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Vor dem Fenster stürzen brennende Flugzeuge ab. Er öffnet den Kühlschrank, Flaschen klappern. Er sagt: Eistee? Wenn Nils Mohl ansetzt, ist es, als ginge man mit seinen Helden am Meer entlang um eine Insel und verliere langsam den Grund unter den Füßen. Oder als tanze man mit dem in die Jahre gekommenen Ehepaar auf dem Wohnzimmerteppich zu einem unhörbaren Walzer. Vier Geschichten wie Bilder von Edward Hopper: – Tanzen gehen – Meerumschlungen – Schön, dass du da warst – Nimm mich huckepack «Das war ein Text, der mir sehr nah war.» Ingo Schulze über «Schön, dass du da warst» beim MDR-Literaturpreis
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Seitenzahl: 46
Veröffentlichungsjahr: 2024
Nils Mohl
Vor dem Fenster stürzen brennende Flugzeuge ab. Er öffnet den Kühlschrank, Flaschen klappern. Er sagt: Eistee?
Wenn Nils Mohl ansetzt, ist es, als ginge man mit seinen Helden am Meer entlang um eine Insel und verliere langsam den Grund unter den Füßen. Oder als tanze man mit dem in die Jahre gekommenen Ehepaar auf dem Wohnzimmerteppich zu einem unhörbaren Walzer. Vier Geschichten wie Bilder von Edward Hopper:
– Tanzen gehen
– Meerumschlungen
– Schön, dass du da warst
– Nimm mich huckepack
«Das war ein Text, der mir sehr nah war.»
Ingo Schulze über «Schön, dass du da warst» beim MDR-Literaturpreis
Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch
Nils Mohl, geboren 1971, lebt und arbeitet in Hamburg. Für seinen letzten Roman «Es war einmal Indianerland» wurde er u.a. mit dem Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis und mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.
Tanzen gehen
Meerumschlungen
Schön, dass du da warst
Nimm mich huckepack
Weitere Werke des Autors
Von den Elefanten sprechen wir später
Birth. School. Work. Death.
Es war einmal Indianerland
Stadtrandritter
Er steht im Badezimmer vor dem Spiegel, öffnet die oberen vier Knöpfe seines Hemdes, zieht den Kragen des T-Shirts nach unten und betrachtet die streichholzlange, strichartige Stelle zwischen Schlüsselbein und Brustwarze. Er berührt die Narbe und streicht mit den Fingern darüber hinweg. Die Narbe fühlt sich glatt an, ein bisschen wie Plastik. Wenn er dagegendrückt, verfärbt sie sich. In ein paar Monaten wird er sie vermutlich kaum noch wahrnehmen. Er hat eine ganz ähnliche Narbe am Kinn, seit über fünfzig Jahren schon, und eine viel größere am Unterschenkel. Überhaupt ist sein Körper voll von Narben. Die meisten sind für ihn inzwischen unsichtbar.
Er beugt sich vor, betrachtet seine Augen im Spiegel. Die Pupillen weiten sich ein Stück, dann ziehen sie sich wieder zusammen. Er streicht den Kragen seines T-Shirts glatt, knöpft das Hemd zu, betätigt die Klospülung. Er hat die Toilette nicht benutzt. Die Klospülung betätigt er, weil er nicht möchte, dass seine Frau Verdacht schöpft.
Alwin schaltet das Licht aus und verlässt das Bad. Er weiß an diesem Samstag wenig mit sich anzufangen.
Er könnte im Garten arbeiten, aber es nieselt draußen. Er könnte die Steuererklärung machen, er hat sich extra ein entsprechendes PC-Programm besorgt, und der Rechner läuft auch, doch er ist mit den Gedanken gerade woanders und biegt deshalb auch vom Flur nicht ins Arbeitszimmer ab, sondern landet im Wohnzimmer.
Ob er wieder vor dem Spiegel gestanden habe? Das ist die Frage, die Alwin von Ella, seiner Frau, eigentlich erwartet, aber Ella sagt bloß: Hier, der Sportteil.
Ella sitzt am Wohnzimmertisch, vor ihr ausgebreitet liegt die Zeitung: Geburtsanzeigen, Hochzeitsanzeigen, Todesanzeigen.
Eine Liza mit Zett, murmelt Ella vor sich hin, seltsam sieht das geschrieben aus, ganz ungewohnt.
Alwin nimmt den Sportteil zur Hand, setzt sich Ella gegenüber in den Sessel, liest aber nicht. Er blickt, die Zeitungsseiten auf den Knien, zu Ella und beobachtet, wie diese mit wachen Augen die Spalten mit den Geburts- und Hochzeitsanzeigen abfährt. Sie lacht des Öfteren leise auf oder quittiert hier und da einen ihrer Meinung nach allzu extravaganten Namen mit einem halb verblüfften, halb ironischen: Wie kann man das seinem Kind nur antun!, um dann nach kurzer Pause meist auch noch ein Also wirklich! oder Ist das zu glauben? hinzuzufügen.
Alwin räuspert sich. Er sagt aber nichts. Ella blättert die Seite um. Das Zeitungspapier raschelt. Alwin fragt: Warum schaust du dir das immer an?
Ella ist bei der Seite mit den Todesanzeigen angekommen. Was meinst du? Die Todesanzeigen?
Überhaupt, sagt Alwin, diese Anzeigen eben.
Kann ich nicht erklären, ich gucke, wie alt diese Leute geworden sind, ob man vielleicht jemanden davon gekannt hat …
Ella macht eine Pause, dann sagt sie: Warum nicht?
Sie schaut Alwin an, zuckt mit den Schultern. Alwin schaut zurück. Schon gut, nicht so wichtig, sagt er und blickt zum Fenster. Er sagt: Ich wollte ja eigentlich noch in den Garten, aber …
Alwin beendet den Satz nicht. Ella sagt: Morgen. Sie sagt: Vielleicht ist das Wetter morgen besser. Dann blickt sie wieder auf die Zeitungsseiten, auf die vielen, unterschiedlich großen, schwarz umrandeten Kästchen.
Alwin erhebt sich vom Sessel. Er geht in Richtung Fenster, macht aber nach ein paar Schritten vor dem Regal halt. Ella hat kürzlich die gerahmten Fotos, die dort stehen, neu arrangiert. Alwin betrachtet ein Porträt von sich, das er seit Jahren nicht mehr betrachtet hat. Es zeigt ihn als Mann von knapp dreißig Jahren.
Hier, diese Anzeige zum Beispiel, sagt Ella, da ist eine Frau ums Leben gekommen bei einem Unfall, mit 57.
Alwin starrt auf den Bilderrahmen, das Glas spiegelt die Silhouette seines Kopfes. Alwin lehnt sich mit dem Oberkörper ein Stück zurück, neigt den Kopf, versucht seinen Schattenriss mit dem Umriss des Porträts in Übereinstimmung zu bringen. Ella liest: Es war ein Leben, ausgefüllt mit viel Arbeit, Freude und Erfüllung in 27 wunderbaren Ehejahren. Sie war ein wunderbarer Mensch. Sie war mein Leben.
Alwin nimmt den Bilderrahmen vom Regal, dreht sich zu seiner Frau um. Ella schaut auf, sagt: Ist das nicht schön?