Geliebte Jil - Sima G. Sturm - E-Book

Geliebte Jil E-Book

Sima G. Sturm

4,0

Beschreibung

Mitten im Nirgendwo in Kanadas Westen bricht Nadjas Camper zusammen. Rettung naht in Gestalt einer wortkargen Reiterin, die Nadja auf eine nahegelegene Ranch hinweist. Es stellt sich heraus, dass die Reiterin Jil heißt und zusammen mit ihrer Schwester die Ranch betreibt. Nadja verliebt sich Hals über Kopf in Jil, die sie jedoch immer wieder schroff abweist, wobei sie allerdings zweideutige Signale aussendet. Doch weil Nadja ohne ihren Camper nicht weiterreisen kann, ist sie auf die Gastfreundschaft der Schwestern angewiesen und bleibt für einige Zeit auf der Ranch. Es entwickelt sich ein kompliziertes Miteinander, denn Nadja weiß nicht, wie sie mit Jil und ihren eigenen Gefühlen umgehen soll ...

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Sima G. Sturm

GELIEBTE JIL

Roman

© 2018édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-276-3

Coverfoto:

1

Ein lauter Knall übertönte die monotonen Fahrzeuggeräusche des Truckcampers, der sich einsam und seit einer gefühlten Ewigkeit über die unebene Schotterpiste quälte. Abrupt trat Nadja auf die Bremse, so heftig, dass sie mit einem derben Ruck nach vorn in den Gurt gedrückt wurde. Fluchend rieb sie sich die schmerzende Schulter, während sie durch die verschmutzte Windschutzscheibe starrte. Kleine Rauchschwaden quollen aus den Fugen der Motorhaube.

Nadja öffnete hektisch die Fahrertür und stolperte aus dem Truck. Ein Geruch von Verschmortem lag in der Luft.

»Oh, nein, bitte nicht!«, stieß sie flehend aus. Blankes Entsetzen trieb ihr den Schweiß auf die Stirn. Vielleicht lag es auch an der Hitze, die ihr außerhalb ihres klimatisierten Wagens entgegenschlug. Doch im nächsten Moment erschauerte sie. Fröstelnd rieb sie sich über die nackten Oberarme.

Eine Windböe zog über sie hinweg, streifte über den trockenen Sandboden und wirbelte ockerfarbenen Staub auf, der sich wie eine zweite Haut über alles legte, was seinen Weg kreuzte. Instinktiv blinzelte Nadja mit den Augen, während sie sich mit einer Hand über das verschwitzte Gesicht rieb, um die feinen Sandkörnchen wegzuwischen.

Langsam, beinahe zögernd, trat sie vor ihren Truck. Doch als sie die Motorhaube berührte, stieß sie einen kurzen Schrei aus und zog augenblicklich ihre Hand zurück. »Auch das noch«, schimpfte sie. Missmutig stapfte sie in den Camper, um sich ein paar Arbeitshandschuhe zu holen. Als sie wieder heraustrat, vernahm sie aus der Ferne ein dumpfes Geräusch. Zwar konnte sie es nicht zuordnen, aber jemand war da draußen. Definitiv. Eine Spur Erleichterung machte sich in Nadja breit. Zügig ging sie um den Wagen herum. Mit der Hand schirmte sie ihre Augen vor dem grellen Sonnenlicht ab.

Die Luft flimmerte und plötzlich, wie eine Fata Morgana, tauchte ein schwarzes Pferd mit seinem Reiter hinter einem der kahlen Hügel auf. Als das Pferd die Spitze des Hügels erreicht hatte, blieb es stehen. Der Reiter hatte seinen Cowboyhut tief ins Gesicht gezogen und blickte in Nadjas Richtung.

Zaghaft hob Nadja den Arm und winkte, aber von dem Cowboy ging keinerlei Regung aus. Verunsichert ließ Nadja ihren Arm sinken. Will er denn nicht herkommen und mir Hilfe anbieten?

Die Vorstellung, der Reiter könnte nur Einbildung sein und im nächsten Moment wieder von der Bildfläche verschwinden, machte sie nervös. Seit Stunden war sie keiner Menschenseele begegnet. Sie hatte sich völlig verfahren und fand sich auf einmal in dieser kargen Gegend wieder, in der das gelblich-bräunliche Gras verbrannt aussah und es weder Wald noch ein Fluss zu geben schien.

Dann, endlich rührte sich etwas. Und als das Pferd schließlich im lockeren Trab hinunter auf sie zukam, atmete Nadja beruhigt auf.

»Looks like you have a problem«, wurde sie sogleich begrüßt.

Nadja stutzte. Die Stimme war dunkel und rau, aber es war eindeutig eine Frauenstimme. Überrascht legte sie den Kopf in den Nacken, um der Frau, die lässig auf ihrem Ross saß, besser ins Gesicht sehen zu können. Augenblicklich spürte sie intensive Blicke, die sie abschätzig musterten.

»Yes, that’s true«, antwortete sie mit brüchiger Stimme. Sie schluckte trocken. Darauf war sie nicht vorbereitet gewesen, hier in dieser Einöde einer Frau und dazu auch noch einer so attraktiven Frau zu begegnen.

Unter dem beigefarbenen Westernhut kamen nackenlange, kastanienbraune Haare zum Vorschein. Die sonnengebräunte Haut verriet, dass die Frau viel Zeit an der frischen Luft verbrachte. Ihre Gesichtszüge waren eher kantig, und trotzdem erkannte Nadja auch etwas Weiches darin. Große, leuchtende Augen, deren Farbe durch den Schatten, den der breite Hut warf, nicht genau zu erkennen war, nahmen sie dennoch völlig gefangen. Wie gebannt versank sie darin, unfähig, ihren Blick abzuwenden.

Die andere schnippte geräuschvoll mit den Fingern gegen die Hutkrempe und holte Nadja aus ihrer Träumerei zurück. Ein hintergründiges Lächeln schob sich auf ihre Lippen. »Where do you come from?«, fragte sie.

»Germany«, erwiderte Nadja schnell. Sie fühlte sich ertappt und senkte beschämt den Blick.

»Ah, eine deutsche Touristin, die sich verirrt hat«, sagte die Frau in fast akzentfreiem Deutsch. Es klang so, als erheiterte sie diese Feststellung.

Nadja merkte zu spät, dass ihr der Mund offenstehen blieb und ihr Kopf erneut ruckartig in die Höhe schoss. Sie hätte wetten können, dass es sich bei der dunkelhaarigen Frau, die in ihrer Jeans und der karierten Hemdbluse einfach unwiderstehlich wirkte, um eine Einheimische, zumindest aber um eine Amerikanerin handelte. Warum, das war ihr selbst ein Rätsel.

Noch immer schien die schöne Unbekannte sich über sie zu amüsieren. Ihre Mundwinkel hüpften vergnügt, und ihr spöttischer Gesichtsausdruck sprach Bände.

»Ich bin keine Touristin . . . also nicht direkt«, grummelte Nadja etwas verstimmt.

»So, so.« Mit einem Kopfnicken wies die Frau auf den Truckcamper.

