Engelstöter - Caroline Seibt - E-Book
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Caroline Seibt

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Beschreibung

Ein Paket mit verstörendem Inhalt, das alles verändert …
Der zweite, spannende Fall um Theo Weiland lässt keine Zeit für eine Atempause

Fünf Jahre ist es her, seit Mara Dahl ihre Tochter Franziska zum letzten Mal lebend gesehen hat. Zur Anklage gegen den einzigen Verdächtigen, einen ehemaligen Polizisten, kam es nie, weil die Indizien für einen Prozess nicht ausreichten. Mittlerweile glaubt niemand mehr daran, dass es noch Hoffnung gibt. Doch dann findet Mara eines Tages ein Paket vor ihrer Haustür, dessen Inhalt alles in Frage stellt. In ihrer Verzweiflung bittet sie den suspendierten Ermittler Theo Weiland, private Nachforschungen anzustellen. Sie will endlich erfahren, was man ihrer Tochter angetan hat. Noch ahnt sie nicht, dass einige Geheimnisse besser im Verborgenen bleiben. Denn die Wahrheit kann tödlich sein …

Weitere Titel dieser Reihe
Gestohlenes Kind (ISBN: 9783987781681)

Erste Leser:innenstimmen
„Der neue Theo Weiland-Thriller ist super fesselnd.“
„Wo ist die Tochter von Mara Dahl? Spannender Kriminalthriller bis zur letzten Seite.“
„Düstere Atmosphäre, hochspannender Fall und interessante Charaktere: Spannungs-Fans werden nicht enttäuscht!"

„Überraschend und klug konzipiert. Wann kommt der nächste Teil?“

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Seitenzahl: 441

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Über dieses E-Book

Fünf Jahre ist es her, seit Mara Dahl ihre Tochter Franziska zum letzten Mal lebend gesehen hat. Zur Anklage gegen den einzigen Verdächtigen, einen ehemaligen Polizisten, kam es nie, weil die Indizien für einen Prozess nicht ausreichten. Mittlerweile glaubt niemand mehr daran, dass es noch Hoffnung gibt. Doch dann findet Mara eines Tages ein Paket vor ihrer Haustür, dessen Inhalt alles in Frage stellt. In ihrer Verzweiflung bittet sie den suspendierten Ermittler Theo Weiland, private Nachforschungen anzustellen. Sie will endlich erfahren, was man ihrer Tochter angetan hat. Noch ahnt sie nicht, dass einige Geheimnisse besser im Verborgenen bleiben. Denn die Wahrheit kann tödlich sein …

Impressum

Erstausgabe Dezember 2023

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98778-793-5 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-945-8 Hörbuch-ISBN: 978-3-98637-735-9

Covergestaltung: Buchgewand unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: © HappyTime19 depositphotos.com: © ivanvbtv shutterstock.com: © Iris_art, © Madredus Lektorat: Birgit Förster

E-Book-Version 19.04.2024, 15:03:39.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Engelstöter

Jetzt auch als Hörbuch verfügbar!

Engelstöter
Caroline Seibt
ISBN: 978-3-98637-735-9

Ein Paket mit verstörendem Inhalt, das alles verändert …Der zweite, spannende Fall um Theo Weiland lässt keine Zeit für eine Atempause

Das Hörbuch wird gesprochen von Jonathan Springer.
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Prolog

2001

Die Plastikplane klebte wie eine zweite Haut an ihrem Rücken. Franziska schwitzte und fror gleichzeitig. Mit letzter Kraft öffnete sie die Augenlider, an denen unsichtbare Gewichte zu hängen schienen. Der Todesengel kniete direkt neben ihr. Seine langen Locken fielen auf ihr Gesicht und kitzelten ihre eiskalten Wangen. Er seufzte.

»Ich brauche noch mehr. Sie ist immer noch bei Bewusstsein.«

Zusammenhangslose Silben gurgelten aus ihrem Mund, als der zweite Schatten sich von der Wand löste. In der rechten Hand hielt er eine Spritze, deren Zylinder bis zum Anschlag mit einer goldgelben Flüssigkeit gefüllt war.

»Sch! Ganz ruhig!« Sanft legte der Engel den Zeigefinger auf ihre zitternden Lippen. »Keine Angst. Du wirst gar nichts merken.«

Sie versuchte den Arm zu heben, aber ihr Körper gehorchte ihr nicht länger. Die Injektionsnadel, die durch ihre Haut glitt, spürte sie kaum. Nur ein leichtes Kribbeln, als er den Kolben nach vorn drückte und der Inhalt der Spritze sich in ihren Venen verteilte. Sie wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. Schon nach der ersten Dosis war sie innerhalb weniger Minuten zusammengesackt. Kein Tunnel mit einem gleißenden Licht am Ende erwartete sie. Auch kein Stummfilm voller Erinnerungen, der vor ihrem inneren Auge ablief. Alles, woran sie denken konnte, während der Mann die Nadel aus ihrer Armbeuge zog, war das Leben, das sie verpassen würde. All die Dinge, die ihr so selbstverständlich vorgekommen waren. Nächste Woche wäre ihr fünfzehnter Geburtstag. Die Torte hatte sie selbst ausgesucht. Erdbeer-Sahne, ihre Lieblingssorte. Im Kleiderschrank ihrer Mutter hatte sie sogar schon die verpackten Geschenke gefunden. Bei dem Gedanken, wie alle an dem gedeckten Tisch saßen und auf ihren Stuhl starrten, der von jetzt an für immer leer bleiben würde, zog sich ihr Herz krampfartig zusammen. Zum Weinen blieb keine Kraft mehr. Eine einzelne Träne löste sich aus ihrem rechten Augenwinkel und strich sanft über ihre Wange.

»Gleich hast du es geschafft …«, sagte der Todesengel voller Mitgefühl. Er beugte sich zur Seite. Seine Hand schwebte für einen Moment über den Werkzeugen, die er wie OP-Besteck auf der Plane ausgebreitet hatte. Das Letzte, was sie sah, bevor ihr die Augen zufielen, war die Zange in seiner Hand.

Sie spürte kaum, wie die Metallzähne an ihrem Kopf ansetzten. Sie hatte keine Schmerzen mehr. Empfand nur einen leichten Druck und hörte ein schmatzendes Geräusch, als die Zange ein Stück Fleisch aus ihrem Kopf riss.

Sie konnte nichts mehr tun. Franziska ließ los.

Jetzt war es an der Zeit, zu sterben.

Kapitel 1

5 Jahre danach

Die Minuten zerrannen zwischen seinen Händen. Theo Weiland glaubte zu spüren, wie die Zeit zu Staub zerfiel und der lauwarme Wind sie über den Atlantik davontrug. Ihm blieben nur noch vier Stunden, bis der Flieger abhob, der ihn zurück nach Berlin bringen würde.

Die Idee, sich eine Auszeit zu nehmen, war eine Kurzschlussentscheidung gewesen. Er hatte den verstaubten Rollkoffer von seinem Dachboden geholt, ihn bis zum Rand mit Kleidung für alle Wind- und Wetterlagen gefüllt und war dann nach Berlin-Tegel gefahren. Der Zufall setzte ihn per Direktflug auf Madeira ab. Eine Insel, die wie ein Relikt aus einer anderen Zeit schien. Kilometertiefe Schluchten durchzogen das raue Vulkangestein, aus dem die Insel bestand, wie vernarbte Wunden. Wenn Theo in einen der Abgründe blickte, kam er nicht umhin, sich zu wundern, dass der Boden unter ihm nicht auseinanderbrach. Seine Tage hatte er damit verbracht, auf den steilen Straßen zu laufen, bis seine Füße ihn keinen Schritt mehr weitertragen konnten. Er hatte Wein getrunken, bis das Meer vor ihm schwankte wie ein sturzbetrunkener Seemann. Gegessen, bis sein Bauch rund war. Trotzdem fühlte er sich ausgehungert und leer.

Drei Wochen lang hatte er versucht, an alles, nur nicht an den Brief auf seinem Küchentisch, zu denken, der sein Leben für immer verändert hatte. Doch die Worte verfolgten ihn wie sein eigener Schatten, bei allem, was er tat.

Dienstuntauglich.

Auf unbestimmte Zeit freigestellt.

Mit sofortiger Wirkung.

