Der Leuchtturmwärter - Camilla Läckberg - E-Book
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Der Leuchtturmwärter E-Book

Camilla Läckberg

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Beschreibung

Schriftstellerin Erica Falck hat mit ihren Zwillingen alle Hände voll zu tun, seit ihr Mann Patrik wieder im Polizeidienst ist. Sie findet kaum Zeit für ihre Schulfreundin Annie, die gerade in das idyllische Fischerdorf Fjällbacka zurückgekehrt ist. Annie zieht in das kleine Haus auf der Leuchtturminsel vor der Küste. Dort soll es nachts spuken, und dunkle Legenden ranken sich um den Ort. Annie scheint es nicht zu stören, vor allem als Mats, ihre erste große Liebe, zu ihr zurückkehrt. Doch dann wird Mats brutal ermordet. Patrik und Erica beginnen zu ermitteln. Schriftstellerin Erica Falck hat mit ihren Zwillingen alle Hände voll zu tun, seit ihr Mann Patrik wieder im Polizeidienst ist. Sie findet kaum Zeit für ihre Freundin Annie, die gerade in das idyllische Fischerdorf Fjällbacka zurückgekehrt ist. Annie zieht in den Leuchtturm auf der kleinen Insel vor der Küste. Dort soll es nachts spuken, und dunkle Legenden ranken sich um den Ort. Annie scheint es nicht zu stören, vor allem seit Mats, ihre erste große Liebe, zu ihr zurückgekehrt ist. Doch dann wird Mats brutal ermordet. Patrik beginnt zu ermitteln.

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Seitenzahl: 731

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Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel Fyrvaktaren bei Forum, Stockholm.

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

List ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH

ISBN 978-3-8437-0348-2

© 2009 by Camilla Läckberg © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Alle Rechte vorbehalten

Für Charlie

Erst als sie das Lenkrad umfasste, sah sie, dass ihre Hände voller Blut waren. Die Finger blieben am Leder kleben. Sie scherte sich jedoch nicht darum, sondern legte den Rückwärtsgang ein und fuhr so forsch aus der Garageneinfahrt, dass unter den Reifen der Schotter hochspritzte.

Die Fahrt würde lange dauern. Sie warf einen Blick auf die Rückbank. Sam schlief, eingewickelt in eine Decke. Eigentlich hätte sie ihn anschnallen müssen, aber sie brachte es nicht übers Herz, ihn zu wecken. Sie musste nur so vorsichtig wie möglich fahren. Automatisch nahm sie den Fuß ein wenig vom Gas.

Die Sommernacht ging bereits ihrem Ende zu. Die dunklen Stunden, kaum dass sie begonnen hatten, waren schon fast vorüber. Trotzdem erschien ihr diese Nacht endlos. Alles hatte sich geändert. Fredriks braune Augen hatten reglos an die Decke gestarrt, und sie hatte begriffen, dass sie nichts mehr tun konnte. Sie musste sich und Sam in Sicherheit bringen. An das Blut und an Fredrik durfte sie nicht denken.

Es gab nur einen Ort, wohin sie flüchten konnte.

Sechs Stunden später waren sie angekommen. Fjällbacka wurde langsam wach. Sie stellte den Wagen bei der Küsten­wache ab und überlegte eine Weile, wie sie alles transportieren sollte. Sam schlief noch immer tief und fest. Sie nahm eine Packung Taschentücher aus dem Handschuhfach und wischte sich notdürftig die Hände sauber. Das Blut ließ sich nur schwer entfernen. Dann hievte sie das Gepäck aus dem Kofferraum und zog die Koffer nach Badholmen, wo das Boot lag. Sie fürchtete, dass Sam aufwachen würde, hatte aber zur Sicherheit das Auto abgeschlossen, damit er nicht aussteigen und womöglich ins Wasser fallen konnte. Ächzend stellte sie die Koffer ins Boot und löste die Sicherheitskette, die verhindern sollte, dass das Boot gestohlen wurde. Anschließend rannte sie zurück zum Auto und stellte erleichtert fest, dass Sam noch genauso ruhig schlief wie vorher. Sie nahm ihn auf den Arm und trug ihn in der Decke zum Boot. Beim Einsteigen achtete sie darauf, nicht auszurutschen. Vorsichtig legte sie Sam ins Boot und drehte den Zündschlüssel um. Beim ersten Versuch gab der Motor nur ein Hüsteln von sich. Sie war lange nicht mit dem Boot gefahren, hatte aber das Gefühl, dass sie es schaffen würde. Rückwärts legte sie ab und steuerte das Boot aus dem Hafen.

Die Sonne schien, aber sie wärmte noch nicht. Langsam ließ die Anspannung nach, und die entsetzliche Nacht fiel von ihr ab. Sie betrachtete Sam. Ob er einen dauerhaften Schaden ­davongetragen hatte? Ein Fünfjähriger war verletzlich. Man konnte nicht wissen, was in seinem Innern zerbrochen war. Sie würde alles tun, um ihn zu heilen. Das Böse würde sie weg­küssen wie nach einem Fahrradsturz oder wenn er sich die Knie aufgeschlagen hatte.

Die Strecke war ihr vertraut. Sie kannte jede Insel, jede Schäre. Sie steuerte Väderöbod an und entfernte sich immer weiter von der Küste. Der Seegang war nun etwas höher, und der Bug klatschte nach jedem Wellenkamm auf die Wasseroberfläche. Sie genoss das Salzwasser, das ihr ins Gesicht spritzte, und schloss für einen Moment die Augen. Als sie sie wieder öffnete, erblickte sie in der Ferne Gråskär. Wie jedes Mal, wenn die Insel plötzlich in Sicht kam und sie das kleine Haus und den stolzen weißen Leuchtturm vor dem blauen Himmel sehen konnte, machte ihr Herz vor Freude einen Sprung. Noch war sie zu weit entfernt, um den Anstrich des Hauses zu erkennen, aber sie konnte sich gut an den hellgrauen Farbton und die weißen Fensterrahmen erinnern. Vor ihrem inneren Auge sah sie auch die rosa Stockrosen an der wind­abgewandten Seite. Das war ihr Zufluchtsort, ihr Paradies. Ihr Gråskär.

In der Kirche von Fjällbacka waren alle Bänke besetzt, und der Altarraum quoll über vor Blumen. Kränze, Sträuße und seidene Trauerschleifen mit letzten Grüßen.

Patrik brachte es kaum über sich, den weißen Sarg inmitten des Blütenmeers anzusehen. In der großen Steinkirche herrschte beklemmende Stille. Auf den Beerdigungen von alten Menschen war immer Gemurmel zu hören. Während man sich auf Kaffee und Kuchen freute, raunte man sich zu: Sie hatte so starke Schmerzen, dass es wohl ein Segen war. Heute wurde geschwiegen. Alle saßen schwermütig auf ihren Plätzen und konnten die Ungerechtigkeit nicht fassen. So etwas durfte nicht sein.