Nadja verdrehte die Augen und lächelte verklärt. »Ich habe ein Sabbatjahr genommen und toure derzeit durch Kanada. Und das Gefährt habe ich in Kelowna jemandem abgekauft.«

»Sieht nach einem schlechten Kauf aus.« Die Westernbraut zog skeptisch die Augenbrauen zusammen und beäugte den Truck, der weiter vor sich hinrauchte. »Ich glaube, die Kühlanlage ist hinüber. Wahrscheinlich braucht’s eine neue Zylinderkopfdichtung.«

»Was? Gott, bewahre!«, krächzte Nadja. Ihr versagte beinahe die Stimme. »Gibt es hier in der Nähe vielleicht eine Werkstatt?«

Urplötzlich brach ihr Gegenüber in schallendes Gelächter aus. Das Pferd scheute und machte wiehernd einen Schritt zurück. Aber die schöne Fremde wusste es sogleich zu beruhigen. Sie beugte sich nach vorn und fuhr mit ihren schlanken, drahtigen Fingern seitlich unter seine Mähne. Sanft rieb sie an seinem Hals entlang. »Alles gut, Shadow, wir machen nur gerade Bekanntschaft mit einem Spaßvogel.«

Shadow? Sie nennt ihr Pferd ›Schatten‹? Und was heißt denn hier Spaßvogel? Nadja kniff angesäuert die Lippen zusammen. Aber sie musste sich zusammenreißen, denn die zum Scherzen aufgelegte Lady war vielleicht ihre einzige Rettung. »Ich brauchte einen fahrbaren Untersatz und einen Platz zum Schlafen. Und das da . . .«, mit der Hand winkte sie unwirsch ab, »war leider das Einzige, was ich mir leisten konnte.«

»Hm, verstehe«, sagte die Frau, deren Namen Nadja immer noch nicht kannte.

Sie konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als ihr bewusst wurde, dass sie zwar den Namen des Pferdes kannte, aber nicht den seiner Besitzerin. »Ich heiße Nadja«, stellte sie sich spontan vor. Sie streckte ihre Hand nach oben.

»Jil«, erwiderte die andere knapp. Sie beugte sich erneut vor, um Nadja die Hand zu reichen. Ein kurzer, fester Händedruck, dann war es schon wieder vorbei. Sie machte keinerlei Anstalten, von ihrem Shadow abzusteigen. Ihre Hand, mit der sie Nadja eben noch begrüßt hatte, wies die Straße entlang Richtung Norden. »In zirka zwei Kilometern kommst du an einer Ranch vorbei. Dort dürftest du zumindest ein Telefon finden, um die nächstgelegene Werkstatt anzurufen.« Die letzten Worte sprach sie betont langsam aus. Es schien, als würde sie sich über Nadja lustig machen.

Nadja seufzte schwermütig auf. Doch sie bekam keine Gelegenheit, irgendetwas zu erwidern. Denn schon im nächsten Augenblick gab Jil ihrem Pferd mit leiser, tiefer Stimme ein Kommando. Der stolze Rappe – zumindest vermutete Nadja, dass es sich um einen Rappen handelte, weil alles an ihm schwarz war – trabte bereitwillig los und ging kurz darauf in den Galopp über. Jil hatte sich nicht einmal verabschiedet. Perplex schaute Nadja ihr hinterher, bis sie hinter den Hügeln verschwand.

Kopfschüttelnd zog Nadja sich die Handschuhe über und öffnete die Motorhaube. Sie hatte die Hoffnung, dass sie nur Kühlwasser auffüllen und den Truck eine Weile stehenlassen muss, noch nicht aufgegeben.

Doch ein Blick in den Motorraum verriet nichts Gutes. Sie hatte das Problem viel zu spät erkannt. Und wer weiß, was noch alles dabei kaputtgegangen war. In Bezug auf Autos hatte sie einfach zu wenig Ahnung, aber Jil kannte sich offenbar damit aus.

Beim Gedanken an Jil überkam Nadja plötzlich ein merkwürdiges Gefühl. Wie von Geisterhand bewegt drehte sie sich nach allen Seiten um. Ihr Herz schlug spürbar schneller und hämmerte hart in ihrer Brust. Wurde sie etwa beobachtet? Oder kam Jil vielleicht wieder zurück? Irgendwie musste Nadja ja auch den Truckcamper von der Straße bekommen. Aber nein, da war nichts.

Werd nicht albern, mahnte sie sich zur Ruhe. Trotzdem setzte sie sich nun eilig in den Wagen und versuchte den Motor zu starten. Doch nichts passierte. Resigniert lehnte Nadja sich in den Sitz zurück. Sie schloss für einen Moment die Augen, um sich etwas zu beruhigen. Schließlich raffte sie sich auf, packte ihren Rucksack mit den notwendigsten Sachen zusammen, und dann machte sie sich auf den Weg zu dieser Ranch.

Nadja war sich nicht sicher, ob das wirklich nur zwei Kilometer waren. Ihr kam es deutlich weiter vor.

Ihr fiel auf, dass die Vegetation sich veränderte. Die unfruchtbar wirkende Gegend machte jetzt zunehmend Weideflächen, auf denen Rinder grasten, Sträuchern und Büschen Platz. Und am Horizont erschienen nun auch wieder die ihr inzwischen so vertrauten riesigen Nadelbäume.

Als sie einen weiteren Hügel überquerte, stieß sie auf einen kleinen Fluss, der wahrscheinlich aus den Bergen kam und sich jetzt seitlich des Weges entlangschlängelte. Und endlich kam auch die Ranch zum Vorschein. Nadja sah mehrere Koppeln, auf denen verteilt einige Pferde standen. Schattige Baumoasen grenzten an die Nebengelasse. Wahrscheinlich waren dort auch die Stallungen.

Sie lief die langgezogene Einfahrt entlang. Ein paar Gänse und Enten überquerten schnatternd den Weg, um sich zu einem schön angelegten Teich auf der anderen Seite zu begeben.

Je näher sie dem Wohnhaus kam, umso unruhiger wurde sie. Was wird sie hier erwarten? Würde man ihr helfen können? Aus Erfahrung wusste sie, dass die Kanadier für ihre Gelassenheit und Gastfreundlichkeit bekannt waren. Aber Nadjas Geldreserven ließen zu wünschen übrig. Sie hatte keine Ahnung, wie sie die Reparatur des Trucks bezahlen sollte. Würde es also überhaupt Sinn machen, eine Werkstatt anzurufen?

Vor dem Haus befand sich eine große, überdachte Veranda. Ein paar Steintöpfe mit seltsam anmutenden Pflanzen standen links und rechts neben der Eingangstür. Ein großer Schaukelstuhl war mittig platziert. Eine Holzbank und mehrere Korbsessel boten weitere Sitzgelegenheiten. Am Treppenabsatz lag ausgestreckt und im Halbschatten dösend ein Hund von stattlicher Größe.

Nadja lächelte still vor sich hin. Wie im Film, ging ihr durch den Kopf. Genauso hatte sie sich das immer vorgestellt.

Unschlüssig blieb sie vor dem weiß-schwarzen Vierbeiner stehen, der den Zugang zur Veranda gänzlich versperrte. »Bewachst du das Haus, mein Hübscher?«, sprach sie ihn mit sanfter Stimme an, da das Geschlecht des Tieres ihr noch verborgen blieb.

Sie musste unwillkürlich schmunzeln, als der Hund nur müde und scheinbar vollkommen desinteressiert den Kopf hob. Sie wusste natürlich, dass er sie schon längst bemerkt und jeden ihrer Schritte mit wachem Blick aus seinen dunkelbraunen Augen verfolgt hatte. Mit Hunden kannte sie sich wesentlich besser aus als mit Pferden. Und jetzt, wo sie vor ihm stand und langsam in die Hocke ging, erkannte sie auch, dass es ein Landseer Neufundländer war. Eine schöne Rasse, wie sie fand.