Jede Silbe traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Nach über zwanzig Jahren schlafloser Nächte, mehr Überstunden, als er zählen konnte, und Bildern von Mordopfern, die sich wie Säure in seine Netzhaut geätzt hatten, war dieser Brief wie ein erhobener Mittelfinger. Das Schlimmste an dem Brief war jedoch, dass jeder der penibel dokumentierten Vorwürfe darin der Wahrheit entsprach. Bei seiner letzten Ermittlung hatte Weiland einen Zeugen körperlich bedroht und sich ohne Beschluss Zugang zu mehreren Gebäuden verschafft, weil er darin ein Kind in Lebensgefahr vermutete. Moralisch hatte er richtig gehandelt. Gesetzlich nicht. Wo lag die feine, unsichtbare Grenze, über die ein Polizist sich hinwegsetzen konnte, um ein Menschenleben zu retten? Eine Frage, auf die weder sein Verstand noch sein Herz bis heute eine Antwort gefunden hatte. Weiland wusste nur, dass er ohne zu zögern jeden Fehler genau so wiederbegehen würde.

Die Wolken am Horizont vor ihm rissen auf. Er blinzelte in die Sonne, die ihn nicht länger wärmte. Trotz der angenehmen zwanzig Grad fröstelte er. Die Kälte hatte sich in seinem Körper eingenistet, eine dünne Eisschicht, die jeden Zentimeter seiner Organe zu bedecken schien. Das Meer klang heute wütender als sonst. Unruhiger. Die Wellen zerschellten an den schwarzen Steinen unter seinen Füßen, griffen nach seinen Beinen, als wollten sie ihn nicht gehen lassen. Er würde diesen Anblick vermissen. Das Wellenrauschen in seinen Ohren, das ihn beständig wie ein Atmen durch die nach Salz riechenden Straßen begleitete.

Ein letztes Mal sog er jetzt die kalte Atlantikluft ein.

Zeit, nach Hause zu gehen. Zurück in die Leere.

Knapp neun Stunden später setzten die Räder des Fliegers auf der Landebahn in Berlin-Schönefeld auf. Die Passagiere klatschten, ein kollektives Aufatmen ging durch die Reihen. Zwischen den Sturmböen hatte sich das Flugzeug so robust angefühlt wie ein Papierflieger. Während des gesamten Fluges schoben sich graue Wolkenwände vor die Fenster, die aussahen, als könnten sie die Maschine zwischen sich zermalmen.

Weilands Magen rumorte noch immer, als er als einer der letzten Passagiere auf das Rollfeld trat. Sein Kopf dröhnte, als hätte ein riesiger Vorschlaghammer seine Schädeldecke zu Staub zertrümmert.

Was er brauchte, waren zwei Aspirin, ein Whiskey auf Eis und sein Bett.

Der Gedanke, die Augen zu schließen und in einen tiefen, traumlosen Schlaf zu fallen, trieb ihn dem nasskalten Wind entgegen weiter nach vorn. Innerhalb von Sekunden durchnässte der Regen seine Kleidung. Die Kälte biss sich in seine sonnengebräunte Haut.

Während die anderen Reisenden von Männern in neongelben Warnwesten wie Vieh in Richtung Ankunftshalle gedrängt wurden, steuerte eine Frau in dunklem Anzug direkt auf ihn zu. Ein gelber Regenschirm schützte sie vor den Sturzbächen, die von dem schwarzen Nachthimmel herabfielen.

»Willkommen zurück in Berlin. Wir haben Ihren Koffer. Der Fahrer erwartet Sie bereits.«

Sie brüllte die einzelnen Wörter, um trotz des rauschenden Windes gehört zu werden, und schob den Regenschirm nach vorn, sodass sie gemeinsam im Trockenen standen. Die anderen Reisenden hatten jetzt die Türen zum Flughafenterminal erreicht. In der Entfernung schrumpften sie zu schwarzen Punkten am Horizont.

»Das muss ein Missverständnis sein. Sie verwechseln mich mit einem anderen Fluggast.«

Die Frau lächelte und schüttelte den Kopf.

»Ausgeschlossen. Anscheinend hat Sie niemand informiert, Herr Weiland, aber ich habe die Anweisung, Sie zu Ihrem Fahrer zu bringen.«

»Ich werde am Hauptausgang von meiner Familie abgeholt. Entschuldigen Sie, ich muss jetzt wirklich …«

»Ihre Tochter ist leider verhindert. Sie wird nicht kommen.«

Für einige Sekunden war nur der prasselnde Regen unter Weilands hektischem Atem zu hören. Der Schmerz in seinem Schädel verwandelte sich. Ein Gefühl, als steche ein glühendes Messer abwechselnd in seine Augenhöhlen.

»Ich weiß nicht, was hier vorgeht. Aber ich werde jetzt den normalen Eingang nehmen, genauso wie der Rest der Passagiere.« Er wandte sich um und blickte zu der Tür auf der anderen Seite des Rollfeldes, hinter welcher der Rest der Passagiere verschwunden war. Ein Mann in Sicherheitsweste verschloss sie gerade.

»Bitte!«, behutsam legte die Frau eine ihrer behandschuhten Hände auf seinen rechten Arm. »Der Verkehr ist teilweise zum Erliegen gekommen. Einige Straßen sind gesperrt, und die U-Bahnen fahren auch nicht mehr, weil die Schächte volllaufen. Ihre Tochter ist sicherheitshalber zu Hause geblieben. Der Fahrer wird Sie zu ihr bringen.«

»Wer genau hat Sie engagiert?«

»Tut mir leid«, entgegnete sie. »Ich habe nur die Anweisung, Sie abzuholen und in unsere Lounge zu bringen. Wenn Sie mir jetzt bitte folgen würden.«

Die Frau deutete mit dem Regenschirm auf eine unscheinbare Tür am Rand der Landebahn.

»Wenn Sie möchten, können Sie an der Bar noch ein Getränk einnehmen. Vielleicht einen wärmenden Kaffee oder einen Wein, um den Abend ausklingen zu lassen?«

»Ich möchte nur nach Hause«, antwortete Weiland.

Hatte seine Tochter Hanna den Fahrer schicken lassen? Aber warum hatte sie ihn dann nicht angerufen, um ihm Bescheid zu sagen? Winzige Steine knirschten unter den Sohlen ihrer Schuhe, als sie über das Rollfeld gingen. Bevor Weiland weiter grübeln konnte, traten sie durch die Tür in einen Bereich des Flughafens, den er noch nie zuvor gesehen hatte.

Schlagartig wurde der prasselnde Regen von leiser Klaviermusik aus zwei Boxen abgelöst. Der quadratische Raum war mit einem teuer aussehenden, dunkelblauen Teppich ausgelegt. Gedimmtes Licht beleuchtete eine Bar aus dunklem Holz, an der zwei Männer Rotwein aus eleganten, bauchigen Gläsern tranken. Weiland ließ den Blick über die geschmackvolle Einrichtung schweifen. Sky Lounge, stand in goldener Schrift auf einem Schild an der Wand. Das war wohl einer der Orte, die Normalsterbliche wie er sonst nicht zu Gesicht bekamen. Die Männer an der Bar sahen kurz auf, nickten Weiland zu, als seien sie Teil einer Gemeinschaft, und vertieften sich dann wieder in ihre Weingläser.

Nur ein einziger weiterer Gast saß mitten im Raum an einem der Tische. Im Gegensatz zu den Männern an der Bar trank er nicht. Statt an ein Glas klammerten seine Finger sich an ein etwa zwanzig Zentimeter großes, in rotes Geschenkpapier gewickeltes Paket, das vor ihm auf der Tischplatte lag. Trotz der Entfernung konnte Weiland sehen, dass es bereits einmal geöffnet worden war. Die Reißkanten auf dem Papier hatte man provisorisch mit Klebeband verschlossen.

Der Fremde musterte ihn so unverhohlen, als sei er ein Ausstellungsstück in einem Museum. Langsam und mit sichtlicher Verwunderung ließ er seinen Blick über Weilands zerknittertes Hemd und den löchrigen Wollmantel wandern.

»Noah ist heute Abend Ihr Fahrer. Bleiben Sie, so lange Sie möchten, unser Gast. Getränke und Speisen gehen selbstverständlich aufs Haus. Haben Sie noch irgendwelche Wünsche?«

Die Frau, die ihn hergebracht hatte, war direkt hinter der Tür stehen geblieben, als gäbe es eine unsichtbare Mauer, eine Grenze, die sie nicht überschreiten durfte. In der Dunkelheit hatte Weiland ihr Gesicht kaum erkennen können. Im dämmrigen Licht wirkte sie viel jünger, als ihre rauchige Stimme erahnen ließ. Unter ihren Augen waren tiefe Halbmonde. Vermutlich eine Studentin, die sich mit drei Nebenjobs gerade so über Wasser hielt.

»Nein, ich … danke, sehr freundlich von Ihnen.«

»Dann wünsche ich Ihnen eine gute Heimreise.«

Sie nickte ihm ein letztes Mal zu und schlüpfte dann durch die Tür zurück nach draußen, wahrscheinlich heilfroh, einen unbequemen Kunden wie ihn losgeworden zu sein. Das Letzte, was er von ihr sah, bevor die Tür endgültig zufiel, war der gelbe Regenschirm.

