Engel der letzten Nacht - Nils Mohl - E-Book

Engel der letzten Nacht E-Book

Nils Mohl

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Beschreibung

Ein hoffnungsvoller Roman über die schwierige Zeit des Erwachsenwerdens Der 17-jährige Kester hat gerade sein Abitur gemacht. Als Bester, obwohl er eine Klasse übersprungen hat. Während der Rest seines Jahrgangs das Ende der Schulzeit am Meer feiert, will er sich im Laufe des Wochenendes das Leben nehmen. Einmal will er es aber noch voll auskosten. Drogen, Tanzen, Sex – den totalen Rausch erleben. Aber dabei begegnet er einigen Gestalten der Nacht, lernt ihre Sorgen und Nöte, Wünsche und Träume kennen und gerät ins Wanken. Dafür sorgt nicht zuletzt Bruno, der Kester durch die letzten Stunden folgt. Ein junger, kultivierter Mann, der aussieht wie ein Galerist, der aber behauptet, ein Engel zu sein. Und schließlich findet ihn auch noch seine Mitschülerin Blanka, deren Leben ganz anders auf der Kippe steht als das von Kester ... Der neue Jugendroman des vielfach ausgezeichneten Autors Nils Mohl

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Seitenzahl: 212

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Nils Mohl

Engel der letzten Nacht

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Der 17-jährige Kester hat gerade sein Abitur gemacht. Als Bester, obwohl er eine Klasse übersprungen hat. Während der Rest seines Jahrgangs das Ende der Schulzeit am Meer feiert, will er sich im Laufe des Wochenendes das Leben nehmen. Einmal will er es aber noch voll auskosten. Drogen, Tanzen, Sex – den totalen Rausch erleben. Aber dabei begegnet er einigen Gestalten der Nacht, lernt ihre Sorgen und Nöte, Wünsche und Träume kennen und gerät ins Wanken. Dafür sorgt nicht zuletzt Bruno, der Kester durch die letzten Stunden folgt. Ein junger, kultivierter Mann, der aussieht wie ein Galerist, der aber behauptet, ein Engel zu sein. Und schließlich findet ihn auch noch seine Mitschülerin Blanka, deren Leben ganz anders auf der Kippe steht als das von Kester …

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischer-sauerlaender.de

Biografie

 

 

Nils Mohl, geboren 1971, schreibt Romane, Gedichte und Drehbücher. Für seine Werke wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis, dem James Krüss Preis, dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis und dem Josef Guggenmos-Preis. Er lebt mit seiner Familie in Hamburg.

Inhalt

Widmung

Motti

Liebe & Dunkelheit

Liebe

Dunkelheit

Die letzte Nacht

Autoschlüssel

Fotostreifen

Spurmarkierungen

Sicherheitsgurt

Laken

Rasierklinge

Anzug

Hemdkragen

Müllbehälter

Hundemarke

Gras

Buden

Popcorn

Einhorn

Pillen

Poller

Die letzte Nacht

Rucksack

Terrassentür

Gummibären

Kugelschreiber

Holz

Schülerausweis

Handtücher

Halskrause

Etikett

Einkaufswagen

Leergut

Trainingsanzüge

Plastikbecher

Poster

Pistole

Handtasche

Portemonnaie

Sonnenbank

Jalousie

Plakat

Schuhe

Die letzte Nacht

Buchhandlung

Zettelchen

Treppen

Geländer

Zahnpasta

Bildschirm

Parkplatz

Windspiel

Plastikrose

Bierdeckel

Wasserhahn

Glas

Notausgangsschild

Fenster

Bonbon

Metallstangen

T-Shirts

Schaum

Stiletto-Absätze

Ledercouch

Sektglas

Lichterketten

Zapfsäulen

Rollstuhl

Aufzug

Tanzfläche

Schnürsenkel

Graffiti

Bandana

Bengalo

Federn

Helligkeit & letztes Wort

Helligkeit

Letztes Wort

Anmerkungen des Autors

Für dies eine Leben, das nie genug ist …

I hate the world. I want revenge.

Homer Simpson

 

Ich ziehe die Tür hinter mir zu und trete ins Freie.

Moritz Stiefel

 

I’ll die happy tonight.

Lana Del Rey

Liebe & Dunkelheit

Liebe

und uns allen fehlt es an Liebe. Ja, aber um es gleich zu sagen: Das ist es nicht.