»Der Hübsche ist eine Sie und ihr Name ist Ronja.« Wie aus dem Nichts war die Frau, zu der die Stimme gehörte, aufgetaucht.

Überrascht blickte Nadja hinter sich. Eine kräftig gebaute Frau mit blondgelockten Haaren lächelte sie freundlich an.

Die Hündin sprang auf und lief mit einem freudigen Schwanzwedeln auf ihre Herrin zu, um sich ein paar Streicheleinheiten abzuholen.

»Ronja, wie die Räubertochter?«, fragte Nadja verschmitzt. Plötzlich stutzte sie. Was für ein Zufall! Noch eine Frau, die meine Sprache spricht. Und das an einem Tag! Sie schüttelte verwundert den Kopf. Natürlich, es gab viele deutsche Auswanderer, aber hier in dieser Gegend hätte sie das nicht für möglich gehalten.

Die Blonde lachte herzlich auf eine unbekümmerte Art, und die Lebensfreude stand ihr förmlich ins Gesicht geschrieben. »Na ja, das könnte durchaus zu ihr passen.« Sie wischte sich die Hand an ihrer Reithose ab und kam mit ausgestrecktem Arm auf Nadja zu. »Ich bin Stella. Und mit wem hab ich das Vergnügen?«

Nadja erhob sich und ergriff die dargebotene Hand. »Nadja«, antwortete sie. »Ich komme aus Deutschland, aber das war wohl nicht schwer zu erraten«, fügte sie mit einem Augenzwinkern hinzu.

Stella zuckte schmunzelnd mit den Schultern. »Ich bin gebürtige Kanadierin. Aber fairerweise muss ich sagen, dass ich meine ersten sechs Lebensjahre in der Nähe von Koblenz verbracht habe.«

»Oh, daher das gute Deutsch«, purzelte es interessiert aus Nadja heraus.

Stella lächelte vergnügt. »Ich denke, das habe ich vor allem meinem Vater zu verdanken, der auch in den vielen Jahren in Kanada nicht auf seine geliebte deutsche Muttersprache verzichten wollte. Aber . . .«, sie winkte leichthin ab, »du bist wahrscheinlich nicht hier, um meiner Familiengeschichte auf den Grund zu gehen.«

Nadja nickte bestätigend. Ein Seufzer des Bedauerns glitt über ihre Lippen. Urplötzlich sah sie sich wieder mit ihrer misslichen Lage konfrontiert. Für einen Augenblick hatte sie das Problem mit dem Truckcamper völlig vergessen. »Ich bin mit meinem Wagen liegengeblieben, und ich befürchte, dass es nur mit gutem Zureden nicht getan ist.«

»Ach herrje, du Ärmste.« In Stellas Worten lag aufrichtiges Mitgefühl. »Na, komm erst mal rein. Das werden wir schon irgendwie hinbekommen.« Sie klopfte Nadja aufmunternd auf die Schulter und machte eine einladende Geste.

Nadja lächelte dankbar. Während Stella vorausging, warf sie noch einen fast um Erlaubnis bittenden Blick auf Ronja. Aber die hatte es sich bereits wieder auf der Veranda gemütlich gemacht. Offenbar hatte sie Nadja als Besucherin akzeptiert und schien keinerlei Einwände zu haben.

Nadja beugte sich über sie, strich ihr durch das weiche Fell und kraulte sie hinterm Ohr. »Danke«, flüsterte sie.

Dann folgte sie Stella ins Haus. Sie hörte ein Klappern und ging den Flur entlang, bis sie an eine Tür kam, die zu einer großen Wohnküche führte.

»Möchtest du lieber Tee oder Kaffee?«, fragte Stella. Sie entzündete den Gasherd, stellte den Wasserkessel auf und drehte sich zu Nadja um.

»Kaffee wäre schön . . . Aber bitte, ich möchte keine Umstände machen«, antwortete sie zögernd.

Stella winkte energisch ab. »Ach was, das macht doch keine Umstände. Ich hätte jetzt so oder so Kaffee gekocht. Auf unser geliebtes Heißgetränk verzichten wir nur im äußersten Notfall.« Sie lachte. »Das ist schon wie ein Ritual, jeden Tag zur gleichen Zeit.«

»Rituale sind kleine Auszeiten im Alltag«, sagte Nadja mit einem Lächeln im Gesicht.

Stella schmunzelte nun ebenfalls und nickte zustimmend. Dann setzte sie einen Filter auf eine Porzellankanne und füllte löffelweise das Kaffeepulver hinein. »Ich weiß, das ist ziemlich altmodisch«, meinte sie beinahe entschuldigend, »aber ich finde, nur so kann der Kaffee sein volles Aroma entfalten.«

»Ich würde es eher als urig bezeichnen. Es hat etwas Beruhigendes, und ich mag das Geräusch, wenn das heiße Wasser langsam durch den Filter läuft«, erwiderte Nadja mit bedeutungsvoller Miene.

Stella schaute sie verwundert an. »Das meinst du jetzt nicht ernst, oder?« Lachend wandte sie sich der Anrichte zu und holte drei Kaffeebecher heraus.

Für wen wohl die dritte Tasse ist? fragte sich Nadja, gerade als sie zu einer Antwort ansetzen wollte.

»Natürlich meint sie das ernst. Was denkst du denn, Schwesterchen?«

Nadja fuhr erschrocken herum. Mit weitaufgerissenen Augen starrte sie zur Tür. Sie versuchte etwas zu sagen, aber sie brachte keine Silbe hervor.

»Jil, da bist du ja«, plapperte Stella munter drauflos. Sie schien nicht zu bemerken, dass Nadja wie zur Salzsäule erstarrt war. »Wie du siehst haben wir einen Gast.«

»Hm«, machte Jil nur, während sie Nadja nicht aus den Augen ließ. Sie setzte ihren Cowboyhut ab und warf ihn lässig auf eine Kommode. Mit der Hand wuschelte sie durch ihre braunen Haare.

Von Jils stechendem Blick fühlte Nadja sich völlig außer Gefecht gesetzt. In diesem Moment wünschte sie, ein Loch würde sich im Erdboden auftun, in dem sie versinken könnte.

»Das ist Nadja. Sie ist . . .«

»Ich weiß, wer sie ist«, unterbrach Jil ihre Schwester. Sie grinste vielsagend in Nadjas Richtung. »Wir haben uns bereits kennengelernt.«

»Ach, tatsächlich? Wo denn?«, fragte Stella, der immer noch nicht aufgefallen zu sein schien, dass Nadja stumm wie ein Fisch war.

Jil zog ein Gesicht, als würde sie darüber erst nachdenken müssen. Dann sagte sie: »Quasi um die Ecke. Ihr Truck qualmte aus allen Poren.«

Um die Ecke? So etwas wie Aufbegehren regte sich in Nadja. Doch es gelang ihr nur schwer, sich aus ihrer Starre zu befreien.

»Also hab ich sie hierhergeschickt. Sie möchte nämlich die nächstgelegene Werkstatt anrufen.« Jil verzog spöttisch den Mund, und fast sah es so aus, als würde sie einen erneuten Lachanfall bekommen. Sie schien sich gerade noch so beherrschen zu können.

