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Eine Zugfahrt, die ist lustig ... aber nicht für Antonia, die im überfüllten Zug nach Innsbruck trotz 1.-Klasse-Anspruch in der 2. Klasse reisen muss. Zu allem Überfluss nervt ihr attraktives Gegenüber namens Joyce im Zugabteil mit einer unverhohlenen Anmache gehörig. Endlich in Innsbruck angekommen stellt sich heraus, dass Joyce zufällig im selben Hotel wohnt und Antonia jetzt ganz unverblümt anbaggert – woraufhin Antonia nicht länger widerstehen kann. Doch zwischen heißen Nächten und Skifahren in kaltem Schnee fragt sie sich zunehmend, was Joyce eigentlich wirklich im Schilde führt. Zurück in Würzburg, wo Antonia bei einer Versicherung arbeitet, merkt sie, dass sie Joyce tatsächlich vermisst, obwohl sie meinte, diesen netten Urlaubsflirt schnell wieder vergessen zu können – und dass eine noch größere Überraschung auf sie wartet ...
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Seitenzahl: 326
Veröffentlichungsjahr: 2021
Roman
© 2021édition el!es
www.elles.de [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-95609-347-0
Coverfoto:
»Was soll das heißen, Sie haben keinen Platz mehr in der First Class frei?«
»Tut mir leid, Frau Reitmeyer, aber es ist zu spät für eine Reservierung. Dieser Zug stellt nur einen Wagen für die erste Klasse bereit. Und da ist alles schon ausgebucht.«
»Das ist doch lächerlich.« Wutschnaubend wechselte Antonia den Telefonhörer von der rechten in die linke Hand. »Ich will sofort Ihren Vorgesetzten sprechen.«
»Frau Reitmeyer . . .« Die Frau am anderen Ende der Leitung seufzte unterdrückt. »Auch mein Chef kann keine Wunder vollbringen. Sie kommen einfach zu spät«, sagte sie betont höflich. »Aber ich könnte Ihnen noch einen Platz in einem Abteil in der zweiten Klasse . . .«
»Die Holzklasse? Unverschämt«, keifte Antonia.
». . . anbieten, am Fenster und mit Tisch«, setzte die Mitarbeiterin der Deutschen Bahn ungerührt fort.
»Und Sie glauben, das macht es für mich besser? Die Sitze sind unbequem und man sitzt seinem Nachbarn halb auf dem Schoß. Außerdem gibt es da keinerlei Service. Ich renne doch nicht durch den halben Zug, nur um ein Glas Sekt zu bekommen.«
»Wie gesagt, ich kann Ihnen so kurzfristig leider nichts anderes mehr anbieten.«
»Typisch Deutsche Bahn«, fauchte Antonia in den Hörer. »Da muss ich einmal mit dem Zug fahren, und dann habe ich es hier nur mit unfähigen Deppen zu tun.«
»Soll ich trotzdem den Fensterplatz für Sie reservieren, Frau Reitmeyer?« Die Frau vom Service-Center blieb stoisch ruhig, als ginge sie das alles überhaupt nichts an.
Im Gegensatz zu Antonia, die vor lauter Verärgerung hätte platzen können. Und dann noch diese monotone Stimme der Servicetante, als würde Antonia mit einem Anrufbeantworter sprechen. Das brachte sie erst recht auf die Palme. »Nun geben Sie mir schon den blöden Platz. Mir bleibt ja gar nichts anderes übrig.«
»Hallo Mona, wie geht’s dir so?«
»Joyce, was für eine nette Überraschung. Da geht es mir doch gleich noch viel besser. Was verschafft mir denn die Ehre deines Anrufes?«
Schmunzelnd sah Joyce auf den Bildschirm ihres Laptops, der ihr das strahlende Lächeln ihrer besten Freundin präsentierte. Auch wenn Monas Gesicht ein wenig verzerrt und unnatürlich wirkte, weil sie nur über eine Smartphone-Kamera chattete und weil sie für Videoanrufe irgendwie stets im falschen Licht saß.
»Ach, ich wollte dir nur sagen, dass ich die nächsten Tage in Innsbruck sein werde. Ich hoffe, du kannst ein bisschen Zeit für mich einplanen.«
»Du kommst jetzt schon?« Das fragende Hochziehen der Augenbrauen war trotz der mittelprächtigen Verbindung gut zu erkennen.
»Oh, du scheinst nicht sehr begeistert zu sein.«
Monas Zeigefinger wuchs auf die Größe eines fleischgewordenen Kochlöffels an, als sie damit auf ihr Display tippte. Wahrscheinlich wollte sie Joyce’ Nasenspitze treffen. »Klar freue ich mich. Das weißt du doch genau.« Sie lachte. »Aber du bist noch nie während der Feriensaison hierhergekommen. Das ist dir doch immer zu viel Trubel. Oder hängt es mit einem neuen Auftrag zusammen?«
»So ist es.« Joyce nickte zur Bestätigung. »Ich werde zirka eine Woche bleiben.«
»Ist es etwas Aufregendes?«, fragte Mona mit einem vorwitzigen Augenaufschlag.
Joyce grinste und schüttelte den Kopf. »Keine Details, meine Liebe.«
»Och, das ist gemein. Denn jetzt hast du mich erst recht neugierig gemacht.« Mona zog ihren üblichen mädchenhaften Schmollmund.
Und wie jedes Mal reagierte Joyce darauf mit einem nachsichtigen Lächeln. Sie kannten sich schon eine Ewigkeit, und manche Dinge änderten sich nie.
Damals hingen sie wie unzertrennliche Zwillinge ständig zusammen, bis das Schicksal seinen Lauf nahm und Mona zu ihrem Freund nach Innsbruck geflüchtet war. Doch die Liebesbeziehung der beiden hatte nicht mehr lange gehalten. Trotzdem war Mona dortgeblieben. »Ich erzähle es dir, wenn wir uns sehen. Einverstanden?«
»Aber du siehst mich doch«, kam prompt der kichernde Einwand.
»Mona«, Joyce setzte einen strafenden, aber nicht ernstgemeinten Blick auf, »ich kann jetzt noch nicht darüber sprechen.«
»Na schön. Du warst ja schon immer eine Geheimniskrämerin.« Monas Schmollmund kehrte nicht zurück, entweder, weil er ihr nicht den gewünschten Erfolg brachte oder weil sie fürs Erste besänftigt war. »Okay, und wann willst du mich besuchen?«
Joyce dachte einen Augenblick nach. Es wäre besser, wenn sie ihr Treffen mit Mona auf das Ende der Woche verschieben würde. Schließlich kannte sie ihre Freundin gut genug, dass die nichts unversucht lassen würde, um ihr jede Information einzeln zu entlocken. Aber diesmal ging es ja nicht um irgendeinen Auftrag. Diesmal war alles anders. »Ich würde gern am Freitag um die Mittagszeit zu dir kommen, wenn dir das recht ist?«, schlug sie dann vor.