Dunkelheit

Während ich auf der Autobahn allein durch die Dunkelheit rase und immer öfter auf die Tankanzeige blicke, denke ich trotzdem komischerweise genau darüber nach, über die Sache mit der Liebe. Die ganze Zeit geht es mehr oder weniger stumpf geradeaus, und im Kopf geistert mir lauter Blödsinn herum. Auch über Blanka denke ich viel nach.

Kein Wunder, am Rückspiegel hängt ihre rote Retro-Sonnenbrille.

Es ist ihr Auto.

Die Sonnenbrille habe ich vorhin schon einmal kurz aufprobiert, aber der Tag hat sich bereits vor einer Weile verabschiedet. Dazu leistet sich gerade das Wetter einen kleinen Hänger. Einzelne Regensprenkel fallen durch das Licht der Scheinwerfer. Wie Kratzer auf einem Bildschirm.

Warmer, leichter Sommerregen.

Autofahren gehört ja nicht unbedingt zu den intensivsten Erlebnissen der Welt. Schon gar nicht mit Automatikgetriebe. Selbst für jemanden ohne Führerschein hält sich der Spaß in Grenzen. Gestrichelte Spurmarkierungen wischen durchs Sichtfeld, in ewig gleichem Rhythmus. Ab und zu kommt mal eine Ausfahrt. Wer da den Blinker setzt, landet in Provinznestern, wo der Bär selbst dann nicht steppt, wenn man ihn schubst. Käffer dieser Sorte kenne ich, kenne ich nur zu gut. Ich hoffe darauf, bald die Lichter der Großstadt zu sehen. Dummerweise ist es noch ein Stück.

Abwechslung wäre schön.

Ablenkung auch.

Ich kann mich aber nicht dazu durchringen, Blanka anzurufen. Erscheint mir theatralisch. Und den Druck will ich ihr nicht machen.

Mit den anderen unseres Abiturjahrgangs feiert sie weiter am Meer. Dass sie mir am Feuer den Schlüssel zum Wagen überlassen hat, wird sie sich im Nachhinein womöglich vorwerfen. Das Dilemma ist, wenn ich mich deswegen jetzt bei ihr melde, hat sie später vermutlich Schuldgefühle wegen des Gesprächs. Ich könnte ihr natürlich versichern, dass das der allergrößte Blödsinn überhaupt wäre, wenn sie sich meinetwegen oder vielleicht wegen dem, was passiert, verantwortlich fühlen würde.

Besser, ich rede nicht noch mal mit ihr. Freundschaft hin oder her: Richtig verstehen kann dich ja doch keiner, vielleicht nicht mal du dich selbst.

Davon abgesehen: Es gibt akutere Probleme.

Der Balken neben dem Zapfsäulensymbol steht inzwischen praktisch schon auf unter Null, darum halte ich auch seit Kilometern die Augen offen. Andere möchte ich nicht mit hineinziehen. In die Leitplanke zu rasen, wäre deshalb sicherlich keine besonders brillante Idee, überlege ich und wünsche mir beim Weiterüberlegen spontan so einen Knopf wie am Radio, einen zum Abstellen der Stimme da oben, die einfach keine Ruhe geben will.

Dann kommt eine Baustelle.

Dicht hinter mir fährt niemand.

Das Lenkrad reiße ich nach rechts. Ich niete eine dieser rot-weißen Warnbaken mit den orangefarbenen Leuchten obendrauf um, die Reifen singen im spitzen Ton, während sie über den Seitenstreifen schnellen, dann pflügen sie durch einen Kiesstreifen, bevor die Böschung kommt und die Welt in den Schleudergang gerät.

Hell ausgeleuchtet fliegt mir die Dunkelheit entgegen.

Wird sich jemand fragen, ob es mir an Liebe gefehlt hat?

Das schießt mir in den Sinn. Begleitet von einem Gefühl der Schwerelosigkeit. Ein Zeitlupenmoment, still wie ein Wimpernschlag, endlos gedehnt und plötzlich vorbei.

Der Krach von sich verformendem Blech und berstenden Plastikteilen. Ein eigenartiger Geruch liegt in der Luft, süß und metallisch, ein Gemisch aus Gummi, Chemikalien und aufgewirbeltem Schotter.

Und das ist es dann auch schon gewesen.

So?!

 

 

 

 

 

 

So.

Warum denn nicht?

Das letzte Kapitel wird irgendwann geschrieben sein.

