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Henny und Ponger begegnen sich in der S-Bahn. Beide lesen das gleiche Buch. Und dann geht alles rasend schnell. Notbremsung, Verfolgung, Reise mit Buick und Wohnwagen auf die Insel Amrum. Ponger hält dies für eine Liebesgeschichte. Henny für die einzige Chance, zurück in ihr altes Leben zu kommen. Nils Mohl beweist mit seinem neuen Werk wieder literarische Extraklasse. Im Nu sind wir in einer Liebesgeschichte, aus der wir nicht mehr aussteigen wollen und deren Ausgang bis zum Schluss offenbleibt. Eine kurvenreiche Komposition mit großer sprachlicher Wucht und zwei liebenswürdigen Helden, die im Universum nach sich selbst suchen.
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Seitenzahl: 210
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Meiner Familie
Ich heb mein Glas und salutier dir Universum
Dir ist ganz egal, ob und wer ich bin
Du bist ungerecht und deshalb voller Hoffnung
Sophie Hunger
I
LINIE S31, RICHTUNG HAMBURG-ALTONA
1
Er hat sie angeschaut und angeschaut und kurz vorm Hauptbahnhof erst merkt er, dass er in die falsche Richtung fährt, seine Station auf dieser Strecke nicht mehr kommt. Trotzdem steigt er auch beim nächsten Halt nicht aus.
Dabei hat sie bislang keinmal zurückgeschaut.
2
Auf seinem Schoß liegt ein aufgeklappter Roman, aber er kommt kaum eine Zeile voran. Im überfüllten S-Bahn-Waggon staut sich zähe Luft. Künstliches Licht überpinselt Gesichter mit Blässe. Nur ihr kann die Beleuchtung offenbar nichts anhaben. Die Lippen, vor allem aber die Augen – sie leuchten.
Das sieht er, wenn sie bei Einfahrt in einen Bahnhof hochguckt.
Immer nur für Sekunden, denn sie liest auch. Auf einem der Quersitze schräg vor ihm. Gesicht in seine Richtung. In was für ein Buch sie sich vertieft hat, kann er trotzdem nicht erkennen. Der Gang zwischen ihnen ist rappelvoll, und gerade verbaut eine abgerissene Gestalt halb die Sicht, klimpert mit einem Pappbecher für Münzspenden.
Jemanden unauffällig zu betrachten, will auch geübt sein. Er hat es mal indirekt über die Scheibe versucht, dann wieder schamlos ohne Bande. Doch sobald sie umblättert oder sich regt, guckt er schnell wieder ins eigene Buch, tut jedenfalls so. In dieser Sekunde zum Beispiel.
Oben in seinem Brustkorb fühlt es sich enger an als gewöhnlich, obwohl ihr Blick ihn wieder nicht gestreift hat, kein bisschen.
3
Er trägt noch den Werkstatt-Overall. Eingestickt auf der Brusttasche: ein Logo. Susis Garage. Die Finger starren vor Dreck. Wie man eben aussieht, wenn man stundenlang an elektronischen Bauteilen schraubt und lötet, ständig nach Werkzeug greift.
Sie trägt einen Regenmantel mit fester Kapuze, außen signalgelb, innen dunkelblau, wie Fischer bei schlechtem Wetter.
Alle anderen Leute wirken im Vergleich zu ihr gespenstisch farblos und erschöpft. Eigenartig, was mit dem menschlichen Körper geschieht innerhalb eines Tages. Muskeln erschlaffen, aus den Poren dünstet Müdigkeit.
Sie aber lächelt.
Sie spendiert sogar der abgerissenen Gestalt entschuldigend ein paar freundliche Worte und eine Münze. Sie sagt: »Leider habe ich nicht viel zum Abgeben. Höchstens noch den Mantel hier.«
Die Stimme.
Als würde sie eine unsichtbare Verbindung zu ihm, der sie beobachtet, herstellen. Wie dieses Lächeln. Er hat keine Erklärung dafür.
Und sieht nur er das? Um sie herum erscheint der Raum silbern von ihrer Anwesenheit. Beruhigend und beunruhigend, beides gleichzeitig.
Sie, nah und fremd: Das ist Henny.
4
Im Tunnel hat sich in der Scheibe hinter Henny die ganze Zeit ihre Silhouette auf merkwürdige Art gespiegelt, hell umrandet, vielleicht wegen der Haare oder der gelben Kapuze. Jetzt, als die abgerissene Gestalt weiterschlurft und die Sicht auf die andere Seite des Gangs wieder ein wenig freier wird, steigt die Strecke in einen oberirdischen Abschnitt an. Draußen zieht grau-bunte Welt vorbei.