»Für dich habe ich immer Zeit. Und momentan finden auch keine Paralympics statt, die mich davon abhalten könnten, nicht zu Hause zu sein.«
Mona hatte es witzig klingen lassen, auch das Lächeln in ihrem Gesicht war aufrichtig, und dennoch zogen Joyce’ Eingeweide sich zu einem schmerzhaften Klumpen zusammen. »Ich bin wahnsinnig stolz auf dich«, krächzte sie. Ihr wäre es lieber gewesen, Mona hätte sie jetzt nicht sehen können, weil sie ahnte, dass ihre traurige Mimik sie verriet.
»Ich weiß«, antwortete Mona sanft. Sie berührte fast das Display, als sie mit ihren Fingern halbrunde Kreise malte, als würde sie Joyce über die Wange streicheln wollen. »Und ich bin froh, dass es dich gibt, denn du bist die beste Freundin, die man sich nur wünschen kann. Aber ich möchte nicht, dass du dir ständig Sorgen um mich machst. Es geht mir gut, wirklich!«
Joyce lachte heiser auf. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich mal zu hören bekomme, ich würde mich wie eine Helikopter-Mutter aufführen.«
»Also so habe ich das aber nicht gemeint«, beklagte Mona sich ein wenig. »Und außerdem bist du viel zu jung, um meine Mutter sein zu können.«
»Auch wieder wahr. Und ich bin auch viel lieber deine Freundin –« Ein langanhaltender Ton im Hintergrund ließ Joyce innehalten. »Klingelt es bei dir?«
»Shit!« Mona wurde hektisch. »Ich habe total die Zeit vergessen. Meine wöchentliche Physiotherapie steht an. Tut mir leid, aber ich muss Schluss machen.« Sie legte sich das Handy auf den Schoß und rollte aus dem Zimmer.
»Alles gut.« Joyce hielt die Luft an, als sie das quietschende Geräusch vernahm, weil Mona offenbar mit etwas zu viel Schwung um die Ecke in den Flur geschossen war. »Meine Güte«, murmelte sie leise vor sich hin.
Sehr wahrscheinlich hatte Mona Joyce nicht gehört. Trotzdem grinste sie verschmitzt in die Kamera. »Wir sehen uns also nächsten Freitag. Ich freu mich.« Sie warf Joyce noch einen Luftkuss zu und beendete das Gespräch.
»Du warst schon immer ein Wirbelwind«, sagte Joyce, während sie kopfschüttelnd auf den inzwischen schwarzen Bildschirm blickte.
Grübelnd klappte sie das Laptop zu und strich versunken über die abgenutzte Schreibtischplatte. Schließlich gab sie sich einen Ruck. Sie war gut vorbereitet. Zwei Jahre lang hatte sie auf diese eine sich bietende Gelegenheit gewartet. Das durfte sie nicht vergeigen.
Noch ein letztes Mal überprüfte sie ihre Computerausrüstung, Hightech im Miniformat, und verstaute alles in der Reisetasche, in die sie sich einen doppelten und extra gepolsterten Boden hatte einnähen lassen.
»Können Sie nicht aufpassen, Herrgott noch mal? Sie ruinieren mir ja meinen Mantel!«, schnauzte Antonia den Mann hinter sich an, der seine Reisetasche unsanft in ihren Rücken drückte.
»Tschuldigung«, brummte er. »Aber Sie sehen doch, was hier los ist. Und ein weißer Mantel in einem überfüllten Zug ist ja auch wahnsinnig praktisch.« Seine natürlich ironisch gemeinte Aussage unterstrich er mit einem verständnislosen Kopfschütteln.
Antonia schnappte empört nach Luft. »Na hören Sie mal. Erstens ist das beige und nicht weiß. Oder sind Sie farbenblind? Und zweitens geht es Sie rein gar nichts an, welche Kleidung ich zu tragen gedenke. Selbst wenn ich nur in Unterwäsche verreisen würde.«
»Na, das wäre was . . .« Der Mann mittleren Alters grinste amüsiert.
Großartig! Augenrollend wandte Antonia sich von ihm ab. Sie fluchte lautlos in sich hinein, während sie ihren Rollkoffer vor sich durch den schmalen Gang schob. Wohin sie schaute, überall waren nur Menschen und Unmengen Gepäck, die den Weg zu ihrem Abteil blockierten.
Minuten später erreichte sie endlich ihren reservierten Platz mit der Nummer neunundsechzig. Und sogleich gefror ihre Miene zu Eis. Was für eine bodenlose Frechheit! Da hatte sich doch tatsächlich jemand erdreistet, sich einfach auf ihren Platz zu setzen.
»Das ist mein Platz, da am Fenster«, polterte sie sofort los. Demonstrativ hielt sie ihre Reservierungsbestätigung in die Luft.
»Oh, so was aber auch . . .« Die angesprochene Frau mit der schwarzen Kurzhaarfrisur sah sie schmunzelnd an. Dann beugte sie sich etwas vor, und ihr Blick glitt auf das Ticket in Antonias Hand, als wollte sie sich erst vergewissern, ob sie tatsächlich auf dem falschen Platz saß.
»Ja, so was aber auch«, äffte Antonia ihr nach. »Hier steht es, Platz Nummer neunundsechzig gehört mir.«
Mit einer einzigen schwungvollen Bewegung erhob die andere sich aus dem Sitz. Doch sie blieb geradezu provozierend direkt davor stehen. Sie war beinahe einen Kopf größer als Antonia. Und dabei war sie mit ihren eins siebzig nun auch nicht gerade klein. Also nicht, dass Antonia die Körpergröße der Frau einschüchtern würde . . . Im Leben nicht. Aber dieser Blick aus stahlblauen Augen, mit dem die Schwarzhaarige sie jetzt regelrecht fixierte, jagte ihr dann doch einen kleinen Schauer über den Rücken.
Ihre Hand krallte sich um den Koffergriff. Irgendetwas an der Frau sagte ihr, dass sie sich auf Gegenwehr gefasst machen musste.
Doch der Moment der winzigen Unsicherheit war schnell vorüber. Nun freute sie sich fast ein wenig auf die Konfrontation. Sollte die Sitzplatzräuberin doch mal versuchen, sich mit ihr ein Wortgefecht zu liefern.