Meins.

Deins.

Seins.

Ihrs.

Unser aller.

 

 

 

 

 

 

… oder doch nicht so?

 

Vorstellbar wäre auch das, natürlich. Wer kennt sie nicht, die Bilder? Nächtliche Unfallstelle, kreisendes Blaulicht. Absperrband flattert im Wind. Silhouetten von gestikulierenden Polizisten. Sie sichern Trümmerteile, sie leiten den sich stauenden Verkehr um. Ein Rettungswagen fährt weg, beschleunigt auf der linken Spur, verschwindet mit Sirenengeheul in der Ferne. Am Rande des Geschehens hebt eine Lokalreporterin ein Mikrofon, spricht in die Kamera, ihr Gesicht eine starre Maske: «Es ist eine gespenstische Szenerie, als hätte die Nacht selbst den Atem angehalten. Der offenbar minderjährige Fahrer muss einen Schutzengel gehabt haben.» Zoom aufs Auto. Ein geborstener Kotflügel ragt wie ein gebrochenes Bein aus dem Wrack, ein zerfetzter Reifen hängt von der Felge, die Karosserie ist verformt, als hätte sie versucht, sich in einem letzten Krampfanfall noch gegen das Unvermeidliche zu wehren. «Nach Angaben der Feuerwehr scheint der Verunglückte nahezu unverletzt, wird aber mit einem Schock zur Beobachtung in ein Krankenhaus gebracht …» Schwenk. Extreme Großaufnahme von einem weißen Schriftzug. Trotz netzförmiger Risse auf der Heckscheibe sind die Reste eines Aufklebers leicht zu entziffern: ABI 202… Spätestens an der Stelle wird das Publikum vor den Bildschirmen sich seinen Teil denken. Alkohol. Betäubungsmittel. Einer dieser lebensmüden Volltrottel im Geschwindigkeitsrausch. Einfach nur Sott, dass der Typ aus der Nummer noch mal heil herausgekommen ist. Mannmann, immer mehr Glück als Verstand, diese jungen Leute, wirklich, unverschämtes Glück. Was für ein Happy End! – Und so gut eine solche Geschichte ja tatsächlich vorstellbar wäre: Die Spekulationen zu den Hintergründen wären in diesem Fall schon mal grundfalsch. Und von wegen Happy End: Wenn die vor den Bildschirmen wüssten. Wenn die wüssten.

Also, noch mal von vorn …

Die letzte Nacht

(Volksfest-Version)

Autoschlüssel

Im Hintergrund rauscht das Meer. Der Wind trägt außerdem Fetzen von Musik und schrillem Gejohle landeinwärts. Am Strand schaukeln sich die Teilnehmer und Zuschauer eines Trinkspiels gegenseitig hoch, Jungs wie Mädchen. Ich sehe im Dämmerlicht dieses Juliabends, wie sie sich abklatschen, wie sie sich ständig anfassen müssen und umarmen, als würden sie befürchten, dass sich ihre Nebenleute ohne die ganzen Berührungen im nächsten Moment einfach in Luft auflösen könnten.

Wir sitzen ein Stück abseits in kleiner Gruppe am Lagerfeuer.

Die Flammen werfen tanzende Schatten auf die Gesichter. Funkengaben sprühen in den Himmel. Ich kann die Wärme auf meinen Wangen spüren.

«Weißt du was, Kester? Ich hätte auch Lust, mich umzubringen», sagt Lukas und schaut mich fest an, «für eine Stunde oder einen Tag zumindest, um zu sehen, was passiert. Das wäre amüsant. Aber für ein und alle Mal?»

Lukas, der Pausenhofphilosoph mit den charmanten Sprachmarotten und dem Filmstarlächeln. Er hat Vokabeln wie «peilo» bei uns in Umlauf gebracht und scheinbar mehr Zähne im Mund als andere Menschen. Alle gerade wie Blockschrift und weiß wie Papier.

«Sensibles Thema», sagt Cleo mit ihren zahllosen Piercings im Gesicht und der pechschwarzen Plastikfigurenfrisur. Sie schielt zu Blanka.

Der dicke Armin nickt, greift in eine knisternde Tüte, schiebt sich einen Schwung Erdnussflips in den Mund: «Jo», sagt er, «morbid.» Krümel rieseln. Er besitzt nicht den allergrößten aktiven Wortschatz der Welt und einen noch geringeren Mitteilungsdrang. Insofern: ein beachtlicher Beitrag.