Patrik räusperte sich, hob den Blick zur Decke und versuchte, seine Tränen wegzublinzeln. Er umklammerte Ericas Hand. Der Anzug kniff und kratzte, und Patrik musste am Hemdkragen zerren, um wieder Luft zu bekommen. Er hatte das Ge­fühl zu ersticken.

Oben im Turm läuteten die Glocken, und der Klang hallte von den Wänden wider. Viele zuckten zusammen und warfen einen Blick auf den Sarg. Lena kam aus der Sakristei und ging auf den Altar zu. Vor einer gefühlten Ewigkeit, in einer vollkommen anderen Wirklichkeit hatte Lena sie in dieser Kirche getraut. Damals war die Stimmung heiter, gelöst und unbeschwert gewesen. Nun wirkte die Pastorin ernst. Patrik versuchte, ihren Gesichtsausdruck zu deuten. Fand sie es auch nicht richtig? Oder lebte sie in der Gewissheit, dass alles, was geschah, einen Sinn hatte?

Wieder kamen ihm die Tränen. Er wischte sie sich mit ­dem Handrücken ab. Erica steckte ihm unauffällig ein Taschentuch zu. Nachdem der letzte Orgelton verklungen war, herrsch­­te ­einige Sekunden lang Stille. Erst dann ergriff Lena das Wort. Anfangs bebte ihre Stimme, doch mit der Zeit wurde sie fester.

»Das Leben kann sich von einem Augenblick auf den anderen verändern. Aber Gott ist mit uns. Auch heute.«

Patrik sah, wie sich ihr Mund bewegte, hörte ihr aber nicht mehr zu. Er wollte nicht wissen, was sie sagte. Das bisschen Kinderglaube, das ihn sein Leben lang begleitet hatte, war verschwunden. Das, was passiert war, hatte keinen Sinn. Erneut umklammerte er Ericas Hand.

»Ich habe die Ehre, Ihnen voller Stolz zu verkünden, dass wir unseren Zeitplan einhalten werden. In gut drei Wochen findet in Fjällbacka die feierliche Einweihung des Wellnesshotels Badis statt.«

Erling W. Larson plusterte sich auf und ließ den Blick über die Vorstandsmitglieder des Gemeinderats schweifen, als erwarte er Applaus, musste sich jedoch damit begnügen, dass der eine oder andere anerkennend nickte. Immerhin.

»Das ist ein triumphaler Augenblick für unseren Ort«, erklärte er. »Einerseits ist ein Gebäude, das man nur als Kleinod bezeichnen kann, von Grund auf renoviert worden, andererseits haben wir nun ein modernes und konkurrenzfähiges Gesundheitszentrum zu bieten. Oder besser gesagt ein Spa, wie man das heutzutage nennt.« Er deutete mit dem Zeigefinger Gänsefüßchen an. »Nun bleibt nur noch der Feinschliff, dann dürfen einige ausgewählte Gruppen die Anlage testen, und schließlich muss das glanzvolle Eröffnungsfest vorbereitet werden.«

»Schön. Ich habe nur noch ein paar Fragen.« Mats Sverin, der seit einigen Monaten für die kommunalen Finanzen zuständig war, wedelte mit seinem Kuli, um Erling auf sich aufmerksam zu machen.

Aber Erling schaltete auf stur. Ihm war alles zuwider, was mit Verwaltung und Buchhaltung zu tun hatte. Zügig erklärte er die Versammlung für beendet und zog sich in sein geräumiges Arbeitszimmer zurück.

Nach dem Misserfolg mit der Realityshow »Raus aus Tanum« hatte niemand geglaubt, dass er noch einmal auf die Beine kommen würde, aber nun stand er mit einem noch grandioseren Projekt da. Nicht einmal im Kreuzfeuer der Kritik hatte er an sich gezweifelt. Er war von Geburt an ein Gewinnertyp.

Natürlich war ihm das Ganze an die Nieren gegangen, und deshalb war er zur Erholung nach Dalarna auf den Gesundheitshof Licht gefahren. Das war ein Glücksgriff gewesen, denn sonst hätte er niemals Vivianne kennengelernt. Die Begegnung mit ihr war für ihn ein Wendepunkt gewesen, sowohl beruflich als auch privat. Sie hatte ihn bezaubert wie noch keine andere Frau, und nun verwirklichte er ihren Traum.

Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, zum Hörer zu greifen und sie anzurufen. Es war bereits das vierte Mal an diesem Tag, aber beim Klang ihrer Stimme kribbelte es in seinem ganzen Körper. Mit angehaltenem Atem wartete er da­r­auf, dass sie ans Telefon ging.

»Hallo, mein Liebling«, sagte er, nachdem sie sich gemeldet hatte. »Ich wollte mich nur erkundigen, wie es dir geht.«

»Erling«, antwortete sie in diesem besonderen Ton, bei dem er sich wie ein liebeskranker Jüngling vorkam. »Es geht mir noch genauso gut wie bei deinem letzten Anruf vor einer Stunde.«

»Fein.« Er grinste dämlich. »Ich wollte mich nur vergewissern, dass es dir gut geht.«

»Ich weiß, und dafür liebe ich dich. Aber wir haben vor der Einweihung noch viel zu erledigen, und du willst doch wohl nicht, dass ich bis spät in die Nacht arbeiten muss?«

»Auf keinen Fall, mein Schatz.«

Er beschloss, sie nun nicht mehr zu stören. Die Abende mit ihr waren ihm heilig.

»Sei schön fleißig, das bin ich hier auch.« Er schmatzte ein paar Küsse in den Hörer und legte auf. Dann lehnte er sich in seinem Bürostuhl zurück, faltete die Hände im Nacken und malte sich genüsslich die Freuden aus, die ihn heute noch erwarteten.

Im Haus roch es abgestanden. Annie machte alle Fenster und Türen weit auf und ließ den frischen Wind durch die Räume wehen. Im starken Luftzug fiel beinahe eine Vase um, aber sie fing sie im letzten Moment auf.

Sam lag in dem kleinen Zimmer neben der Küche. Sie hatten es in all den Jahren als Gästezimmer bezeichnet, obwohl es eigentlich ihr gehörte. Ihre Eltern hatten im Obergeschoss geschlafen. Sie warf einen Blick auf ihn, legte sich ein Tuch um die Schultern und nahm den großen, rostigen Schlüssel von dem Haken neben der Haustür, wo er immer hing. Dann ging sie zu den Klippen. Der Wind blies ihr durch die Kleidung, als sie mit dem Rücken zum Haus den Horizont betrachtete. Das einzige andere Gebäude auf der Insel war der Leuchtturm. Der Bootsschuppen unten am Anleger war so klein, dass er nicht zählte.