Absichtlich langsam ließ sie den Koffergriff los und stemmte ihre Arme in die Hüften. Noch ein tiefer Atemzug, ein kurzes Abwarten, aber von der Schwarzhaarigen kam kein weiteres Wort. Genaugenommen kam überhaupt keine Regung mehr von ihr. Das enttäuschte Antonia ein bisschen. Na schön, dann eben nicht, dachte sie achselzuckend. Sie reckte ihr Kinn in die Höhe und sagte: »Kann ich mich jetzt endlich setzen oder wollen Sie hier Wurzeln schlagen?«
Es war kaum mehr als ein Wimpernschlag, dass die Mundwinkel der anderen Frau kurz zuckten. Gleich darauf zogen sich ihre Augenbrauen mürrisch zusammen. Und dann, ganz plötzlich, schwang sie einen Arm nach vorn.
Sie wird doch wohl nicht . . .? Antonia war instinktiv geneigt zurückzuweichen, doch das kam für sie überhaupt nicht infrage. Das Wort Rückzug existierte nicht in ihrem Vokabular.
Mit trotziger Entschlossenheit blieb sie also stehen und hielt stur dem Blick ihres Gegenübers stand.
Beinahe fließend schwang der Arm zurück, während die Frau sich gleichzeitig vor Antonia verbeugte. »Ich bitte vielmals um Verzeihung, gnädige Frau, aber mir gefiel die Platzzahl einfach so gut.« Sie hob den Kopf und grinste. »Ich steh irgendwie auf diese Nummer.«
Was soll das denn? Wie kann man denn auf eine doofe Zahl stehen? Ungläubig starrte Antonia die großgewachsene Frau an, die sich inzwischen wieder aufgerichtet hatte. Noch immer lag ein geradezu spöttisches Lächeln auf deren Lippen.
Neunundsechzig, jubilierte auf einmal das kleine Männchen in ihrem Kopf. Dazu klatschte es begeistert in die Hände, woraufhin Antonia glatt die Kinnlade herunterfiel.
»Das ist ja ungeheuerlich«, hörte sie sich selbst fassungslos stammeln. Erschüttert aber war sie vor allem, weil sie so lange gebraucht hatte, um die keineswegs subtile Anspielung zu verstehen.
»Finden Sie?« Die Frau lachte vergnügt.
Es war ein dunkles, durchaus erotisches Lachen, wie Antonia befand. Das wiederum brachte sie nun erst recht aus dem Konzept. Glücklicherweise neigte sie nicht dazu, rot zu werden. Das hätte dem Ganzen die Krone aufgesetzt.
Hastig griff sie nach ihrem Koffer. Sie schaute sich um. Auf dem Gang konnte sie ihn unmöglich stehenlassen. Noch so ein Nachteil, wenn man mit der zweiten Klasse vorliebnehmen musste. Also blieb nur die Gepäckablage. Seufzend blickte sie nach oben. Irgendwie musste sie das Ding da hochbefördern. Sie könnte um Hilfe bitten . . . Sie könnte es aber auch einfach selbst machen.
»Sieht aus, als bräuchten Sie Hilfe«, vernahm Antonia die Stimme ihrer neuen Reisebegleitung. Hatte sie ihre Gedanken gerade etwa laut ausgesprochen?
»Finden Sie?«, fragte sie und zog die Augenbrauen hoch.
Die andere gluckste leise. »Touché! Ich würde sagen, der Punkt geht an Sie.«
Und dabei wird es nicht bleiben. Verlass dich drauf! Antonia lächelte zufrieden.
Sekundenlang schienen sie sich regelrecht zu belauern wie zwei Kampfhähne. Leider brachte das den Koffer immer noch nicht nach oben in die Gepäckablage. Und die Schwarzhaarige schien auch keine Anstalten machen zu wollen.
Antonia presste die Lippen aufeinander. Also eigentlich wäre ein einfaches Ja als Antwort, ob sie Hilfe bräuchte, doch ganz einfach gewesen. Aber bei dieser Frau mit dem unverschämten Grinsen im Gesicht, da hatte sie sofort das Gefühl, dass das vermutlich nicht ausreichen würde. Und sie, Antonia Reitmeyer, war es nun mal nicht gewohnt, um etwas bitten zu müssen. Entweder erfüllte man ihre Wünsche unaufgefordert oder man tat, wonach sie verlangte. Es widerstrebte ihr, nur wegen eines blöden Koffers daran irgendetwas zu ändern.
Und da sie ganz sicher nicht beabsichtigte, noch länger hier herumzustehen, denn inzwischen war der Zug schon losgefahren, hob sie energisch ihren Koffer an. Sie versuchte, ihn auf ihren Armen in Brusthöhe auszubalancieren, was durch das Geruckel gar nicht so einfach war. Aber wie sollte sie das schwere Teil über den Kopf stemmen? Sie hatte ja jetzt schon das Gefühl, in jedem Moment das Gleichgewicht zu verlieren. Schon spürte sie, wie sie unter ihrem Wintermantel zu schwitzen begann. Auch das noch. Konnte es denn noch unangenehmer werden? Ihr Atem wurde schwerer mit jeder Sekunde, in der das Gewicht des Koffers auf ihr lastete.
Gewiss, sie hätte es irgendwie geschafft, selbst wenn der Koffer mit Steinen gefüllt gewesen wäre. Denn so schwach, wie sie mit ihrer zierlichen Figur vielleicht wirkte, war sie keineswegs. Nicht umsonst besuchte sie mehrmals wöchentlich ein Fitnessstudio. Aber innerlich sträubte sie sich dagegen, sich jetzt unnötig zu verausgaben. Und schon gar nicht zum reinen Vergnügen der Neunundsechzig-Liebhaberin. Auf keinen Fall! Antonia grinste in sich hinein.
Noch einmal deutete sie an, den Koffer hochstemmen zu wollen, doch im nächsten Augenblick ließ sie ihn wieder hinuntergleiten, bis er mit den Rollen voran noch einige Zentimeter über dem Boden schwebte. Unauffällig blickte sie nach unten. Noch ein kleiner Schritt nach rechts. Perfekt! Dann ließ sie den Koffer los.
»Aua, das war mein Fuß«, jammerte die Frau erschrocken.
»Oh, Entschuldigung!« Antonia setzte kunstvoll einen tief betroffenen Blick auf. »Aber der Koffer war einfach zu schwer.« Um ihrer Bestürzung noch mehr Ausdruck zu verleihen, legte sie ihre Hände auf den Brustkorb.
Die jetzt nicht mehr grinsende Schwarzhaarige starrte sie sichtlich verwirrt an, sodass Antonia wirklich Mühe hatte, das Zucken ihrer Mundwinkel im Zaum zu halten.