Henny kneift die Augen zu.
Er kneift die Augen zu.
Die Sonne dringt durch eins der Löcher im verhangenen Himmel, kommt an den wuchtigen Gebäuden der Innenstadt vorbei zum Vorschein. Fassaden funkeln vom letzten Regen. Ein flüchtiges Spektakel. Sobald die Wolken sich ineinanderschieben, kehrt sofort eine Art farblose Heiserkeit zurück und legt sich über alles. Typische Witterung für diesen Teil der Welt, viel Niederschlag, auch im Sommer.
Er spitzt die Ohren.
Auf Hennys Seite wird gesprochen.
5
Die beiden Typen von der Doppelbank ihr gegenüber flachsen miteinander. Sie dürften einen Tick älter sein als Henny. Einer hält einen Strauß Rosen in der Hand. Der andere sagt: »Deine Süße wird denken, das wird ein Heiratsantrag.«
»Bin eben Romantiker«, kommt als Antwort. Die Frisur des Romantikers: eine Art Hühnerkamm, knallrot.
»Und ich bin Skeptiker. Ich frage mich, ist das gute alte Schule oder heute einfach nicht mehr zeitgemäß?« Der Skeptiker trägt das Haar raspelkurz und einen Nasenring. »Vase oder Kompost, das ist hier die Frage.«
Hühnerkamm schaut ein wenig beleidigt hinter den Blumen hervor, dann tippt er Henny einmal gegen das Knie: »Wir brauchen kurz deine Meinung. Hat der Rosenkavalier noch eine Zukunft in unserer Zeit?«
Henny hebt das Kinn: »In einer Welt, in der das Kribbeln im Bauch am laufenden Band zur ganz großen Geschichte gemacht wird, kann ich mir das nicht anders vorstellen.«
»Siehst du.« Hühnerkamm verpasst dem anderen einen Rippenstoß.
»Sie liest ja auch Bücher.«
Henny holt einmal kräftig Luft. Sie sagt: »Wobei mir persönlich der Brauch, Rosen zu verschenken, ziemlich lahm vorkommt.«
»Ach. Lahm, ja? Und was wäre wohl aufregender?«, fragt Hühnerkamm.
»Wenn es um das Kribbeln im Bauch geht, wäre es doch logisch, wenn man jemandem eine Schaukel baut. Zum Beispiel.«
»Schönes Geschenk. Finde ich eine gute Überlegung.«
Nasenring guckt zufrieden zu Henny. Aber sie sagt: »Ganz grundsätzlich wäre es natürlich am schlausten, Partnerwahl und Gefühle rigoros voneinander zu trennen. Wer verknallt ist, ist doch selten ganz zurechnungsfähig.«
Der Zug beschleunigt, rast durch eine Schneise aus Graffitimauern links und rechts. Henny schlägt ein Bein übers andere. Ein Fuß wippt in der Luft.
Sie trägt keine Schuhe.
Hühnerkamm räuspert sich. »Du bist barfuß.«
Ihre Lippen kräuseln sich spöttisch. Außerdem hebt sie beim Sprechen die eine Augenbraue. Sie sagt: »Stimmt. Ändert aber nichts, romantische Liebe lässt Menschen einfach ständig in emotionale Verwirrung und andere Katastrophen stolpern und stürzen.«
Nasenring zupft am Nasenring. »Ich als Feminist bin geschockt. Du propagierst wirklich die Zwangsehe?«
»Arrangierte Partnerschaften. Das ist etwas völlig anderes.«
»Das heißt, mein Freund stopft am besten die Blumen in die nächste Mülltonne und bittet seine Eltern, sich um alles zu kümmern?«
Henny hebt die Schultern: »Da mische ich mich nicht ein. Ich sage nur: Verliebtheit würde ich als extreme Gefahr einstufen.«
Und da – er reagiert zu langsam, viel zu langsam – guckt sie direkt zu ihm hin. Zu ihm im ausgebeulten Overall. Klappt dabei das Buch zu.
Blick.
Buch.
Steigt ihm da etwa Röte ins Gesicht?
6
Er, der sie die ganze Fahrt angeschaut und angeschaut hat, zuckt zusammen. Die Druckwelle einer entgegenkommenden und vorbeirauschenden Bahn auf dem Nachbargleis rüttelt am Wagon.