Der Mann namens Noah, der zuvor am Tisch gesessen hatte, war aufgestanden und kam jetzt direkt auf Weiland zu, während er ihn weiter taxierte. Das eigenartige Geschenk hatte er an seinem Platz zurückgelassen.

»Möchten Sie etwas trinken? Ich kann den Merlot sehr empfehlen.«

»Ich möchte nach Hause. Sind Sie mein Fahrer?«

»Ja und nein. Ich werde Sie nach Hause bringen. Aber vorher möchte ich Ihnen ein Angebot machen. Entschuldigen Sie den Überfall, aber wenn ich Sie vorgewarnt hätte, dann hätten Sie einem Treffen wahrscheinlich nicht zugestimmt.«

»Da haben Sie recht. Hören Sie, ich bin seit 5 Uhr morgens auf den Beinen. Mein Kopf fühlt sich an, als würde er jeden Augenblick explodieren. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich jetzt nach Hause fahren würden. Ansonsten rufe ich mir ein verdammtes Taxi.«

»Viel Glück dabei. Es fahren kaum noch Taxis, die Straßen sind so gut wie dicht. Ich verspreche Ihnen, Sie nach Hause zu bringen, sofern Sie das nach unserem Gespräch noch wünschen. Ich bitte Sie nicht um viel, nur um fünf Minuten Ihrer Zeit.

»Drei Minuten. Danach bin ich weg«, sagte Weiland und ließ sich in einen der Cocktailsessel sinken. Sein im Flugzeugsitz malträtierter Körper schmerzte an Stellen, deren Existenz er zuvor noch nicht einmal wahrgenommen hatte. Noah setzte sich ebenfalls und tippte dann sanft gegen das Paket vor sich auf dem Tisch.

»Hier drin sind Informationen, die Ihr Leben verändern können. Wenn Sie den Auftrag annehmen, gehört all das Ihnen.«

Weiland seufzte. Das lief ja ausgezeichnet. Wahrscheinlich war sein Gegenüber bloß irgendein Spinner, der in der Zeitung von ihm gelesen hatte und jetzt seine Zeit mit irgendwelchen wilden Verschwörungstheorien verschwenden würde.

»Sie machen es aber spannend«, sagte er gelangweilt, während sein Blick zu der Armbanduhr an seinem Handgelenk wanderte. Erst dreißig Sekunden.

»Sie sind nicht zufällig ausgewählt worden. Ich habe Ihren Hintergrund checken lassen. Auf den ersten Blick findet man eine tadellose, weiße Weste. Innerhalb weniger Jahre von der Sitte zum Hauptkommissar mit einer der besten Aufklärungsquoten. Mörder, Vergewaltiger, Schlägertypen. Niemand war vor Ihnen sicher. Vor fünf Jahren finden sich die ersten Anzeichen, dass Ihr Leben außer Kontrolle gerät. Angefangen mit kleinen Aussetzern: Unpünktlichkeit bei der Arbeit, ein paarmal haben Sie sich bei Verhören im Ton vergriffen und schließlich sogar durch schlampige Arbeit Beweismittel verunreinigt. Vermutlich war das zu der Zeit, als die Depression Ihrer Frau schlimmer wurde, nicht wahr?«

Weilands Körper verkrampfte sich. Der Schmerz, der nur kurz geschlafen hatte, riss sein geiferndes Maul auf und biss zu. Bohrte die Zähne tief in seine Seele, um ihn weiter auszuhöhlen. Er hatte versucht den Schmerz mit Tabletten zu betäuben, war von ihm davongerannt, hatte meditiert, sogar gebetet, aber es half alles nichts. Der Schmerz war jetzt ein Teil von ihm. Er war wie ein inoperables Krebsgeschwür, das sich durch seine Zellen fraß.

»Sie arbeiteten immer unkonzentrierter, bis man Sie schließlich nur noch auf Cold Cases angesetzt hat«, fuhr Noah fort. »Dann, vor knapp einem Jahr, der traurige Höhepunkt: der Suizid Ihrer Frau. Mein Beileid, übrigens. Monatelang hört man nichts mehr von Ihnen. Sie sind fast wie untergetaucht, unsichtbar, obwohl Sie jeden Morgen wie gewohnt zur Arbeit gehen. Nur ermitteln Sie dort nicht mehr, Sie fristen Ihr Dasein. Bis Sie letzten Winter überraschend zu einer Ermittlung hinzugezogen werden. Beim Versuch, das Leben eines Kindes zu retten, setzen Sie sich über sämtliche Anweisungen und Sicherheitsvorschriften hinweg.«

»Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht«, Weiland räusperte sich. Sein Mund war staubtrocken. Ihm gefiel die Richtung des Gespräches nicht. Noah war anscheinend doch kein Irrer. Sondern ein Profi, der sein Leben seziert hatte.

»Ich wollte sichergehen, dass wir dieses Mal den richtigen Kandidaten wählen. Vor Ihnen gab es andere, die versagt haben. Aber Sie sind bereit, sich für die Wahrheit über Grenzen hinwegzusetzen.«

»Tja, ich muss Sie leider enttäuschen, Noah. Ihre nette Recherche über mein Leben ist nicht mehr auf dem neuesten Stand. Ich bin kein Polizist mehr. Ich kann Ihnen nicht helfen.«

»Das macht Sie gerade so perfekt. Sie haben fast alles verloren. Alles, was Sie wollen, ist wieder ermitteln zu dürfen. Das liegt Ihnen im Blut. Sie sind wie ein Jäger, dem man sein Revier weggenommen hat. Der Inhalt dieses Pakets könnte Ihr Joker werden. Ihre Chance, wieder ganz vorn mitzuspielen …«, sagte Noah. »Sie sind ein freier Mann, Weiland. Wenn Sie mir nicht trauen, können Sie jederzeit zur Tür hinausspazieren und Ihr Leben weiterleben. Keine besonders berauschende Aussicht, finden Sie nicht? Ihr Chef ist nicht gerade gut auf Sie zu sprechen, wie man hört. Wenn jemand so viel Herzblut in den Job gesteckt hat wie Sie, muss das ein Schlag ins Gesicht sein.«

Weiland starrte auf das Geschenk. Die Luftfeuchtigkeit bog die Ecken sanft nach oben.

Es würde nicht schaden, einmal hineinzusehen.

Einen einzigen Blick zu riskieren.

Er ignorierte das sanfte Kribbeln in seinem Nacken, die böse Vorahnung, und zog das Paket zu sich heran.

Kapitel 2

Das Papier knisterte sanft, als Weiland das Klebeband löste und das Geschenkpapier auseinanderfaltete. Ein Schuhkarton einer gängigen Fitnessmarke in Herrengröße 44. Er nahm den Deckel ab und spürte, wie sein Herz sich schmerzhaft in seiner Brust verkrampfte.

»Was soll das?«, fragte er. Der bittere Geschmack seiner eigenen Magensäure lag plötzlich auf seiner Zunge. »Ist das ein schlechter Scherz?«

»Sieht das für Sie etwa nach einem Scherz aus?«, fragte Noah.

In zwanzig Jahren als Ermittler hatte Weiland lernen müssen, dass es unterschiedliche Abstufungen der Angst gab. Je größer die Angst, desto dunkler fühlte sie sich an, als falle man in einen Brunnen, der so tief war, dass man das Licht am Ende nur noch erahnen konnte. Ganz oben, am Anfang des Brunnens, wo es noch vereinzelte Lichtstrahlen gab, fanden sich die Dinge, die Weiland schon zu oft gesehen hatte, um sich wirklich noch davor fürchten zu können. Dazu gehörten grün glänzende Fliegen, die einen wabernden Teppich an einem Fensterrahmen bildeten. Blutstropfen, die eine Kellertreppe hinabführten. Er wusste, was ihn erwartete. Hatte Zeit, sich zu wappnen.

Auf dem Grund des Brunnens, in tiefster Schwärze, hingegen traf die Angst ihn vollkommen unvorbereitet. Dort unten lagen die Dinge, die auf den ersten Blick harmlos erschienen und ihr Grauen erst beim näheren Hinsehen offenbarten. Bilder, die sich für immer in seine Netzhaut einbrannten wie der einzelne Babyschuh im Gras neben dem zusammengestauchten Autowrack. Gegen diese Art von Angst konnte man sich nicht wappnen.

Weiland starrte auf den Inhalt des Pakets und fragte sich, ob dieser Anblick sich auch zu einem seiner dunkelsten Albträume gesellte, die er bei seiner Arbeit an Tatorten gesammelt hatte wie Briefmarken. Der Karton war von innen mit weißem Seidenpapier ausgeschlagen. Darin gebettet lag ein Zopf. Dunkelblondes Haar. Etwa schulterlang. Ein grünes Haargummi hielt die kunstvoll ineinandergeflochtenen Haare zusammen. Unwillkürlich musste Weiland sich vorstellen, wie einem Mädchen der Kopf gewaltsam nach hinten gerissen wurde und ein Reißen ertönte, als eine Schere die Haare mit einem einzigen Schnitt abtrennte.