Blanka holt tief Luft.

Sie hat die Arme um ihre Knie geschlungen. «Ich hasse das», sagt sie, «dieses Getue. Das wisst ihr doch. ‹Sensibles Thema, sensibles Thema.› Das ist wie Witze erklären. Nein, schlimmer, das ist, wie einen Witz zum Besten geben und dann sagen, dass Witze lustig sind.»

Wir diskutieren schon eine ganze Weile, ob sich die Sehnsucht nach der Nacht der Nächte erfüllen kann. Und wenn ja, wie. Wer die ultimative Feier feiern will, wer die totale Ekstase erträumt, muss bereit sein, sich einmal vollständig zu verlieren. Soweit sind sich alle einig.

Rein logisch darf es danach keinen Morgen mehr geben. Wer darauf aus ist, die intensivste Lebenserfahrung zu machen, muss bereit sein, wirklich aufs Ganze zu gehen. Die Nacht der Nächte kann nur eine sein: die letzte Nacht.

Punkt.

Darauf würde ich meine Seele verwetten, wenn ich eine besitzen sollte, habe ich vorhin zu Protokoll gegeben. «Machen wir doch ernst», sage ich jetzt, «und zwar am besten noch heute, ich wäre bereit.» Kurze Pause. «Ich habe immer alles richtig gemacht. Warum nicht das? Aus der Welt gerissen werden. Erst so, dann so. Ein Rausch, ein Abgang.»

Lukas gafft mich an wie einen Breakdancer, der über seine eigenen Füße gestolpert ist: «Sonnenstich, Kester?»

Armin stimmt zu, für seine Verhältnisse fast überausführlich: «Angehörige killt das, das checkt kein Mensch auf Erden.» Er wirft Flips nach.

«Ja, das ist einfach nur destruktiv», sagt Cleo, «Leben, ich meine, wirklich intensives Leben, heißt gestalten, nicht zerstören. Jedenfalls in meiner Welt.»

Das ist süß, keine Frage. Ob Gestaltung oder Zerstörung – Intensität steckt letztlich doch in beidem. Mir kommen diese beiden Handlungsoptionen vor wie die Pole desselben Spektrums. «Und endet Leben nicht auch immer in der Zerstörung?», frage ich, «in der Auslöschung des vorher Gestalteten?»

«Die Intensität im Zerstören suchen», hakt Lukas nach und räuspert sich ein bisschen wichtigtuerisch, «ist es das, was du willst?»

Drüben am Strand hebt ein Typ mit nacktem Oberkörper gerade die Arme, wankt leicht. «Noch einen!», ruft er, und die Menge wiederholt seine Forderung. «Noch einen! Noch einen!»

Cleo fummelt an einem ihrer Augenbrauenringe herum: «Eltern. Freunde. Deine Schwester. Die sind dir alle egal?»

«Habe ich nicht behauptet», sage ich, «trotzdem wüsste ich keinen guten Grund, warum wir nahen Menschen überhaupt etwas schuldig sein sollten.»

Lukas runzelt die Stirn. Es brodelt in ihm, das merke ich: «Gut, Kester, spielen wir es durch. Und fangen wir mit dem Ende an. Wie würdest du es tun? Wie wird’s gemacht? Einen fahrenden Zug küssen? Zunge in die Steckdose? Haare in der Badewanne föhnen? In den Zoo einbrechen und im Tigergehege Krawall machen?»

«Zunge in die Steckdose? Geht das?»

«Badewanne, Rasierklinge», wirft Armin ein.

«Vor den Zug werfen fand ich schon immer daneben», sage ich, «selbst wenn du einen psychischen Knacks hat, wieso bitte musst du Fremde unbedingt mit hineinziehen? Lokführer ist ja, selbst für die Dullis, die das im Kindergarten mal geglaubt haben, wahrscheinlich sowieso nicht der geilste Job der Welt, oder? Da brauchst du nun wirklich keine Traumatherapie unverschuldet obendrauf. Meine Meinung.»

Blanka atmet geräuschvoll aus.

Dann wirft sie mir den Autoschlüssel zu: «Verkehrsunfall. Ein Klassiker.»

Ich weiß nicht genau, ob sie das tut, weil sie sauer auf mich ist. Möglich. Warum auch sonst beteiligt sie sich praktisch gar nicht an der Diskussion? Vielleicht erwartet sie, dass ich den Schlüssel sofort zurückwerfe.