Er, plötzlich auf den Beinen: Das ist Ponger.
7
Die schweren Arbeitsschuhe geben den Weg vor. Er entfernt sich vom Platz in der Mitte des Zugabteils, von ihr, mogelt sich an dem Bettler vorbei, der Hennys Regenmantel nicht gewollt hat. Wie Ponger das hinbekommt? Wüsste er nicht zu sagen. Er schlängelt sich Richtung Ausgang, bis es nicht mehr vorwärts geht, sein Buch fest in der Hand. Der Magen zusammengeschrumpft.
Beide, sie und er, lesen denselben Roman. Das weiß er jetzt. Und soweit er das auf die Distanz erkannt hat, sind beide, sie und er, mehr oder weniger an derselben Stelle, noch ziemlich am Anfang.
Ponger spürt es, ohne hinzusehen. Sie hat sich ebenfalls erhoben, folgt ihm. Die aufgestellten Nackenhärchen wollen sich gar nicht wieder beruhigen.
Dann das Tippen gegen seine Schulter. Der muffige Schnapsatem des Bettlers, als er herumfährt. »Schon Kleinigkeiten sind eine große Hilfe …«
»Was?«
»Junge, du bist ein Guter, das sieht man gleich«, sagt der Bettler. Ponger greift in die Brusttasche seines Overalls. Leer bis auf ein paar Münzen. Sie landen alle im Pappbecher.
Er schielt daran vorbei.
Henny schiebt mit dem Ellbogen einen übergewichtigen Kerl zur Seite, hangelt sich zu Pongers Haltestange vor. Unmittelbar unter seiner Hand hält sie sich fest. Die Wärme des fremden Körpers. Drei Millimeter Abstand, höchstens.
8
Henny spricht ihn ohne Umschweife an. »Ich mag das Buch«, sagt sie, »hab’s mittlerweile drei Mal gelesen. Geht natürlich immer gleich aus: Die beiden bekommen sich am Ende nicht. Kitschfreier Schluss. Ist gut.«
Der Regenmantel riecht neu. Ponger, nicht nur von diesem typischen PVC-Dunst und Hennys Nähe ganz irritiert, sagt: »Das wollte ich gar nicht so genau wissen.«
»Hm, dein erstes Mal also«, sagt sie, »und dass du Geheimnisse und Rätsel magst, dachte ich mir schon. Passt.«
Der Zug neigt sich leicht in eine Kurve. Ihre Schulter berührt seinen Oberarm, mit Absicht, tippt er. Er hat Angst, ihr auf die Füße zu treten: »Du läufst barfuß rum. Meinst du das mit Rätsel?«
Sie hebt, wie vorhin schon einmal, eine Augenbraue: »Pass auf, mein lieber Ponger, ich rufe dich an. Besser, wir machen es hier kurz. Zu viele Leute.«
Mein lieber Ponger?
Durchzittert vom Stampfen der Bahn legt sie ihm eine Hand auf die Brust, schaut Ponger an, als wäre dort etwas, das es wert ist, gesehen zu werden, wie es an einer Stelle in dem Buch heißt, das sie beide lesen.
»Ist das so eine Art Mutprobe«, sagt er, »gucken, ob du von Fremden eine Telefonnummer bekommst?«
»Du drehst besser an der nächsten Station um, fährst mit dem Zug dahin, wo du eigentlich hinwillst, wie immer.«
»Vielleicht kommt meine Station ja erst.«
»Nicht in dieser Richtung.«
Bevor Ponger darauf antworten kann, blickt Henny über die Schulter. Er betrachtet ihr Profil.
Was hat er erwartet? Eine spitz zulaufende Ohrmuschel? Wie Perlmutt schimmernde Schuppen? Kiemen? Doch das Einzige, was ihn in diesem Moment stutzen lässt, ist die leichte Besorgnis in ihrem Blick.
9
Hinter Henny entsteht Bewegung und Unruhe im Waggon. Ein Tumult. Ponger sagt: »O.k., du kennst also meine Station und meine Telefonnummer und weißt auch, welche Bücher ich lese. Noch was?«
»Ich kenne deine Telefonnummer nicht.«
»Hast du nicht gerade gesagt, du rufst mich an?«
Noch bevor sie nach dem roten Griff in der Nähe der Tür langt, sagt sie: »Klingt blöd, aber für große Erklärungen ist tatsächlich keine Zeit. Du musst schließlich auch vorsichtig sein, oder? Und jetzt halt dich fest.«
Dann geschieht alles in Bruchteilen von Sekunden, lauter Kleinigkeiten gleichzeitig. Beinah geht deshalb unter, wie sie ihm etwas zusteckt, ein flaches Etwas. Sie lässt es in der Brusttasche seines Overalls verschwinden.