Sie wanderte hinüber zum Leuchtturm. Gunnar musste das Schloss geölt haben, denn der Schlüssel ließ sich erstaunlich leicht drehen. Knarrend öffnete sich die Tür. Dahinter begannen gleich die Stufen. Sie hielt sich am Geländer fest, als sie die schmale, steile Treppe hochstieg.

Die Aussicht war atemberaubend schön, das hatte sie immer gefunden. Auf der einen Seite sah man nur das Meer und den Horizont, auf der anderen breiteten sich die Schären und Inseln aus. Der Leuchtturm wurde schon seit vielen Jahren nicht mehr benutzt. Nun stand er auf der Insel wie ein Denkmal vergangener Zeiten. Die Lampe war aus, und die gusseisernen Mantelplatten und Bolzen rosteten durchs Salzwasser und den Wind langsam vor sich hin. Als Kind hatte sie es geliebt, hier oben zu spielen. Es war so eng wie in einer Puppenstube hoch über der Erde. Nur ein Bett, in dem sich die Leuchtturmwärter während ihrer langen Schichten ausruhten, und ein Stuhl, von dem aus man das Fahrwasser beobachten konnte, passten in den Raum.

Sie legte sich auf das Bett. Die Tagesdecke verströmte einen muffigen Geruch, aber die Geräusche hörten sich noch genauso an wie in ihrer Kindheit. Das Kreischen der Sturmmöwen, die Wellen, die gegen die Klippen schlugen, und die knirschenden und ächzenden Laute, die der Leuchtturm von sich gab. Damals war alles so einfach gewesen. Ihre Eltern hatten sich besorgt gefragt, ob sie sich als einziges Kind auf der Insel nicht langweilen würde. Aber das hätten sie nicht gemusst. Sie liebte es, hier zu sein. Und allein war sie auch nicht gewesen. Doch das konnte sie ihnen nicht erklären.

Seufzend schaufelte Mats Severin die Papiere auf seinem Schreibtisch von einer Seite zur anderen. Heute war so ein Tag, an dem er nur an sie denken konnte. Nicht aufhören konnte, sich Fragen zu stellen. An diesen Tagen schaffte er nicht viel, aber sie wurden inzwischen immer seltener. Er hatte angefangen loszulassen, das redete er sich zumindest ein. In Wahrheit würde ihm das wohl niemals vollständig gelingen. Noch immer sah er ihr Gesicht ganz deutlich vor sich, und im Grunde war er dankbar dafür. Gleichzeitig wünschte er, dass die Bilder endlich verblassen würden.

Er versuchte, sich wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren. An guten Tagen machte es ihm mitunter sogar Spaß. Es war eine Herausforderung, sich in die Finanzen einer Gemeinde einzuarbeiten, wo ständig zwischen politischer Rücksichtnahme und marktwirtschaftlicher Vernunft abgewogen werden musste. In den Monaten, die er hier schon arbeitete, hatte er natürlich viel Zeit auf das Projekt Badis verwendet. Er freute sich darüber, dass das alte Gebäude endlich restauriert worden war. Genau wie der Großteil der Leute aus Fjällbacka, ob sie nun noch hier wohnten oder längst weggezogen waren, hatte er jedes Mal, wenn er an dem einst so schönen Gebäude vor­beikam, bedauert, dass man es einfach verfallen ließ. Nun erstrahlte es wieder im alten Glanz.

Hoffentlich behielt Erling recht, wenn er dem Betrieb einen so gigantischen Erfolg versprach. Mats war skeptisch. Das Projekt hatte allein für den Umbau enorme Summen verschlungen, und der vorgelegte Businessplan gründete sich auf viel zu optimistische Berechnungen. Mehrmals hatte er versucht, seine Einwände vorzubringen, war aber auf taube Ohren gestoßen. Außerdem hatte er das ungute Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Dabei war das Projekt von ihm im­mer wieder durchgerechnet worden, festgestellt hatte er lediglich, dass die bereits entstandenen Kosten schwindelerregend hoch waren.

Er warf einen Blick auf die Uhr. Zeit fürs Mittagessen. Richtigen Appetit hatte er schon lange nicht mehr, aber er musste etwas essen. Heute war Donnerstag, und das bedeutete, dass es im Källaren Pfannkuchen und Erbsensuppe gab. Ein bisschen würde er wohl runterbekommen.

Nur die nächsten Angehörigen sollten bei der Beisetzung anwesend sein. Die anderen verschwanden in Richtung Ort. Erica umklammerte Patriks Hand. Sie gingen direkt hinter dem Sarg, und sie hatte das Gefühl, dass ihr jeder Schritt einen Stoß ins Herz versetzte. Sie hatte sich sehr bemüht, Anna davon abzuhalten, sich das anzutun, aber ihre Schwester hatte auf einer richtigen Beerdigung bestanden. Da dieser Wunsch sie vorübergehend aus ihrem apathischen Zustand gerissen hatte, gab Erica es schließlich auf und war bei allen notwen­digen Vorbereitungen behilflich, damit Anna und Dan ihren Sohn begraben konnten.

In einem Punkt jedoch hatte sie sich ihrer Schwester nicht gebeugt. Anna wollte alle Kinder dabeihaben, aber Erica hatte darauf bestanden, dass die kleineren zu Hause blieben. Nur die beiden Ältesten, Dans Töchter Belinda und Malin, kamen mit. Auf Lisen, Adrian, Emma und Maja passte Patriks Mutter Kristina auf. Auf die Zwillinge natürlich auch. Erica hatte befürchtet, dass es Kristina zu viel würde, aber ihre Schwiegermutter hatte ihr versichert, dass die Kinder die zwei Stunden, die die Beerdigung dauerte, in ihrer Obhut überleben würden.

Sie spürte einen Schmerz in der Brust, als sie Annas fast kahlen Kopf vor sich sah. Die Ärzte hatten ihr die Haare abra­sieren und ein Loch in den Schädel bohren müssen, um den Druck entweichen zu lassen, der sich darin aufgebaut hatte und dauer­hafte Schäden zu verursachen drohte. Nun war auf ihrem Kopf ein zarter Flaum gewachsen, aber er wirkte dunkler als vorher.

Im Gegensatz zu Anna und der Fahrerin in dem anderen Auto, die bei dem Zusammenstoß ums Leben gekommen war, hatte Erica unglaubliches Glück gehabt. Sie kam mit einer Gehirnerschütterung und ein paar gebrochenen Rippen davon. Die Zwillinge waren zwar klein, als sie per Notkaiserschnitt auf die Welt geholt wurden, aber kräftig und gesund genug, um nach zwei Monaten aus der Klinik entlassen zu werden.

