, erntete jedoch einen gekränkten Blick von ihrem Ehemann.

»Steh auf, meine Süße, so schlimm war es nun auch wieder nicht.« Patrik hielt seine weinende Tochter im Arm, bis das Heulen in kleine stoßweise Schluchzer überging, und schob sie dann mit einem sanften Knuff in Williams Richtung. »Guck mal, was William mitgebracht hat. Ein Geschenk!«

Das Zauberwort zeigte die erwünschte Wirkung. Ernst und feierlich überreichte William Maja ein wunderschön verpacktes Geschenk, doch da bislang keiner von beiden den aufrechten Gang perfekt beherrschte, brachte William dabei die eigenen Füße durcheinander und fiel auf seinen gut gepolsterten Windelpopo. Doch als er Majas Strahlen beim Anblick des Päckchens sah, vergaß er seine Schmerzen.

»Oooh!« Aufgeregt zerrte Maja an den bunten Bändern. Nach kurzer Zeit verriet ihr Gesichtsausdruck heftige Frustration. Patrik eilte herbei und bot seine Hilfe an. Nachdem es ihnen mit vereinten Kräften gelungen war, die Verpackung zu entfernen, kam ein kuscheliger Elefant zum Vorschein. Der Erfolg stellte sich umgehend ein. Maja drückte das Schmusetier mit beiden Ärmchen fest an sich, stampfte vor Freude mit den Füßen und plumpste prompt ebenfalls auf den Hintern. Williams Versuch, den Elefant zu streicheln, beantwortete sie mit zornig schmollendem Blick und einer unmissverständlichen Geste, woraufhin ihr kleiner Bewunderer seine Anstrengungen verdoppelte. Beide Elternpaare ahnten, dass Ärger im Anmarsch war.

»Zeit für Kaffee und Kuchen.« Patrik nahm Maja auf den Arm und ging hinüber ins Wohnzimmer. William zottelte mit seinen Eltern hinterher. Nachdem der Junge vor die große Spielzeugkiste gesetzt worden war, herrschte zumindest vorübergehend Frieden.

»Hallo!« Erica kam die Treppe herunter und umarmte die Gäste. William tätschelte sie den Kopf.

»Wer möchte Kaffee?«, rief Patrik aus der Küche und bekam dreimal »Ich!« zu hören.

»Wie fühlt man sich denn als verheiratete Frau?« Lächelnd legte Johan seinen Arm um Elisabeth, die neben ihm auf dem Sofa saß.

»Danke der Nachfrage, ungefähr so wie immer. Abgesehen davon, dass Patrik mich die ganze Zeit sein Weib nennt. Habt ihr eine Idee, wie ich ihm das wieder abgewöhne?« Erica zwinkerte Elisabeth zu.

»Gib es auf. Irgendwann sagt er nicht mehr Weib, sondern Chefin zu dir. Noch kannst du dich also nicht beklagen. Wo ist eigentlich Anna?«

»Bei Dan. Sie wohnen schon zusammen …« Erica zog bedeutungsvoll die Augenbrauen hoch.

»Donnerwetter, das ging aber schnell!« Elisabeths Brauen wanderten ebenfalls nach oben. Guter Klatsch hatte oft diese Wirkung.

Als es an der Tür klingelte, sprang Erica auf. »Das sind sie bestimmt. Oder Kristina.« Beim letzten Namen klimperten nach jeder Silbe Eiswürfel in ihrer Stimme. Seit der Hochzeit war das Verhältnis zwischen Erica und ihrer Schwiegermutter noch frostiger geworden. Dieser Umstand beruhte größtenteils auf Kristinas nahezu hysterischer Kampagne gegen Patriks viermonatigen Erziehungsurlaub. Er wollte schließlich Karriere machen! Zum Verdruss der Schwiegermutter wich Patrik keinen Zoll von seinem Standpunkt ab. Im Herbst würde er sich um Maja kümmern.

»Na … wo steckt denn das Geburtstagskind?«, rief Anna aus dem Flur. Jedes Mal, wenn sie die fröhliche Stimme ihrer kleinen Schwester hörte, lief Erica ein wohliger Schauer über den Rücken. Nach all den schlimmen Jahren klang Anna endlich wieder stark, glücklich und verliebt.

Anfangs hatte Anna befürchtet, es könnte Erica stören, dass sie ausgerechnet mit Dan eine neue Beziehung anfing. Aber Erica hatte ihre Sorgen mit einem Lachen weggefegt. Sie und Dan waren schon seit Ewigkeiten nicht mehr zusammen, und selbst wenn ihr mulmig dabei gewesen wäre, hätte sie darüber hinweggesehen, weil sie sich so freute, dass ihre Schwester wieder glücklich war.

»Wo ist mein Liebling?« Der große, blonde und laute Dan sah sich suchend nach Maja um. Die beiden waren ganz besonders vernarrt ineinander. Wacklig, aber flink kam Maja mit ausgestreckten Armen angewatschelt. »Schenk?« Das Prinzip Geburtstag hatte sie ganz offensichtlich begriffen.

»Natürlich haben wir dir ein Geschenk mitgebracht, Süße.« Anna überreichte ihr ein großes rosa Paket mit silbernem Band. Maja stürzte sich aufs Neue in den Kampf mit der Verpackung. Diesmal wurde sie von Erica unterstützt. Gemeinsam zauberten sie eine Schlafaugenpuppe hervor.

»Puppe!« Glücklich umschlang Maja auch dieses Geschenk und wackelte auf William zu, um ihm ihre neueste Eroberung zu zeigen. Sicherheitshalber wiederholte sie »Puppe!«, bevor sie ihm die Kostbarkeit vor die Nase hielt.

Wieder klingelte es an der Tür. Einen winzigen Augenblick später trat Kristina ein. Erica knirschte mit den Zähnen. Diese Unart ihrer Schwiegermutter, nach einem kurzen symbolischen Klingeln einfach ins Haus zu marschieren, hasste sie von ganzem Herzen.

Noch einmal wurde die Geschenkprozedur wiederholt, doch diesmal blieb der Erfolg aus. Nachdenklich sah Maja unter den Unterhemden und dem zerrissenen Geschenkpapier nach, ob sie nicht doch irgendein Spielzeug übersehen hatte. Dann blickte sie ihre Oma mit großen Augen an.

»Beim letzten Mal hatte sie ein Unterhemd an, aus dem sie fast herausgewachsen war, und da es bei Lindex gerade drei zum Preis von zweien gab, habe ich zugeschlagen. Die kann man immer gebrauchen.« Kristina lächelte zufrieden und störte sich überhaupt nicht an Majas enttäuschtem Gesicht.

Erica verkniff es sich, Kristina zu erklären, wie dämlich sie es fand, einer Einjährigen zum Geburtstag etwas zum Anziehen zu schenken. Sie hatte nicht nur Maja enttäuscht, sondern wieder einmal eine ihrer Spitzen ausgeteilt. Angeblich konnten Patrik und sie ihre Tochter nicht ordentlich anziehen.

»Jetzt gibt’s Torte«, rief Patrik, der mit seinem untrüglichen Gespür für Timing auch diesmal fühlte, dass man die Aufmerksamkeit nun besser auf etwas anderes lenkte. Erica schluckte ihren Ärger hinunter, und alle gingen ins Wohnzimmer, wo die große Zeremonie mit den Geburtstagskerzen stattfinden sollte. Maja gab sich redliche Mühe, die einzige Kerze auszupusten, schaffte es aber lediglich, Spucke auf der Torte zu verteilen. Diskret half ihr Patrik, die Flamme zu löschen. Dann ließ sie sich feierlich besingen und bejubeln. Ericas und Patriks Blicke trafen sich über Majas blondem Schopf. Erica hatte einen dicken Kloß im Hals und merkte sofort, dass Patrik auch gerührt war. Ein Jahr. Ihr kleines Baby war ein Jahr alt geworden. Ein kleines Mädchen, das sich aus eigener Kraft vorwärtsbewegte, vor Freude in die Hände klatschte, wenn die Titelmelodie von Bolibompa ertönte, das allein essen konnte, die feuchtesten Küsse von Nordeuropa verteilte und die ganze Welt liebte. Erica lächelte Patrik an. Er lächelte zurück. In diesem Augenblick war das Leben perfekt.