Ein Telefon.
Im Moment danach …
10
Der Ruck —
11
— das Drehgestell des Wagens scheint sich unter ihnen hart in die Schienen zu verkeilen: Metall quietscht schrill auf Metall. Bremsbacken kämpfen darum, das lange Ungetüm von Fahrzeug zu bändigen.
Die Menschen in den Gängen taumeln ineinander, hochgeschreckt aus dem Alltagsdämmer. Augen aufgerissen, weit aufgerissen.
»Mädchen, was wird das?« Eine besorgte Stimme in der Nähe.
Der Bettler?
Seiner gegerbten Hand entgleitet der Pappbecher, Geldstücke segeln im hohen Bogen durch die Luft. Der Moment dehnt sich, der Moment staucht sich.
Ein Hicks im Hirn.
Der Zug stoppt kreischend ab. Alles sucht nach Halt und Balance. Der Bettler knallt mit dem Kopf gegen die Stange, an die Ponger sich klammert. Pappbecher und Münzen klötern zu Boden, flippern, hüpfen, kullern zwischen Schuhwerk umher, rollen klackernd gegen Sohlen und plingen gegen die noch geschlossene Tür. Dann Ruhe.
In den Scheiben steht die eben noch bewegte Welt still.
Henny hat, geht Ponger auf, einfach die Notbremse gezogen.
Und ist verschwunden.
12
Durchs Türviereck weht kühle Luft. Dazu die passende Geräuschkulisse, ein Rauschen von draußen wie von Wasserleitungen in einer Wand.
Einige Leute drängeln andere zur Seite, um zu filmen, was vor sich geht. Ponger meint, den gelben Mantel von Henny zu sehen. Ein Windhauch streicht kühl an seinen Wangen vorbei, bevor die Tür des Waggons wieder zufällt.
Wie hat Henny die geöffnet?
Ist sie wirklich raus?
Prompt die Lautsprecher-Durchsage des Zugführers: Man möge bitte unter keinen Umständen die Abteile verlassen. Lebensgefahr.
Da wenden sich die Blicke um Ponger herum nach oben. Poltern über den Köpfen. Er hat augenblicklich so klare Bilder im Kopf, als könnte er es selbst sehen: Auf den Zug ist sie geklettert. Rennt entgegen der Fahrtrichtung zurück und hat von einem der hinteren Waggons aus leichtes Spiel. Eine Brücke für Autos und Fußgänger spannt sich über die Gleise. Henny kann sich ans Geländer klammern, zieht sich hinauf.
Die Filmer in der S-Bahn fangen ein, wie sie im Getümmel der Stadt entschwindet. Der signalgelbe Regenmantel wird vom Wind leicht aufgeblasen am Rücken. Die Kapuze weht nach hinten. Und Ponger hört neben sich das Knistern eines Funkgeräts. »UP1 flüchtig. Bitte kommen«, sagt eine verzerrte Stimme.
13
Atem trübt das Glas der Scheibe ein, sein Atem. Die Türen sind jetzt wieder verriegelt. Unter den Fahrgästen Schwatzen und sogar Gelächter. Abklingender Schock. Gefahr-vorbei-Stimmung. Erleichtertes Durcheinander.
Auf der nahen Hauptstraße bald Sirenen. Lichtleisten blinken auf den Dächern einer Streifenwagenkolonne. Blauer Widerschein überall rundum, üppig hineingestreut ins Straßenbild.
Ponger fingert das Telefon aus der Brusttasche. Billig-Modell aus dem Supermarkt. Voller Akku, aber aktivierte Tastensperre. Er schiebt das Ding zurück in den Overall. Die S-Bahn schnauft pneumatisch.
Geht es weiter?
II
HAMBURG STERNSCHANZE
14
Nach einer Weile rollt der Zug in den nächsten Bahnhof, eine Station auf einem erhöhten Damm mit offenem Flachdach. Im Freien klatscht Ponger die Luft feucht entgegen. Abendlicht sickert schwach durch die dichte Wolkendecke über der Stadt.
Gedränge.
Gesprächssalat.
Köpfe recken sich nach den Anzeigetafeln.