Erica brach beinahe in Tränen aus, als ihr Blick von dem Flaum auf Annas Kopf zu dem kleinen weißen Sarg wanderte. Abgesehen von den schweren Kopfverletzungen hatte sich Anna den Beckenknochen gebrochen. Auch bei ihr wurde ein Notkaiserschnitt durchgeführt, aber das Kind hatte so schwere Verletzungen erlitten, dass die Ärzte ihnen nicht viel Hoffnung machten. Nach einer Woche hatte der kleine Junge aufgehört zu atmen.

Das Begräbnis hatte nicht stattfinden können, solange Anna im Krankenhaus bleiben musste. Gestern durfte sie endlich nach Hause. Und heute wurde ihr Sohn beerdigt, dem ein Leben voller Liebe bevorgestanden hätte. Erica sah, wie Dan seine Hand auf Annas Schulter legte, nachdem er den Rollstuhl vorsichtig neben das Grab geschoben hatte. Anna schüttelte die Hand ab. Das war schon seit dem Unfall so. Ihr Schmerz schien derart groß zu sein, dass sie ihn nur allein ertrug. Dan dagegen brauchte jemanden, mit dem er den Schmerz hätte teilen können, doch nicht irgendjemanden. Patrik und Erica hatten versucht, mit ihm zu reden, und alle in seiner Umgebung hatten getan, was sie konnten. Aber er wollte seine Trauer nur mit Anna teilen. Und sie konnte es nicht.

Erica fand Annas Reaktion verständlich. Sie kannte ihre Schwester so gut und wusste, was sie durchgemacht hatte. Das Leben hatte Anna bereits einiges zugemutet, und das hier würde vielleicht alles zum Einsturz bringen. Doch auch wenn Erica Annas Verhalten nachvollziehen konnte, wünschte sie, alles wäre anders gewesen. Anna brauchte Dan mehr als je zuvor, und Dan brauchte Anna. Nun standen sie nebeneinander wie zwei Fremde, während der kleine Sarg in die Erde gesenkt wurde.

Erica streckte die Hand aus und legte sie Anna auf die Schulter. Ericas Hand durfte liegen bleiben.

Vor lauter Rastlosigkeit fing Annie an zu putzen und zu waschen. Das Lüften hatte gutgetan, aber der abgestandene Geruch hing noch immer in Gardinen und Bettzeug. Sie stopfte alles in einen großen Wäschekorb und ging damit zum Anleger hinunter. Kernseife und das alte Waschbrett, das sich im Haus befand, seit sie denken konnte, nahm sie auch mit. Sie krempelte die Ärmel hoch und wusch die Wäsche im Schweiße ihres Angesichts von Hand. Ab und zu warf sie einen Blick auf das Haus, um sich zu vergewissern, dass Sam nicht aufgewacht und rausgelaufen war. Aber er schlief ungewöhnlich lange. Vielleicht stand er irgendwie unter Schock, und da würde es ihm bestimmt guttun, sich ordentlich auszuschlafen. Noch eine Stunde, beschloss sie, dann würde sie ihn wecken und da­für sorgen, dass er etwas aß.

Auf einmal wurde Annie klar, dass es wahrscheinlich gar nicht viel zu essen gab. Sie hängte die Wäsche auf die Leine vor dem Haus und ging hinein, um in den Schränken nachzusehen. Eine Dose mit Campbell’s Tomatensuppe und eine mit Würstchen der Marke Bullens Pilsnerkorv war alles, was sie entdeckte. An die Verfallsdaten wagte sie gar nicht zu denken. Andererseits hielten solche Lebensmittel angeblich ewig, und zumindest heute würden Sam und sie damit schon zurechtkommen.

In den Ort zu fahren reizte sie überhaupt nicht. Hier fühlte sie sich sicher. Sie wollte keine anderen Menschen sehen, sie wollte ihre Ruhe. Mit der Suppendose in der Hand überlegte Annie eine Weile. Es gab nur eine Lösung. Sie musste Gunnar anrufen. Er hatte sich nach dem Tod ihrer Eltern um das Haus gekümmert, und sie konnte ihn bestimmt auch jetzt um Hilfe bitten. Der Festnetzanschluss funktionierte nicht mehr, aber mit dem Handy hatte sie guten Empfang. Sie tippte seine Nummer ein.

»Sverin.«

Der Name weckte so viele Erinnerungen, dass Annie zusammenzuckte. Es dauerte einen Moment, bis sie sich so weit gefasst hatte, dass sie sprechen konnte.

»Hallo? Ist da jemand?«

»Ja, hallo, hier ist Annie.«

»Annie!«, rief Signe Sverin.

Annie lächelte. Sie hatte Signe und Gunnar immer geliebt, und ihre Liebe wurde erwidert.

»Bist du es, meine Süße? Rufst du aus Stockholm an?«

»Nein, ich bin auf der Insel.« Zu ihrem Erstaunen schnürte es ihr die Kehle zu. Sie hatte nur ein paar Stunden geschlafen, und wahrscheinlich machte die Müdigkeit sie so dünnhäutig. Sie räusperte sich. »Ich bin gestern angekommen.«

»Da hättest du uns vorwarnen sollen, Herzchen, dann wären wir rausgefahren und hätten alles saubergemacht. Es muss ja furchtbar aussehen und …«

»Das Putzen war nicht so wild«, unterbrach Annie zaghaft Signes Wortschwall. Sie hatte ganz vergessen, wie viel und vor allem wie schnell Signe redete. »Ihr habt hier draußen alles wunderbar in Ordnung gehalten. Und das bisschen Aufräumen und Waschen macht mir nichts aus.«

Signe schnaubte.

»Ich finde wirklich, du hättest uns um Hilfe bitten sollen. Gunnar und ich haben doch sowieso nichts Vernünftiges mehr zu tun. Wir haben nicht einmal Enkelkinder, um die wir uns kümmern können. Aber Matte ist wieder von Göteborg hierhergezogen. Er hat in Tanum eine Stelle bei der Gemeinde.«

»Das ist ja toll für euch. Wie ist es denn zu diesem Entschluss gekommen?« Sie sah Matte vor sich. Blond, braun gebrannt und immer gut gelaunt.

»Ich weiß nicht genau. Das ging recht schnell. Er hat etwas Schlimmes erlebt, und seitdem habe ich den Eindruck … ach, nichts. Kümmere dich nicht um ein altes Weib, das sich zu viele Gedanken macht. Was hast du auf dem Herzen, Annie? Können wir dir irgendwie behilflich sein? Hast du den kleinen Mann dabei? Es wäre so schön, ihn mal zu sehen.«

»Ja, Sam ist hier, aber er ist ein bisschen krank.«

Annie verstummte. Nichts hätte ihr mehr Freude bereitet, als Signe ihren Sohn zu zeigen. Aber erst mussten sie auf der Insel zur Ruhe kommen. Erst musste sie wissen, wie stark die jüngsten Ereignisse auf ihn gewirkt hatten.