Mellberg seufzte tief. Das tat er inzwischen oft. Der schwere Rückschlag im Frühjahr drückte noch immer auf seine Stimmung. Dabei war es kein Wunder gewesen. Er hatte die Zügel aus der Hand gegeben, sich erlaubt, einfach er selbst zu sein und sich seinen Gefühlen hingegeben. So etwas tat man eben nicht ungestraft. Er hätte es besser wissen müssen. Eigentlich hatte er die Strafe sogar verdient. Hin und wieder brauchte man einen gehörigen Denkzettel. Doch nun war er klüger, und eins stand ohnehin fest: Er war nicht der Typ, der den gleichen Fehler zweimal machte.

»Bertil?« Streng ertönte Annikas Stimme vom Empfang. Mit geübter Geste strich Mellberg sich die Haare über die Glatze und erhob sich widerwillig. Es gab nicht viele Frauen, von denen er Befehle entgegennahm, aber Annika Jansson gehörte zu diesem erlesenen Kreis. Mit den Jahren hatte er wirklichen Respekt vor ihr entwickelt, und das konnte man von keiner anderen Frau behaupten. Diese Person, die er im Frühjahr eingestellt hatte – ein totaler Fehlgriff! –, hatte ihn in seiner Haltung nur bestärkt. Und nun bekamen sie wieder einen weiblichen Neuzugang. Er seufzte noch einmal. Wieso war es so schwer, diese Stelle mit einem Kerl in Uniform zu besetzen? Als Ersatz für Ernst Lundgren schickte man ihm dauernd junge Mädchen. Ach, es war ein Elend.

Vom Empfang ertönte Gebell. Mellberg runzelte die Stirn. Hatte Annika etwa einen ihrer Hunde mitgebracht? Sie wusste doch, was er von den Kötern hielt. Er musste dringend mit ihr sprechen.

Es war jedoch keiner von Annikas Labradorhunden zu Besuch gekommen, sondern eine räudige Promenadenmischung von undefinierbarer Farbe, die an einer Leine zerrte. Am anderen Ende stand eine kleine dunkelhaarige Frau.

»Den hab ich da draußen gefunden«, sagte sie in breitem Stockholmerisch.

»Und was soll er hier drinnen?«, erwiderte Bertil mürrisch und wollte sich wieder zurückziehen.

»Darf ich vorstellen: Paula Morales«, beeilte sich Annika zu sagen. Bertil drehte sich um. Natürlich! Die Dame, die heute hier eintreffen sollte, hatte doch einen spanisch klingenden Namen. Die sah aber mickrig aus! Klein und dünn. Ihr Blick war jedoch alles andere als zart. Sie hielt ihm die Hand hin.

»Nett, Sie kennenzulernen. Der Hund ist allein draußen herumgelaufen. So wie er aussieht, hat er keinen Besitzer. Jedenfalls keinen, der sich um ihn kümmert.«

Ihr Ton klang für seinen Geschmack etwas zu fordernd. Bertil überlegte, worauf sie hinauswollte.

»Kann man ihn nicht irgendwo abgeben?«

»Es gibt hier keine Stelle für herrenlose Hunde. Annika hat mich bereits darüber aufgeklärt.«

»Nein?«, fragte Mellberg.

Annika schüttelte den Kopf.

»Dann … müssen Sie ihn wohl mit nach Hause nehmen.« Er versuchte, den Hund von seinem Hosenbein abzuschütteln, aber das Tier ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und machte es sich auf seinem rechten Fuß bequem.

»Das geht nicht. Wir haben eine Hündin zu Hause und die mag keine Gesellschaft«, erwiderte Paula ungerührt und blickte ihn noch immer durchdringend an.

»Was ist mit dir, Annika, könnte er sich nicht … mit deinen Viechern anfreunden?« Mellberg wurde immer ratloser. Warum musste er sich ständig mit solchem Kleinkram befassen? Er war schließlich der Leiter dieser Dienststelle!

Annika schüttelte entschieden den Kopf. »Das würde nicht funktionieren. Sie sind es gewohnt, unter sich zu sein.«

»Es geht nicht anders: Sie müssen ihn nehmen.« Paula reichte ihm die Leine. Völlig perplex über diese Unverfrorenheit griff Mellberg zu. Der Hund kuschelte sich daraufhin noch enger an ihn und gab zu allem Überfluss ein wohliges Winseln von sich.

»Er mag Sie.«

»Aber ich kann nicht … ich habe keinen …«, stammelte Mellberg, dem es ausnahmsweise die Sprache verschlagen hatte.

»Du hast keine anderen Tiere zu Hause, und ich verspreche dir, dass ich mich nach einem vermissten Hund umhöre. Falls sich niemand meldet, müssen wir ein neues Zuhause für ihn finden. Wir können ihn nicht seinem Schicksal überlassen, denn sonst wird er vom Auto überfahren.«

Annikas Flehen berührte Mellberg gegen seinen Willen. Er blickte auf den Hund hinunter, und der blickte mit feuchten und sehnsüchtigen Augen zu ihm empor.

»Verdammter Mist, wenn ihr so einen Aufstand macht, dann nehme ich die Töle eben für ein paar Tage mit zu mir. Aber du musst ihn saubermachen, bevor ich ihn in meine Wohnung lasse«, sagte er mit erhobenem Zeigefinger. Annika war erleichtert.

»Kein Problem, ich stelle ihn hier in der Dienststelle unter die Dusche.« Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: »Das ist wirklich nett von dir, Bertil.«

Mellberg grunzte. »Sorg dafür, dass der Köter blitzsauber ist, wenn ich ihn das nächste Mal sehe! Sonst kommt er nicht mit!«

Zornig stapfte er durch den Flur und knallte seine Tür hinter sich zu.

Annika und Paula lächelten sich an. Der Hund klopfte winselnd mit seinem Schwanz auf den Fußboden.

»Dann wünsche ich euch einen schönen Tag.« Erica winkte Maja zu, doch die beachtete sie überhaupt nicht, weil im Fernsehen die Teletubbies liefen.

»Wir machen es uns gemütlich.« Patrik gab Erica ein Küsschen. »Die Kleine und ich werden in den nächsten Monaten wunderbar zurechtkommen.«

»Du sagst das so, als würde ich auf die sieben Weltmeere hinausfahren«, lachte Erica. »Zum Mittagessen komme ich runter.«

»Meinst du wirklich, dass es eine gute Idee ist, zu Hause zu arbeiten?«

»Wir sollten es zumindest ausprobieren. Tu einfach so, als wäre ich nicht da.«

»Kein Problem. Sobald du die Arbeitszimmertür hinter dir zugemacht hast, bist du für mich nicht mehr existent«, zwinkerte Patrik.

»Warten wir’s ab«, brummte Erica und ging die Treppe hinauf. »Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert. So brauche ich mir wenigstens kein Büro zu suchen.«

Sie ging ins Arbeitszimmer und machte mit gemischten Gefühlen die Tür hinter sich zu. Ein Jahr lang war sie mit Maja zu Hause geblieben. Ein großer Teil von ihr hatte sich sehnlich auf diesen Tag gefreut und hatte es kaum erwarten können, endlich den Stab an Patrik weiterreichen und sich wieder einer Beschäftigung für Erwachsene widmen zu dürfen. Von Spielplätzen, Sandkästen und Kindersendungen hatte sie die Nase gestrichen voll. Das Backen des perfekten Sandkuchens war auf Dauer einfach intellektuell nicht anregend genug, und bei der Vorstellung, noch ein einziges Mal »Summ, summ, summ« singen zu müssen, ging sie die Wände hoch. Sosehr sie ihre Tochter auch liebte, nun war Patrik an der Reihe.

Ehrfürchtig schaltete sie den Computer ein und genoss das vertraute Rauschen. Im Februar musste das neue Buch in ihrer Reihe über reale Mordfälle fertig sein, aber zum Glück hatte sie im Sommer bereits ein bisschen Recherche betrieben. Mit dem Gefühl, gut vorbereitet zu sein, startete sie das Textverarbeitungsprogramm, öffnete das Dokument, dem sie den Namen »Elias« gegeben hatte, weil so das erste Mordopfer hieß, und legte ihre Finger auf die Tastatur. Ein zaghaftes Klopfen riss sie aus ihren Gedanken.