»Alles aussteigen, bitte. Die Strecke bleibt bis auf Weiteres aufgrund einer Betriebsstörung gesperrt.«
Die Mitteilung einer metallischen Lautsprecherstimme.
Über Megafon werden die Fahrgäste aus Pongers Waggon aufgefordert, noch für eine kurze Befragung zur Verfügung zu stehen. Der Rest darf weiterziehen. Ponger umfasst das Buch fester, schaut zu den Rolltreppen, will sich in den Strom der Menschen einreihen, die dort hineilen.
Die Situation scheint unübersichtlich. Er hofft, vielleicht übersehen zu werden. Aber als er gerade unter einem Flatterband durchtauchen will, pfeift ihn sofort ein Polizist zurück. Freundlich, aber bestimmt.
Ponger hebt die Hände, als ergebe er sich. Nur ein Versuch, gibt er zu verstehen und bleibt brav auf seiner Seite.
15
So wartet er auf der Plattform am Gleis, während sich das Durcheinander nach und nach lichtet. Er staunt: eine Menge Uniformierte. Aber nur zwei Kerle in Zivil linsen kurz in das Innere des Wagens, aus dem Henny getürmt ist. Einer: glatt rasierte Wangen, einer: Stachelbart.
Der Glattrasierte, blond und die Statur eines Basketballers, muss dabei den Kopf ein Stück einziehen. Ein Lulatsch im Maßanzug. Er stolpert fast über den Bettler. Der krabbelt weiter am Boden herum und sucht immer noch nach den verlorenen Münzen, mault: »Was wird hier denn so ein Aufriss gemacht? Haben wir keine dringenderen Probleme im Land?«
Stachelbart, ein knochiges Kerlchen in Stiefeletten und Röhrenhosen, fischt eine Kippe aus der Brusttasche seines Parkas, zündet sie an: rötliches Aufflammen des Streichholzes. Dann gibt er einem Uniformierten einen Wink. Man hievt den Bettler an den Achseln auf die Beine und bringt ihn zur Rolltreppe.
Der Lulatsch beginnt unterdessen den Dialog mit Hühnerkamm und Nasenring. Immerhin haben die zwei, was sie selbst eilfertig herausstreichen, der Geflüchteten gegenübergesessen. »Die hatte extreme Ansichten. Sie trug kein Kopftuch oder so, aber war total pro Zwangsehe«, sagt Hühnerkamm.
Nasenring schüttelt den Kopf, korrigiert: »Das muss man fairerweise differenzieren. Sie war für arrangierte Partnerschaften.«
»Egal, das war eine Radikale, kapierst du das nicht, die wollte den Zug wahrscheinlich in die Luft jagen.« Hühnerkamms Blick geht zu Lulatsch.
Lulatsch sagt: »Sonst noch was?«
»Weiß nicht. Womit wäre denn geholfen? Mann, da rechnet ja keiner mit, dass du plötzlich neben einer Terroristin sitzt.«
Stachelbart fährt dazwischen: »Junge, hast du Angst, dass wir dein Gras beschlagnahmen? Nun komm mal runter. Es geht nur um eine Notbremsung ohne offensichtlichen Gefahrenfall.«
»Wie kommen Sie darauf, dass ich Drogen in der Tasche habe?«
»Wie kommst du auf Terrorismus?«
Lulatsch schaltet sich beschwichtigend ein: »Hat die fragliche Person zu jemandem außer euch Kontakt gesucht? Auf die eine oder andere Weise?«
Nasenring verneint: »Pffft. Nicht, dass ich wüsste.« Er schaut achselzuckend zu Hühnerkamm, erwartet wohl Bestätigung.
Der zupft ein trockenes Blättchen aus den Rosen, murmelt nebenbei: »Notbremsung ohne Gefahrenfall. Ha, das könnt ihr meiner Oma erzählen.«
Strenger Blick vom Lulatsch. Sehr streng. Nasenring springt seinem Kumpel zu Hilfe: »Die meiste Zeit während der Fahrt hat sie ein Buch gelesen.«
»Aha.« Stachelbart schnippt die Kippe weg. Er lässt die Hand um die eigene Achse rotieren. Die Geste soll heißen: Komm, erzähl mir mehr.
»Ja, Entschuldigung. Kein Wälzer, eher so mitteldick. Hellblaues Cover, glaube ich, sah nach Roman aus.«
Stachelbart nickt: »Ein mitteldicker, hellblauer Roman also. Super.«
»Ja, war kein Bombenbaubuch mit detaillierten Anleitungen, definitiv nicht. Es sei denn, es gab eine besondere Verschlüsselung«, sagt Hühnerkamm.