»Genau deshalb wollte ich fragen, ob ihr mir bei einer Sache helfen könnt. Wir haben hier draußen nicht besonders viel zu essen, und ich wollte Sam noch nicht aus dem Bett reißen und mit ihm in den Ort …« Sie hatte den Satz noch nicht beendet, als Signe ihr ins Wort fiel.

»Du weißt doch, dass wir dir furchtbar gern helfen. Gunnar fährt am Nachmittag sowieso mit dem Boot raus, und ich kann gern für dich einkaufen gehen. Sag mir einfach, was ihr braucht.«

»Ich habe Bargeld hier, das ich Gunnar geben kann. Vielleicht habt ihr ja die Möglichkeit, bis dahin etwas für mich auszulegen.«

»Natürlich, Herzchen. So, was soll ich denn nun auf die Einkaufsliste schreiben?«

Vor ihrem geistigen Auge sah Annie, wie Signe ihre Lesebrille auf die Nasenspitze setzte und nach Stift und Papier griff. Dankbar ratterte Annie alles herunter, was ihr in den Sinn kam. Inklusive einer Tüte Süßigkeiten für Sam, denn sonst würde der Samstag anstrengend. Sam hatte einen bewundernswerten Überblick über die Wochentage und freute sich immer schon ab Sonntag auf die Leckereien am nächsten Sams­tag.

Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, überlegte sie, ob sie reingehen und vorsichtig versuchen sollte, Sam zu wecken. Irgendetwas sagte ihr jedoch, dass sie damit besser noch ein Weilchen wartete.

In der Dienststelle ruhte die Arbeit. Bertil Mellberg hatte Patrik mit ungewohntem Feingefühl gefragt, ob er wolle, dass die Kollegen zur Beerdigung kämen. Doch Patrik hatte den Kopf geschüttelt. Er ging erst seit wenigen Tagen wieder arbeiten, und die anderen schlichen auf Zehenspitzen um ihn herum. Sogar Mellberg.

Paula und Mellberg waren als Erste am Unglücksort ge­wesen. Als sie die beiden bis zur Unkenntlichkeit ineinander verknäulten Autos sahen, hielten sie es für unmöglich, dass irgendjemand überlebt haben könnte. Sie warfen einen Blick in den einen Wagen und erkannten Erica sofort. Erst vor einer halben Stunde hatte der Krankenwagen Patrik von der Dienststelle abgeholt, und nun lag seine Frau hier tot oder zumindest schwer verletzt vor ihnen. Die Rettungssanitäter konnten ihnen keine genauen Auskünfte über das Ausmaß der Schäden geben, und die Feuerwehrleute brauchten quälend lange, um das Auto aufzuschneiden.

Martin und Gösta waren zu einem Einsatz ausgerückt und erfuhren erst Stunden später von dem Unfall und Patriks Zusammenbruch. Sie fuhren ins Krankenhaus nach Uddevalla und tigerten den ganzen Abend auf den Fluren auf und ab. Patrik lag auf der Intensivstation, und bei Erica und ihrer Schwester Anna, die auf dem Beifahrersitz gesessen hatte, wurden Notoperationen durchgeführt.

Nun war Patrik wieder da. Zum Glück hatte er nicht, wie zuerst befürchtet, einen Herzinfarkt gehabt, sondern litt an Angina Pectoris. Er war drei Monate krankgeschrieben, und nun hatten die Ärzte ihm zwar erlaubt, wieder zu arbeiten, ihm aber jeglichen Stress streng verboten. Wie auch immer das gehen sollte, dachte Gösta. Mit fast neugeborenen Zwillingen zu Hause, und dazu noch Annas Schicksal. Auch der Abgebrühteste hätte da gestresst reagiert.

»Hätten wir trotzdem hingehen sollen?« Martin rührte in seiner Kaffeetasse. »Vielleicht hat Patrik nein gesagt, obwohl er uns eigentlich gern dabeigehabt hätte.«

»Ich glaube, Patrik hat es so gemeint, wie er es gesagt hat.« Gösta kraulte den Dienststellenhund hinterm Ohr. »Es sind bestimmt genug Leute da. Hier können wir uns sinnvoller betätigen.«

»Wie meinst du das? Heute Vormittag hat noch keine Sau angerufen.«

»Die Ruhe vor dem Sturm. Im Juli wirst du dich noch nach einem Tag ohne Besäufnisse, Einbrüche und Krawall sehnen.«

»Stimmt«, erwiderte Martin. Er war immer der Jüngste in der Dienststelle gewesen, kam sich aber nicht mehr ganz so grün hinter den Ohren vor. Er war nun seit einigen Jahren dabei und hatte an einigen, gelinde gesagt, schweren Fällen mitgearbeitet. Außerdem war er Vater geworden. In dem Augenblick, als Pia ihre Tochter zur Welt brachte, hatte er das Gefühl gehabt, Dutzende von Zentimetern zu wachsen.

»Hast du die Einladung gesehen, die wir bekommen haben?« Gösta streckte die Hand nach einem Ballerinakeks aus und trennte wie üblich den weißen Ring feinsäuberlich vom braunen Boden.

»Welche Einladung?«

»Offenbar haben wir die Ehre, in diesem schicken neuen Laden in Fjällbacka die Versuchskaninchen zu spielen.«

»Im Badis?« Martin wurde sofort munterer.

»Genau, Erlings neues Baby. Bleibt nur zu hoffen, dass das Projekt besser läuft als dieser ›Raus aus Tanum‹-Quatsch.«

»Ich finde, es klingt gut. Viele Männer finden zwar schon den Gedanken an eine Gesichtsbehandlung zum Lachen, aber ich habe mir einmal in Göteborg eine gegönnt, und das war unheimlich schön. Meine Haut war noch wochenlang zart wie ein Kinderpopo.«

Gösta warf einen abschätzigen Blick auf seinen jungen Kollegen. Eine kosmetische Behandlung? Nur über seine Leiche hätte er sich eine klebrige Masse ins Gesicht schmieren lassen. »Na, sehen wir mal, was die zu bieten haben. Hoffentlich gibt es wenigstens was Vernünftiges zu essen. Vielleicht ein leckeres Nachspeisenbuffet.«

»Wohl kaum«, lachte Martin. »In solchen Restaurants geht es nicht darum, sich einen Ranzen anzufuttern, sondern in Form zu bleiben.«

Gösta sah ihn beleidigt an. Er brachte kein Gramm mehr auf die Waage als beim Abitur. Naserümpfend schnappte er sich noch einen Keks.