»Entschuldige die Störung«, Patrik machte ein betretenes Gesicht, »aber wo ist eigentlich Majas Overall?«

»Im Trockenschrank.«

Patrik nickte und machte die Tür wieder zu.

Sie legte die Finger auf die Tastatur und atmete tief durch. Erneutes Klopfen.

»Ich lass dich gleich in Ruhe. Sag mal, was sollte Maja deiner Ansicht nach heute anziehen? Es ist ziemlich frisch draußen, aber andererseits schwitzt sie immer so, und dann holt man sich leicht eine Erkältung …« Patrik grinste dämlich.

»Unter dem Overall braucht sie nur einen leichten Pulli und eine Strumpfhose. Ich setze ihr immer noch eine dünne Baumwollmütze auf, damit sie sich nichts wegholt.«

»Danke.« Patrik machte die Tür wieder zu. Erica wollte gerade die erste Zeile schreiben, als sie von unten ein lautes Heulen hörte, das stetig anwuchs. Nach zwei Minuten schob sie seufzend ihren Stuhl zurück und ging die Treppe hinunter.

»Ich helfe dir. Es ist mittlerweile wahnsinnig anstrengend, sie anzuziehen.«

»Danke, das ist mir auch schon aufgefallen.« Patrik standen Schweißperlen auf der Stirn, weil er den Kampf mit der trotzigen und schon recht kräftigen Maja in seiner dicken Winterjacke geführt hatte.

Fünf Minuten später war die Laune der Tochter zwar erheblich schlechter, aber immerhin war sie vollständig angezogen. Erica gab beiden einen Kuss auf den Mund und scheuchte sie hinaus.

»Macht bitte einen ganz langen Spaziergang, damit Mama in Ruhe arbeiten kann.«

Patrik sah sie schuldbewusst an. »In ein paar Tagen wird sich bestimmt alles eingespielt haben, und dann hast du so viel Ruhe, wie du brauchst. Versprochen!«

»Schon okay.« Erica machte entschlossen die Tür hinter ihnen zu, schenkte sich einen großen Becher Kaffee ein und ging zurück ins Arbeitszimmer. Endlich konnte sie loslegen.

»Pst … nicht so laut!«

»Ach was, die sind beide verreist, hat meine Mutter gesagt. Den ganzen Sommer über hat keiner die Post reingeholt. Deswegen leert sie seit Juni den Briefkasten. Also mach dir keine Sorgen, wir können so viel Krach machen, wie wir wollen.« Mattias lachte, aber Adam war noch immer skeptisch. Das alte Haus wirkte unheimlich. Genau wie die beiden alten Männer. Mattias konnte sagen, was er wollte, er würde so vorsichtig wie möglich sein.

»Wie sollen wir überhaupt reinkommen?« Er hasste den leidenden Unterton in seiner Stimme, konnte aber nichts gegen seine Unruhe machen. Oft wünschte er sich, ein bisschen mehr wie Mattias zu sein. Mutig, unerschrocken, manchmal fast dummdreist. Aber er bekam alle Mädchen ab.

»Es wird schon klappen. Irgendwie kommt man überall rein.«

»Ich nehme an, du schöpfst aus deinem großen Erfahrungsschatz als Einbrecher«, lachte Adam leise.

»Ich habe schon viele Sachen gemacht, von denen du keine Ahnung hast«, erwiderte Mattias hochnäsig.

Na klar, dachte Adam, wagte jedoch nicht, ihm zu widersprechen. Manchmal musste Mattias sich eben aufspielen. Und Adam war zu klug, um sich auf eine Diskussion einzulassen.

»Was hat er wohl da drinnen?« Mit leuchtenden Augen schlich Mattias ums Haus und suchte nach einem Fenster oder einer Luke.

»Ich weiß nicht.« Adam sah sich ängstlich um. Die Sache missfiel ihm immer mehr.

»Vielleicht besitzt er massenhaft coole Nazisachen. Stell dir mal vor, er hat Uniformen und so.« Die Aufregung in Mattias’ Stimme war nicht zu überhören. Seit sie in der Schule die SS durchgenommen hatten, war er wie besessen. Er las alles über den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus, was er in die Finger bekam, und der Nachbar, der bekanntlich eine Art Fachmann für Deutschland und die Nazis war, stellte eine unwiderstehliche Verlockung dar.

»Vielleicht hat er überhaupt keine spannenden Sachen zu Hause«, wandte Adam ein, obwohl er wusste, dass es nichts nützte. »Mein Vater hat gesagt, dass er früher Geschichtslehrer war. Er hat bestimmt bloß Bücher und so.«

»Das werden wir ja sehen.« Mattias’ Augen blitzten. »Da steht ein Fenster ein Stückchen offen!«

Leider hatte Mattias recht. Insgeheim hatte Adam gehofft, dass es ihnen nicht gelingen würde, in das Haus einzudringen.

»Womit könnten wir das Fenster ganz öffnen?« Mattias blickte sich suchend um. Ein Fensterhaken, der sich gelöst hatte, war die Lösung.

»Jetzt wollen wir mal sehen.« Mattias hob die dünne Metallstange vom Boden auf, hielt sie hoch über seinen Kopf und bohrte sie mit chirurgischer Präzision in eine Ecke. Das Fenster rührte sich nicht. »Mist, warum geht das nicht auf?« Mit der Zungenspitze im Mundwinkel versuchte er es noch einmal. Den Fensterhaken in die Höhe zu halten und gleichzeitig Druck damit auszuüben war anstrengend. Er keuchte. Schließlich gelang es ihm, den Haken noch einen Zentimeter hineinzuschieben.

»Die merken doch, dass jemand eingebrochen ist!«, protestierte Adam schwach, aber Mattias schien ihn nicht zu hören.

»Das Scheißfenster soll endlich aufgehen!« Er hatte Schweißtropfen auf der Stirn, als er noch einmal kräftig drückte und das Fenster nachgab.

»Yes!« Mattias ballte die Faust und drehte sich aufgeregt zu Adam um.

»Hilf mir hoch!«

»Vielleicht kannst du dich irgendwo draufstellen, auf eine Leiter oder …«

»Halt den Mund und hilf mir einfach! Danach ziehe ich dich hoch.«

Gehorsam stellte sich Adam an die Wand und flocht die Hände zu einer Räuberleiter zusammen. Er verzog das Gesicht, als Mattias’ Schuhsohle sich in seine Handfläche drückte, doch er biss die Zähne zusammen und hob Mattias in die Höhe.

Mattias schaffte es, nach dem Fensterbrett zu greifen und sich so weit hochzuziehen, dass er zuerst den einen und dann den anderen Fuß auf den Rahmen stellen konnte. Er rümpfte die Nase. Ein ekelhafter Geruch kam ihm entgegen. Richtig widerlich. Er zog das Rollo beiseite und blinzelte ins Zimmer. Es sah aus wie eine Bibliothek, doch da alle Rollos heruntergezogen waren, lag der Raum im Dunkeln.

»Hier stinkt es grauenvoll.« Mit zugehaltener Nase drehte er sich zu Adam um.

»Dann lass es«, antwortete Adam von unten. In seinen Augen blitzte Hoffnung auf.

»Quatsch. Wir sind drinnen. Jetzt wird’s lustig. Los, nimm meine Hand.«

Er löste seine Finger von der Nase, hielt sich am Fensterrahmen fest und streckte Adam seine rechte Hand hin.

»Schaffst du das überhaupt?«

»Natürlich. Komm endlich.«

Adam griff nach der Hand, und Mattias zog mit ganzer Kraft. Einen Augenblick lang schien es sich um ein undurchführbares Vorhaben zu handeln, aber schließlich erreichte Adam den Fensterrahmen, und Mattias sprang ins Zimmer, um ihm Platz zu machen. Als er auf dem Boden landete, knisterte es so merkwürdig. Er blickte nach unten. Der Fußboden war mit irgendetwas bedeckt, das man in der Dunkelheit nicht erkennen konnte. Wahrscheinlich trockene Blütenblätter.