Stella lächelte verständnisvoll. »Na, da hattest du ja noch Glück im Unglück. Ich meine, dass es erst hier bei uns passiert ist. Diese Gegend ist nämlich ziemlich einsam«, sagte sie an Nadja gewandt.

Nadja räusperte sich. »Ja, ich hatte wirklich Glück«, krächzte sie, immer noch auf der Suche nach ihrer Stimme. Vorsorglich räusperte sie sich noch einmal. »Die drei oder vier Kilometer bis zu eurer Ranch waren wirklich nur ein Katzensprung.« Diesmal schaffte sie es sogar, ironisch zu klingen. Zumindest hoffte sie das.

Der Kaffee war fertig und Stella goss ihn in die Becher. Nadja war nicht entgangen, dass sie Jil einen strafenden Blick zuwarf. Die zuckte jedoch nur mit den Schultern.

Gerade, als Nadja zum Küchentisch gehen wollte, hielt Jil sie auf. »Willst du vorher nicht deinen Rucksack absetzen? Ist vielleicht bequemer.«

Nadja schaute sie fragend an. Dann machte es klick. Oh, verdammter Mist! Ich mache mich hier vollkommen zum Deppen vor dieser Frau. »Ähm, ja, natürlich«, stammelte sie. Sie spürte förmlich, wie die Röte ihr ins Gesicht schoss. Hastig streifte sie ihren Rucksack ab. Dann atmete sie tief durch und versuchte, Jils amüsiertes Grinsen zu ignorieren.

Als Stella ihr mit einem Augenzwinkern einen Platz anbot, nahm sie ihn dankbar an. Schnell setzte sie sich, denn allmählich fühlten sich ihre Beine an wie Pudding. Fahrig rieb sie ihre Hände aneinander. Sie konnte das leichte Zittern nicht verbergen. Wenn sie jetzt noch den Kaffee verschüttete, dann wäre das der Supergau. Was war nur los mit ihr? Wieso ließ sie sich von Jil so aus der Bahn werfen?

Stellas Hand legte sich sanft auf ihren Unterarm. »Keine Sorge. Wir helfen dir, das ist doch selbstverständlich«, sagte sie. »Nicht wahr, Jil?«

Jil hob fragend den Kopf, als hätte sie gar nicht zugehört. Für Stellas auffordernden Blick hatte sie nur ein Augenrollen übrig. »Wenn es denn sein muss«, grummelte sie im gelangweilten Ton. »Du spielst ja gern die Samariterin. Da wird es meine Hilfe wahrscheinlich nicht brauchen.«

Für Nadja war das einfach zu viel. Abrupt stand sie wieder auf. »Tut mir leid. Ich habe eure Gastfreundschaft schon lange genug in Anspruch genommen. Ich komm schon irgendwie klar.« Sie ging bereits auf die Tür zu, und als sie nach ihrem Rucksack griff, brachte sie gerade noch ein heiseres »Danke für den Kaffee« über die Lippen. Das war eigentlich aberwitzig. Hatte sie doch noch nicht einen einzigen Schluck davon getrunken.

Stella und Jil schauten sie gleichermaßen verdutzt an. Während es so schien, als würde Stella sie noch irgendwie aufhalten wollen, zeichnete sich um Jils Mundwinkel lediglich ein süffisantes Lächeln ab.

Eilig drehte Nadja sich von den beiden Frauen weg und verließ überstürzt die Küche. Sie hatte nicht die Kraft für große Erklärungen. Was sollte sie denn auch sagen? Sie benahm sich völlig idiotisch.

Draußen auf der Veranda wäre sie beinahe noch über Ronja gestolpert. Wie angewurzelt blieb sie stehen. Die Hündin war aufgesprungen und schüttelte ihr Fell. Dann schaute sie Nadja aus ihren großen, dunklen Augen an. Es wirkte fast so, als spürte sie, wie innerlich aufgelöst Nadja gerade war. Mit ihrer Schnauze stupste sie gegen Nadjas Hand.

Was mach ich denn hier? Ich bin nicht mehr ich selbst. Nadja blickte traurig auf Ronja hinunter. Hier war die einzige Hilfe, die sie vielleicht auf die nächsten fünfzig Kilometer erwarten konnte. Die Sonne brannte immer noch heiß vom Himmel. Und sie hatte keine Idee, wie es jetzt weitergehen sollte.

Niedergeschlagen hing sie ihren Gedanken nach. Sie merkte nicht, dass sich hinter ihr die Haustür öffnete. Wohl aber Ronja, die sich sogleich an ihr vorbeischob.

»Machst du das immer so?«, hörte sie Jil wie durch einen Schleier fragen.

»Was meinst du?« Es war nicht mehr als ein leises, gequältes Krächzen, das ihre Lippen verließ.

Hinter ihr stieß Jil geräuschvoll die Luft aus. »Wieso stürzt du hier raus, als wärst du auf der Flucht?« Sie schritt an Nadja vorbei und lehnte sich mit dem Rücken lässig gegen das Geländer der Veranda. Ihre Augenbrauen hoben sich fragend. Sie wirkte so unglaublich gelassen, wie sie da mit verschränkten Armen vor ihr stand. Anscheinend geduldig auf eine Antwort wartend.

Zaghaft hob Nadja den Kopf. Doch schließlich sah sie Jil geradewegs in die blauen Augen, die mit etwas Grau gemischt waren. Wieder fühlte sie sich magisch von diesem Blick angezogen. Es war faszinierend und beängstigend zugleich. Blaue Augen, Himmelsstern, küssen und posieren gern. Wo hatte sie das bloß gelesen? Verwirrt schüttelte sie den Kopf.

Sie brauchte ein paar Sekunden, um sich auf Jils Frage zu besinnen. »Ich möchte einfach niemandem zur Last fallen«, begann sie, und ihr kam es so vor, als hörte sie sich etwas hölzern an. »Und es ist nun wirklich offensichtlich, dass du nicht gerade begeistert bist von meiner . . .«, sie schluckte, ". . . Anwesenheit.«

Jils Wangenknochen zuckten kurz, ansonsten blieb sie völlig regungslos. Nadja fragte sich, ob sie zu jenen Menschen gehörte, die nichts aus der Ruhe bringen konnte und denen emotionale Schwankungen fremd waren. Sie vermochte es nicht einzuschätzen. Diese Frau irritierte sie einfach nur, und das vom ersten Moment an.

»Und was hast du jetzt vor?«, fragte Jil plötzlich, ohne auf Nadjas Bemerkung einzugehen. Sie tat so, als hätte Nadja überhaupt nichts gesagt. Also hatte sie es entweder ganz bewusst überhört, oder Nadja hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, und Jil wollte es nur nicht zugeben.

Nadja beschloss, sich darauf einzulassen. Immerhin war Jil ihr hinterhergekommen. Und sie redete mit ihr. Ganz so egal war sie ihr dann vielleicht doch nicht. Bei dem Gedanken daran begann Nadjas Magen nervös zu flattern. »Ich . . . ich weiß nicht so recht«, rang sie nach Worten. Eher unbewusst befeuchtete sie mit der Zunge ihre trockenen Lippen.

Jils Augen weiteten sich. Es sah aus, als ob sich ihr Oberkörper anspannte und sie ihren Rücken etwas kräftiger gegen das Geländer presste. Oder bildete Nadja sich das nur ein?

So standen sie sich eine Weile schweigend gegenüber. Dann, ganz unerwartet, glitt ein angedeutetes Lächeln über Jils schön geschwungene Lippen. Doch es verschwand so schnell, wie es gekommen war.