Doch dann prustete die plötzlich los. »Das gibt’s doch wohl nicht.« Kopfschüttelnd griff sie nach Antonias Koffer. »Okay, besser ich erledige das, ehe Sie mich noch ins Krankenhaus befördern.«
»Das ist wirklich sehr nett von Ihnen«, säuselte Antonia.
»Hmm.«
Und zack, schon landete der Koffer in der Gepäckablage. Als wäre es nur ein Kosmetikköfferchen. Antonia hob anerkennend die Augenbrauen. Nicht übel!
»Danke schön!«, sagte sie schnell, und noch bevor die ehemalige Neunundsechzig-Besetzerin sich wieder zu ihr umdrehte, schob sie sich an ihr vorbei und ließ sich auf ihrem Sitzplatz nieder.
Verdutzt sah die große Frau auf Antonia hinunter. Sie wirkte ein bisschen wie eine Kriegerin, als sie ihre muskulösen Arme vor der Brust verschränkte und Antonia mit einem feurigen Blick taxierte. Irgendwie hätte nur noch Pfeil und Bogen gefehlt.
»Das haben Sie ja clever eingefädelt«, sagte sie.
Antonia zuckte lässig mit den Achseln, während sie den Tisch herunterklappte und ihre Handtasche darauf ablegte. Im Sitzen schälte sie sich dann aus ihrem Mantel. »Wieso?« Sie erhob sich nur so viel, wie sie benötigte, um den Mantel unter ihrem Hintern hervorzuziehen. »Ich habe mich doch nur auf meinen Platz gesetzt.« Und damit war alles gesagt. Sie wandte ihren Blick ab, hängte den Mantel an den Haken zu ihrer Linken und schaute dann aus dem Fenster.
»Klar doch.« Agentin Nullnullneunundsechzig oder Herkuline oder wie auch immer die Frau heißen mochte ließ sich auf den Sitz neben Antonia gleiten.
Antonia war es ein Rätsel, wie die Frau mit den langen Beinen so überhaupt keinerlei Probleme mit den etwas beengten Platzverhältnissen zu haben schien. Zugegeben, so schlimm war es nicht, wenn man es nicht anders gewohnt war. Aber sie, Antonia, war es eben nicht gewohnt. Und ihre Sitznachbarin so dicht neben sich zu spüren, das beunruhigte sie irgendwie.
Mit Schrecken fiel ihr ein, dass sie ihren Laptop im Koffer verstaut hatte, weil er nicht in ihre Handtasche gepasst hatte. Normalerweise führte sie ihn immer im Handgepäck mit. Aber sie fuhr normalerweise ja auch nicht mit dem Zug. Was sollte sie denn jetzt die ganze Zeit machen, außer aus dem blöden Fenster zu starren?
Neben ihr raschelte es unangenehm laut. Antonia runzelte leicht die Stirn. Derartige Störgeräusche nervten sie gewaltig, vor allem, wenn sie kein Ende fanden. Doch diesmal mischte sich auch eine gewisse Neugier darunter. Was ihre Sitznachbarin da wohl trieb? Aber sie schaute natürlich nicht zu ihr, sondern stierte weiterhin aus dem Fenster. Überhaupt, seit wann kümmerte sie die Angelegenheiten anderer Leute? Sie hatte bekommen, was sie wollte, nämlich ihren Fensterplatz mit Klapptisch. Sie rollte mit den Augen. Wollen war vielleicht zu viel gesagt, aber für einen Platz in der zweiten Klasse war das noch akzeptabel.
Das Rascheln verstummte. Inzwischen hatten sich offenbar auch die Reisenden, die keinen Sitzplatz reserviert hatten, irgendwie im Zug verteilt. Zumindest kehrte jetzt eine gewisse und nicht zu erwartende Ruhe ein.
Antonia wandte ihren Blick vom Fenster ab, vermied es aber weiterhin, nach rechts zu sehen. Die beiden Plätze ihr gegenüber waren merkwürdigerweise unbesetzt geblieben. Vielleicht waren die auch reserviert und die Reisenden stiegen erst später zu.
Antonia jedenfalls war froh, dass sie in Fahrtrichtung saß. Sie hasste es, rückwärtsfahren zu müssen. Schon als Kind und Jugendliche wurde ihr schlecht, wenn auf dem Rummel das Fahrgeschäft plötzlich seine Richtung änderte. An Loopings wollte sie gar nicht erst denken. Jahrmärkte waren ihr ohnehin ein Gräuel. Nur ihren damaligen Schulfreundinnen zuliebe, und davon hatte sie nicht viele gehabt, war sie ein paarmal mitgegangen.
»Wollen Sie einen Apfel?«
Bitte was? Irgendwie brachte Antonia das Angebot nicht mit ihren Gedanken in Einklang. Nun blickte sie doch zur anderen Seite, ausnahmsweise. Die Schwarzhaarige hielt ihr lächelnd einen tiefroten Apfel vor die Nase.
»Danke, aber ich verzichte«, erwiderte sie kühl.
»Ich verspreche Ihnen, er ist nicht giftig.«
»Ach wirklich?« Antonia kräuselte die Lippen. »Also ein Apfel von mir wäre es unter Umständen.«
»Oh, oh . . . Warum überrascht mich das jetzt nicht? Ganz die böse Stiefmutter oder die Schwarze Witwe. Egal.« Ex-Neunundsechzig winkte lachend ab. Und sie lachte derart vergnügt, dass es in Antonias Ohren wie blanker Hohn klang.
Antonia musste diese Frau zum Schweigen bringen. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. Und dann schleuderte sie ihrer Sitznachbarin einen vernichtenden Blick zu, dem eine Flut von Gewitterblitzen folgte. Niemals zuvor hatte das seine gewünschte Wirkung verfehlt. Aber bekanntlich gab es ja immer ein erstes Mal. Und bei der Schwarzhaarigen, die wie die weibliche Form von Adonis aussah, schien das völlig unbeeindruckt abzuprallen. Schlimmer noch, sie beabsichtigte keineswegs, wie sich sogleich herausstellen sollte, ihren Mund zu halten.
»Verstehe . . . ich korrigiere mich.«
Antonia hob lauernd die Augenbrauen, bereit, ihr im nächsten Moment an die Kehle zu springen.