»Was ist denn das für ein Scheiß hier«, sagte Adam, als er neben ihm aufkam und das raschelnde Geräusch ebenfalls nicht identifizieren konnte. »Mann, riecht das eklig.« Er sah aus, als würde er kaum Luft bekommen.

»Sage ich doch«, erwiderte Mattias unbeschwert. Seine Nase hatte sich bereits an den Geruch gewöhnt.

»Jetzt wollen wir mal gucken, was der Alte hier für lustige Sachen aufbewahrt. Zieh das Rollo hoch!«

»Und wenn uns jemand sieht?«

»Wer denn? Zieh endlich das Rollo hoch!«

Adam gehorchte. Licht strömte ins Zimmer.

»Nettes Zimmer.« Mattias sah sich bewundernd um. Überall Bücherregale vom Fußboden bis zur Decke. In der einen Ecke standen zwei Ledersessel an einem kleinen Tisch. Am anderen Ende des Raums thronte ein riesiger Schreibtisch. Ein altmodischer Bürostuhl mit hoher Lehne wandte ihnen die Rückseite zu. Adam machte einen Schritt nach vorn, hielt aber inne, weil es unter seinen Füßen wieder so seltsam knisterte. Nun sahen sie beide, worauf sie standen.

»Ach, du Scheiße …« Der Boden war mit Fliegen bedeckt. Widerliche, schwarze, tote Fliegen. Auch auf dem Fensterbrett lagen Schwaden von Fliegen. Adam und Mattias wischten sich instinktiv die Hände an den Hosenbeinen ab.

»Wie ekelhaft.« Mattias verzog das Gesicht.

»Wo kommen all die Fliegen her?« Adam blickte verwundert zu Boden. Dann zog sein CSI-geschultes Hirn eine unangenehme Schlussfolgerung. Tote Fliegen. Widerlicher Geruch. Er schob den Gedanken beiseite, doch nun wurde sein Blick unbarmherzig von dem abgewandten Schreibtischstuhl angezogen.

»Mattias?«

»Ja?«, gab dieser gereizt zurück, während er angewidert nach einem Platz suchte, wo er nicht in einem Haufen von toten Fliegen stand.

Wortlos näherte sich Adam dem Stuhl. Eine Stimme in ihm schrie, er solle umkehren, so schnell wie möglich von hier verschwinden und rennen, bis er nicht mehr konnte, aber seine Neugier war stärker. Wie ferngesteuert ging er auf den Stuhl zu.

»Was ist denn?« Mattias verstummte, als er Adams verkrampften und zögernden Gang sah.

Als Adam noch einen halben Meter vom Stuhl entfernt war, streckte er die Hand aus. Sie zitterte leicht. Ganz langsam, Millimeter für Millimeter, näherte er die Hand der Rückenlehne. Der einzige Laut im Zimmer war das Rascheln unter seinen Füßen. Das Leder fühlte sich kühl an. Er drückte fester zu und schob die Rückenlehne nach links. Dann machte er einen Schritt zurück. Sachte drehte sich der Stuhl zu ihm um und ließ allmählich erkennen, was sich auf ihm befand. Hinter seinem Rücken hörte er Mattias kotzen.

Die Augen, die jede seiner Bewegungen verfolgten, waren groß und feucht. Mellberg versuchte, den Hund zu ignorieren, doch es gelang ihm nicht. Das Tier wich ihm nicht von der Seite und blickte ihn herzzerreißend an. Schließlich ließ Mellberg sich erweichen. Er öffnete die untere Schreibtischschublade und warf dem Köter einen Kokosball hin, der zwei Sekunden später verschwunden war. Einen Moment lang glaubte Mellberg, ein Grinsen zu sehen. Sicher pure Einbildung. Zumindest war der Hund nun sauber. Annika hatte gute Arbeit geleistet. Sie hatte ihn gründlich eingeseift und abgeduscht. Trotzdem fand Bertil es ein wenig unappetitlich, als er beim Aufwachen bemerkte, dass der Hund über Nacht zu ihm ins Bett gesprungen war. Gegen Flöhe und anderes Ungeziefer konnte Seife schließlich nichts ausrichten. Möglicherweise wimmelte das Fell von Krabbeltieren, die es kaum erwarten konnten, auf Mellbergs umfangreichen Leib zu springen. Eine gründliche Inspektion hatte jedoch keine Lebewesen zutage gefördert, und Annika hatte ihm ihr Ehrenwort gegeben, dass sie auch beim Waschen keine Flöhe entdeckt hatte. In seinem Bett sollte das Viech trotzdem nicht noch einmal schlafen. Irgendwo war Schluss.

»Wie sollen wir dich denn nennen?«, fragte Mellberg, kam sich aber im nächsten Augenblick ziemlich dämlich vor, weil er sich mit jemandem unterhielt, der sich auf allen vieren fortbewegte. Allerdings brauchte die Töle einen Namen. Er sah sich nach einer Anregung um, aber ihm fielen nur alberne Hundenamen ein: Fiffi, Zottel … Nein, das war nichts. Plötzlich juchzte er laut. Ihm war eine glänzende Idee gekommen. Um ehrlich zu sein, hatte er nämlich Lundgren vermisst, seit er ihn notgedrungen hinausgeworfen hatte. Nicht übermäßig, aber immerhin ein bisschen. Warum sollte der Köter nicht Ernst heißen? Das war wenigstens witzig. Er gluckste noch einmal.

»Was hältst du davon – Ernst? Passt doch hervorragend, oder?« Er zog die Schublade auf. Natürlich sollte Ernst einen Kokosball haben. Es war ja nicht sein Problem, wenn der Hund zu fett wurde. In wenigen Tagen hatte Annika mit Sicherheit einen Platz für ihn gefunden, und es spielte doch keine Rolle, wenn er ihn bis dahin ein wenig verwöhnte.

Ein schrilles Telefonklingeln ließ ihn und Ernst zusammenzucken.

»Bertil Mellberg.« Im ersten Moment konnte er die Stimme am anderen Ende nicht verstehen, sondern hörte nur hysterisches Gestammel.

»Entschuldigung, aber Sie müssen langsam sprechen. Was haben Sie gesagt?« Er hörte konzentriert zu. Als er das Ganze endlich begriffen hatte, zog er die Augenbrauen hoch.

»Eine Leiche? Wo denn?« Er richtete sich kerzengerade auf. Der Köter, der nun Ernst hieß, streckte ebenfalls den Rücken und spitzte die Ohren. Mellberg notierte eine Adresse und beendete das Gespräch: »Bleibt, wo ihr seid!« Dann wuchtete er sich hoch. Ernst heftete sich an seine Fersen.

»Hiergeblieben!« In Mellbergs Stimme lag eine ungewohnte Autorität. Zu seinem Erstaunen hielt der Hund inne und wartete weitere Instruktionen ab. »Platz!«, versuchte es Mellberg und zeigte auf den Hundekorb, den Annika in eine Ecke seines Büros gestellt hatte. Ernst gehorchte widerwillig, trottete in sein Körbchen, legte den Kopf auf die Pfoten und blickte sein zeitweiliges Herrchen gekränkt an. Bertil Mellberg empfand eine seltsame Befriedigung darüber, dass ihm ausnahmsweise jemand gehorchte. Von dieser Autorität bestärkt, raste er durch den Flur und rief laut: »Ein Leichenfund wurde gemeldet.«

Drei Köpfe wurden aus ebenso vielen Türen gestreckt, der rote von Martin Molin, der graue von Gösta Flygare und der pechschwarze von Paula Morales.

»Eine Leiche?« Martin betrat den Flur als Erster. Nun näherte sich auch Annika vom Empfang.

»Ein Jugendlicher hat gerade bei mir angerufen und es mir erzählt. Die Bengel sind offenbar in ein Haus zwischen Fjällbacka und Hamburgsand eingedrungen und haben dort eine Leiche entdeckt.«

»Der Besitzer des Hauses?«, fragte Gösta.