Trotzdem genügte dieser winzige Augenblick, dass Nadjas Atem sich schon fast besorgniserregend beschleunigte. Verlegen wandte sie ihren Blick von Jil ab. Sie versuchte, sich auf die braunen Holzdielen der Veranda zu konzentrieren und strich mit der Schuhspitze über die feine Maserung.

»Komm«, sagte Jil und riss Nadja jäh aus ihren Gedanken. Sie schwenkte einen Autoschlüssel vor ihrer Nase, der wie ein Pendel eine beruhigende Wirkung erzielte.

»Wohin?«, fragte Nadja verdattert. Sie musste sich erst wieder sortieren.

Jil grinste belustigt. »Wir holen deinen Truck. Er kann schlecht auf der Straße stehenbleiben.« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, marschierte sie auch schon los. Zielstrebig lief sie um das Haus. Sie drehte sich nicht nach Nadja um, die jetzt Mühe hatte, ihr zu folgen.

Was auch immer gerade zwischen ihnen passiert war, im Gegensatz zu Nadja wirkte Jil ganz und gar unbeeindruckt. Doch was sollte denn auch passiert sein? Da war rein gar nichts. Nichts außer der Einbildung, die Nadja offenbar einen Streich gespielt hatte. Sie seufzte unterdrückt.

Als ein schwarzer Pick-up in ihrem Blickfeld auftauchte, begriff sie, dass Jil beabsichtigte, ihren Truck abzuschleppen. Da spürte sie, wie ein Stück der schweren Last von ihren Schultern fiel. Erleichtert atmete sie auf.

»Danke«, sagte sie leise, als sie bei Jil angekommen war, die sich bereits auf den Fahrersitz schwang.

»Na, steig schon ein«, erwiderte Jil lachend. »Ich kann doch nicht riskieren, dass mir meine Schwester den Kopf abreißt.«

Während Nadja noch über die Worte nachdachte, stieß Jil einen lauten Pfiff aus und rief: »Ronja!«

Wie ein Blitz kam die Landseer-Hündin angeschossen. Schon setzte sie zum Sprung an und fand ihren Platz mit einer perfekten Landung auf der Ladefläche.

Im gemäßigten Tempo lenkte Jil den Geländewagen, ein Ford Ranger, auf die schmale Straße. Sie ließ das Autofenster zu ihrer Seite herunter und stützte den Ellenbogen auf den Türrahmen. Der Fahrtwind wehte durch ihre Haare und brachte sie ganz durcheinander. Es verlieh ihr einen wilden Look, was sie in Nadjas Augen noch attraktiver machte.

Verstohlen beobachtete sie Jil, während ihr Blick ein ums andere Mal auf den Kilometerzähler auf dem Armaturenbrett fiel.

Sie sprachen kein Wort, aber das machte Nadja nichts aus. So war sie wenigstens nicht irgendwelchen ironischen oder sarkastischen Attacken ausgesetzt. Sie musste keine Hellseherin sein, um zu merken, dass Jil lieber jetzt als gleich wieder ihre Ruhe haben wollte. Wahrscheinlich half sie Nadja auch nur, weil ihre Schwester darauf bestand. Vorhin hatte sie ja so eine Bemerkung gemacht.

Wie können Geschwister nur so extrem verschieden sein? fragte Nadja sich. Die beiden sahen sich auch nicht sehr ähnlich, und das nicht nur wegen ihrer unterschiedlichen Haarfarbe. Jil hatte ein markantes Gesicht, schmal, mit hohen Wangenknochen und vollen Lippen. Aber trotz dieses vermeintlichen Schönheitsideals waren ihre Gesichtszüge nicht zart oder übermäßig feminin. Vielleicht gefiel sie Nadja gerade deshalb.

Stellas Gesichtsform war rundlicher. Dadurch wirkte alles an ihr sanfter und weiblicher. Nur wenn man genauer hinschaute, entdeckte man gewisse äußerliche Übereinstimmungen, die Form der Nase etwa und ein bisschen auch der Mund. Aber nicht die Augen. Stella hatte wie Nadja braune Augen. Braune Augen sind gefährlich, aber in der Liebe ehrlich! Merk dir das, du ach so unberührbare Jil, schoss es ihr durch den Kopf.

Sie hüstelte. Beinahe hätte sie sich noch an ihrer eigenen Spucke verschluckt. Was waren denn das für unmögliche Gedanken, die da in ihr herumspukten? Unweigerlich musste sie jetzt schmunzeln. Schnell wandte sie ihren Blick von Jil ab und schaute aus dem Seitenfenster.

»Würdest du mir mal verraten, was dich so erheitert?«, fragte Jil ziemlich unwirsch, als ob sie verärgert wäre.

Nadja riss entsetzt den Kopf herum. Ihre Augen trafen aufeinander. Sie hatte das Gefühl, Jil wollte sie mit ihrem strengen Blick durchbohren. Oh Gott! Sie hat es gesehen.

Fieberhaft suchte Nadja nach einer Erklärung. Sie konnte Jil doch nicht den wahren Grund nennen. Auf gar keinen Fall! »Ich . . . ähm . . .« Ihr Blick blieb erneut am Armaturenbrett hängen. Plötzlich kam ihr eine Idee. Das Lächeln kehrte in ihr Gesicht zurück. »Zirka zwei Kilometer bis zur Ranch hattest du gesagt. Oder?«

Einen Moment lang verfinsterte sich Jils Miene noch ein wenig mehr. Automatisch hielt Nadja die Luft an. War wohl keine gute Idee! Angespannt streckte sie ihren Rücken durch und bemühte sich, dem durchdringenden Blick standzuhalten.

Doch dann schaute Jil wieder nach vorn auf die Straße. Und auf einmal – fast hätte Nadja es übersehen – stahl sich ein breites Grinsen in ihr Gesicht. »Ich wollte dich nicht schon von vornherein entmutigen«, meinte sie lapidar. Dabei warf sie einen weiteren kurzen Seitenblick auf Nadja.

Nadja verschränkte gespielt empört die Arme vor der Brust. »Nach dem Motto: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß?«

Jil lachte unterdrückt. »Ja, so was in der Art.« Ihre Finger tippten im Takt der Musik, die leise im Radio dudelte, auf das Lenkrad. »Okay, die Strecke ist doppelt so lang«, sagte sie, als der Truckcamper vor ihnen auftauchte. »Aber so genau konnte ich das auch nicht wissen. Bin ja vorher nicht mit dem Maßband hier langgelaufen.« Wieder hoben sich ihre Mundwinkel, während sie den Pick-up wendete und sich vor den Truck stellte. »Na, dann wollen wir mal«, ließ sie verlauten und sprang aus dem Wagen heraus.

Ungläubig verfolgte Nadja Jil mit den Augen, die ein solch rasantes Tempo an den Tag legte, dass dem kaum nachzukommen war. Bloß keine Zeit vertrödeln. Vor allem nicht mit einem so ungebetenen Gast wie mir, dachte sie bekümmert.

Als sie endlich ausgestiegen war, hatte Jil bereits die Ladeklappe geöffnet und sich das Abschleppseil gegriffen. Ronja war lautlos heruntergesprungen und schnüffelte neugierig um den Truckcamper herum.

»Wird das Seil halten?«, fragte Nadja vorsichtig.