»Sie nehmen nichts von Fremden an, weil man ja schon als Kind lernt, dass man das nicht tun soll.« Sie nickte, sich selbst bestätigend, während Antonia nicht mal mit der Wimper zuckte. »Okay, dann sollte ich mich vielleicht vorstellen.« Der Apfel hüpfte wie ein Jonglierball in hohem Bogen in ihre linke Hand, und sie streckte Antonia lächelnd ihre rechte Hand entgegen. »Joyce Aigner . . . Freut mich.«
Nun doch etwas verblüfft starrte Antonia auf die dargebotene Hand. Da hatte sie sich schon einen bissigen Kommentar zurechtgelegt, und nun wurde sie von Joyce’ – was für ein ungewöhnlicher Name – entwaffnender Freundlichkeit regelrecht überrumpelt.
Zögernd griff sie nach der Hand, als fürchtete sie, sich augenblicklich zu verbrennen. Sie öffnete den Mund, noch hin- und hergerissen zwischen der Wahl ihrer Worte.
»Ach, Sie brauchen sich nicht erst vorzustellen. Ich weiß ja schon, wer Sie sind.« Joyce Aigner grinste frech. »Antonia Reitmeyer, richtig?«
»Woher zum Teufel . . .«
». . . ich das weiß?«
Ein leises, tiefes Lachen, eindrucksvoll wie das Rauschen eines entfernten Gebirgsflusses, wehte zu Antonia herüber. Entsetzt zog sie ihre Hand zurück. Sie würde doch nicht etwa anfangen, diese unverschämte Person sympathisch zu finden?
»Bleiben Sie locker. Ich habe es vorhin nur auf Ihrer Reservierungsbestätigung gelesen.«
Ich soll locker bleiben? Antonia verschluckte sich fast vor Empörung.
»Apfel?«
Wie eine verbotene Frucht, die vom Baum der Erkenntnis lockte, blitzte das tiefe Rot erneut vor Antonias Gesicht auf. Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, verdammt noch mal«, zischte sie verärgert. Was sollte das denn hier werden?
Joyce Aigner zuckte mit den Schultern. »Auch gut. Bleibt mehr für mich.« Kaum hatte sie das gesagt, biss sie auch schon herzhaft in den von Antonia verschmähten Apfel. Genießerisch schloss sie die Augen, während ein zufriedenes Seufzen ihre Lippen verließ.
Antonia schluckte. Schnell wandte sie sich ab. Ihr Blick klebte nun förmlich an der Fensterscheibe.
Der Zug eilte durch die Landschaft, an Hügeln und Tälern vorbei, an Flüssen und Straßen entlang. Und trotzdem kam Antonia das alles viel langsamer vor, obwohl der ICE mit Spitzengeschwindigkeiten von knapp dreihundert Kilometern pro Stunde aufwartete, wie sie der elektronischen Anzeige auf dem Bildschirm entnehmen konnte.
Doch das alles konnte sie nicht wirklich ablenken. Seit einer gefühlten Ewigkeit gab ihre Sitznachbarin, Joyce, keinen Mucks mehr von sich, obwohl wahrscheinlich nicht mal zehn Minuten vergangen waren.
Stopp! Wieso beunruhigte sie die Tatsache, dass diese Joyce endlich die Klappe hielt? Wollte sie sie nicht eben noch zum Schweigen bringen? Und jetzt hatte sie doch ihre Ruhe, weil selbst das Schnurpsen, solange sie noch an ihrem Apfel gekaut hatte, inzwischen verstummt war.
Antonia wischte den Gedanken beiseite und schob es auf die Langeweile, die wie eine Krankheit langsam von ihr Besitz ergriff. Ohne ihren Laptop war sie nun mal aufgeschmissen. Sie nahm ihre Handtasche auf den Schoß und holte ihr Handy heraus. Ein paar Nachrichten waren eingegangen, doch sie las sie nur mit gedämpftem Interesse. Nichts Privates, immer nur Arbeit. Sie verzog höhnisch das Gesicht. Woher beziehungsweise von wem hätten die privaten Nachrichten denn auch kommen sollen? Frustriert warf sie das Handy in die Tasche zurück.
Als Rechtsberaterin in einem globalen Versicherungsunternehmen tätig zu sein, bedeutete, dass immer irgendwer etwas von ihr wollte. Sie kannte es nicht anders. Doch jetzt war sie wirklich froh, dass sie sich dazu entschlossen hatte, die eintägige Fachkonferenz in Innsbruck mit einer Woche Skiurlaub in der Region zu verbinden. Einfach mal ein paar Tage raus aus diesem Affenzirkus.
Stirnrunzelnd beobachtete sie die aneinandergereihten Fahrzeuge auf der parallel verlaufenden Autobahn. Sie standen in einem kilometerlangen Stau. Der Zug rauschte an ihnen vorbei, und sie fing unwillkürlich an zu lächeln. Tja, wärt ihr mal lieber mit dem Zug gefahren.
Plötzlich spürte sie eine leichte Berührung an ihrer Schulter. Erschauernd zuckte sie zusammen. Aus den Augenwinkeln nahm sie einen dunklen Schatten wahr. War das nicht der schwarze Schopf ihrer Sitznachbarin? Wahrhaftig, denn die hatte sich zu ihr herübergebeugt und hing nun halb über ihrem Schoß.
Antonia riss den Kopf herum und starrte in ein grinsendes Gesicht. »Aber sonst geht’s Ihnen noch gut, oder?«, blaffte sie die Frau an.
Deren Mundwinkel zogen sich noch mehr in die Breite. »Sicher doch. Also ich kann mich nicht beklagen.« Sie nickte zum Fenster. »Definitiv ist der Zug die bessere Alternative.«
Antonia schnaubte. »Wenn man dabei nicht belästigt wird, dann vielleicht.«
Joyce Aigner lehnte sich lächelnd wieder in ihren Sitz zurück. »Sie fühlen sich also von mir belästigt?«
»Das habe ich so nicht gesagt.«
»Aber so gemeint . . .«
Das intensive Blau in den Augen, die nun abwartend auf Antonia ruhten, machte sie ganz irre. Ihre Antennen waren längst in alle Richtungen ausgefahren. Diese Frau machte sie wütend, weil sie sich ihretwegen zu unbeherrschten Reaktionen hinreißen ließ. Aber noch viel schlimmer war, dass sie anfing, dieses Wortgeplänkel mit ihr zu mögen, obwohl sie sich sehr bewusst war, dass sie dabei bislang nicht gut wegkam.
Doch es hatte einen gewissen Reiz. Und Joyce, um keine Antwort verlegen, versprühte einen Charme, dem sie sich nicht so recht entziehen konnte, ganz gleich, wie sehr sie sich dagegen auch wehrte. Doch genau das ließ die Alarmglocken bei ihr läuten.