Mellberg zuckte die Achseln. »Mehr weiß ich auch nicht. Ich habe den Jungs gesagt, sie sollen dort warten, wir kommen sofort. Martin und Paula nehmen das eine Auto, Gösta und ich das andere.«

»Sollten wir nicht lieber Patrik anrufen …?«, fragte Gösta zaghaft.

»Wer ist Patrik?«, fragte Paula und blickte von Gösta zu Mellberg.

»Patrik Hedström arbeitet auch hier, aber er nimmt ab heute Erziehungsurlaub«, erklärte Martin.

»Wir brauchen doch Hedström nicht anzurufen.« Mellberg schnaufte beleidigt und fügte großspurig hinzu: »Ich bin schließlich auch noch da« und machte sich schnurstracks auf den Weg zur Garage.

»Juchhu«, murmelte Martin, als Mellberg außer Hörweite war. Paula hob fragend eine Augenbraue. »Ach, nichts«, entschuldigte sich Martin, konnte sich aber nicht verkneifen hinzuzufügen: »Bald wirst du verstehen, was ich meine.«

Paula wirkte noch immer verwirrt, ließ die Sache jedoch auf sich beruhen. Die zwischenmenschliche Dynamik an ihrem neuen Arbeitsplatz würde sie noch früh genug durchschauen.

Erica seufzte. Jetzt war es still im Haus. Zu still. Seit einem Jahr waren ihre Ohren stets auf das leiseste Jammern oder den nächsten Schrei eingestellt. Die ungewohnte Ruhe wirkte dagegen geradezu trostlos. Der Cursor blinkte in der ersten Zeile des WordDokuments. Kein läppisches Zeichen hatte sie in der vergangenen halben Stunde zustande gebracht. In ihrem Hirn herrschte absolute Flaute. Sie hatte nur in ihren Notizen und den Artikeln geblättert, die sie den Sommer über kopiert hatte. Nach mehreren Briefen war es ihr endlich gelungen, mit der Hauptperson des Falls, der Mörderin, einen Termin zu vereinbaren, aber der fand erst in drei Wochen statt. Bis dahin musste sie sich mit dem Archivmaterial begnügen. Das Problem war nur, dass dabei nichts herauskam. Ihr fielen einfach nicht die richtigen Worte ein, und nun kamen auch noch die Zweifel hinzu, mit denen sich alle Schriftsteller plagten. Waren keine Worte mehr übrig? Hatte sie ihren letzten Satz geschrieben, ihr Soll erfüllt? Würde sie nie wieder ein Buch schreiben? Ihr Verstand sagte ihr, dass sie mit diesem Gefühl am Anfang immer zu kämpfen hatte, aber das nützte nichts. Diese Qualen musste sie jedes Mal durchstehen. Es war so ähnlich wie bei einer Geburt. Heute lief es besonders zäh. Zum Trost steckte sie sich einen Dumlekola-Bonbon in den Mund und warf einen verstohlenen Blick auf die blauen Notizbücher, die neben dem Computer lagen. Die flüssige Handschrift ihrer Mutter gierte nach ihrer Aufmerksamkeit. Erica war hin- und hergerissen zwischen der Angst, ihrer Mutter zu nahezukommen, und ihrer Neugier. Zögerlich griff sie nach dem ersten Buch und wog es in der Hand. Es war ein dünnes Buch. So ähnlich wie die kleinen Notizbücher, die in der Grundschule üblich waren. Erica strich mit den Fingern über den Buchdeckel. Der Name war mit Tinte geschrieben, aber mit der Zeit war die blaue Farbe verblasst. Elsy Moström lautete der Mädchenname ihrer Mutter. Den Namen Falck bekam sie erst, als sie Ericas Vater heiratete. Langsam öffnete sie das Buch. Die Seiten waren zartblau liniert. Ganz oben stand ein Datum: »3. September 1943«. Sie las die erste Zeile:

»Hört dieser Krieg denn nie auf?«

Fjällbacka 1943

Hört dieser Krieg denn nie auf?«

Elsy kaute an ihrem Stift und überlegte, was sie schreiben sollte. Wie ließen sich ihre Gedanken über diesen Krieg zusammenfassen, der zwar woanders stattfand, aber doch auch hier war? Es war so ungewohnt, Tagebuch zu schreiben. Sie wusste nicht, wie sie auf die Idee gekommen war, aber offenbar hatte sie das Bedürfnis, all die Gedanken zu Papier zu bringen, die ihr ganz normales und trotzdem so seltsames Leben mit sich brachte. Ein Teil von ihr erinnerte sich kaum noch an die Zeit vor dem Krieg. Sie wurde bald vierzehn Jahre alt und war bei Ausbruch des Krieges erst neun gewesen. In den ersten Jahren hatten sie nicht viel davon mitbekommen. Was auffiel, war die Wachsamkeit der Erwachsenen. Der Eifer, mit dem sie die Nachrichten verfolgten. Die Haltung, mit der sie vor dem Radioapparat im Wohnzimmer saßen, angespannt, ängstlich und doch seltsam erregt. Was da in der Welt passierte, war ja trotz allem spannend – bedrohlich, aber aufregend. Ansonsten hatte sich der Alltag kaum verändert. Die Schiffe fuhren hinaus und kehrten zurück. Manchmal war der Fang gut, manchmal schlecht. An Land hatten die Frauen ihr Tun, genau wie ihre Mütter und deren Mütter vor ihnen. Kinder wurden geboren, Wäsche musste gewaschen und Häuser mussten in Ordnung gehalten werden. Nun drohte der Krieg, diesen endlosen Kreislauf zu unterbrechen und ihre Welt durcheinanderzubringen. Diese Spannung hatte sie schon als Kind gespürt. Und jetzt war der Krieg fast hier angekommen.

»Elsy?« Von unten hörte sie die Stimme ihrer Mutter. Schnell klappte Elsy das Tagebuch wieder zu und legte es in die oberste Schublade ihres kleinen Schreibtisches am Fenster. Viele Stunden hatte sie hier mit ihren Hausaufgaben verbracht, aber nun war ihre Schulzeit vorbei. Eigentlich brauchte sie den Schreibtisch nicht mehr. Sie strich ihr Kleid glatt und ging hinunter zu ihrer Mutter.

»Geh bitte Wasser holen.« Die Mutter sah müde und fahl aus. Sie hatten den Sommer über in dem kleinen Raum im Keller gehaust und die oberen Stockwerke an Urlauber vermietet. Reinigung und Vollpension waren in der Miete inbegriffen, und die Sommergäste waren ziemlich anspruchsvoll gewesen. Ein Rechtsanwalt aus Göteborg nebst Gattin und drei ungezogenen Kindern. Elsys Mutter Hilma war von früh bis spät auf den Beinen, um ihre Kleidung zu waschen, ihren Proviant für die Bootsfahrten zu packen und hinter ihnen aufzuräumen, und musste sich ja gleichzeitig auch um ihren eigenen Haushalt kümmern.

»Setz dich einen Augenblick, Mutter.« Sanft legte Elsy ihrer Mutter die Hand auf die Schulter. Ihre Mutter zuckte zurück. Es war nicht üblich, dass sie sich berührten. Nach kurzem Zögern tätschelte sie jedoch die Hand ihrer Tochter und ließ sich dankbar auf einen Stuhl drücken.

»Es war höchste Zeit, dass sie abreisten. Was für verwöhnte Menschen aber auch. ›Könnten Sie vielleicht … wären Sie so nett … Hilma hier und Hilma da …‹« Hilma äffte die weltgewandten Stimmen nach, schlug sich dann aber erschrocken die Hand vor den Mund. So redete man nicht über feine Leute, das war respektlos! Jeder musste wissen, wo er hingehörte.

»Ich kann verstehen, dass du müde bist. Sie haben es uns wirklich nicht leichtgemacht.« Elsy goss das restliche Wasser in einen Topf und stellte ihn auf den Herd. Als das Wasser kochte, rührte sie den Kaffee-Ersatz hinein.

»Ich hole gleich Wasser, aber jetzt trinken wir erst mal ein Tässchen.«

»Du bist ein liebes Mädchen.« Hilma nahm einen Schluck von dem erbärmlichen Zeug. Bei feierlichen Anlässen trank sie den Kaffee mit einem Stück Zucker zwischen den Zähnen aus der Untertasse, aber nun musste man sparsam mit dem Zucker umgehen, und mit diesem Muckefuck war es auch nicht das Gleiche.