Zu Hause herrschte Chaos. Maja und Lisen hüpften auf dem Sofa herum, Emma und Adrian prügelten sich um eine DVD, und die Zwillinge brüllten aus vollem Hals. Patriks Mutter schien sich jeden Augenblick von einer Klippe stürzen zu wollen.

»Gott sei Dank seid ihr wieder da«, ächzte sie und überreichte Patrik und Erica je einen Säugling. »Ich habe keine Ahnung, was in die Kinder gefahren ist. Sie haben einfach verrückt gespielt. Und diese zwei hier wollte ich füttern, aber wenn man dem einen die Flasche gibt, fängt der andere an zu schreien, lenkt seinen Bruder ab, und dann fängt der auch noch an …« Sie schnappte nach Luft.

»Setz dich, Mama.« Patrik holte eine Flasche für Anton, den er auf dem Arm hielt. Der Junge hatte ein knallrotes Gesicht und brüllte so laut, wie sein kleiner Körper es erlaubte.

»Bringst du für Noel auch ein Fläschchen mit?« Erica versuchte, ihren schreienden Sohn zu beruhigen.

Anton und Noel waren immer noch winzig. Ganz und gar nicht wie Maja, die schon als Baby groß und robust gewesen war. Trotzdem waren sie im Vergleich zu ihrer Geburtsgröße jetzt riesig. Wie kleine Vogeljunge hatten sie an lauter Schläuchen in ihren Brutkästen gelegen. Sie seien Kämpfernaturen, hieß es im Krankenhaus. Rasch erholten sie sich, fingen an zu wachsen und hatten meistens einen gesunden Appetit. Dennoch blieb die Sorge um die beiden.

»Danke.« Erica griff nach der Flasche, die Patrik ihr reichte, und machte es sich mit Noel im Arm auf dem einen Sessel bequem. Sofort begann er, gierig die Milch zu saugen. Patrik nahm auf dem anderen Sessel Platz, und Anton verstummte genauso schnell wie sein Bruder. Es hatte definitiv seine guten Seiten, dass es mit dem Stillen nicht geklappt hatte, dachte Erica. Sie konnten sich die Verantwortung für die Säuglinge in einem Ausmaß teilen, das bei Maja, die damals rund um die Uhr an ihrer Brust zu hängen schien, unvorstellbar gewesen wäre.

»Wie war es?«, fragte Kristina. Sie hob Maja und Lisen vom Sofa herunter und schickte sie zum Spielen hinauf in Majas Zimmer. Emma und Adrian mussten nicht mehr überredet werden, sie waren bereits im Obergeschoss verschwunden.

»Wie soll ich es ausdrücken«, sagte Erica. »Ich mache mir Sorgen um Anna.«

»Ich auch.« Vorsichtig rutschte Patrik in eine bequemere Stellung. »Ich habe das Gefühl, dass sie sich vor Dan verschließt. Sie hält ihn auf Distanz.«

»Das stimmt. Ich habe versucht, mit ihr darüber zu reden, aber nach allem, was sie durchgemacht hat …« Erica schüttelte den Kopf. Es war so unfassbar ungerecht. Annas Leben war jahrelang die Hölle gewesen, aber in letzter Zeit schien sie endlich ihren Seelenfrieden gefunden zu haben. Sie war so glücklich über das Kind gewesen, das sie und Dan erwarteten. Es war so unglaublich grausam.

»Emma und Adrian scheinen allerdings ganz gut damit ­zurechtzukommen.« Kristina warf einen Blick nach oben, wo fröhliches Kinderlachen ertönte.

»Ja, vielleicht«, sagte Erica. »Im Augenblick freuen sie sich wahrscheinlich vor allem, weil ihre Mama wieder zu Hause ist. Ich bin mir aber nicht sicher, ob sie wirklich schon begriffen haben, was passiert ist.«

»Da hast du wahrscheinlich recht.« Kristina betrachtete ­ihren Sohn. »Und was ist mit dir? Solltest du nicht noch ein bisschen zu Hause bleiben und dich richtig erholen? Niemand dankt es dir, wenn du dich in dieser Dienststelle zu Tode schuftest. Dieser Vorfall war ein Warnschuss.«

»Im Moment geht es dort vermutlich ruhiger zu als hier.« Erica deutete auf die Zwillinge. »Aber ich habe natürlich das Gleiche gesagt.«

»Mir tut es gut, wieder zu arbeiten, aber ich bliebe auch noch eine Zeitlang zu Hause, wenn du mich darum bitten würdest, das weißt du.« Patrik stellte das leere Fläschchen auf den Wohnzimmertisch und legte sich Anton geschickt über die Schulter, damit der sein Bäuerchen machte.

»Wir kommen jetzt ausgezeichnet zurecht.«

Erica meinte das wirklich. Nach Majas Geburt hatte sie ständig das Gefühl gehabt, sich in einem dichten Nebel zu bewegen, aber diesmal war alles anders. Vielleicht hatten die Umstände bei der Geburt der Zwillinge keinen Raum für Depressionen gelassen. Außerdem erwies es sich als günstig, dass sie im Krankenhaus bereits einen festen Rhythmus gefunden hatten. Nun aßen und schliefen sie ganz brav zu bestimmten Zeiten und dazu noch gleichzeitig. Nein, sie machte sich wirklich nicht die geringsten Sorgen, dass sie es nicht schaffen würde, sich um ihre Kinder zu kümmern. Sie war froh über jede Sekunde, die sie mit ihnen verbringen durfte. Um Haaresbreite hätte sie sie verloren.

Sie schloss die Augen, beugte sich nach vorn und legte die Nase an Noels Köpfchen. Einen Moment lang erinnerte sie der zarte Flaum an Anna, und sie kniff die Augen noch fester zu. Hoffentlich kam ihr bald eine Idee, wie sie ihrer Schwester helfen könnte, denn im Moment fühlte sie sich ziemlich hilflos. Sie holte tief Luft und ließ sich von Noels Duft trösten.

»Mein Liebling«, murmelte sie ganz nah an seinem Köpfchen. »Mein Liebling.«

»Wie läuft es denn bei der Arbeit?« Signe bemühte sich um ­einen unbeschwerten Ton, während sie eine ordentliche Portion Hackbraten mit Erbsen, Kartoffelbrei und Rahmsauce auf einen Teller lud.

Obwohl sie jedes Mal eins seiner Lieblingsgerichte zubereitete, stocherte Matte meist lustlos im Essen herum, seit er wieder in Fjällbacka wohnte. Es war fraglich, ob er allein in seiner Wohnung überhaupt etwas zu sich nahm. Er war jedenfalls spindeldürr. Gott sei Dank sah er jetzt, da die Spuren der Misshandlungen verschwunden waren, wieder gesünder aus. Als sie ihn damals im Sahlgrenska-Krankenhaus besuchten, hatte sie vor Schreck einen Schrei ausgestoßen. Ein Wrack war er gewesen. Sein Gesicht war so stark angeschwollen, dass man ihn kaum erkennen konnte.