«Zur Not tut es ja auch eine gute Plastiktüte, oder?», nuschle ich, «übern Kopf ziehen und zuknoten.»

«Keine Ahnung», sagt Lukas, «das Gespräch fängt an, mich zu nerven. Und trotzdem wünsche ich dir noch ein langes Leben, Kester. Bring dich besser nicht um. Du und deine verrückten Einfälle würden mir echt fehlen.»

In mir prickelt kurz eine fast grimmige Wärme. «Das war kein Witz, für mich zumindest nicht», sage ich. «Euch passt es nur nicht, solche Dinge mal ganz sachlich zu betrachten.»

Blankas Finger graben sich in den Sand: «Wer bist du nur? Weißt du es noch? Ich weiß es nicht mehr.»

Was soll man darauf antworten?

Ich sehe Funken, die in die Höhe schießen, sehe, wie sie verglühen, noch bevor sie den Himmel erreichen. «Ich war immer der, der euch ziemlich oft hat gut aussehen lassen. Aber hat euch das interessiert? Was interessiert es euch jetzt auf einmal?»

Darauf haben sie keine Antwort.

Fotostreifen

Eine einsame Laterne an einem Holzmast beleuchtet den schmalen Pfad vom Campingplatz zur Wiese mit den geparkten Autos. Der Sand knirscht leise unter meinen Schuhen. Eine sanfte Brise vom Meer lässt Gräser und Büschel rascheln. Ich schaue mich um, versuche, die Umrisse von Blankas Wagen in dem schummrigen Licht auszumachen. Die Autos stehen unregelmäßig verteilt, wie nach einem chaotischen Tanz, der abrupt geendet ist.

Beim Aufziehen der Fahrertür blicke ich noch einmal zurück Richtung Zelte und Dünen. Kann Einbildung sein, aber in der Ferne meine ich am Himmel den Widerschein des Lagerfeuers zu erahnen. Ein paar Stimmfetzen höre ich, unverständliches Zeug. Der gedämpfte Klang der Bässe schwingt dazu über das Gelände wie das Echo von aufgezeichneten Herzgeräuschen.

Keiner ist mir hinterhergerannt. Niemand versucht, mich zurückzuhalten. Verblüfft mich nicht. Ich habe noch ein Weilchen friedlich mit am Strand gesessen und bin eben ohne großes Trara abgehauen, als unser Grüppchen sowieso anfing, sich zu zerstreuen.

Ich mache ihnen keinen Vorwurf. Hierher, an diesen abgeschiedenen Ort, haben sie sich ja schließlich auch nicht begeben, um durch mich in ihrer Ausgelassenheit gestört zu werden.

Das Abhauen ist lächerlich einfach.

Am Anfang muss ich mich allerdings erst einmal mit der Technik des Autos anfreunden und durch die Einöde quälen. Die Bäume am Fahrbahnrand werfen auf den ersten Kilometern enorme Schatten, lassen die Straße, die sich durch die Nacht schlängelt, wie ein endloses Band erscheinen. Ich halte das Lenkrad fest umklammert, spüre den Schweiß an meinen Handflächen, bis ich das richtige Gefühl für das Gaspedal gefunden habe und schließlich auch die Auffahrt zur Autobahn.

Früher oder später wird mich jemand vermissen, doch bis dahin dauert es ziemlich sicher eine Weile.

Wenn ich es richtig verstanden habe, gehen Blanka, Lukas und die anderen davon aus, dass ich überhaupt nicht bereit bin für die Nacht der Nächte. Wie lässt sich aus dem Nichts plötzlich feiern, als wenn es kein Morgen gibt? Ohne große Erfahrung? Und wozu überhaupt?

Mein Motiv ist ihnen völlig unklar.

Ich bediene mich an der angebrochenen Gummibärchentüte, die noch von der Hinfahrt zum Campingplatz in der Mittelkonsole liegt, kaue und schüttele innerlich den Kopf dabei.

Ausgesprochen hat es keiner, aber sie halten mich vor allem für einen eher hoffnungslosen Fall, nehme ich an, bestenfalls für einen harmlosen bis rätselhaften Spinner. Schlimmstenfalls wohl für jemanden, von dem sie vermuten, dass ihm Liebe fehlt. Ein bedauernswerter Eigenbrötler.