Jil nickte betont lässig. »Bleib ganz entspannt. Das ist ein Spezialseil. In Kanada muss man schließlich immer damit rechnen, dass ein hilfloser Touri mit seinem defekten Wohnmobil hier aufkreuzt.« Sie blinzelte Nadja frech an.

»Ich bin entspannt«, erwiderte Nadja keck. Das war zwar eine glatte Lüge, aber das würde sie Jil ganz bestimmt nicht auf die Nase binden. »Ich wollte nur sichergehen«, schob sie noch eilig hinterher. Jils angriffslustige Zusatzbemerkung überging sie geflissentlich. Sie konnte es sich selbst nicht erklären, aber was das betraf, fühlte sie sich ihr einfach nicht gewachsen.

Jil gab ein glucksendes Geräusch von sich. »Aha!« Mehr sagte sie nicht dazu. Dann wandte sie sich von Nadja ab und machte sich daran, die Karabiner in die Abschleppösen einzuhängen.

Um nicht unnütz herumzustehen, schloss Nadja ihren Truck auf und stieg ein. Sie blickte durch die Frontscheibe und ließ ihren Blick langsam schweifen. Jil stand nach unten gebeugt vor dem Pick-up und hantierte mit dem Seil.

Nadjas optische Reise stoppte abrupt, als ihr Blick wie hypnotisiert an Jils Po klebenblieb. Ein Anblick, der ihr Herz schneller schlagen ließ. So rund, so knackig und so verführerisch. Und durch die enganliegende Jeans noch zusätzlich betont. Himmel! Ihr wurde augenblicklich heiß. Doch als Ronja plötzlich neben ihr an der geöffneten Fahrertür auftauchte und kurz bellte, schrak sie heftig zusammen. Ihr Atem flatterte, während sie wie eine Ertrinkende nach Luft schnappte.

»Alles in Ordnung?«, fragte Jil. In ihren Augen, die eigenartig glitzerten, lag Verwunderung.

Mechanisch nickte Nadja, ohne dass auch nur ein einziges Wort ihre Lippen verließ. Wo kam Jil denn auf einmal her? Sie war doch eben noch vorn am Wagen gewesen. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Jils Hand über ihrem Knie schwebte. Sie wehrte sich gegen das Bedürfnis, ihre Augen zu schließen. Bitte, berühr mich, drängte es sie zu sagen. Aber sie blieb stumm, und Jil zog ihre Hand wieder zurück.

»Du musst die Handbremse lösen, den Gang rausnehmen und die Zündung einschalten«, sagte Jil mit ungewohnt einfühlsamer Stimme. »Kriegst du das hin?«

»Natürlich«, krächzte Nadja heiser. Sie war sich nicht sicher, ob Jil sie wirklich gehört hatte. Aber dann schenkte die ihr ein Lächeln, wie sie es noch nicht bei ihr gesehen hatte. Es war ein liebevolles, fast zärtliches Lächeln. Meine Hormone spielen verrückt. Ich bin verrückt!

Erst jetzt merkte sie, dass sie mit beiden Händen das Lenkrad umklammert hielt. So derb, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.

Jil lächelte immer noch, als sie sich Ronja zuwandte und ihr einen kleinen Stups gab. »Come on«, forderte sie die Hündin auf. Mit dem Kopf wies sie zum Pick-up. Und genauso wie es Shadow getan hatte, gehorchte ihr auch Ronja aufs Wort.

Dann schaute sie ein letztes Mal auf. Es schien, als suchte sie in Nadjas Augen nach irgendeinem Hinweis. Ein Hinweis, der ihr verriet, was in Nadja vorging. Doch Nadja senkte betreten den Blick. Sie konnte Jil jetzt nicht länger in die Augen schauen.

»Also, dann mal los!« Jil schlug von außen die Fahrertür des Trucks zu. Dann ging sie nach vorn.

Kurze Zeit später hörte Nadja, wie der Motor des Geländewagens gestartet wurde. Ein paarmal noch atmete sie tief ein und aus, bis sich ihr Puls wieder halbwegs normalisiert hatte.

Etwa eine Viertelstunde später bogen sie in die Einfahrt zur Ranch ein. Geschickt steuerte Jil ihren Pick-up mit Nadjas Truckcamper im Schlepptau um die Kurve. Sie fuhr direkt auf den Hof, der sich vor den Nebengebäuden erstreckte. Schließlich stoppte sie, und Nadja trat ebenfalls auf die Bremse. Ein leichtes Ruckeln ging durch den Truck.

Jil war inzwischen ausgestiegen und warf einen prüfenden Blick auf sie. Nein, wohl eher auf den deutlich in die Jahre gekommenen Toyota Tundra, in dem Nadja saß. Wahrscheinlich wollte Jil sich nur vergewissern, ob das Fahrzeug an diesem Platz gut aufgehoben war und nicht im Weg stand.

Sie nickte offenbar zufrieden und kam zu Nadja an die Fahrerseite.

Nadja öffnete die Tür, blieb aber noch sitzen. »Ich danke dir wirklich sehr für deine Hilfe«, sagte sie fast im Flüsterton, weil sie fürchtete, ihr könnte die Stimme versagen. »Ich weiß nur überhaupt nicht, wie ich das Geld für die Reparatur auftreiben soll.« Erschöpft strich sie sich übers Gesicht.

»Nun, ich hoffe nur, der Typ, dem du das Vehicle abgekauft hast, hat dich nicht über den Tisch gezogen. Der Truck ist eines der ersten Modelle und uralt. Nur der Camperaufsatz scheint etwas neuer zu sein.« Jils Gesichtsausdruck wirkte jetzt regelrecht besorgt. Sie war plötzlich so verändert, so mitfühlend. Nichts erinnerte mehr an ihre bis vor kurzem noch herablassende Art Nadja gegenüber.

Nadja zuckte unsicher mit den Schultern. »Ich glaub nicht. Ich habe siebentausend Dollar bezahlt. Es schien mir ein guter Preis für das Komplettpaket. Allerdings ist fast mein ganzes Erspartes dabei draufgegangen. Aber ich wollte unabhängig sein, und ich dachte, ich könnte hier und da mal ein bisschen Geld dazuverdienen. In Kanada gibt es doch immer was zu tun, oder?«

»Abgesehen davon, dass man auch hier eine Arbeitserlaubnis braucht . . .« Jil lächelte milde. »Ich werde mir schon was einfallen lassen. Ich kenn da jemanden, der sich dein Schmuckstück zumindest erst mal anschauen kann. Vielleicht ist es ja auch nur halb so schlimm.« Auf ihrer Stirn bildeten sich ein paar Falten.

Für Nadja ein untrügliches Zeichen, dass Jil dies nicht wirklich glaubte. Aber vermutlich wollte sie ihr den einzigen noch verbliebenen Hoffnungsschimmer nicht einfach so nehmen. Das war unglaublich süß von ihr. Am liebsten wäre Nadja ihr um den Hals gefallen. Natürlich tat sie das nicht, denn Jil machte nicht den Eindruck, als wäre sie ein Freund derart überschwänglicher Dankbarkeitsbekundungen.

Als ihre Blicke sich trafen und miteinander verschmolzen, rutschte Nadja unruhig auf dem Fahrersitz umher. Sie war machtlos gegen die Urgewalt der Gefühle, die durch ihren Körper strömten, jedes Mal, wenn Jil sie so ansah. Ihr Bauch rebellierte, und das Kribbeln in ihrem Unterleib verstärkte sich.