»Gut.«

Signe zuckte zusammen, als sie seine Stimme hörte. Die Antwort hatte so lange auf sich warten lassen, dass sie bereits vergessen hatte, eine Frage gestellt zu haben. Matte durchpflügte den Kartoffelbrei mit der Gabel und schob ein Stück Hackbraten darauf. Sie ertappte sich dabei, dass sie dem Bissen atemlos hinterherblickte.

»Hör auf, den Jungen beim Essen so anzustarren«, brummte Gunnar. Er nahm sich bereits die zweite Portion.

»Entschuldige.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich … bin nur froh, dass du etwas isst.«

»Ich werde nicht verhungern, Mutter. Siehst du? Ich esse doch.« Wie zum Trotz belud er die Gabel noch einmal schwer und schaufelte sich die Fuhre hastig in den Mund.

»Du wirst dich doch bei der Gemeinde nicht überarbeiten?«

Signe fing sich noch einen irritierten Blick von Gunnar ein. Sie wusste, dass er sie für viel zu fürsorglich hielt und der Meinung war, sie solle den Jungen ein bisschen in Ruhe lassen. Aber sie konnte nichts dagegen machen. Matte war ihr einziges Kind, und seit seiner Geburt an diesem Dezembertag vor fast vierzig Jahren wachte sie in regelmäßigen Abständen in einem vollkommen durchgeschwitzten Nachthemd auf und hatte nichts als Ängste, Alpträume und Horrorszenarien im Kopf, die ihm womöglich zustoßen könnten. Dass es ihm gut ging, war das Wichtigste auf der Welt. So hatte sie das immer gesehen. Und sie wusste, das galt auch für Gunnar. Auch er vergötterte den Sohn. Er war jedoch in der Lage, die dunklen Gedanken, die die Liebe zu einem Kind mit sich brachte, ein wenig von sich fernzuhalten.

Ihr dagegen war ständig bewusst, dass sie im Bruchteil einer Sekunde alles verlieren konnte. Als Matte ein Baby war, träumte sie von unerkannten Herzfehlern und erzwang eine gründliche Untersuchung, um sich davon überzeugen zu lassen, dass er gesund wie ein Fisch im Wasser war. Im ersten Jahr schlief sie nie länger als eine Stunde am Stück, weil sie immer wieder aufstehen und sich vergewissern musste, dass er noch atmete. Als er größer wurde und auch als er bereits zur Schule ging, schnitt sie sein Essen in winzige Häppchen, damit er nicht daran erstickte. Außerdem träumte sie von Autos, die seinen zarten Körper überfuhren.

Als Matte ein Teenager war, wurden ihre Träume noch unheimlicher. Alkoholvergiftung, Trunkenheit am Steuer, Prügeleien. Manchmal warf sie sich im Schlaf so heftig von einer Seite auf die andere, dass Gunnar wach wurde. Nachdem sie einen Alptraum nach dem anderen geträumt hatte, blieb ihr nichts anderes übrig, als aufzubleiben und zu warten, bis Matte nach Hause kam. Ihr Blick wanderte unruhig zwischen Telefon und Fenster hin und her. Immer wenn sich dem Haus Schritte näherten, machte ihr Herz vor Freude einen Sprung.

Als er von zu Hause auszog, wurden ihre Nächte etwas ru­higer. Eigentlich war das seltsam, denn ihre Ängste hätten zunehmen müssen, weil sie ihn nun nicht mehr überwachen konnte. Sie wusste jedoch, dass er keine unnötigen Risiken eingehen würde. Er war vorsichtig, das zumindest hatte sie ihm beigebracht. Und er war fürsorglich und würde nie jemandem weh tun. Sie folgerte daraus, dass ihm auch niemand weh tun wollte.

Beim Gedanken an all die Tiere, die er im Laufe der Jahre angeschleppt hatte, musste sie lächeln. Verletzt, verlassen oder einfach nur vom Leben gezeichnet. Drei Katzen, zwei über­fahrene Igel und ein Spatz mit gebrochenem Flügel. Ganz zu schweigen von der Schlange, die sie zufällig in seiner Kommode entdeckte, als sie die frische Wäsche einräumte. Nach diesem Vorfall musste er auf Ehre und Gewissen schwören, Reptilien, egal, wie schwer ihre Verletzungen waren, fortan ihrem Schicksal zu überlassen. Widerwillig hatte er sich gefügt.

Sie wunderte sich, dass er nicht Tiermediziner oder Arzt ­werden wollte. Aber das Studium an der Handelshochschule schien ihm Spaß zu machen, und soweit sie das zu beurteilen vermochte, konnte er gut mit Zahlen umgehen. Die Arbeit bei der Gemeinde schien ihm ebenfalls zu gefallen. Trotzdem war da etwas, das sie nachdenklich machte. Sie konnte es nicht ­genau benennen, doch sie hatte wieder diese Alpträume. Jede Nacht erwachte sie schweißnass und hatte einzelne Bilder im Kopf. Es war nicht alles so, wie es sein sollte, aber auf ihre vorsichtigen Fragen reagierte er mit Schweigen. Daher hatte sie sich darauf konzentriert, ihn zum Essen zu bewegen. Wenn er erst ein paar Kilo zugenommen hatte, würde alles wieder gut werden.

»Willst du nicht noch ein bisschen mehr essen?«, flehte sie, als Matte die Gabel auf den noch halbvollen Teller sinken ließ.

»Jetzt hör aber auf, Signe«, sagte Gunnar. »Lass ihn in Ruhe.«

»Halb so wild«, lächelte Matte bleich.

Mutters Junge. Er wollte nicht, dass sie seinetwegen beschimpft wurde, auch wenn sie nach mehr als vierzig Jahren Ehe wusste, dass ihr Mann es nicht so meinte. Einen derart gutmütigen Kerl wie ihn gab es nicht noch einmal. Wie schon oft zuvor bekam sie ein schlechtes Gewissen. Sie wusste, dass der Fehler bei ihr lag. Sie machte sich zu viele Sorgen.

»Entschuldige, Matte. Natürlich brauchst du nicht noch mehr zu essen.«

Sie verwendete den Spitznamen, den er trug, seit er sprechen, aber seinen eigenen Namen noch nicht richtig aussprechen konnte. Zuerst hatte er sich selbst Matte genannt, und dann hatten es alle anderen auch getan.

»Weißt du, wer auf Besuch zu Hause ist?«, fuhr sie fröhlich fort und begann, die Teller abzuräumen.