Und so einer will aufs Ganze gehen?

Für wen immer man mich hält, ich kann nicht beurteilen, ob nicht in jedem Fall auch etwas Wahres dran ist.

Wir sind die, die wir eben sind. Ich fürchte nur, ich selbst wäre aktuell gar nicht kompetent genug, darüber Auskunft zu geben, was das in meinem Fall wirklich heißt.

Kester, Jahrgangsbester – das war einmal.

Die Schulzeit – das war einmal.

Und jetzt?

Das einzige Motiv wiederum liegt für mich ganz klar auf der Hand: Ich bin jung. Zumindest ist es das einzige, das ich halbwegs akzeptieren würde. Deshalb lächle ich wahrscheinlich auch ein bisschen peilo vor mich hin, während ich in der Dunkelheit über die Autobahn rase, einmal kurz Blankas Sonnenbrille ausprobiere und mich dabei im Rückspiegel betrachte.

«Showtime», sage ich. Ich lasse das Fenster ein Stück runter. Wind dröhnt in den Wagen, zerrt an den Haaren.

Der Schülerausweis macht die Flatter.

Die Krankenkassenkarte.

Und der Perso. Im Rückspiegel sehe ich ihn noch kurz in der vom Fahrzeug verwirbelten Luft herumtanzen. Und das war’s im Grunde auch.

Fast.

Bis auf den Passfotostreifen. Blanka und ich. Sie mit der hochgesteckten Bienenkorbfrisur und der schmalen Narbe am Haaransatz, ich mit diesem Puddingschüsselhaarschnitt und einem Gesicht ohne Eigenschaften. Wir beide vor gut einem Jahr, als wir mit dem Profilkurs eine Exkursion in die Stadt gemacht haben, nach Hamburg, wohin ich jetzt auch unterwegs bin.

Ein merkwürdiges Pärchen geben wir ab.

Als ihr Freund würde ich nie durchgehen.

Geschwister?

Bruhaha. Keinesfalls.

Am ehesten könnte man uns noch für ein Duo halten, das gemeinsam bei «Jugend musiziert» antritt, Gesang und Klavier zum Beispiel. Ein klassisches Zweckbündnis: Sie die charismatische Sängerin, ich ihr unscheinbarer, aber nicht unbegabter Tastenknecht. Die Schöne und der Freak.

Der Fotostreifen zittert vor dem Autofenster schon im Wind, die Nacht reißt daran, meine Finger lassen aber nicht los.

Gefühlsduselig, ich weiß. Gar nicht meine Art im Normalfall. Andererseits ist es eben eine Ausnahmesituation.

Ich überlege deshalb auch, ob ich Blanka noch eine letzte Sprachnachricht schicken soll. Nicht ohne Grund. Sie mag mich. Und wenn überhaupt jemand kapiert, was das alles soll, dann wohl sie. Trotz allem.

Das ist das Eine.

Aber weil sie mich mag, weiß man natürlich nie, ob es eine gute Idee ist, sie mehr als nötig mit meinem Kram zu belasten. Auch wenn es von ihrer Seite aus da immer wenig Hemmungen gab.

Ich habe sie gerne bei Hausaufgaben und Referaten unterstützt im letzten Jahr. Leicht für mich.

«Kester, immer Bester, Jahrgangsbester!»

Das haben sie bei der Zeugnisvergabe wirklich skandiert. Halb bewundernd, halb spöttisch, nehme ich an. Hat mich nicht groß beschäftigt, muss ich sagen, weder auf die eine noch die andere Art.

Blanka hat hinterher gemeint: Einmal bräuchte sie noch meine Hilfe, weil sie sich gerne bedanken möchte für das, was ich für sie getan habe. Ob ich nicht eine gute Idee hätte? Mir ist nichts eingefallen in dem Moment. Ich hätte aber sowieso nichts gewollt.

«Überleg’s dir», hat sie dann noch gesagt. Und jetzt ist mir eben eingefallen, dass ich, anstatt mich so peilo zu benehmen in der Sekunde, mich auch bei ihr hätte bedanken sollen.

Das ist das Andere.

Spurmarkierungen

Ich ziehe den Fotostreifen zurück. Im Radio blubbert ein Moderator vor sich hin und kündigt den nächsten Song an, aufgekratzt wie ein Siebenjähriger, der bei einer Feier zu kräftig bei der Cola hingelangt hat.