»Das Paket wurde vor etwa einer Woche abgelegt. Kein Absender. Kein Anschreiben. Nichts«, sagte Weilands Gegenüber.

»Wenn Sie ein Verbrechen vermuten, dann sollten Sie damit zur Polizei gehen. Nicht zu mir.«

»Wir vermuten kein Verbrechen. Wir wissen, das eins stattgefunden hat. Aber wir fürchten, dass die Polizei dieser Spur nicht mit der nötigen Sorgfalt nachgehen wird. Sagt Ihnen der Name Franziska Dahl etwas?«

Die feinen Härchen auf Weilands Armen richteten sich auf.

»Natürlich. Jeder Polizist in Berlin kennt Franziska Dahl.«

»Seit fünf Jahren warten ihre Eltern auf Antworten. Können Sie sich das vorstellen? Fünf Jahre Ungewissheit? Fünf Jahre, in denen man nicht weiß, ob man hoffen soll, dass die eigene Tochter irgendwo in einem Kellerverlies gequält wird oder sie längst tot ist und ihre Knochen irgendwo in der Erde verscharrt liegen?« Noahs Augen glänzten unter dem fahlen Licht der Deckenlampe.

»Sie kannten das Mädchen?«, fragte Weiland.

»Bin ich so leicht zu durchschauen?«

»Es geht Ihnen nahe. Näher, als es einem Profi gehen sollte, der auf Dauer nicht seinen Verstand verlieren will.«

»Franziska ist mein Patenkind. Ich kenne sie, seit sie zwei Tage alt ist. Deshalb kann ich in dem Fall auch nicht weitermachen. Der Gedanke daran, was man ihr angetan hat, zerfrisst mich.« Noah starrte einige Sekunden lang wie weggetreten in sein halb leeres Glas. »Franzis Vater Stefan und ich, wir haben uns beim Journalistikstudium in Hamburg kennengelernt. Erst waren wir nur Mitbewohner. Irgendwann wie Brüder. Der Zufall hat uns beide Jahre später nach Berlin verschlagen. Hier hat Stefan dann Mara auf einer Silvesterparty kennengelernt. Franziska ist das Ergebnis.«

Wie er es sagte, klang es wie eine einfache Matheformel. Zwei Menschen, die das Schicksal zusammengeführt hatte und deren Summe ein neues Leben ergab.

»Ich kann Ihnen nicht helfen, Noah. Es tut mir leid, was Sie alle damals durchgemacht haben und noch immer durchmachen. Aber Sie sollten damit offiziell zur Polizei gehen.«

Weilands Gegenüber redete unbeirrt weiter, so als hätte er die Einwände gar nicht gehört.

»Das Paket wurde vor Franziskas Elternhaus abgestellt. Stefan und Mara leben immer noch dort. Eine wunderschöne, historische Villa. Aber drinnen fühlt man sich wie in einem riesigen Sarg. Alles ist unverändert. Franziskas Zimmer sieht noch ganz genauso aus wie damals. Sie bringen es einfach nicht über sich, irgendwo neu anzufangen. Mara kam eines Nachmittags nach Hause, und da stand das Geschenk mitten auf der Treppe. Genauso verpackt wie jetzt. Als sie den Inhalt gesehen hat, ist sie völlig zusammengebrochen …«

»Hören Sie, ich will Ihnen wirklich nicht zu nahe treten. Aber das hier könnte auch bloß ein grausamer Scherz von jemandem sein, der so mickrig ist, dass er seinen Selbstwert aus dem Leid anderer zieht.«

»Daran haben wir auch gedacht, natürlich. Der Kopf malt sich jede schreckliche Option in den grellsten Farben aus. Was, wenn es nur ein Scherz ist? Wenn im Internet jetzt ein Video davon existiert, wie Mara das Geschenk öffnet und sich irgendwelche Vollidioten an ihrem Schmerz aufgeilen?« Noah leckte sich die aufgesprungenen Lippen. »Unser erster Impuls war es, das Paket wegzuwerfen. Aber dann dachten wir: Was, wenn es wahr ist?«

Noah beugte sich nach vorn, sodass ihre Gesichter nur Zentimeter voneinander entfernt waren. »Um die Wahrheit herauszufinden, haben wir die Haare anonym mit einer Vergleichsprobe an ein Labor geschickt. Man sagte uns gleich, dass die DNA-Analyse ohne Haarwurzel schwierig bis unmöglich sei. Aber wir hatten Glück. Der Täter hat beim Schneiden so fest gezogen, dass er einige der Haare mit Wurzel herausgerissen hat.«

Weilands bohrende Kopfschmerzen ließen schlagartig nach. Die neue Spur wirkte wie eine Wunderpille.

»Genug für einen DNA-Abgleich?«, fragte er. Obwohl er die nächsten Worte erahnte, trafen sie ihn unvermittelt wie ein eiskalter Regenschauer.

»99,98 Prozent Übereinstimmung. Sie ist es.«

»Zum Teufel.« Weiland fragte sich, ob das gute oder schlechte Nachrichten waren. Es war nicht weiter ungewöhnlich, dass Mörder Souvenirs zur Erinnerung an ihre Taten behielten. Ungewöhnlich dagegen war, dass sie die kostbaren Erinnerungsstücke freiwillig abgaben. War es eine Botschaft? Eine Warnung an die Familie? Bevor er länger darüber nachgrübeln konnte, zog Noah mit zitternden Händen eine Fotografie aus seiner Brusttasche. Ein wackliges Bild, augenscheinlich aufgenommen in einem Café, wie es sie an jeder zweiten Straßenecke in Berlin gab. Im Hintergrund wucherten tiefgrüne Pflanzen mit handtellergroßen Blättern zwischen einer Auswahl von Kaffeebohnen aus aller Welt und exotisch klingenden Teesorten in deckenhohen Regalen. Wuchtige Ohrensessel mit weinroten Kissen umrahmten die Tische. Eine Gruppe Mädchen lächelte in die Kamera. Das Gesicht in der Mitte erkannte Weiland sofort wieder.

»Das hier ist das letzte Foto, das Franziska lebend zeigt. Es wurde wenige Tage vor ihrer Entführung aufgenommen. Fällt Ihnen etwas daran auf?«, fragte Noah.

Die Erkenntnis traf Weiland wie ein Schlag in die Magengrube.

»Ihre Haare«, stieß er aus. »Raspelkurz.«

»Auf den Suchplakaten damals waren zwei Fotos von ihr abgebildet. Eines mit langen und das andere mit raspelkurzen Haaren. Eigenartigerweise erinnern sich die meisten nur an das Foto mit den langen, dunkelblonden Haaren. Aber Franziska hat sie kurz vor ihrem Verschwinden abrasiert. Der Täter könnte sie aus dem Müll gefischt haben. Aber es gibt noch eine zweite Möglichkeit.« Noah beugte sich noch weiter nach vorn, sodass niemand anderes im Raum ihn mehr hören konnte. »Ein menschliches Haar wächst nur etwa einen Zentimeter pro Monat. Das würde bedeuten, dass Franziska nach ihrer Entführung noch etwa zwanzig Monate in den Händen eines Psychopathen gelebt hat. Mindestens bis sie sechzehn wurde. Sie können sich denken, was er danach mit ihr getan hat.« Als Weiland Noah jetzt ansah, glänzten Tränen in seinen Augen. »Wahrscheinlich wurde sie ihm zu alt. Er konnte nicht länger so tun, als wäre sie ein unschuldiges Kind. Deshalb hat er sie entsorgt wie ein uninteressant gewordenes Spielzeug.«

»Die Überlebenschancen eines Kindes oder Teenagers nach einer Entführung …«, setzte Weiland an.

»Ich weiß! Ich habe jede einzelne der Studien gelesen. Die meisten sagen, dass drei von vier Kindern und Jugendlichen innerhalb der ersten drei Stunden sterben, nicht wahr? Da haben die Eltern ihr Verschwinden oft noch nicht einmal bemerkt. Die Polizei lächelt nur müde, wenn man zu diesem Zeitpunkt versucht, eine Vermisstenmeldung aufzugeben. Aber erzählen Sie das einer Mutter oder einem Vater, die nach ihrem Kind suchen. Da zählen diese beschissenen Statistiken nicht.«

»Es tut mir leid, Noah. Ich kann mir vorstellen, wie sehr die Fragen Sie quälen. Haben Sie an dem Paket vielleicht sonst irgendwelche Spuren finden können? Fingerabdrücke oder weitere DNA?«

»Nichts. Er ist ein Vollprofi. Ich zermartere mir das Gehirn. Es treibt mich fast in den Wahnsinn. Warum hat er das gemacht? Warum quält er die Familie so? Hat er vielleicht das nächste Mädchen im Visier und möchte die Familie so verhöhnen? Sie und ich, wir wissen beide, dass jemand, der so brutal und effizient vorgeht, es nicht bei einem Verbrechen belässt. Wer weiß, wie viele Mädchen ihm in den vergangenen fünf Jahren noch zum Opfer gefallen sind. Wie viele noch kommen werden.«

Weiland lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er brauchte Abstand. Noah strahlte jetzt eine Wut und einen Schmerz aus, der wie eine Virusinfektion auf seine Umgebung übergriff.