Daher gab es nur einen Weg aus dieser Misere: Sie musste Joyce Aigner loswerden. »Sagen Sie mal, sitzen Sie eigentlich auf dem richtigen Platz?«, fragte sie mit gesenkter Stimme. »Es wäre auch interessant zu erfahren, ob Sie überhaupt eine Sitzplatzreservierung haben.«
»Wow . . .« Joyce fuhr sich mit ihrer Hand durchs Haar. »Was für eine nette Art, abserviert zu werden.« Sie wirkte erschüttert, für einen kleinen Moment zumindest. Denn ihre Miene hellte sich schnell wieder auf. Doch auf einmal stieß sie einen tiefen Seufzer aus und sagte: »Nun denn . . .«
War das jetzt ein Eingeständnis? Für Antonia hörte es sich jedenfalls so an. Nicht, dass es von Belang gewesen wäre, denn außer ihr hatte sich ja noch niemand beschwert, dass die Frau mit dem losen Mundwerk hier offenbar einen munteren Platzwechsel betrieb, je nachdem, wo für den Moment gerade frei war.
Das war ja auch nicht Antonias Problem. Deshalb hatte sie nicht gefragt. Und Joyce Aigner hatte das auch sofort erkannt. Okay, das war wahrscheinlich auch nicht schwer zu erraten.
Ein Ruck ging durch Joyce’ langen, schlanken Körper, und sie fuhr hoch, als hätte sie auf Sprungfedern gesessen. Dann trat sie auf den Gang.
Antonia riss überrascht die Augen auf. Sie gibt auf? So schnell? Eine gewisse Enttäuschung machte sich in ihr breit. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Sie hätte von der wie aus einem Mythos entsprungenen Amazone etwas mehr Kampfgeist erwartet. Aber sollte sie jetzt nicht zufrieden sein? Das war es doch, was sie wollte, diese Frau, deren Nähe sie zunehmend beunruhigte, zu vertreiben.
Joyce’ Blick huschte über den Sitzplatz auf der Gangseite, hoch zur Gepäckablage. Sicherlich hatte sie ihr Reisegepäck ebenfalls dort oben verstaut. Doch sie holte keine Tasche oder einen Koffer herunter. Sie tat nichts dergleichen. Denn nur einen Augenblick später ließ sie sich wieder geschmeidig neben Antonia nieder.
Auf Antonias verwirrten Blick hin sagte sie: »Jepp, meine Sitzplatznummer steht dran. Hab es noch mal überprüft.« Dabei griente sie übers ganze Gesicht.
Das darf doch wohl nicht wahr sein, stöhnte Antonia. Wie konnte sie auch nur eine Sekunde lang annehmen, dass eine Frau wie Joyce sich einfach so verscheuchen ließ?
»Sie schauen mich an, als wäre ich ein Geist. Bin ich aber nicht, das können Sie mir glauben.« Ihre zuckenden Mundwinkel verrieten, dass sie sich amüsierte.
Antonia rümpfte die Nase. »Das habe ich auch nicht angenommen«, erwiderte sie scharf. »Für einen Geist sind Sie . . .«, ihr Blick glitt über die großgewachsene Gestalt und blieb schließlich erneut im Gesicht hängen, »viel zu redselig.«
»Und das stört Sie?« Joyce grinste ein wenig verunsichert, wie es schien. Eine kleine Falte bildete sich auf ihrer Stirn.
»Das merkt man mir doch nicht etwa an?« Antonia hielt sich mit gespieltem Entsetzen eine Hand vor den Mund.
Wie auf Kommando lachte Joyce herzlich auf. »Sie können ja richtig witzig sein. Das gefällt mir.« Von Verunsicherung, falls es die jemals bei ihr gab, keine Spur mehr.
Es gefällt ihr? Dann mache ich irgendwas falsch. Antonia seufzte in sich hinein. In ihrem Bauch begann es angenehm zu kribbeln. Das alles fühlte sich viel zu gut an. Wie konnte das sein? Sie räusperte sich, um sich selbst aus diesem Gedankenkarussell zu befreien. »Ich schätze, für die Dauer der Zugfahrt müssen wir uns ja irgendwie arrangieren«, säuselte sie übertrieben. »Was war gleich noch mal Ihr Reiseziel?«
»Boah, jetzt winken Sie schon wieder mit einem ganzen Zaunfeld.« Die Schwarzhaarige wischte sich den imaginären Schweiß von der Stirn. »Ich glaube, ich brauche erst mal einen Kaffee. Möchten Sie auch einen?« Sie stand auf und schaute an sich hinunter. »Sehen Sie, ich habe schon Wackelpudding in den Beinen. Eine ordentliche Dosis Koffein wird es hoffentlich wieder richten.«
Antonia blickte auf Joyce endlos lange Beine. Das Kribbeln in ihrem Bauch breitete sich aus wie ein Ameisenheer, das in Schlachtreihen ausrückte, um die Termiten zu überfallen. Himmel, noch mal! Sie schluckte den Kloß, der sich in ihrem Hals bilden wollte, herunter. »Und Sie glauben wirklich, dass es nur am fehlenden Koffein liegt?« Dieses Gekrächze ist ja fürchterlich, verhöhnte sie sich selbst.
»Keine Ahnung.« Joyce zuckte schmunzelnd mit den Achseln. »Aber ich werde es herausfinden. Wie trinken Sie Ihren Kaffee? Weiß und ohne Zucker?«
»Ähm.« Mühsam löste Antonia sich von dem hypnotisch wirkenden Anblick. Eigentlich hätte sie jetzt lieber ein Glas Sekt gehabt. ALKOHOL! Wie ein Allheilmittel schwebte das Wort vor ihrem Geiste. Aber mit einer Stimme, die sich in ihren Ohren ganz fremd anhörte, antwortete sie: »Schwarz, mit Zucker.«
Joyce nickte. »Kommt sofort, Madame.«
Alles an ihr schien zu lächeln. Oder war das gar ein überdimensionales Strahlen? Jedenfalls hätte sie damit locker die Beleuchtung im ganzen Zug sicherstellen können. Oder gleich der Sonne Konkurrenz machen können.
Antonia gab sich gedanklich einen Klaps auf den Hinterkopf. Geräuschvoll atmete sie aus, nachdem sich die langen Beine und der knackige Hintern aus ihrem Blickfeld entfernt hatten.
Allmählich musste sie sich eine andere Strategie überlegen, wenn sie die Zugfahrt überleben wollte. Abweisung und Missachtung waren immer ein probates Mittel, wenn es gefährlich wurde. Aber was machte man, wenn die Gefahr verdammt sexy aussah, ein heiteres Gemüt hatte und direkt neben einem saß? Antonia blies die Backen auf und ließ die Luft mit einem klagenden Laut entweichen.