»Hat Vater gesagt, wann er wieder nach Hause kommt?«, fragte Elsy mit gesenktem Blick. Seit Krieg herrschte, hatte diese Frage eine ganz andere Bedeutung als früher. Vor nicht allzu langer Zeit war die Öckerö torpediert worden und mit der gesamten Besatzung untergegangen. Seitdem hatte jeder Abschied einen schicksalsschweren Beigeschmack. Aber die Arbeit musste weitergehen. Es gab keine andere Wahl. Das Frachtgut musste befördert und der Fisch gefangen werden. Krieg hin oder her, das waren die Bedingungen. Sie mussten dankbar sein, dass die Küstenschiffe überhaupt zwischen Norwegen und Schweden verkehren durften. Als viel gefährlicher galt ohnehin der Geleitverkehr außerhalb der Absperrung. Die Fischkutter aus Fjällbacka fingen zwar nicht mehr so viel wie früher, konnten die Verluste aber mit Transporten von und nach Norwegen ausgleichen. Meistens brachte Elsys Vater Eis aus Norwegen mit, und wenn er Glück hatte, konnte er Ladung dorthin mitnehmen.

»Wenn er doch nur …«, Hilma zögerte, »… wenn er doch nur etwas vorsichtiger wäre …«

»Wer? Vater?«, fragte Elsy, obwohl sie genau wusste, wen ihre Mutter meinte.

»Ja.« Hilma nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. »Diesmal hat er den Sohn vom Doktor mitgenommen. Das nimmt kein gutes Ende. Mehr sage ich nicht dazu.«

»Axel ist mutig, er gibt sein Bestes. Und Vater will ihm helfen, so gut er kann.«

»Aber das Risiko«, Hilma schüttelte den Kopf, »das er eingeht, wenn dieser Junge und seine Freunde dabei sind … Er reißt Vater und die anderen mit ins Unglück. So sehe ich das.«

»Wir müssen alles tun, um den Norwegern zu helfen«, sagte Elsy leise. »Stell dir vor, es hätte uns getroffen? Wären wir dann nicht auch auf ihre Hilfe angewiesen? Axel und seine Freunde tun viel Gutes.«

»Jetzt reden wir nicht mehr darüber. Wann holst du endlich das Wasser?« Mürrisch spülte Hilma die beiden Tassen aus, aber Elsy nahm ihr die Schroffheit nicht übel. Im Grunde machte Hilma sich Sorgen.

Sie warf einen letzten Blick auf den viel zu früh gekrümmten Rücken ihrer Mutter, griff nach dem Henkel und ging zum Brunnen.

Zu seinem Erstaunen konnte Patrik den Spaziergang richtig genießen. In den letzten Jahren hatte er nicht viel Sport getrieben, aber wenn er während des Erziehungsurlaubs jeden Tag einen ausgedehnten Spaziergang machte, wurde er den kleinen Bauch vielleicht wieder los. Da Erica zu Hause den Daumen auf die Süßigkeiten hielt, hatte er bereits ein bis zwei Kilo abgenommen.

In raschem Tempo ging er an der Tankstelle vorbei und weiter in Richtung Süden. Er hatte sich vorgenommen, bis zur Mühle zu marschieren und dann umzukehren. Maja plapperte fröhlich vor sich hin. Sie war leidenschaftlich gern draußen unterwegs und begrüßte alle, die ihr entgegenkamen, mit einem strahlenden Lächeln und einem fröhlichen Hallo. Sie war wirklich ein kleiner Sonnenschein, doch wenn sie nicht gut drauf war, offenbarte sie auch ganz andere Seiten. Das musste sie von Erica haben, dachte Patrik.

Während er seinen Weg fortsetzte, verspürte er eine große Zufriedenheit mit seinem Leben. Der Alltag lief mittlerweile wunderbar. Endlich hatten Erica und er das Haus für sich allein. Er hatte zwar nichts gegen Anna und die Kinder, aber es war doch ein wenig mühsam gewesen, monatelang auf so engem Raum zusammenzuwohnen. Natürlich belastete ihn auch die Sache mit seiner Mutter. Er hatte immer das Gefühl, zwischen den Fronten zu stehen. Er konnte nachvollziehen, dass es Erica nervte, wenn seine Mutter ständig vorbeikam und spitze Bemerkungen über den Haushalt oder ihren Erziehungsstil abgab, aber er hätte sich gewünscht, dass Erica einfach auf Durchzug schaltete. So wie er. Man musste doch auch Verständnis für Kristina haben, die allein lebte und außer ihm und seiner Familie kaum jemanden hatte. Seine Schwester Lotte wohnte in Göteborg. Das lag zwar nicht am Ende der Welt, aber es war viel einfacher, seine kleine Familie zu besuchen. Außerdem war sie eine große Hilfe. Er und Erica waren einige Male essen gegangen, während Kristina das Kind hütete, und … er wünschte sich einfach, Erica hätte etwas mehr Sinn für die Vorteile.

»Guck mal!« Aufgeregt deutete Maja mit ihrer kleinen Hand auf die Koppel, wo Rimfaxes Pferde grasten. Patrik war zwar kein großer Freund dieser Tiere, musste aber zugeben, dass Fjordpferde ganz niedlich waren und einen relativ harmlosen Eindruck machten. Sie blieben eine Weile stehen, um die Pferde zu beobachten, und Patrik nahm sich vor, beim nächsten Mal ein paar Äpfel oder Mohrrüben mitzubringen. Als Maja genug von den Tieren hatte, schob er den Kinderwagen das letzte Stück bis zur Mühle, machte kehrt und ging zurück in Richtung Fjällbacka.

Wie gewöhnlich bewunderte er den Kirchturm, der auf seiner Anhöhe so eindrucksvoll über die Stadt wachte, als er ein bekanntes Auto erblickte. Da weder Blaulicht noch Sirene eingeschaltet waren, konnte es sich nicht um einen Notfall handeln, aber er spürte trotzdem seinen Puls steigen. Als das erste Polizeiauto den Bergrücken erreicht hatte, sah er auch den zweiten Wagen dahinter. Patrik runzelte die Stirn. Beide Autos. Es musste etwas Wichtiges sein. Als der erste Wagen noch etwa hundert Meter entfernt war, winkte er. Martin fuhr an den Straßenrand. Maja ruderte hektisch mit den Armen. In ihrer Welt war es immer erfreulich, wenn etwas passierte.

»Hallo, Hedström, machst du einen Spaziergang?« Martin winkte Maja zu.

»Man muss schließlich in Form bleiben … Und was treibt ihr?« Das zweite Dienstfahrzeug blieb ebenfalls stehen. Patrik winkte Bertil und Gösta zu.

»Paula Morales. Guten Tag.« Erst jetzt bemerkte Patrik die uniformierte Frau neben Martin. Er griff nach ihrer ausgestreckten Hand und stellte sich vor, bevor Martin seine Frage beantworten konnte.

»Ein Leichenfund wurde gemeldet. Ganz in der Nähe.«

»Glaubt ihr, es handelt sich um ein Verbrechen?« Patrik runzelte die Stirn.

Martin breitete die Arme aus. »Mehr wissen wir nicht. Zwei Jungs haben die Leiche gefunden und uns angerufen.« Der hintere Wagen hupte so laut, dass Maja zusammenfuhr.

»Willst du nicht schnell mitkommen?«, fragte Martin hastig. »Mir ist nicht ganz wohl mit … du weißt schon.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf das hintere Auto.

»Wie stellst du dir das vor?«, fragte Patrik. »Ich habe doch die Kleine bei mir … außerdem bin ich offiziell beurlaubt.«

»Bitte.« Martin legte den Kopf schief. »Komm einfach nur mit und sieh dir alles an, ich fahre euch dann nach Hause. Der Kinderwagen passt in den Kofferraum.«

»Aber du hast keinen Kindersitz …«

»Stimmt. Dann geh doch einfach zu Fuß. Es ist gleich um die Ecke. Die erste Abzweigung nach rechts, das zweite Haus auf der linken Seite. Auf dem Briefkasten müsste Frankel stehen.«

Patrik zögerte, doch das Hupen des hinteren Wagens drängte ihn zu einer Entscheidung.