Ich werde den Ausknopf drücken und überlegen, ob eine Sprachnachricht nicht sowieso auch feige wäre, ob ich stattdessen Blanka lieber anrufen sollte.

Die Dunkelheit.

Die vorbeiwischenden, gestrichelten Spurmarkierungen.

Die Tankanzeige.

Ich werde mir die Frage stellen, ob denn dieser scheinbar ziellose Monolog in meinem Kopf nie ein Ende nimmt. Nicht zuletzt deshalb, weil die Sache mit der Liebe, die uns womöglich allen fehlt, anfängt, mich zu beschäftigen.

Nebenher werde ich bereits nach einer geeigneten Stelle Ausschau halten. Einzelne Regensprenkel werden durch das Licht der Scheinwerfer fallen. Wie Kratzer auf einem Bildschirm.

Ich werde Blanka nicht anrufen, ihr auch keine Sprachnachricht schicken. Ich werde an sie denken, während ich so über die Autobahn rase, aber auch noch an einiges andere, an meine Verwirrung und Leere in letzter Zeit, weil wir den Abschluss nun in der Tasche haben, und ich mir bis heute eigentlich keinerlei Vorstellung davon machen konnte, was wohl vor mir liegt.

Gar keine.

Null.

Kurz darauf werde ich den Unfall haben.

Es wird diesen Zeitlupenmoment geben, still wie ein Wimpernschlag, endlos gedehnt und plötzlich vorbei.

Der Krach von sich verformendem Blech und berstenden Plastikteilen. Ein eigenartiger Geruch wird in der Luft liegen, süß und metallisch.

Sicherheitsgurt

Hinterher dann: Absolut nichts auf der Tonspur, totale Stille. Wie ein Riss im Raumzeitgefüge vielleicht. Dieser Zustand zieht sich für eine unbestimmbare Dauer einfach so hin, und ich muss mich sehr konzentrieren, bis ich wieder etwas wahrnehme.

Ich würde behaupten, zunächst höre ich nur, dass die Bäume und Büsche im Hintergrund miteinander flüstern, mehr nicht. Dann erst, um einige Sekunden verzögert, kehrt der gewohnte Lärm zurück.

Verkehr dröhnt wieder durch die Nacht.

Kurz fliegt mich Panik an, dass mit meinem Körper etwas nicht stimmt, dass ich eingeklemmt sein könnte. Schließlich merke ich aber: Ich bin noch angeschnallt.

Mit einem Daumendruck lässt sich das Problem lösen. Es macht klick, und der Sicherheitsgurt öffnet sich. Ich schnappe mir die rote Sonnenbrille und schaffe es ohne viel Mühe ins Freie. Keine Schmerzen, keine sichtbaren Verletzungen, alles scheint in Ordnung zu sein. Natürlich sprudelt Adrenalin durch die Adern, die Knie sind ganz weich.

Ein bisschen wie bei der Zeugnisvergabe.

Die Schulleiterin hat meinen Namen vorgelesen, nur meinen, Kester Schwarz, ganz am Schluss der Zeremonie, weil ich ja der bin, der beim Notendurchschnitt alle abgehängt hat. Zudem als Jüngster, weil ich schon in der Grundschule eine Klasse übersprungen habe. Fast ein Witz: Ausgerechnet zum Finale, nach Jahren des nahezu perfekten Funktionierens mit Sternchen, bleibe ich einfach sitzen. Weiß auch nicht warum.

Was habe ich gedacht? Dass noch etwas kommt? Wollte ich den Augenblick auskosten? Ich hatte selbst das Gefühl, dass sich mein Gesicht verzerrt, und konnte nichts dagegen tun.

Mein Sitznachbar musste mir einen Stoß mit dem Ellbogen geben.

Was auf der Bühne passiert ist, kann ich auch nicht mehr im Detail sagen. Ich habe Hände geschüttelt und einen Buchgutschein bekommen, das steht fest. Aber sonst? Kein Triumphgefühl. Im Gegenteil.

Zunächst hatte ich noch die Vermutung, die Freude würde vielleicht später einsetzen. Alle anderen schien es so glücklich zu machen, ab sofort keine Zeit mehr zusammengepfercht in Klassenräumen absitzen zu müssen. Endlich Schluss damit, in zig Fächern zähen Lernstoff durchzukauen, um ihn dann abprüfen und sich dafür benoten zu lassen. Und auch kein ungeduldiges Herbeisehnen mehr, dass der erlösende Dur-Dreiklang des Schulgongs ertönt – nie wieder.