»Keine Ahnung.«

»Annie.«

Matte zuckte zusammen und sah sie an.

»Annie? Meine Annie?«

Gunnar lachte leise. »Ich habe mir gedacht, dass du bei diesem Thema munter wirst. Du hattest immer eine kleine Schwäche für sie.«

»Ach, hör doch auf.«

Signe sah plötzlich den Teenager vor sich, dem die Pony­fransen über die Augen hingen und der ihr mit zittriger Stimme mitteilte, er habe nun eine Freundin.

»Ich habe ihr heute ein paar Lebensmittel rausgebracht«, sagte Gunnar. »Sie ist auf der Geisterinsel.«

»Mensch, du sollst Gråskär nicht so nennen.« Signe schüttelte sich. »Sie heißt Gråskär.«

»Wann ist Annie gekommen?«, fragte Matte.

»Gestern, glaube ich. Sie hat den Jungen dabei.«

»Wie lange will sie bleiben?«

»Das weiß sie noch nicht.« Gunnar steckte sich eine Portion Snus unter die Oberlippe und lehnte sich zufrieden zurück.

»Ist sie … noch so wie früher?«

Gunnar nickte. »Natürlich ist die kleine Annie noch so wie früher. Bildhübsch wie immer. Um die Augen herum wirkte sie ein bisschen traurig, aber das habe ich mir vielleicht nur eingebildet. Möglicherweise haben die sich gekabbelt. Was weiß ich?«

»Über solche Dinge soll man nicht spekulieren«, schalt ihn Signe. »Hast du den Jungen gesehen?«

»Nein, Annie kam zum Steg runter, und ich hatte nicht viel Zeit. Aber fahr doch einfach hin und sag guten Tag.« Gunnar drehte sich zu Matte um. »Sie freut sich bestimmt über Besuch da draußen auf der Geisterinsel. Entschuldige, auf Gråskär«, fügte er zwinkernd hinzu.

»Das ist doch nur Unsinn und alter Aberglaube. Ich finde nicht, dass man so etwas noch anfeuern sollte«, sagte Signe mit einer tiefen Furche zwischen den Augenbrauen.

»Annie glaubt daran«, sagte Matte leise. »Sie hat immer gesagt, sie weiß, dass sie da sind.«

»Wer denn?« Eigentlich wollte Signe das Thema wechseln, aber nun war sie gespannt auf Mattes Antwort.

»Die Toten. Annie hat gesagt, sie würde sie manchmal sehen und hören, aber sie hätten nichts Böses im Sinn. Sie seien einfach dort geblieben.«

»Pfui Teufel. Jetzt essen wir besser unseren Nachtisch. Ich habe Rhabarberkompott gemacht.« Mit einem Ruck stand Signe auf. »Papa redet zwar viel dummes Zeug, aber in einem Punkt hat er recht. Sie freut sich bestimmt über Besuch.«

Matte gab keine Antwort. Er schien mit seinen Gedanken ganz weit weg zu sein.

Fjällbacka 1870

Emelie fürchtete um ihr Leben. Noch nie hatte sie das Meer mit eigenen Augen gesehen, und nun saß sie in dieser Nussschale. Krampfhaft klammerte sie sich mit den Fingern an die Reling. Sie hatte das Gefühl, von den Wellen hin- und hergeschleudert zu werden und keine Kontrolle mehr über ihren Körper zu haben. Sie suchte Karls Blick, doch er hielt den Blick fest auf das gerichtet, was sie in der Ferne erwartete.

Die Worte gingen ihr nicht aus dem Kopf. Es war sicher nur das dumme Gerede einer abergläubischen alten Frau, aber sie hatten sich ihr trotzdem eingeprägt. Als sie das kleine Segelboot unten im Hafen von Fjällbacka beluden, hatte die Alte gefragt, wo sie hinwollten.

»Nach Gråskär«, hatte sie freudestrahlend geantwortet. »Mein Mann ist dort der neue Leuchtturmwärter.«

Die Frau hatte sich davon jedoch nicht beeindrucken lassen. Stattdessen hatte sie die Nase gerümpft und mit einem etwas eigenartigen Kichern gesagt:

»Gråskär? So, so. Hier in der Gegend nennt die Insel niemand so.«

»Ach.« Emelie hatte plötzlich das Gefühl, dass sie lieber nicht nachfragen sollte, doch dann hatte ihre Neugier die Oberhand gewonnen. »Wie nennt man die Insel denn hier?«

Zunächst gab die Frau keine Antwort. Schließlich senkte sie die Stimme.

»Hier bei uns wird sie die Geisterinsel genannt.«

»Geisterinsel?« Emelies nervöses Lachen war an diesem frühen Morgen weithin zu hören. »Wie seltsam. Warum denn das?«

Mit einem Glitzern in den Augen antwortete die Frau. »Weil es heißt, dass wer dort stirbt, die Insel nie wieder verlässt.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und ließ Emelie, in deren Bauch es nun nicht mehr vor Vorfreude kribbelte, sondern sich ein merkwürdiger Klumpen zusammenballte, allein zwischen Taschen und Koffern zurück.

Und nun hatte sie das Gefühl, sie könnte jeden Moment dem Tod ins Auge sehen. Das Meer war so groß und ungezähmt und schien eine regelrechte Sogwirkung auf sie zu haben. Sie konnte nicht schwimmen, und falls eine dieser Wellen, die ihr so groß vorkamen, obwohl Karl sie nur als leichte Dünung bezeichnete, das Boot umkippte, würde sie in die Tiefe gezogen. Davon war sie fest überzeugt. Sie klammerte sich noch fester an die Reling und starrte auf den Fußboden oder das Deck, so sagte Karl, wurde der Boden hier genannt.

»Dort drüben sieht man Gråskär.«

Karls Stimme ließ sie den Kopf heben. Emelie holte tief Luft und warf einen Blick in die Richtung, in die er zeigte. Als Erstes fiel ihr auf, wie schön die Insel war. Sie war zwar klein, doch das Haus glänzte im Sonnenschein, und die Klippen glitzerten. Auf der einen Seite des Hauses sah sie Stockrosen. Verwundert fragte sie sich, wie diese in der rauen Umgebung gedeihen konnten. Nach Westen hin wirkte die Insel wie abgehackt, aber an den drei anderen Seiten fielen die Felsen sanft zum Wasser hin ab.

Auf einmal erschienen ihr die Wellen gar nicht mehr so wild. Sie sehnte sich noch immer nach festem Boden unter den Füßen, aber Gråskär hatte sie bereits verzaubert. Was die alte Frau über die Geisterinsel gesagt hatte, verbannte sie in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins. Etwas so Schönes konnte nichts Böses verbergen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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