»Okay, ich komme mit und sehe mich um. Aber du musst dich solange um Maja kümmern. Und kein Wort zu Erica! Sie dreht durch, wenn sie erfährt, dass ich Maja mit zur Arbeit genommen habe.«

»Versprochen«, zwinkerte Martin. Er winkte Bertil und Gösta zu und legte den ersten Gang ein. »Bis gleich.«

»Okay.« Patrik ahnte zwar, dass er es bereuen würde, aber da seine Neugier stärker war als sein Selbsterhaltungstrieb, machte er mit dem Kinderwagen kehrt und ging schnellen Schrittes nach Hamburgsund.

»Alle Möbel aus Kiefernholz fliegen raus!« Anna stemmte die Hände in die Taille und sah ihn so furchterregend wie möglich an.

»Was hast du gegen Kiefern?« Dan kratzte sich am Kopf.

»Sie sind hässlich! Noch Fragen?« Anna musste selbst lachen. »Guck nicht so verängstigt, Liebling … ich muss einfach darauf bestehen, denn es gibt nichts Grässlicheres auf der Welt als Kiefernmöbel. Das Bett ist am schlimmsten. Außerdem will ich sowieso nicht mehr im Ehebett von dir und Pernilla schlafen. Mit dem Haus kann ich leben, aber dasselbe Bett … Hilfe!«

»Das Argument kann ich nachvollziehen. So viele neue Möbel kosten eine Menge Geld …« Er machte ein besorgtes Gesicht. Seit er mit Anna zusammen war, wollte er das Haus nun doch behalten, aber finanziell sah es nach wie vor nicht rosig aus.

»Ich habe noch das Geld, das ich von Erica für meinen Anteil an unserem Elternhaus bekommen habe. Das hat Lucas zum Glück nie in die Finger bekommen. Lass uns einen Teil davon für eine neue Einrichtung nehmen. Wenn du willst, suchen wir sie zusammen aus, aber wenn du dich traust, kannst du mir auch freie Hand lassen.«

»Glaub mir«, sagte Dan, »ich bin froh, wenn ich solche Dinge nicht entscheiden muss. Kauf, was du willst, solange es nicht zu verrückt ist. Genug geredet, komm lieber her und gib mir einen Kuss!« Er zog sie an sich und küsste sie leidenschaftlich. Wie so oft, wurden ihre Küsse heißer. Dan fummelte gerade am Verschluss ihres BHs herum, als jemand die Haustür aufriss und eintrat. Vom Flur konnte man direkt in die Küche sehen und zweifelsfrei erkennen, was dort vor sich ging.

»Wie abstoßend! In der Küche stehen und knutschen.« Mit Zornesröte im Gesicht stürmte Belinda an ihnen vorbei in ihr Zimmer. Oben an der Treppe blieb sie stehen und schrie: »Damit ihr Bescheid wisst: Ich fahre so bald wie möglich zurück zu Mama! Da braucht man wenigstens nicht den ganzen Tag zuzugucken, wie ihr euch die Zunge in den Hals steckt! Ihr seid peinlich! Echt widerlich! Wisst ihr das?«

Peng! Belindas Zimmertür wurde zugeknallt und abgeschlossen. Eine Sekunde später ertönte so laute Musik, dass der Tellerstapel auf der Arbeitsplatte scheppernd hochhüpfte.

»Oops.« Er verzog das Gesicht und blickte nach oben.

»Das ist wahrscheinlich genau der richtige Ausdruck.« Anna entzog sich der Umarmung. »Sie hat es nicht leicht im Moment.« Anna stellte die klirrenden Teller ins Spülbecken.

»Aber sie muss doch akzeptieren, dass ich wieder jemanden habe«, erwiderte Dan verärgert.

»Versetz dich mal in ihre Lage. Zuerst lasst ihr euch scheiden, dann spaziert eine …«, sie überlegte ihre Worte genau, »gewisse Anzahl von jungen Damen vorbei, und dann ziehe ich mit zwei Kleinkindern ein. Belinda ist erst siebzehn, allein das ist anstrengend genug. Sich dann auch noch mit ungebetenen Mitbewohnern auseinandersetzen zu müssen …«

»Du hast ja recht …« Dan seufzte. »Ich weiß einfach nicht, wie man mit Teenagern umgeht. Soll ich sie in Ruhe lassen, oder fühlt sie sich dann vernachlässigt? Soll ich auf Nähe bestehen, oder findet sie mich dann zu aufdringlich? Wo ist die Gebrauchsanweisung?«

Anna lachte. »Die habe ich schon im Kreißsaal vermisst. Du solltest versuchen, mit ihr zu reden. Wenn sie dir die Tür vor der Nase zuknallt, hast du es wenigstens probiert. Und dann bemühst du dich wieder. Und wieder. Sie hat Angst, dich zu verlieren. Sie hat Angst, nicht mehr klein sein zu dürfen. Sie hat Angst, dass wir jetzt hier die erste Geige spielen. Das ist doch kein Wunder.«

»Womit habe ich so eine kluge Frau verdient?« Dan zog Anna wieder an sich.

»Ich weiß nicht.« Lächelnd bohrte Anna ihre Nase in seine Brust. »Aber im Grunde bin ich gar nicht besonders klug. Das scheint nur so im Vergleich mit deinen letzten Eroberungen.«

»Pass bloß auf!«, lachte Dan und packte Anna ganz fest. »Wenn du nicht aufhörst, bleibt das Kiefernholzbett vielleicht hier!«

»Willst du, dass ich wieder gehe?«

»Okay, du hast gewonnen. Betrachte es als ausrangiert.«

Sie lachten und küssten sich. Über ihnen wummerte Popmusik in voller Lautstärke.

Patrik sah die beiden Jungs sofort. Sie standen etwas abseits und bibberten. Beide waren kreidebleich im Gesicht, und ihre Erleichterung über das Erscheinen der Polizei war mit Händen zu greifen.

»Martin Molin.« Martin reichte dem Jungen die Hand, der sich murmelnd als Adam Andersson vorstellte. Der andere, der schräg hinter ihm stand, winkte ab.

»Ich musste mich übergeben und habe mir mit der Hand den Mund abgewischt …«

Martin nickte verständnisvoll. Er reagierte beim Anblick von Leichen genauso. Dafür brauchte man sich wirklich nicht zu schämen.

»Was ist denn passiert?« Er wandte sich an Adam, der etwas weniger aufgelöst wirkte. Er war kleiner als sein Freund, hatte schlimme Akne im Gesicht und blondes, längeres Haar.

»Es war so …« Adam blickte Mattias suchend an, doch der zuckte nur mit den Schultern. »Also, wir wollten uns ein bisschen in dem Haus umsehen, weil wir dachten, die beiden Männer wären verreist.«

»Männer?«, fragte Martin. »Wohnen hier zwei Personen?«

Mattias antwortete: »Sie sind Brüder. Keine Ahnung, wie sie mit Vornamen heißen, aber das weiß meine Mutter bestimmt. Sie kümmert sich seit Anfang Juni um die Post. Der eine fährt im Sommer immer weg, der andere eigentlich nicht, aber diesmal hat niemand die Post aus dem Briefkasten geholt und deshalb dachten wir …« Schweigend blickte er auf seine Schuhe. Auf dem einen lag noch eine tote Fliege, die er angewidert abzuschütteln versuchte. »Ist er der Tote?« Er blickte zum Haus.

»Im Moment wisst ihr mehr als wir«, antwortete Martin. »Aber erzähl weiter. Ihr wolltet also ins Haus. Was passierte dann?«

»Mattias entdeckte ein Fenster, das sich öffnen ließ, und kletterte als Erster hinein«, sagte Adam. »Dann zog er mich hoch. Als wir in das Zimmer sprangen, merkten wir, dass es unter unseren Schuhen so seltsam knisterte, aber es war zu dunkel, um zu erkennen, woran das lag.«

»Dunkel?«, fiel Martin ihm ins Wort. »Warum war es dunkel?« Im Augenwinkel sah er, dass Gösta, Paula und Bertil abwartend hinter ihm standen und dem Jungen konzentriert zuhörten.