Stachelbart und der blonde Lulatsch wechseln Blicke. Sieht ein bisschen so aus, als würden sie stumm verhandeln, wer Hühnerkamm vor den nächsten Zug schubsen darf. »Ganz doofe Frage«, sagt Stachelbart, »hatte es vielleicht einen Titel? Einen, den sich einer von euch Hirnakrobaten sogar gemerkt hat?«
Das Zeugen-Duo muss passen. Sie knicken die Unterarme nach außen ab, die offenen Handflächen zeigen himmelwärts.
»Nicht drauf geachtet«, gesteht Hühnerkamm.
»Na dann, danke schön.« Lulatsch gibt ihnen den Weg zur Rolltreppe frei.
»Moment!«, sagt Nasenring. »Hey, das Buch sah so ähnlich aus wie das von dem da drüben.«
Hühnerkamm assistiert: »Exakt das war’s, ohne Scheiß. Das ist ihr Buch ...« Ein bebender Zeigefinger deutet Richtung Ponger. Beziehungsweise auf den Roman in Pongers Hand. Fast synchron drehen sich diverse Köpfe.
16
Ein paar Tauben sitzen oben auf den Stahlträgern unterm Dach des Bahnsteigs. Ponger drückt sich an die Plakatwand in seinem Rücken. Für einen Moment ist es so still, dass er das Gurren der Tauben hören kann.
Der Wind, nur ein Hauch.
Bloß eine winzige Atempause bis zur nächsten Brise oder Bö. Auch ein Phänomen dieser Stadt: der rastlose Wind. Ständig findet er Ritzen, dringt durch sie ein in Gebäude, Klamotten, in alles.
Das Buch wiegt plötzlich so viel wie eine Hantel.
17
Ponger bemüht sich, die Sache runterzuspielen, als er Stachelbart seine Lektüre überreicht. »Ist ja ein Bestseller auf der halben Welt …«, sagt er, nachdem er erklärt hat, dass das nicht ihr Buch ist, sondern seins, dass sie und er einfach den gleichen Roman gelesen haben.
Stachelbart studiert flüchtig die Autorenbiografie hinten in Pongers Ausgabe: »Preisgekrönter Jugendbuchautor«, sagt er, mehr zu sich selbst als zu Ponger. »Genießt seit dem Debüt Kultstatus unter seinen Lesern.«
Lulatsch zwingt eine Mundecke hoch: »Mit anderen Worten: Keine ganz geringe Wahrscheinlichkeit, dass zwei junge Menschen zur gleichen Zeit im selben Abteil ausgerechnet dieses Buch lesen.«
Ponger rollt einen Kiesel unter seiner Sohle hin und her. »Na ja, vorher ist mir so was noch nie passiert.«
»Also«, sagt Stachelbart, »ich hätte als Jugendlicher ja ums Verrecken kein Jugendbuch freiwillig angefasst. Ist das nicht alles so Problemzeug über Mobbing oder Magersucht mit pickligen Helden? Na, egal, wem’s Spaß macht …«
Er reicht den Roman zurück, stirnfurchend, um sich gleich einen anderen Zeugen zu schnappen, während Lulatsch noch immer Ponger mustert. »Wir stehen also vor der Frage, gibt’s hier zwingende Zusammenhänge oder bloß Korrelationen.« Mit zwei Fingern klopft er gegen das mächtige Kinn.
»Bitte?«
»Du bist Schrauber von Beruf, Junge?« Er deutet auf das Logo am Overall: Susis Garage. Ponger nickt. Vorgestellt haben sich der Lulatsch und Kollege bei ihm nicht, fällt Ponger auf. Polizisten, wahrscheinlich. Zivilpolizisten.
Er überlegt, wieso Lulatsch wohl so intensiv auf den Schriftzug starrt, als wolle er sich den Namen der Werkstatt scharf einprägen. Außerdem fällt Ponger auf, dass er selbst noch nickt. Und lässt es sofort bleiben, sagt: »Techniker, Lehrling. Ja, stimmt.«
»Lesender Handwerker in Ausbildung. Gefällt mir, gefällt mir. Schmökern schult ja Wortschatz und Einfühlungsvermögen. Kann man immer brauchen. Außerdem eignet man sich eine gewisse Kombinationsgabe an. Deshalb jetzt einfach aus Neugier: Sie war doch ungefähr in deinem Alter, ist dir vielleicht etwas Außergewöhnliches aufgefallen?«
Ponger tauscht einen Blick mit Lulatsch. Er muss daran denken, was der Bettler gesagt hat: ziemlicher Aufriss. Denkt auch an die Stimme von Henny, an das Silbrige darin. Ponger knackt mit den Fingern, presst die Lippen zusammen. Was hält ihn zurück?