»Voilà, Ihr Kaffee, schwarz wie die Nacht und süß wie die Sünde«, raunte Joyce mit einem verführerischen Klang in der Stimme. Lächelnd hielt sie Antonia das Getränk entgegen, als würde sie ihr einen hochdotierten Filmpreis überreichen wollen.
Antonia beäugte stirnrunzelnd das dampfende Einweggefäß in Form eines Pappbechers. Definitiv nicht oscarreif, aber die Präsentation war es durchaus. Sie zögerte, weil sie sich nicht so richtig entscheiden konnte, welche Stufe auf ihrer Vertrauenswürdigkeitsskala das Getränk einnahm.
Joyce schien wieder einmal ihre Gedanken lesen zu können. »Der Kaffee ist auch nicht vergiftet, nur heiß. Ich schwöre es«, flüsterte sie.
Antonia zog missbilligend die Augenbrauen zusammen. »Danke«, erwiderte sie knapp. Sie nahm den Becher aus dem Getränkehalter, hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und stellte ihn schnell auf dem kleinen Tisch ab. »Was schulde ich Ihnen?«
»Hm, lassen Sie mich mal überlegen.«
»Was gibt es denn da zu überlegen?«
Joyce verzog angestrengt das Gesicht, als hätte sie eine komplizierte Mathematikaufgabe zu lösen. Sie setzte sich und nahm erst einmal einen Schluck von ihrem Kaffee. Er war ebenfalls schwarz. Dann reichte sie Antonia ein Holzrührstäbchen und zwei Zuckersticks. »Ich wusste nicht, wie süß Sie Ihren Kaffee mögen, daher habe ich für alle Fälle noch was mitgebracht.«
»Verstehe.« Nun wieder etwas skeptischer geworden, starrte Antonia auf die dunkle, dampfende Brühe in ihrem Pappbecher. Wie viel Zucker hat sie denn da schon reingetan? fragte sie sich. Ganz vorsichtig nahm sie den Becher wieder in die Hand und nippte daran. Mmmh! Ihre Skepsis verwandelte sich in Erstaunen. »Der Kaffee schmeckt ja sogar.«
»Ist ja nicht zu fassen.« Joyce’ Stimme kletterte eine Nuance höher, was bei ihr irgendwie ulkig klang. »Ich erlebe Sie tatsächlich einmal zufrieden. Es geschehen noch Zeichen und Wunder.« Hätte sie beide Hände frei gehabt, dann hätte sie sie wahrscheinlich gen Himmel gestreckt.
»Also veralbern kann ich mich auch selbst«, grummelte Antonia. Über den Becherrand hinweg schmetterte sie Joyce einen warnenden Blick zu.
Doch dafür erntete sie wieder nur ein erheitertes Lachen.
Missmutig nahm sie einen weiteren Schluck von dem Kaffee. Der aromatische Geschmack entschädigte ein wenig dafür, dass diese Joyce sie derart auf die Schippe nahm.
»Innsbruck.«
»Wie bitte?«
Joyce griente. »Meine Antwort auf Ihre Frage, was mein Reiseziel ist. Und das ist Innsbruck.«
»Na wunderbar.« Antonia stöhnte mit einem theatralischen Augenrollen auf.
»Und für den Kaffee will ich kein Geld.«
»Ach, und was wollen Sie stattdessen?« Antonia stellte vorsorglich den Kaffeebecher auf den Tisch zurück. Irgendwie ahnte sie nichts Gutes. Und sie wollte bei einer möglicherweise eintretenden Schockstarre das heiße, schwarze Getränk nicht auf ihre Hose verschütten.
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, begann Joyce.
Das klingt gar nicht gut. Antonia senkte den Kopf und atmete tief durch.
»Da Sie meine Gesellschaft vermutlich noch ein Weilchen ertragen müssen«, setzte Joyce fort, »könnten wir uns doch mit einem Frage-Antwort-Spiel die Zeit vertreiben.«
Antonias Augenbrauen schossen katapultartig in die Höhe. »Sie meinen aber nicht diesen Sag-nur-die-Wahrheit-Blödsinn?«
»Wenn schon, denn schon«, erwiderte Joyce lässig. Plötzlich stand sie auf und setzte sich Antonia gegenüber. »So können wir uns besser in die Augen schauen, ohne uns dabei zu verrenken«, erklärte sie feierlich.
Antonia blieb glatt die Spucke weg. Diese Frau war im wahrsten Sinne wie Sand im Getriebe, wie ein verborgenes Hindernis, das ihren gewohnten Lebensrhythmus störte. »Ich wüsste nicht, warum ich diesen Unsinn mitmachen sollte. Ich kenne Sie doch überhaupt nicht«, echauffierte sie sich.
Ihr gegenüber formten sich volle Lippen zu einem Schmunzeln. Und mit einem verheißungsvollen Glanz in den blauen Augen beugte Joyce sich halb über den Tisch. Ohne diese Barriere wäre sie Antonia vielleicht noch nähergekommen. »Nun, eine ehrliche Unterhaltung miteinander wäre eine wunderbare Möglichkeit, sich besser kennenzulernen. Und Sie haben von mir, einer Fremden, einen Kaffee angenommen. Ich hätte auf dem Weg hierher sonst was da reinmachen können«, betonte sie mit einem herausfordernden Augenzwinkern.
Antonia starrte Joyce entgeistert an. Ihr fehlten die Worte, und das kam äußerst selten vor. Wie ein Fisch, der an Land gezogen wurde, schnappte sie nach Luft. Ihre Finger krallten sich um den Pappbecher und drohten ihn zu zerquetschen. Und wie aufs Stichwort verspürte sie nun tatsächlich ein Unwohlsein in der Magengegend. Wilder Zorn flammte in ihr auf. Doch noch bevor er sich entladen konnte, presste sie die Lippen fest zusammen.
»Das war ein Scherz!« Joyce schüttelte lächelnd den Kopf. »Aber ist schon okay, Sie müssen nicht mit mir reden . . .« Sie winkte geradezu gönnerhaft ab und lehnte sich wieder zurück. »Schweigen kann auch sehr entspannend sein.«
»Das bezweifle ich doch sehr, dass Sie sich dabei entspannen könnten«, erwiderte Antonia bissig. Mist! Ihre Stimme war zwar zurückgekehrt, aber wieder einmal hatte sie sich von der Frau aus der Reserve locken lassen.
Warum konnte sie sie nicht einfach ignorieren? Weil sie dir gefällt, gefällt, gefällt . . . Die Worte hallten wie Paukenschläge durch ihren Kopf. »Schwachsinn«, brummelte sie.
»Wie meinen Sie?« Joyce warf ihr einen fragenden Blick zu.