Diese Freude blieb bei mir aber aus.

Ich kann mich nicht erinnern, jemals das Ende der Schulzeit herbeigesehnt zu haben. Und wieso hätte ich am Ende vom Jubelgefühl durchdrungen sein sollen? Wegen meiner Leistungen? Bester bin ich ja sowieso schon immer gewesen, das war normal. Nichts anderes habe ich von mir erwartet.

Auch jetzt erwarte ich von mir, dass ich mich nicht enttäusche.

Insofern läuft es vielleicht gar nicht schlecht. Selbst wenn ich mich zum Durchatmen kurz an dem geschrotteten Wagen mit den noch glühenden Rücklichtern abstützen muss – ein Wrack, zerbeult und zerkratzt, mit tiefen Furchen, die sich durch den Lack ziehen wie klaffende Wunden auf schwer geschundener Haut. Ich bleibe nicht einfach mit leerem Tank auf einem Seitenstreifen liegen.

Ich finde Lösungen.

Weil ich nicht lockerlasse.

Papiere, um sofort identifiziert werden zu können, habe ich nicht mehr. Das ist schon mal gut. Außerdem bin ich so helle, dass ich auch das Telefon weit in die Dunkelheit schleudere. Damit bin ich ab sofort nicht mehr zu orten, unerreichbar, und niemand kann meine Kontakte einsehen.

Schnell stopfe ich noch die paar Geldscheine, die ich habe, in die Socken. Und den Passfotostreifen.

Im Hintergrund das Rauschen der Autobahn.

Die Lichter vorbeifahrender Fahrzeuge zeichnen lange, verwischte Linien in die Nacht. Ich spüre das Vibrieren unter den Füßen, wenn ein Laster vorbeirumpelt. Und ich weiß, demnächst wird sich das Geheul einer Sirene aus der breiigen Geräuschkulisse schälen und sich nähern, schon bald.

Laken

Es ist meine erste Fahrt überhaupt in einem Rettungswagen. Ich bin erstaunt, wie reibungslos alles läuft. Und wie nett die Sanitäter sind. Sie tragen Westen mit Reflektionsstreifen und diese superengen Einweghandschuhe, deren Latexgeruch ich so mag. Fast genüsslich habe ich diesen Geruch eingesogen, als mir die Halskrause angelegt wurde.

Viel musste ich nicht tun. Ich habe eine retrograde Amnesie vorgetäuscht. Eine typische Schockreaktion. Immer wieder wollte ich von den Sanitätern wissen, was denn passiert ist. Sie haben mir geduldig erklärt, dass ich einen Unfall hatte. Dann haben sie gefragt, ob ich weiß, wo ich bin? Welchen Tag wir heute haben? Wie ich heiße? Kennt man ja aus unzähligen mittelmäßigen Filmen so. Das fand ich ein wenig schräg, muss ich gestehen.

Kester.

Freitag, der soundsovielte Juli.

An einem mir unbekannten Ort auf der Autobahn.

Das konnte ich alles ordnungsgemäß beantworten. Nur beim Nachnamen habe ich aus Vorsicht eine Wissenslücke vorgetäuscht. Was kein Problem gewesen ist. Man chauffiert mich selbstverständlich dennoch mit Blaulicht in die Stadt, in die ich will, in die ich muss.

Nach der undramatischen Übergabe im Krankenhaus parkt man mich erst einmal im Gang der Notaufnahme. Um mich herum stehen lauter belegte Betten. Es wird geschrien und gestöhnt und gekotzt.

Das reinste Horrorkabinett.

Ich bleibe dabei, uns allen fehlt es an Liebe.

Diesem Gebäude ohne jeden Zweifel. Was muss man für ein Arschloch sein, um so etwas zu entwerfen und zu gestalten? Dieses Licht! Diese Farben! Dieser Geruch! Alles so windelmäßig.

«Nicht weglaufen», scherzt eine junge Schwester mit weißem Kittel und straffem Dutt. Sie hat eine tolle Art sich zu bewegen, ein bisschen wie Blanka, federnd, mit schwungvollem Armgependel.

Ich gucke ihr hinterher, bleibe auch brav liegen dabei, aber sobald sie in dem Gängelabyrinth verschwunden ist, setze ich mich auf.

Ich muss sie leider enttäuschen.