Warum nicht in die Brusttasche greifen, alles erzählen und das Telefon, das nicht ihm gehört, ganz einfach aushändigen?
Der Arm zuckt schon nach oben. Dann stockt Ponger in der Bewegung. Kurz ist da sogar das Gefühl, er wird sich nie wieder rühren können.
Ponger schließt die Augen, einfach probehalber.
18
Ponger öffnet die Augen wieder. Nein, hat nichts genützt. Weiter derselbe Tag: Er befindet sich auf einem Bahnsteig in einer völlig falschen Gegend. Vor ihm steht Lulatsch und mustert ihn, während Ponger das Telefon einer Fremden durch den Stoff im Overall zu spüren meint. Einer Fremden, die ihm auf den Kopf zugesagt hat, dass auch er vorsichtig sein muss.
»Das Blöde ist, ich war ja auf mein Buch konzentriert. Ich bin sogar in die falsche Bahn eingestiegen deswegen«, sagt Ponger.
»Und da sage einer noch, die Jugend lese nicht mehr. Hm, hm.« Plötzlich ist Lulatschs Rücken sehr gerade.
Pongers Gedanken stoßen gegen etwas Unsichtbares. Wie Wespen gegen Fensterglas. Er muss dem Lulatsch etwas anbieten. »Ich könnte sie Ihnen auf jeden Fall ganz gut beschreiben, glaube ich. Weil, nachdem ich die Sache mit dem Buch bemerkt habe, habe ich natürlich schon genauer hingeschaut.«
Die Zähne von Lulatsch blitzen, er lacht, ein ehrliches Lachen. Reibt Hände aneinander sauber, obwohl er nichts angefasst hat. »Lass mal gut sein.«
»Sie war barfuß«, sagt Ponger.
»Sechs Zehen?«
»Bitte?«
»Dummer Scherz. Vergiss es.«
Wieder denkt Ponger, das war’s.
Doch dann geht der Vibrationsalarm.
19
Das fremde Telefon!
20
Ponger blickt zur Bahnsteig-Uhr. »Zu Hause wartet man, bin spät dran heute.«
Lulatsch beobachtet einfach, was Ponger tut. Und weil Ponger nichts tut und das Vibrieren nicht aufhört, legt Lulatsch eine Hand ans Ohr. Als hätte Ponger etwas gesagt und er es nicht richtig gehört. Dann macht er: »Öhm …«
Was bleibt Ponger übrig?
»Ich gehe wohl besser mal ran«, sagt er.
21
Die Tauben fliegen auf, eine zierliche Feder, vielleicht aus dem Brustkleid, segelt durch die Luft. Die Vögel gleiten knapp an Lulatschs Kopf vorbei. Der lange Kerl duckt sich unwillkürlich.
Das Federchen driftet in Richtung Bahnsteig, kreiselt in weiten Bögen gen Boden, trudelt in einer Pirouette auf Lulatschs Lederschuhspitze.
Schönes Leder, bohnenrot.
»Hi!«, sagt Ponger ins Telefon.
»Wenn du nicht reden kannst, rede jetzt nicht«, sagt Henny, »sag einfach o.k. Am besten die ganze Zeit. Ich wollte nur sagen, du bist nicht in Gefahr.«
Ponger nickt erst sinnlos und still ins Telefon.
Henny gluckst.
»O.k.«, sagt Ponger dann. Äußerlich gelassen, das kann er. Auch wenn es bis in die hintersten Winkel seines Kopfes rumort.
»War nur geflunkert«, sagt sie, »du bist natürlich extrem in Gefahr. So ist das ja immer, wenn das Kribbeln im Bauch mit im Spiel ist.« Ein selbstbewusster Tonfall, beinah harsch.
»O.k.«, sagt Ponger.
»Prima machst du das«, sagt sie, »wir werden uns wiedersehen. Ich habe nämlich einen Anschlag auf dich vor, völlig harmlos. Etwas zum Rätseln, wirst du mögen. Leider habe ich, wie du mitbekommen hast, einige Fans im Schlepptau. Die Leute, die sich für mich interessieren, sind mir schon im Zug gefolgt.«
»O.k.«, sagt Ponger, diesmal ein wenig anders betont, besorgter.