Ahhh, jetzt hab ich auch noch laut gesprochen. Antonia zog es vor, nicht zu antworten. Eher hätte sie sich die Zunge abgebissen. Und was sollte sie auch sagen? Seufzend wich sie Joyce’ Blick aus und starrte in ihren Kaffeebecher. Aber diesmal rührte sie ihn nicht an.
Nach ein paar Sekunden des Schweigens räusperte Joyce sich leise. »Es tut mir leid, wenn ich Sie verschreckt haben sollte«, sagte sie dann. »Das war nicht meine Absicht. Manchmal gehen mit mir die Pferde durch.«
Der bloße Klang ihrer Stimme weckte angenehme Empfindungen in Antonia. Sie blickte auf und sah in Joyce’ betrübtes Gesicht. Sie konnte nicht anders, als darüber zu schmunzeln. Ganz kurz nur, das gestattete sie sich, bevor sie wieder ihre kühle, beherrschte Miene zur Schau stellte. »Wie kommen Sie denn darauf, dass Sie mich verschreckt haben könnten?«, fragte sie.
Joyce neigte den Kopf zur Seite und strich sich flüchtig über die Lippen. »Tja, wie komme ich da drauf?«, stellte sie sich die Frage noch einmal selbst.
Antonia war sich sicher, dass Joyce nur Zeit gewinnen wollte. War das ihre Art, Rücksicht zu nehmen, um ihre zartbesaitete Seele nicht zu verletzen? Fast hätte Antonia darüber gelacht. Die attraktive Schwarzhaarige schien ein wahres Mysterium zu sein. Und Antonia ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie gern mehr über sie erfahren wollte. Nein, Herrgott noch mal, will ich nicht!
Bevor sie sich ebenfalls zurücklehnte, setzte sie sich etwas seitlich. Dann schlug sie lasziv die Beine in ihren schicken Stiefeln übereinander. Dabei bemerkte sie sehr wohl, dass Joyce sie verstohlen beobachtete. Herausfordernd wippte sie mit der rechten Schuhspitze. »Also?«
»Na ja«, Joyce wand sich ein wenig. »Ich will ja nur nicht, dass Ihr Kaffee kalt wird.«
»Was?« Antonia glaubte, sich verhört zu haben. »Sie machen sich lediglich Sorgen um die ideale Trinktemperatur meines Kaffees?«
»Kaffee schmeckt nun mal nicht, wenn er kalt ist«, führte Joyce augenzwinkernd aus. »Und Sie zögern, ihn zu trinken, weil Sie plötzlich Angst haben, dass er doch vergiftet sein könnte.«
»Das ist doch völliger Quatsch«, widersprach Antonia energisch. Wie zum Beweis griff sie nach dem Becher und nahm einen großen Schluck. »Zufrieden?«
»Eher beruhigt.« Joyce lächelte wieder.
Antonia schüttelte verständnislos den Kopf. »Halten Sie mich etwa für einen Feigling?«
»Oh, ganz und gar nicht«, wehrte Joyce lachend ab. »Ich denke eher, dass Sie eine mutige Frau sind, die sich im Leben zu behaupten weiß.«
Verwundert hob Antonia eine Augenbraue. »Interessant! Und was denken Sie noch so über mich?«
Joyce hüstelte scheinbar verlegen in die hohle Hand, um sich gleich darauf am Kopf zu kratzen. »Ich bin nicht sicher, ob Sie das wirklich hören wollen«, antwortete sie schließlich.
»Oh, doch. Ich bin schon sehr gespannt.« Das war Antonia wirklich. Sie wusste, wie die Leute in der Firma über sie dachten und dass sie auch unter ihren Juristen-Kollegen als knallhart, launisch und arrogant galt. Würde Joyce diese Meinung teilen, nach nicht mal einer Stunde, die sie miteinander verbracht hatten?
Doch Joyce ließ sich Zeit mit einer Antwort. Sie kippte den Rest ihres Kaffees herunter und warf den Becher in den dafür vorgesehenen Abfallbehälter. Schließlich klopfte sie sich auf ihre straffen Oberschenkel, als müsste sie sich erst noch zusätzlich motivieren. »Okay, Sie haben es nicht anders gewollt«, begann sie. »Aber beschweren Sie sich nachher nicht, sollte ich falschliegen.« Noch einmal streiften ihre blauen Augen mit einem nachdenklichen Ausdruck über Antonias Gesicht.
Antonia nickte ihr auffordernd und mit gespielter Lässigkeit zu, aber in ihr drinnen breitete sich ein mulmiges Gefühl aus. Es lag nahezu auf der Hand, dass Joyce’ Charakterstudie nicht sonderlich positiv ausfallen dürfte, nach dem bisherigen Verlauf ihrer Begegnung. Und das hatte sie ja mit ihrer Bemerkung eben schon angedeutet. Aber was sollte Joyce schon über sie, Antonia, wissen? Gar nichts wusste sie. Und wenn doch, dann konnte ihr das doch egal sein.
Seufzend versuchte Antonia, sich ein wenig zu entspannen, als sie merkte, dass sie schon einen ganz steifen Rücken hatte. An dem Sitz konnte das eigentlich nicht liegen. So unbequem war er nun auch nicht.
Joyce wartete noch einen Moment, dann sagte sie: »Ich würde sagen, dass Sie sehr intelligent, wortgewandt und erfolgsverwöhnt sind . . .« Lächelnd hielt sie kurz inne.
Könnte schlimmer sein, dachte Antonia ein wenig belustigt und erleichtert zugleich.
»Aber«, setzte Joyce fort, »Sie scheinen auch eine zynische und vom Leben enttäuschte Frau zu sein, der die Meinung ihrer Mitmenschen ziemlich gleichgültig ist. Das war aber vermutlich nicht immer so.«
Autsch! Antonia starrte Joyce mit großen Augen an. Das hat sie jetzt nicht ernsthaft gesagt? Sie kam nicht dazu, sich näher damit auseinanderzusetzen, weil Joyce bereits fortfuhr.
»Mit Ehrgeiz und absolutem Willen haben Sie beruflich wahrscheinlich fast alles erreicht. Und Sie sind es gewohnt zu bekommen, was Sie wollen. Aber was Ihr Privatleben betrifft . . .« Joyce machte eine betonte Pause. »Da sieht es wohl eher trostlos aus. Und deswegen sind Sie auch nicht glücklich.«
Das war eindeutig zu viel für Antonia. Sie riss den Mund auf, weil sie plötzlich das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. Wie kam diese Frau dazu, sich eine Meinung über ihr Privatleben zu bilden? Und was heißt denn hier überhaupt eine vom Leben enttäuschte Frau?