Jils Gesicht kam ihrem gefährlich nah. So groß gewachsen wie sie war, begegneten sich ihre Augen auf gleicher Höhe.

Die Sekunden verstrichen. Nadja spürte schon Jils heißen Atem, der wie eine leichte Brise über ihre Wangen strich.

Doch wie aus einer Trance erwacht senkte Jil plötzlich den Blick – ausgerechnet sie. Sie wich einen Schritt zurück. Ihre Mimik war fast ausdruckslos und verriet nicht viel. Aber ihr Gesicht war blass geworden.

»Du solltest jetzt besser ins Haus gehen und deinen Kaffee trinken. Er ist bestimmt schon kalt«, sagte sie mit rauer Stimme. Sie räusperte sich, während ihre Augen rastlos umherschweiften.

»Und du?«, fragte Nadja leise. Hatte sie irgendetwas falsch gemacht? Verunsichert fuhr sie sich mit der Hand durch ihre schwarzen, kinnlangen Haare, die in Wellen ihre Wangen umschmeichelten. Sie klemmte sich die dicken Strähnen hinter die Ohren. Ihr Gesicht glühte wie im Fieber, sodass sie die ungebändigten Haare jetzt einfach nur als störend empfand.

Jil schüttelte abwesend den Kopf. »Ich hab noch zu tun. Die Pferde müssen versorgt werden, und ich muss . . .«, sie winkte ab. »Ist ja auch egal.« Sie drehte sich weg und lief über den breiten Hof in Richtung der Stallungen. »Wir sehen uns später«, rief sie Nadja dann noch zu, ehe sie durch das offene Scheunentor trat.

Als Nadja aus dem Truck stieg und langsam rüber zum Haus ging, fühlte sie sich wie erschlagen. Immer wieder schaute sie sich um, aber Jil ließ sich nicht mehr blicken.

Ronja trabte wie ein Begleitschutz neben ihr her. Innerlich rang Nadja mit sich. Sollte sie zurückgehen zu Jil? Sie könnte ihr ihre Hilfe anbieten. Zwar hatte sie noch nie wirklich mit Pferden zu tun gehabt, aber eine Stallbox auszumisten, frisches Heu in die Futterkrippe zu geben, das konnte doch nicht so schwer sein.

Sie dachte darüber nach, ob es sich hier um Zuchtpferde handelte. Sie schüttelte den Kopf. Du hast wirklich überhaupt keine Ahnung!

Aber etwas regte sich in ihr, und das hatte nichts mit Pferden zu tun. Jils seltsames Verhalten. Was hatte das zu bedeuten? Tief in Gedanken versunken und ohne es richtig zu bemerken war sie inzwischen an der Veranda angekommen. Just in dem Moment trat Stella aus dem Haus.

»Ah, du bist wieder da«, sagte die zu ihr. Ihre Mundwinkel zuckten verschmitzt.

Nadja machte ein bedröppeltes Gesicht. »Ja . . . Ich . . . Es tut mir leid. Mein Benehmen vorhin war unmöglich. Du bist so nett zu mir, und ich . . .« Schwer atmend brach sie ab.

Das Lächeln um Stellas Mundwinkel verstärkte sich. »Ist schon gut. Jil ist bei Fremden manchmal etwas . . .«, sie schien nach dem passenden Wort zu suchen, ». . . unsensibel«, formulierte sie schließlich.

»Das ist eigentlich kein Problem für mich«, nuschelte Nadja undeutlich. Wie sollte sie Jils Schwester erklären, was sie wirklich beschäftigte und derart aus der Fassung brachte? »Ich habe überreagiert. Und dabei bin ich euch für eure Hilfe so dankbar.« Sie presste die Lippen zusammen und starrte vor sich auf den Boden.

Stella kam die Verandastufen herunter und trat aus dem Schatten des überhängenden Daches. Und als sie vor ihr stand, zwinkerte sie ihr tröstend zu.

»Ich werde noch mal frischen Kaffee ansetzen. Ich habe so das Gefühl, den kannst du gerade gut gebrauchen.« Sie lachte und versprühte dabei eine aufheiternde Stimmung, sodass es schließlich auch Nadja ein Lächeln entlockte.

In der geräumigen Wohnküche nahmen sie an dem großen Holztisch Platz. Dort, wo Nadja heute schon einmal gesessen hatte. Aber jetzt war Jil nicht dabei, und dadurch fühlte sie sich deutlich ruhiger.

Zu gern hätte sie Stella gefragt, warum Jil sich Fremden gegenüber so verhielt, so unsensibel, wie Stella es genannt hatte. Aber sie traute sich nicht. Sie kannte die beiden Schwestern doch kaum, dass ihr solch eine private Frage zustehen würde.

Und nur sie allein wusste, dass die wenigen Momente, die sie bislang mit Jil verbracht hatte, sie von jetzt auf gleich in ein verwirrendes Gefühlschaos gestürzt hatten. Etwas war anders. Das spürte sie tief in ihrem Inneren. Es ging längst nicht mehr nur um unsensibles oder ablehnendes Verhalten. Nein, da war mehr. Viel mehr, als Stella es vermutlich erahnen konnte.

Wie war so etwas möglich, innerhalb kürzester Zeit? Sie erkannte sich selbst nicht mehr wieder. Noch nie zuvor war ihr so etwas passiert. Jil übte eine Anziehungskraft auf sie aus, der sie sich nicht erwehren konnte.

Sie musste wieder an die Szene eben auf dem Hof denken. In jenem Augenblick hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als dass Jil sie geküsst hätte. Das war doch völlig verrückt. Und dann Jils Reaktion. Sie konnte sich einfach keinen Reim darauf machen. Und es hatte nur dazu geführt, dass sie jetzt erst recht verunsichert war.

Grübelnd nippte sie an dem Kaffee. Diesmal zitterte wenigstens nicht ihre Hand. Sie spürte, dass Stella sie beobachtete und hob den Kopf.

»Machst du dir immer noch Gedanken wegen vorhin?«, fragte Stella. Sie wartete nicht auf Nadjas Antwort. Ein Blick in deren braune Augen genügte ihr offenbar. »Das brauchst du nicht. Jil kriegt sich auch wieder ein. Glaub mir. Ich kenne meine kleine Schwester schon fünfunddreißig Jahre.« Sie lächelte vergnügt.

Ah, Jil ist also fünfunddreißig. Danke für die Info. Nadja grinste schräg. Die Tatsache, dass Jil größer als Stella war, ließ den Kommentar mit der kleinen Schwester ulkig erscheinen. Aber so sagte man das eben. Nadja überraschte es dennoch, dass Stella diese deutsche Redewendung benutzte, obwohl sie den Großteil ihres Lebens in Kanada aufgewachsen war.

»Wohnt ihr beide allein hier?«, wechselte sie dennoch das Thema. Als sie den Schatten sah, der sich augenblicklich über Stellas sonst so fröhliches Gesicht legte, hätte sie sich für ihre Neugierde ohrfeigen können. »Entschuldige. Das geht mich doch überhaupt nichts an. Ich weiß auch nicht, wieso . . .« Sie seufzte betrübt.

Stella schüttelte leicht den Kopf. »Nein, nein, du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Es ist nur . . .« Sie zog die Stirn kraus. »Ich vergesse manchmal, wie es war, als dieses Haus noch voller Leben und mit Lachen erfüllt war. Doch deine Frage hat mich wieder daran erinnert.«

»Oh je, das wollte ich nicht.« Nadja hielt sich bestürzt die Hand vor den Mund. Sie fühlte sich miserabel. Was hatte sie da nur angerichtet?