»Dürfte aber kein Problem sein. Nicht für mich, nicht für dich. Ich bin keine Kriminelle, hörst du. Bis zur Notbremsung habe ich nichts Verbotenes getan. Außer vielleicht, dass ich mich hier nicht ganz legal aufhalte.«
»O.k.«
»Bist ein Freund, Ponger, wirklich. Bleib schön auf der Hut. Ich melde mich wieder.«
Ob Ponger auch das Letzte einfach so o.k. finden soll? Nicht leicht zu sagen. Er schweigt versuchsweise mal: »…«
Legt Henny auf?
Von wegen. »O.k., Ponger?«
»O.k., o.k.«, sagt Ponger.
22
Noch bevor er das Telefon vom Ohr nimmt, stellt er fest: Das ganze Schauspiel hat alles in allem auch sein Gutes. Lulatsch wittert offensichtlich keine heiße Spur. Mitfühlend, ratlos: die Art, wie Großeltern oft pubertierende Kinder anblicken – so betrachtet er Ponger, ehe er auf dem Absatz kehrtmacht.
Mit seiner flaumigen Taubenfeder am bohnenroten Lederschuh.
23
Das Bemerkenswerteste am Rückweg? Wie vorhin sitzt auf der anderen Seite des Ganges jemand mit einem roten Hühnerkamm. Wenn auch diesmal ohne Begleiter. Und ohne Rosenstrauß. Eine Korrelation, tippt Ponger. Beliebte Frisur anscheinend. Ansonsten ist es eine Fahrt wie so viele. Sie endet für ihn an der Station, an der er sonst auch immer aussteigt nach der Arbeit.
Ponger will schnellstmöglich in die eigenen vier Wände. Also verlässt er den Zug und das Bahnhofsgebäude, ohne zu trödeln.
Ein zwingender Zusammenhang.
24
Draußen feiner Regen, der anstatt zu fallen zu schweben scheint. Ponger senkt den Kopf. Sein Schatten im Laternenlicht: ein fast durchscheinender Fleck. Kinn auf der Brust folgt Ponger ihm.
Vom Wind herumgescheuchtes Zeug weht ihm vor die Füße: Laub und ein paar Parkscheine, ein hauchdünnes Plastiktütchen. Ponger tritt gegen eine Energydrink-Dose. Einfach, weil sie ihm in die Quere kommt.
Herrliches Geschepper!
Danach atmet er ein paarmal tief durch. Der Geruch nach Straße, Abgasen, Pfützen: der Stadtschweiß.
Was war das heute?
Er hebt die Schultern weit Richtung Ohrläppchen und wirft den Roman und das fremde Telefon eine Straßenecke weiter in einen Mülleimer.
Er geht ungefähr zehn Schritte.
Bleibt stehen.
Noch mal drei Schritte.
Ponger inhaliert feuchte Luft.
25
Er dreht um und fischt den Bestseller wieder aus dem Müll, weil ihn doch interessiert, wie es weitergeht. Wer weiß, ob überhaupt stimmt, was er über das Ende gehört hat. Ponger wischt einmal über den Schutzumschlag.
Nur das Buch möchte er zurückhaben.
Das Telefon nicht.
III
HAMBURG-ROTHENBURGSORT,
SUSIS GARAGE
26
Tags drauf: Ponger stiefelt auf gewohntem Weg zu Susis Garage, überquert zwei Brücken, bewundert den Frühnebel über den Kanälen, zwängt sich an den Absperrungen einer Dauer-Baustelle vorbei, an der nie jemand zu arbeiten scheint, passiert einen verwaisten Recyclinghof.
Sein Kinn klemmt er fest hinter dem Kragen des Overalls ein. Die Nase schaut raus in die Welt. Geduckte Lagerhallen und gesichtslose, überwiegend leere Bürogebäude, umgeben von trostloser Asphaltwüste. Das Gewerbegebiet ist so menschenleer wie immer zu dieser Stunde.
Als er an der ehemaligen Autowerkstatt ankommt, lehnt Susi draußen an ihrem klapprigen Kombi für Hausbesuche. Auf dessen Dach befindet sich ein Leuchtschild, wie auf einem Krankenwagen: Susis Notdienst. Und auf dem Heck klebt ein Aufkleber: Wir schenken Flippern ein zweites Leben!