»Sie brauchen die Polizei, Noah.«

»Die können nichts tun, und das wissen Sie auch. Sonst hätten Sie Franziskas Mörder längst zur Strecke gebracht. Ich musste Mara versprechen, dass das hier unter uns bleibt. Ich würde ja selbst nach ihr suchen, aber ich kann nicht. Ich steigere mich rein, schlafe und esse nicht mehr, bis nichts mehr geht. Ich habe selbst Familie.«

»Die Polizei hat ganz andere Möglichkeiten als Sie oder ich. Im forensischen Labor finden sich vielleicht Spuren, die …«

»Wussten Sie, dass damals ein Teil der Beweismittel aus der Asservatenkammer verschwunden ist?!«, unterbrach Noah ihn. »Zufall, nicht wahr? Angeblich war es nur irgendein Praktikant, der sie nicht wieder an den richtigen Platz gestellt hat. Angeblich wurden sie dann aus Versehen entsorgt. Darunter waren einige Notizbücher von Franziska. Können Sie sich den Schmerz der Familie vorstellen? Ihre Wut darüber, dass mit den Andenken ihrer Tochter so umgegangen wird?!«

Weiland antwortete nicht, aber das brauchte er auch nicht. Noah redete sich so in Rage, dass die Augäpfel aus seinem Schädel hervortraten.

»Stellen Sie sich doch mal vor, Sie lösen den Fall, an dem der Rest der Berliner Polizei sich schon vor Jahren die Zähne ausgebissen hat. Die Öffentlichkeit wird vergessen, dass Sie Zeugen bedroht haben. Ihr Chef wird gar nicht anders können, als Sie wieder ermitteln zu lassen.«

»Das ist kein Spiel oder Wettbewerb, Noah. Es geht vielleicht um Menschenleben.«

»Das sehe ich ganz genauso. Und deshalb wollen wir jemanden, für den dieser Fall nicht nur einer von vielen ist. Jemand, der nicht aufgibt, bis Franziska in Frieden ruhen kann. Jemanden wie Sie. Bitte. Sehen Sie sich wenigstens einmal die Spuren an. Wenn Sie es nicht für sich selbst tun wollen, dann denken Sie an die Mädchen, die noch irgendwo da draußen sind. Die Mädchen, die das Monster noch töten wird, wenn ihn nicht endlich jemand aufhält.«

Kapitel 3

Der schwarze Geländewagen schob sich quälend langsam durch die vollgestopften Straßen. Das Navi führte sie im Schneckentempo quer durch Berlin in Richtung Grunewald. Der Regen hatte ganze Straßen unbefahrbar gemacht, sodass die Autos sich wie Ameisen durch das überlastete Verkehrsnetz zwängten. Verstohlen musterte Weiland den Mann am Steuer. Noahs dunkle Locken hingen ihm so tief über die Augen, dass er immerzu blinzelte. Seine breite Nase sah aus, als wäre er in die ein oder andere Kneipenschlägerei verwickelt gewesen. Insgesamt machte er keinen besonders vertrauenswürdigen Eindruck. Wie ein seriöser Journalist sah er jedenfalls nicht aus. Unwillkürlich fragte Weiland sich, ob er diese Entscheidung noch bereuen würde. Noah hatte ihm den perfekten Köder direkt vor die Füße geworfen, und Weiland hatte zugebissen.

»Wir sind da«, sagte sein Fahrer in diesem Moment und riss Weiland aus seinen düsteren Gedanken. Im Licht der Scheinwerfer erkannte er zuerst nur eine graue Steinmauer, in die ein schmiedeeisernes Tor eingelassen war. Noah öffnete das Tor per Knopfdruck auf einer Fernbedienung. Während sie die gepflasterte Einfahrt hinauffuhren, schälten sich die Umrisse einer Stadtvilla im Scheinwerferlicht aus der Dunkelheit. Er wusste jetzt, was Noah gemeint hatte, als er das Haus als einen riesigen Sarg bezeichnet hatte. Die Fassade, die einmal schneeweiß gewesen sein musste, war vom Regen grau gewaschen. Die Farbe begann sich bereits von den anthrazit gestrichenen Fensterläden zu lösen. Langsam, aber sicher nahmen die Elemente das herrschaftliche Gebäude ein.

»Alles soll so bleiben, wie es war, als Franziska verschwunden ist«, sagte Noah, als er Weilands Blick bemerkte. »Es fühlt sich für sie einfach nicht richtig an, irgendetwas zu verändern. Noch nicht.«

Weiland nickte nur, sagte aber nichts. Er hatte am eigenen Leib erfahren müssen, wie die Trauer die Schwerkraft verhundertfachen konnte. Jede Aufgabe, selbst wenn es nur ein Telefonanruf war, um Handwerker zu beauftragen, wurde dann zum Kraftakt. Als der Wagen vor der Haustür hielt, sprang ein Bewegungsmelder an und aktivierte die Beleuchtung über dem Eingangsbereich. Sie stiegen aus und gingen auf die Haustür zu, neben der ein vollkommen vertrockneter Olivenbaum stand. Die Klingel hallte dumpf durch die Mauern. Weiland hörte keine Schritte, nur das leise Kratzen, als jemand die Abdeckung vom Türspion schob und die beiden spätabendlichen Besucher musterte. Zwei Schlösser wurden entriegelt. Eine Kette zurückgelegt. Als die Tür aufschwang, blieb Weiland für einen Moment die Luft weg.

Franziska. Er erkannte ihre dunklen Augen mit den langen Wimpern von den Suchplakaten, die vor fünf Jahren an jeder Straßenecke Berlins gehangen hatten. Auch den sanften Bogen auf ihrer Nase erkannte er von den Fotos wieder. Nur war die Frau, die jetzt vor ihm stand, viel älter, als Franziska Dahl jemals werden durfte. Bis auf die zarten Falten um ihre Augen und Mundwinkel herum wirkte Franziskas Mutter wie eine Kopie ihrer verschollenen Tochter.

»Ist euch jemand gefolgt?« Ihre Stimme klang überraschend tief.

»Wir sind einen kleinen Umweg gefahren. Ich war vorsichtig.«

»Danke, Noah.« Die Frau machte einen Schritt zur Seite und ließ die beiden Männer eintreten. Behutsam verriegelte sie die beiden Schlösser erneut und legte die Kette zurück vor die Tür.

»Mara«, sagte sie und streckte ihm eine knöcherne Hand hin.

»Theo Weiland. Aber das muss ich Ihnen ja sicher nicht erklären, nachdem Sie mich extra am Flughafen haben abfangen lassen.«

»Nein, das müssen Sie nicht. Entschuldigen Sie die Umstände, aber ich wusste mir nicht anders zu helfen«, sie setzte ein Lächeln auf, das ihre Augen nicht erreichte. Weiland kannte diese Art von Lächeln. Er hatte es im letzten Jahr selbst perfektioniert. »Setzen wir uns doch ins Wohnzimmer. Darf ich Ihnen einen Drink anbieten?«

Mara ging durch den Flur voran. Die riesige Bilderwand im eleganten Treppenhaus wirkte wie ein Mahnmal, ein Schrein für ein Mädchen, das seit fünf Jahren wie vom Erdboden verschluckt war. Die Zeit schien stillzustehen. Seit Jahren war kein neues Bild dazugekommen, weil Franziska für immer vierzehn Jahre alt bleiben würde. Ein beängstigender Gedanke. Sie betraten jetzt ein Wohnzimmer, das so groß war wie eine gesamte Etage von Weilands bescheidenem Haus. Im Kamin knisterte ein Feuer.

»Scotch? Wein? Was mögen Sie gern?«

Im dunklen Flur war es Weiland nicht weiter aufgefallen, doch im Schein der Flammen konnte er den Schmerz sehen. Tiefe Höhlen hatten sich in ihre Wangen und unter ihre Augen gegraben. Ihr Schlüsselbein hob sich deutlich auf ihrer mageren Brust hervor.