Stella griff über den Tisch hinweg und umfasste Nadjas Handgelenk. Langsam zog sie den angewinkelten Arm wieder nach unten. »Es ist alles gut. Mach dir keinen Kopf.« Ihr Lächeln kehrte zurück. »Ich freu mich, dass du hier bist. Wenn auch unfreiwillig. Leider«, seufzte sie. »Aber wir bekommen hier nicht oft Besuch.«

Nadja musste schlucken. Da lag so viel Herzlichkeit in Stellas Worten. Das hatte sie doch gar nicht verdient, so wie sie sich aufgeführt hatte und jetzt auch noch wie ein Elefant durch den Porzellanladen getrampelt war. »Stimmt schon«, murmelte sie. »Ich bin eher zufällig hier gelandet. Ich hatte mich verfahren. Eigentlich wollte ich nach Lillooet. Und dann gab mein Truck den Geist auf. Vielleicht war das ja ein Zeichen. Zum Beispiel, dass ich unbedingt eure Bekanntschaft machen sollte.« Ihr Gesicht verzog sich zu einem schiefen Lächeln. Was rede ich denn hier für einen Unsinn? »Was ich damit sagen will, ich bin trotz meines Schlamassels froh, euch begegnet zu sein«, stammelte sie etwas unbeholfen.

Stella schmunzelte. »Wie lange bleibst du denn noch in Kanada?«, fragte sie augenzwinkernd. »Machst du hier Urlaub, so ganz allein?«

»Ich reise gern allein«, sagte Nadja leise. Gegen eine Frau an meiner Seite hätte ich allerdings nichts einzuwenden. Wenn es denn eine gäbe, dachte sie ein wenig wehmütig. Aber das behielt sie für sich. »Jedenfalls habe ich für meinen Trip durch Kanada vier Monate eingeplant. Die Hälfte ist schon bald rum.«, setzte sie fort. »Aber nun sieht es so aus, dass ich den Camper jetzt schon wieder verkaufen muss, in der Hoffnung, wenigstens noch ein bisschen Geld dafür einzustreichen. Damit könnte ich dann allerdings keine großen Sprünge mehr machen.«

Offenbar darüber nachdenkend wog Stella leicht den Kopf hin und her. Schließlich sagte sie: »Wie wär’s, wenn du erst mal hier bei uns bleibst, bis wir eine bessere Lösung für deinen Truck gefunden haben? Ich weiß, dass Jil sich darum kümmern wird. Und vielleicht musst du ihn dann gar nicht sofort verkaufen.«

»Das ist wirklich ein sehr nettes Angebot. Vielen Dank!« Nadja war von dieser Hilfsbereitschaft so gerührt, dass es ihr fast die Tränen in die Augen trieb. »Ehrlich gesagt wüsste ich jetzt auch gar nicht, was ich machen soll.« Sie nahm einen weiteren Schluck von ihrem Kaffee und strich mit der anderen Hand über die polierte Tischplatte. »Aber ich möchte euch auf keinen Fall auf der Tasche liegen. Für Essen und Trinken werde ich selbstverständlich aufkommen. Und schlafen kann ich in meinem Camper.«

»Was?« Stella hob überrascht die Augenbrauen. »Das kommt doch überhaupt nicht in Frage. Wir haben ein großes Haus und genug Platz. Da werde ich dich doch nicht draußen auf dem Hof campieren lassen. Was wären wir denn für schlechte Gastgeberinnen. Stimmt’s Jil?« Ihr Kopf neigte sich zur Seite und sie blickte an Nadja vorbei zur Tür.

Nadja erstarrte. Sie wagte es nicht, sich umzudrehen. Ihr ganzer Körper stand sofort unter Spannung und hinterließ ein schmerzhaftes Ziehen im Nacken. Unruhig knetete sie ihre Finger, weil sie mit den Händen nicht wusste, wohin.

»Klar. Meinetwegen«, antwortete Jil. Ihre Stimme war ruhig. Und trotzdem klang es unentschlossen, als würde sie sich wünschen, Stella hätte diese Entscheidung nicht von ihr abverlangt.

Einen Moment lang füllte Stille den Raum. Nadjas Herz schlug so heftig, dass sie glaubte, es würde gleich aus ihrer Brust herausspringen.

Ein leichter Luftzug streifte ihre linke Schulter, als Jil an ihr vorbeiging. Sie folgte ihr mit den Augen und ließ sehnsuchtsvoll ihren Blick über die schlanke Statur gleiten.

Jil holte sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. Dann ging sie den gleichen Weg wieder zurück, dicht an ihr vorbei. Doch sie schaute sie nicht an. Sekunden später schloss sich hinter ihr wieder die Tür.

Plötzlich fühlte Nadja eine tiefe Einsamkeit in sich. Die Anspannung fiel von ihr ab. Ihre Schultern sackten zusammen, und sie kämpfte gegen die Enttäuschung an. Sie konnte nichts dagegen tun. Ein paar Stunden nur, und trotzdem hinterließ Jil bereits Spuren bei ihr.

2

Als Nadja erwachte, war es noch früh am Morgen. Behäbig rollte sie sich auf den Rücken, die Augen noch halb geschlossen. Dann hob sie den Kopf und stützte sich auf die Ellenbogen. Ihr schlaftrunkener Blick fiel aus dem Fenster und sie sah, wie die Sonne über den sanft gewellten Hügeln am Horizont emporstieg und die unendliche Weite der Prärie in ein Schattenmeer tauchte. Der Himmel war glutrot.

Sie seufzte. Ihr Blick glitt weiter, und sie schaute sich in dem schwach erhellten Raum um. Sie hatte gut, aber viel zu kurz in dem großen Bett geschlafen, in dem sie sich fast ein wenig verloren vorkam.

Stella hatte ihr gestern ein Zimmer im ersten Stock, am Ende des Flures, fertig gemacht. Es hatte nur wenige Möbel. Ein Bett, ein Schrank, ein kleiner, runder Tisch, auf dem eine Vase mit frischen Blumen stand. Dazu zwei Ledersessel mit Armlehnen, die im Used-Look einen Hauch von Westerncharme versprühten.

Es wirkte wie ein typisches Gästezimmer in einer Pension. Und doch strahlte es eine wohlfühlende Atmosphäre aus, weil es trotz der spärlichen Möblierung liebevoll eingerichtet war. Pastellmalereien an den Wänden mit Landschafts- und Pferdemotiven rundeten das behagliche Bild, das Nadja sich bot, ab.

Sie dachte zurück an den gestrigen Abend. Während sie mit Stella bei einem Glas Wein auf der Veranda saß, sich über alles Mögliche mit ihr unterhalten hatte, hatte sie Jil kaum mehr zu Gesicht bekommen. Zweimal nur, als Jil kurz an ihnen vorbei ins Haus huschte, um irgendetwas zu holen, ehe sie wieder rüber zu den Nebengelassen geeilt war.

Die ganze Zeit über hatte Nadja gehofft, Jil würde sich vielleicht zu ihnen gesellen. Aber was auch immer die zu so später Stunde noch trieb, Stella schien sich darüber nicht zu wundern.

Nach Einbruch der Dunkelheit war sie schließlich müde und erschöpft zu Bett gegangen.