»Die Rollos waren heruntergezogen«, erklärte Adam geduldig, »aber wir zogen das Rollo an dem Fenster hoch, durch das wir hereingekommen waren, und da sahen wir, dass der Fußboden mit toten Fliegen bedeckt war. Außerdem roch es total ekelhaft.«

»Echt widerlich.« Mattias schien mit einem Würgen zu kämpfen.

»Und dann?«, drängte Martin.

»Dann sind wir weiter ins Zimmer gegangen. Der Schreibtischstuhl stand mit der Rückenlehne zu uns, so dass man nicht sehen konnte, was darauf war, und ich hatte nur so ein Gefühl, man kennt das ja aus CSI, der eklige Geruch und die toten Fliegen und alles … Man musste kein Einstein sein, um auf den Gedanken zu kommen, dass da eine Leiche war … und da saß er!«

Mattias sah das Bild wieder vor seinem inneren Auge, drehte sich um und kotzte hinter sich ins Gras. Dann wischte er sich den Mund ab und wisperte: »Entschuldigung.«

»Schon in Ordnung«, sagte Martin. »Das ist uns beim Anblick einer Leiche allen schon passiert.«

»Mir nicht«, sagte Mellberg von oben herab.

»Mir auch nicht«, fügte Gösta lakonisch hinzu.

»Nein, ich habe das auch noch nie gemacht«, teilte Paula mit.

Martin drehte sich um und warf den dreien einen scharfen Blick zu.

»Er sah tierisch eklig aus«, kam Adam seinem Freund zu Hilfe. Trotz des Schocks schien er die Situation in gewisser Weise zu genießen. Hinter ihm würgte Mattias noch einmal, aber nun kam offenbar nur noch Galle.

»Kann irgendjemand die Jungs nach Hause bringen?« Martins Frage war an alle gerichtet. Nach kurzem Schweigen meldete sich Gösta zu Wort.

»Kommt, Jungs, ich fahre euch nach Hause.«

»Wir wohnen ganz in der Nähe«, sagte Mattias leise.

»Dann begleite ich euch zu Fuß.« Gösta machte eine auffordernde Geste. Betont lässig zottelten die beiden hinter ihm her, Mattias wirkte dankbar, aber Adam war ganz offensichtlich enttäuscht, dass er den weiteren Handlungsverlauf verpassen würde.

Martin blickte ihnen hinterher, bis sie hinter der Biegung verschwunden waren, und sagte dann in einem Ton, der alles andere als Begeisterung ausdrückte: »Dann wollen wir mal sehen, was wir hier haben.«

Bertil Mellberg räusperte sich. »Ich habe zwar keine Probleme mit Leichen … gewiss nicht … ich habe in meinem Arbeitsleben bereits unzählige gesehen, aber irgendjemand muss ja auch … die Umgebung in Augenschein nehmen. Vielleicht ist es am besten, wenn ich als Vorgesetzter diese Aufgabe übernehme – schließlich habe ich am meisten Erfahrung.«

Martin und Paula tauschten amüsierte Blicke, doch dann sagte Martin mit ernstem Gesichtsausdruck: »Da ist was Wahres dran, Bertil. Es ist am besten, wenn jemand mit deiner Erfahrung das Grundstück untersucht. Dann können Paula und ich ins Haus gehen.«

»Ja … ganz genau. Das ist sicherlich am vernünftigsten.« Mellberg wiegte sich zunächst leicht auf den Absätzen, doch dann trottete er über den Rasen.

»Sollen wir reingehen?«, fragte Martin. Paula nickte.

»Jetzt müssen wir vorsichtig sein«, sagte Martin, bevor er die Tür öffnete. »Falls es sich nicht um eine natürliche Todesursache handelt, dürfen wir keine Spuren zerstören. Wir sehen uns nur ein bisschen um, und dann kommen die Techniker.«

»Ich habe fünf Jahre bei der Kriminalpolizei in Stockholm gearbeitet und weiß, wie man sich an einem Tatort zu verhalten hat«, erwiderte Paula, allerdings nicht unfreundlich.

»Entschuldige, das wusste ich eigentlich«, entgegnete Martin peinlich berührt. Dann konzentrierte er sich wieder auf die bevorstehende Aufgabe.

Schon im Hausflur herrschte eine unheimliche Stille. Außer ihren Schritten war kein Laut zu hören. Martin fragte sich, ob ihm die Ruhe genauso gespenstisch erschienen wäre, wenn sie nicht wüssten, dass sich eine Leiche im Haus befand. Er kam zu dem Schluss, dass dies wahrscheinlich nicht der Fall war.

»Dort drinnen«, flüsterte er, bevor ihm einfiel, dass es keinen Grund gab, leise zu sein. Als er seine Worte wiederholte, hallten sie von den Wänden wider.

Paula war direkt hinter ihm. Martin machte einen Schritt auf den Raum zu, in dem sich die Bibliothek befinden musste, und öffnete die Tür. Der merkwürdige Geruch, der ihnen im Haus sofort aufgefallen war, wurde noch stärker. Die Jungs hatten recht. Es lagen Tausende von Fliegen auf dem Fußboden. Es knisterte, als zuerst er und dann Paula das Zimmer betraten. Der Geruch war süß und schwer, aber mit Sicherheit nicht halb so widerlich, wie er zu Beginn gewesen sein musste.

»Kein Zweifel, hier ist vor einer ganzen Weile jemand gestorben«, sagte Paula, während sie und Martin gleichzeitig den Blick auf den Gegenstand am anderen Ende des Raums hefteten.

»Nein, das lässt sich nicht leugnen«, erwiderte Martin mit einem unangenehmen Beigeschmack im Mund. Er riss sich zusammen und ging vorsichtig quer durchs Zimmer auf die Leiche zu.

»Bleib da stehen.« Er hob die Hand, und Paula verharrte gehorsam an der Tür. Sie nahm es ihm nicht übel. Je weniger Polizisten durch den Raum stapften, desto besser.

»Das sieht wirklich nicht nach einer natürlichen Todesursache aus«, stellte Martin fest, während ihm Galle die Speiseröhre hochstieg. Er schluckte mehrmals, um den Würgereflex zu unterdrücken, und versuchte, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Trotz des elenden Zustands der Leiche bestand kein Zweifel. Die große Quetschwunde am Kopf des Toten war ein sicheres Zeichen. Die Person auf dem Stuhl war eines gewaltsamen Todes gestorben.

Vorsichtig drehte Martin sich um und verließ den Raum. Paula folgte ihm. Nach einigen tiefen Atemzügen an der frischen Luft ließ der Würgereflex nach. Im selben Augenblick sah er Patrik um die Ecke biegen und über den Kies stapfen.

»Es war Mord«, sagte Martin, sobald Patrik sich in Hörweite befand. »Torbjörn und sein Team sollen herkommen und die Spuren sichern. Wir können im Moment nicht mehr tun.«

»Okay«, sagte Patrik mit düsterer Miene. »Dürfte ich auch schnell einen …« Er warf einen Blick auf den Kinderwagen.

»Ich passe so lange auf sie auf.« Zärtlich nahm Martin die kleine Maja auf den Arm. »Komm, wir gucken uns die Blumen an.«

»Bume!« Maja zeigte auf die Beete.

»Waren Sie auch drinnen?«, fragte Patrik.

Paula nickte. »Kein schöner Anblick. Sieht aus, als hätte er schon vor dem Sommer dort gesessen. Das ist jedenfalls mein Eindruck.«

»In Stockholm haben Sie wahrscheinlich so manches zu sehen bekommen.«

»Es waren einige Leichen, aber noch keine, die so lange gelegen hat.«

»Ich sehe ihn mir kurz an. Eigentlich bin ich im Erziehungsurlaub, aber …«

Paula lächelte. »Es ist nicht leicht loszulassen, das kann ich verstehen. Aber Martin scheint Sie würdig zu vertreten …« Sie blickte lächelnd zu den Rabatten, wo Martin und Maja kniend die Blumen bewunderten, die noch blühten.