»Scotch klingt gut.«

Sie öffnete den Barschrank aus Mahagoni mit Minikühlschrank. Füllte drei Gläser bis zur Hälfte mit Eiswürfeln und goss sie dann mit bernsteinfarbenem Whisky auf. Sie reichte Noah und ihm jeweils ein Glas. Das dritte behielt sie für sich selbst. Jetzt, wo sie so dicht bei ihm stand, konnte er den Schmerz auch riechen. Unter ihrem blumigen Parfüm lag eine weitere Note. Stechend und süßlich. Anscheinend war das nicht ihr erster Drink an diesem Abend und würde auch nicht ihr letzter bleiben.

»Hier. Auf die Hoffnung, die zuletzt stirbt.« Die Eiswürfel schlugen wie ausgerissene Zähne gegeneinander, als sie das Glas mit einem Schluck leerte. Weiland nippte nur. Der Scotch brannte angenehm in seiner Kehle. Er sah, dass Noah nur so tat, als würde er trinken, und das Glas dann auf dem Tisch abstellte.

»Sie haben auch eine Tochter, nicht wahr?«, fragte Mara.

»Ja. Sie ist fünfundzwanzig.«

Ihr Gesicht blieb ausdrucklos, aber Weiland sah es in ihren Augen: Es waren elf Jahre mehr, als Franziska jemals werden durfte. Über viertausend Tage, die man ihrer Tochter gestohlen hatte.

»Ich wusste lange nicht, ob ich Kinder will. Ich bin nie aufgewacht und habe gedacht: Jetzt bin ich bereit, Mutter zu sein. Diese Sehnsucht kam nie. Aber eines Tages ist es einfach passiert.« Zum ersten Mal hatte Weiland das Gefühl, dass das Lächeln auf ihren Lippen echt war. »Ich hatte keine Angst, damals nicht. Es war wie ein Zeichen. Als sollte es so sein. Und als ich Franziska dann zum ersten Mal in meinen Armen gehalten habe, wusste ich, dass es genau das Richtige ist. Ich fühlte mich unbesiegbar. Als könnte ich für meine Tochter Bäume ausreißen.«

Das Lächeln auf ihrem Gesicht verblasste. Machte Platz für den Schmerz, der wie ihr eigener Schatten an ihr hing.

»Die Angst fing einen Monat später an. Wir fanden Franzi blau angelaufen in ihrem Bettchen. Ihr ganzer kleiner Körper schüttelte sich, als hätte ihn jemand unter Strom gesetzt. An die Fahrt ins Krankenhaus erinnere ich mich nicht mehr. Auch die ersten Tage danach sind nur verschwommen. Sie haben ihr Blut abgenommen und sie in den Kernspin gesteckt. Die Ärzte tippten auf Kinderepilepsie und schickten uns dann mit Medikamenten nach Hause.«

Ihre Fingernägel bohrten sich jetzt so tief in ihre Hände, dass rote Halbmonde darauf zurückblieben.

»Stefan und ich wollten uns abwechseln. Einer sollte an ihrem Bett wachen, während der andere schläft, aber in Wahrheit haben wir beide kaum ein Auge zubekommen. In dem Moment habe ich begriffen, dass mein Herz nicht länger in meinem Körper schlägt, sondern dort draußen im Babybettchen. Ich habe versucht, mich an die Angst zu gewöhnen. Aber so richtig tut man das mit Kindern nie, nicht wahr?«

»Nein«, antwortete er. »Ganz egal, wie alt sie sind.«

»An dem Tag, als sie verschwand, bin ich mit einer Freundin einkaufen gefahren. Stefan war mit seinem Bruder verabredet. Eigentlich war der Plan, dass Franzi mich begleitet, aber in letzter Minute hat sie es sich anders überlegt. Können Sie sich vorstellen, wie oft ich unser letztes Gespräch im Kopf durchgegangen bin? Gott, wie oft habe ich mir ausgemalt, ich hätte sie überredet, mit mir ins Auto zu steigen … Wir waren etwa drei Stunden weg. Stefan und ich hatten uns noch bei unserem Lieblingsitaliener getroffen. Ein kleines Date sozusagen. Wir hatten für Franzi sogar eine Pizza zum Mitnehmen bestellt. Ich wusste es in dem Moment, als ich die Tür wieder öffnete. Es fühlte sich so leer an. So kalt.«

Das Knistern des Feuers war das einzige Geräusch, das den Raum jetzt erfüllte. Wütend fraßen die Flammen sich durch das Holz, bis nur noch Staub und Asche übrig blieb.

»Stefan ist zuerst in ihr Zimmer gegangen. Und dann hat er geschrien, wie ich ihn noch nie schreien gehört hatte. Als würde er seine Seele herausbrüllen, mir ist vor Angst ganz schlecht geworden. Ich bin sofort zu ihm gerannt. Er stand mitten in ihrem Zimmer.«

Ihre Finger tanzten über den Rand des leeren Glases, während sie gedankenversunken in die Flammen starrte.

»Erst habe ich es nicht verstanden. Die Flecken auf dem Boden waren so dunkel. Fast schwarz wie Tinte. Die größte Lache war direkt vor Franzis Bett. Groß wie ihr Kopf.«

Maras Finger zitterten, als sie die Flasche erneut öffnete und sich nachschenkte. Wieder leerte sie das Glas in einem Zug. Als sie Weiland jetzt ansah, wirkten ihre Augen wässrig, sie schien wie weggetreten. Wahrscheinlich ertrug sie die Erinnerung an das, was geschehen war, nur, indem sie ihre Sinne betäubte und den Schmerz in Alkohol ertränkte.

»Es sah aus, als hätte man sie über den Boden geschleift. Bis zu dem alten Wäscheschacht. Und da war …« Sie atmete tief durch. »Ich sah etwas glänzen. Erst als ich näher getreten bin, habe ich gesehen, dass es einer ihrer Perlenohrringe war. Er steckte noch in ihrem Ohrläppchen. Das Monster hat sie in den Schacht gestopft und ihr dabei ein Teil ihres Ohrs abgerissen.«

Behutsam griff Noah nach ihrer Hand und drückte sie einen Moment. Mara ließ es geschehen.

»Er hat mein Kind weggeworfen, als wäre es Müll. Dafür muss er büßen.«

»Das sollte er. Und deshalb rate ich Ihnen dringend, mit den neuen Beweisen zur Polizei zu gehen.«

»Die Polizei hat mir in den letzten Jahren mehr als deutlich gemacht, dass sie kein Interesse daran hat, weiter nach Franziska zu suchen. Es gibt neue Fälle, zu wenig Personal. Ich habe in der Zeitung von Ihnen gelesen. Der Kommissar, der zu weit ging. Sie haben Zeugen bedroht, um einen entführten Jungen zu finden. Haben Ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um ein Kind zu retten.«

»Das war keine Sternstunde von mir.«

»Nicht viele hätten so gehandelt. Ich bitte Sie, Weiland. Nehmen Sie die Kopien der Akten, die ich habe. Lesen Sie sich ein. Und entscheiden Sie dann, ob Sie den Fall annehmen. Mein Mädchen ist noch irgendwo da draußen. Bitte bringen Sie sie endlich zurück zu mir nach Hause.«

Kapitel 4

»Vergessen Sie die Akten nicht«, rief Noah eine Stunde später, als Weiland ausstieg und den Rollkoffer vom Rücksitz des Geländewagens wuchtete. Mit der linken Hand zog Weiland den Koffer hinter sich her. Rechts balancierte er den Karton mit den Unterlagen. Unterlagen, die er am liebsten in die nächste Pfütze geworfen hätte, damit das Papier sich darin auflöste. Er wollte diesen Fall – und gleichzeitig wollte er ihn nicht. Bachmann hatte ihm mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass er während seiner vorläufigen Suspendierung die Füße stillhalten sollte. Den Kopf geduckt lassen.

Zieh einfach für ein paar Wochen keinen Ärger an, Theo, hatte er gesagt. Meinst du, du kriegst das hin?

Die Reaktion darauf, wenn Bachmann erfuhr, dass Weiland nun doch Ärger anzog, konnte er sich bildlich vorstellen. Wahrscheinlich würde vor Wut grauer Rauch aus seinen Ohren aufsteigen.

Andererseits konnte es nicht schaden, sich einmal einzulesen. Sich wenigstens einen Überblick zu verschaffen. Die letzten Wochen vor seiner spontanen Auszeit auf Madeira hatte er für sich vollkommen untypisch sämtliche Schubladen und Schränke aufgeräumt. Er hatte die Werkstatt im Keller in Ordnung gebracht und sogar den Gefrierschrank abgetaut. Alles, um eine Aufgabe zu haben, einen Sinn, der ihm vom Morgengrauen bis zum Abend eine Struktur gab.

Noahs Mundwinkel zuckten.

»Wir wissen beide, wie Sie sich entscheiden werden, stimmt’s?«

»Wir werden sehen.«

Weiland knallte die Wagentür mit dem Fuß zu und stapfte durch den matschigen Boden in Richtung Einfahrt, ohne sich noch einmal umzusehen. Der Motor röhrte auf, dann schoss der Geländewagen davon.

Das Innere des Hauses wirkte auf den ersten Blick verlassen. Kein Licht brannte. Noch immer war es ungewöhnlich, fast unheimlich aufgeräumt, genau so, wie er es bei seiner Abreise hinterlassen hatte. Als Weiland in den Flur trat, stellte er fest, dass er dennoch nicht allein war. Ein leises Schnarchen begrüßte ihn. Er stellte den Rollkoffer und den Karton mit den Ermittlungsakten neben der Garderobe ab und folgte dem leisen Grunzen bis zu seinem Ursprung.

Hanna schlief auf der Couch, die eisbonbonblauen Haare wie einen Vorhang über ihrem Gesicht ausgebreitet. Anscheinend hatte sie in den letzten Tagen ihr Lager hier aufgeschlagen, zumindest verteilte sich sämtliches Chaos auf, neben und vor dem Sofa. Behutsam legte Weiland eine Decke über ihren Körper und schlich dann auf Zehenspitzen zurück in den Flur. Eigentlich wollte er nur noch ins Bett. Aber wie Noah prophezeit hatte, übte der unscheinbare Karton eine fast magische Anziehungskraft auf ihn aus. Er hob den Deckel. Insgesamt gab es drei Ordner, die Hunderte Seiten Protokolle, Analysen und Zeugenbefragungen enthielten. Tatsächlich durfte das nur ein Bruchteil der tatsächlichen Ermittlungsergebnisse sein, die in einem komplexen Fall gut und gerne Zehntausende Seiten überschritten. Weiland griff sich den ersten Ordner und nahm ihn mit nach oben. Obwohl seine Augenlider bleischwer waren, schaltete er die Nachttischlampe neben seinem Bett an und begann zu lesen.

Laut den Unterlagen ging die Polizei davon aus, dass Franziska spätestens eine Stunde nachdem ihre Mutter das Haus verlassen hatte, in ihrem Zimmer von einem oder mehreren unbekannten Tätern angegriffen worden war. Die gefundene Blutlache legte den Schluss nahe, dass das Mädchen mit einem scharfen Gegenstand attackiert und ihr eine einzelne, tiefe Wunde beigebracht wurde. Innerhalb von Sekunden wurde sie handlungsunfähig und verlor in liegender Position eine große, potenziell tödliche Menge Blut. Den blutbeschmierten, zierlichen Körper hatte der Täter in den Wäscheschacht geworfen, der direkt in den Keller führte. Der Sturz aus etwa acht Metern Höhe war von zwei alten Matratzen abgefedert worden, die laut Aussage von Franziskas Eltern eigentlich in einem anderen Kellerraum gelagert worden waren. Schmierspuren am Treppengeländer deuteten darauf hin, dass der Täter anschließend die Treppe genutzt hatte. Den toten oder zumindest bewusstlosen Körper hatte er durch eines der Kellerfenster, welches in Richtung der Hausrückseite zeigte, geschoben und war hinterhergeklettert. Wer auch immer Franziska Dahl angegriffen hatte, musste sich bereits mehrere Stunden vor der Tat im Haus aufgehalten und die Flucht geplant haben. Ein spontaner Einbrecher hätte weder vom Wäscheschacht noch von den Matratzen wissen können. Die letzten Blutspuren fanden sich vor dem Zaun auf der Rückseite des Hauses. Entweder hatte die Blutung dort abrupt gestoppt, oder - was viel wahrscheinlicher war - der Täter hatte von dort aus ein Fluchtfahrzeug benutzt. Danach verlor sich Franziskas Spur endgültig.

Unweit des Zauns zwischen einigen Oleanderbüschen war ein weiteres Beweisstück gefunden worden, das die letzte Hoffnung zerschmetterte. Ein achtlos weggeworfener Zigarettenstummel, an dessen Spitze sich die DNA eines vorbestraften Sexualstraftäters fand. Obwohl die Polizei das Auto und die Wohnung von Frank S., wie er in den Zeitungen nur genannt wurde, auf den Kopf stellte, fanden sich keine weiteren Hinweise. Franziska Dahl blieb wie vom Erdboden verschluckt.

Kapitel 5

Die ersten Rostflecke auf dem alten Mercedes schimmerten rot in der kalten Frühlingssonne. Die alte Dame hatte schon bessere Tage gesehen, aber das hatte Weiland auch.

Irgendwie passten sie so ganz gut zusammen - der alte, krächzende Wagen und er. Der KFZ-Mechaniker seines Vertrauens hatte ihm bei seinem letzten Besuch behutsam nahegelegt, dass es langsam zu Ende ging mit dem Wagen. Eine Reparatur würde das Unvermeidliche nur hinauszögern.

Sanft klopfte er auf das Dach, bevor er einstieg. Er würde ihn fahren, bis zum bitteren Ende. In guten wie in schlechten Zeiten - das war er ihm nach all den gemeinsamen Jahren schuldig. Weiland manövrierte den Wagen aus der viel zu engen Parklücke und zwängte sich zwischen zwei hupende SUVs. Der Sturm hatte Narben hinterlassen. Armdicke Äste waren wie Fallbeile auf die Straße gefallen. Sonnenschirme, Mülltonne, Dachziegel - der Wind hatte sich alles gegriffen. Ein kleines Wunder, dass es keine Toten gegeben hatte. Die Feuerwehr und das Technische Hilfswerk würden vermutlich noch bis in die nächste Nacht Spuren beseitigen.

Weiland lenkte seinen Wagen auf eine der Hauptverkehrsadern.

Je näher er seinem Ziel kam, desto stärker wurde das Stechen in seiner Magengegend. Ein pochender Schmerz, der sich bis in seine Brust zog. Unablässig mahlten seine Kiefer aufeinander. Noch konnte er umdrehen. Im nächsten Kreisverkehr wenden und den gestrigen Abend von seiner inneren Festplatte löschen.

Stattdessen blickte er auf die Uhr an seinem Armaturenbrett und gab Gas.

Ihm blieben noch zwei Minuten, sofern auf die Berliner Verkehrsbetriebe Verlass war. Weiland parkte seine alte Dame unweit seiner früheren Dienststelle. Er schaltete gerade den Motor ab, als ein Bus am anderen Ende der Straße einbog. An der Haltestelle senkte sich der Bus auf Bordsteinhöhe ab, und eine Traube Menschen strömte heraus.

Die Frau, die als Letzte aus dem Bus stieg, war so groß, dass sie sich unter der Tür hinwegducken musste. Wie immer trug sie eine schwarze lockere Chino und ein weißes Hemd unter einem Wollmantel. Dazu eine schwarz angelaufene Herrenuhr am rechten Arm.

Frieda Holm war eine kompromisslos pragmatische Frau. Auch wenn Weiland ihren Kleiderschrank nie gesehen hatte, konnte er sich dessen Inhalt bildlich vorstellen: Mindestens fünf Paar Hosen, gleiches Modell. Dazu ein gutes Dutzend weißer Hemden, ebenfalls identisch.

Holm wollte am Morgen keine Minute ihrer Zeit darauf verschwenden, sich Gedanken darüber zu machen, was sie anzog.

»Holm!«, rief Weiland auf die andere Straßenseite herüber, aber sie dachte gar nicht daran, zu reagieren. Zielstrebig steuerte sie auf ein rundum verglastes Gebäude zu, in dessen Kellergewölben Dutzende Leichen darauf warteten, ihre Geschichten zu erzählen. Er sprintete über die Straße und rammte dabei fast einen Fahrradfahrer, der ihn in drei verschiedenen Sprachen verfluchte.

»Holm!«, rief er noch einmal lauter. Die Rechtsmedizinerin wandte den Kopf und zuckte bei seinem Anblick zusammen, als hätte sie einen elektrischen Stromschlag erhalten.

»Weiland? Mona hat erzählt, Sie hätten sich ins Ausland abgesetzt.«

»Schön wär’s. Ich habe mir nur eine kleine Auszeit genommen«, antwortete er und passte seine Laufgeschwindigkeit ihren langen Schritten an. »Ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen.«

Frieda Holm zog die Augenbrauen hoch und den Mantel enger um ihre knochigen Schultern.

»Wofür?«

»Na ja, Sie haben immerhin Ihre Karriere aufs Spiel gesetzt, um mir bei der letzten Ermittlung zu helfen. Und zum Dank habe ich Sie in Lebensgefahr gebracht.« Bei dem Gedanken daran brach Weiland noch immer der kalte Schweiß aus. Sie hätten tot sein können. Erschossen und irgendwo im Wald vergraben, wo man ihre Leichen so schnell nicht finden würde.

Holm legte den Kopf schief.

»Jetzt überschätzen Sie sich aber ein wenig. Ich habe Ihnen freiwillig geholfen. Ich hätte jederzeit umdrehen und gehen können, schließlich habe ich einen freien Willen. Sie sind nicht der Mittelpunkt des Universums, Weiland.«

Frieda Holm hatte sich anscheinend nicht verändert, trotz ihrer gemeinsamen Nahtoderfahrung. Herzlich wie eh und je.

»Und sagen Sie mir auch, warum Sie wirklich hier sind? Oder dachten Sie ernsthaft, ich kaufe Ihnen diese rührselige Geschichte ab, dass Sie den ganzen weiten Weg hierhergefahren sind, nur um sich zu entschuldigen?«, fragte sie. »Sie wissen, ich mag Effizienz. Ein Anruf oder eine Nachricht hätte es auch getan.«

Die Ampel vor ihnen wechselte auf Grün. Nur noch wenige Schritte trennten Holm vom Eingang der Rechtsmedizin.

»Da ist tatsächlich noch etwas. Ich würde Sie gern zu einem Fall befragen, bei dem Sie an den Untersuchungen beteiligt waren.«

»Ist das Ihr Ernst? Sie ermitteln doch gar nicht mehr. Bachmann hat Sie auf die Ersatzbank gesetzt, oder bin ich nicht mehr auf dem neuesten Stand?«

»Ich bin weiterhin suspendiert. Es handelt sich um rein privates Interesse. Sie wissen doch, einen alten Baum verpflanzt man nicht mehr. Ich kann nicht einfach herumsitzen und Däumchen drehen. Das macht mich wahnsinnig.«

»Würde Ihnen aber zur Abwechselung ganz guttun. Sie sehen erschöpft aus. Schlafen Sie überhaupt?«

»Ab und zu, ja.«

Holm seufzte.

»Welcher Fall ist es dieses Mal, der Ihnen nachts den Schlaf raubt?«

»Sie erinnern sich vielleicht daran, weil die Umstände so einzigartig waren: Es gab damals keine Leiche. Nur Körperteile und jede Menge Blut.«

Holm erstarrte mitten in ihrer Bewegung.

»Franziska Dahl«, sagte sie leise. »Natürlich erinnere ich mich daran. Wie kommen Sie ausgerechnet auf diesen Fall?«

»Gestern im Fernsehen wurde zufällig eine Reportage gezeigt. Ihr Verschwinden jährt sich bald zum fünften Mal.«

»Und da kommen Sie den ganzen Weg extra hierher, nur um mit mir über diesen Fall zu sprechen?«

»Ich habe ja Zeit, jetzt, wo ich suspendiert bin«, antwortete Weiland achselzuckend.

»Glauben Sie mir einfach, wenn ich Ihnen sage, dass Sie die Finger davonlassen sollten.«

»Warum?«

Die Frage schien Holm aus ihrer Starre zu reißen. Sie preschte nach vorn, als wolle sie Weiland abschütteln wie ein lästiges Insekt.

»Weil es einer der Fälle ist, die einen nicht mehr loslassen. Und das sage ich wirklich nicht leichtfertig.«

»Waren Sie damals in die Untersuchungen involviert?«, fragte Weiland unschuldig, obwohl er die Antwort bereits kannte. Den Beweis dafür hatte er gestern Abend schwarz auf weiß gelesen. Ein von Holm angefertigtes und unterzeichnetes Protokoll, in dem sie die Spuren und Eindrücke am Tatort dokumentiert hatte, sowie ein von der Staatsanwaltschaft beauftragtes Gutachten, das auf Basis der gefunden Blutmenge einordnete, ob und wie lange ein Mädchen von Franziskas Größe und Gewicht den Angriff überlebt haben konnte.

»Nein«, sagte Holm zu seiner Überraschung. »Ich habe es nur gehört. Von Kollegen. Sie wurden damals gebeten, ein Gutachten darüber anzufertigen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass Franziska verstorben ist.«

»Ein schwieriges Unterfangen so ganz ohne Leiche.«

»Normalerweise ja. Aber in diesem Fall nicht. Der Täter ging äußerst brutal vor. Soweit ich weiß, fand man in dem Zimmer, in dem Franziska angegriffen wurde, etwa drei Liter Blut. In dem Wäscheschacht, durch den der Täter sie nach unten in den Keller geworfen hat, waren ebenfalls Schmierspuren, insgesamt also etwa dreieinhalb Liter, schätze ich. Sie kann den Angriff nicht überlebt haben. Der hohe Blutverlust hat zu einem sofortigen Schock geführt, wodurch der Tod innerhalb von Minuten eintritt. Selbst wenn ein Spezialistenteam vor Ort ist, lässt sich ein solcher Blutverlust kaum mehr ausgleichen.«

»Franziskas Eltern wollten das nicht glauben. Sie haben den Täter immer wieder öffentlich angefleht, ihre Tochter gehen zu lassen. Anscheinend hatten sie noch Hoffnung.«

»Verständlicherweise haben sie sich an die Illusion geklammert, Franziska könnte den Angriff irgendwie überlebt haben. Menschlich ist das nachvollziehbar. Wissenschaftlich leider nicht.«

Sie erreichten die Tür, hinter der die Toten auf Holm warteten.

»Sie haben sicher keine Lust auf Karrieretipps von mir, aber ich gebe Ihnen jetzt trotzdem einen: Wenn Bachmann herausfindet, dass Sie schon wieder auf eigene Faust ermitteln, dann hat er einen Grund mehr, Sie endgültig rauszuwerfen. Dann ist es aus, Weiland. Wenn ich Sie wäre, würde ich abwarten, zumindest bis Ihre berufliche Zukunft geklärt ist. Was auch immer Sie vorhaben: Vergessen Sie es«, sagte Holm noch, trat dann durch die Tür und ließ Weiland allein draußen in der Kälte stehen. Das Gespräch hatte mehr Fragen aufgeworfen, als es beantwortet hatte.

Wenn Franziska an dem Tag ihrer Entführung gestorben war, wie war der Täter dann an ihre langen Haare gekommen? Hatte er sie gestohlen, nachdem sie sich die Haare einige Tage vor ihrem Verschwinden abgeschnitten hatte?

Vor allem aber fragte er sich, warum zum Teufel Frieda Holm ihm gerade ins Gesicht gelogen hatte.

Kapitel 6

Mara Dahl wirkte nicht überrascht, Theo Weiland eine halbe Stunde später vor ihrer Haustür anzutreffen. Ganz im Gegenteil: Sie hatte eine Kanne Kaffee und zwei Tassen im Wohnzimmer vorbereitet. Daneben stand ein Teller mit Keksen, die so trocken aussahen, als würden sie Weilands Mund unverzüglich in die Sahara verwandeln.

»Tut mir leid, ich habe nicht so oft Besuch. Viel mehr kann ich Ihnen leider nicht anbieten«, sagte sie verlegen.

Weilands Magen rumorte beim ersten Schluck Kaffee. Er hatte wie so oft das Frühstück vergessen. Sein Kopf war für gewöhnlich schon draußen auf der Straße, während sein Körper sich noch müde aus dem Bett schälte.

Höflichkeitshalber nahm er doch einen Keks, bereute diese Entscheidung jedoch schon beim ersten Bissen.

»Hatten Sie schon Zeit, sich die Unterlagen anzusehen?«, fragte Mara und spielte dabei mit dem Ring an ihrem Finger. «Ich meine … Wie lange brauchen Sie, um sich einen Überblick zu verschaffen? Tut mir leid, ich will Sie nicht unter Druck setzen, meine Gedanken überschlagen sich in meinem Kopf.«

Weiland würgte die Keksbetonkrümel unter Schmerzen herunter, um antworten zu können.

»Nach unserem Gespräch gestern habe ich angefangen, alles durchzusehen. Heute Morgen habe ich mit einer Kollegin gesprochen, die damals indirekt in die Ermittlungen involviert war. Was noch nicht heißt, dass ich mich entschieden habe. Ich will Ihnen keine falschen Hoffnungen machen: Für mich ist es mehr als fraglich, ob ich irgendetwas für Sie und insbesondere für Franziska tun kann. Sosehr ich mir das auch wünschen würde.«

»Sie haben nichts zu verlieren, oder? Ich meine, ich kann Sie gut bezahlen. Geld ist kein Problem. Was wollen Sie? Fünfzigtausend? Ich verdopple, wenn Sie den Scheißkerl wirklich drankriegen.«

»Darum geht es nicht. Aber die Ermittlungen würden Ihnen vielleicht Hoffnung machen. Auch wenn es keine Hoffnung gibt.«