Entscheidung in New York - Ron Wall - E-Book

Entscheidung in New York E-Book

Ron Wall

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Beschreibung

Der deutsche Künstler Michael hat ein einjähriges Kunststipendium in New York erhalten. Während er versucht die Schatten seiner Vergangenheit zu bewältigen und endlich den künstlerischen Durchbruch zu erlangen, gerät er immer tiefer in das ihn umgebende Milieu von Hell's Kitchen, dem New Yorker Stadtteil, in dem er wohnt. In seinem Bemühen die kleine Tochter einer heroinabhängigen Nachbarin vor den Übergriffen krimineller Nachbarn zu schützen, verstrickt er sich in eine schier ausweglose Situation. In einem fulminanten Akt versucht er Vergangenheit und Gegenwart zu bewältigen und sieht sich schließlich alleine einem Drogenkartell gegenüber, das ihn auf die schwarze Liste gesetzt hat. Da ist der korrupte Revierbulle auch keine große Hilfe …

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Seitenzahl: 238

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Ron Wall

Entscheidung in New York

Inhaltsverzeichnis
1. Kapitel: Frühstück bei Agostino
2. Kapitel: Steffi, der Transvestit
3. Kapitel: Joanna mit Überdosis
4. Kapitel: Michael wird Lillys Daddy
5. Kapitel: Die Schatten der Vergangenheit
6. Kapitel: Berlin vor 10 Jahren
7. Kapitel: Vor 20 Jahren im Internat
8. Kapitel: Christine
9. Kapitel: Joachim verliebt sich
10. Kapitel: Atelier in Berlin
11. Kapitel: Die Ausstellung
12. Kapitel: Bei Steffi
13. Kapitel: Die große Frage
14. Kapitel: Der Kampf mit den Kolumbianern
15. Kapitel: Das Drogenkartell
16. Kapitel: Das Ende der kolumbianischen Drogenmafia
17. Kapitel: Joannas Neuanfang
18. Kapitel: Michael und Joanna werden ein Paar
19. Kapitel: Die Hochzeit
20. Kapitel: Die Vergangenheit
21. Kapitel: Enriques Rache
22. Kapitel: Joanna verliert ihr Kind
23. Kapitel: Joanna haut ab
24. Kapitel: Das Crackbordell
25. Kapitel: Joannas zweiter Entzug
26. Kapitel: Rückkehr zur Farm
27. Kapitel: Am Ende der Tage
28. Kapitel: Michael trifft seine Eltern
29. Kapitel: Die Erbschaft

Imprint

Ron Wall (ronwallbooksgmail.com) Entscheidung in New York Cover: Roland Muri published by: epubli GmbH, Berlinwww.epubli.de Copyright: © 2015 Roland Muri Lektorat: Erik Kinting /

1. Kapitel: Frühstück bei Agostino

Es war morgens 3:50 Uhr, als Michael die Tür zu Agostinos Coffeebar an der 26th Street Ecke 2th Avenue in New York aufstieß und in die angenehme Wärme, in der es nach Kaffee roch, eintrat.

Selbst für New Yorker Verhältnisse war es eine außergewöhnlich kalte Septembernacht. Hinter der Tür standen zwei uniformierte Polizisten, die trotz Rauchverbot genüsslich an ihren Zigaretten zogen und dazu Kaffee tranken. Michael und die Cops musterten sich kurz und verloren gleich wieder das Interesse aneinander. Die Polizisten erkannten den großen, blonden, deutschen Künstler, der seit rund sechs Monaten in ihrem Bezirk wohnte. Sie wussten, dass er ein gültiges Visum besaß und weder mit Drogen dealte noch irgendwie kriminell auffiel.

Michael fühlte sich in der Nähe von Polizisten unwohl, auch wenn er nichts ausgefressen hatte. Um möglichst weit entfernt von ihnen sein Frühstück genießen zu können ging er bis ans Ende der Theke und setzte sich auf den letzten Barhocker.

Außer den beiden Cops und ihm waren zu dieser Zeit keine weiteren Kunden im Café. Agostino, ein ungefähr 70-jähriger, kleiner, rundlicher Italo-Amerikaner, kam mit Kaffeekanne und Tasse. "Warmes Käsebrot mit Rührei … wie immer?", fragte Agostino zur Sicherheit, denn der Deutsche aß eigentlich immer dasselbe zum Frühstück. Es war immer Kaffee schwarz ohne Zucker und warmes Käsebrot mit Rühreiern.

Michael bejahte die Frage mit einem kurzen Nicken.

Er spürte in diesem Moment, dass er die letzten 24 Stunden durchgearbeitet hatte. Es war eine angenehme Müdigkeit, denn endlich hatte er das große Gemälde Schatten der Vergangenheit, das 3x6 Meter maß, fertiggestellt. Lange, sehr lange hatte ihn dieses Bild gefordert — herausgefordert; nie war das Resultat zufriedenstellend gewesen, immer und immer wieder mussten Teile umkonzipiert, neu geordnet und übermalt werden. Wie viele Male er es beiseitegestellt hatte, weil er nicht mehr weiterkam, wusste er nicht mehr. Es schien, als würde sich das Gemälde gegen die Fertigstellung wehren. In den letzten 24 Stunden hatte sich dieser Kampf endlich zu seinen Gunsten entschieden. Immer wieder hatte er den Pinsel eingetaucht und die Farbe mit heftigen, schnellen Hieben gleichenden Pinselstrichen, die mehr einem Fechtkampf als einem Malen glichen, auf die hohe und breite Leinwand gezwungen. Seit 20 Minuten war es vollbracht und der Kampf gewonnen. Ich habe es geschafft … endlich, sagte er zu sich selbst und nahm einen Schluck Kaffee.

Er war sich bewusst, dass ihm seit Langem wieder ein wichtiges Gemälde gelungen war. Allmählich entspannten sich seine Muskeln und die angenehme Müdigkeit breitete sich weiter in seinem Körper aus. Noch das Frühstück und ab ins Bett, murmelte er zu sich selber, als ihn eine Stimme aus seinen Gedanken riss:

"Gib mir sofort den verdammten Stoff zurück, gib ihn mir zurück! Schließlich habe ich für das scheiß Heroin meinen Arsch hingehalten und nicht du! Gib mir den verdammten Stoff zurück", wiederholte die Stimme immer lauter schreiend.

Es kam aus dem hinteren Teil der Bar. Dort standen einige Tische im Dunkeln, die Agostino normalerweise nur am Mittag zum Essen aufdeckte. Erst jetzt realisierte Michael, dass die Worte nicht an ihn gerichtet waren: Im Dunkeln waren zwei Personen schemenhaft zu erkennen, die sich stritten. Die Stimme kam ihm bekannt vor, aber woher? Da der Streit immer lauter wurde, versuchte er angestrengt zu erkennen, um wen es sich handelte. Als sich seine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnten, glaubte er Joanna, seine Nachbarin die in der Wohnung direkt unter ihm wohnte, zu erkennen. Dass es sich bei der zweiten Person um einen Mann handelte, konnte er erst sehen, als die Gestalt sich erhob. Als Joanna dem Mann mit beiden Fäusten auf die Brust schlug und hysterisch zu schreien begann, erkannte er auch den Mann: es war Sergeant Jim Mc Cullogh.

Mc Cullogh war sauer auf Joanna, die es wagte ihn tätlich anzugreifen und an ihn Forderungen zu stellen. Er sah sich um: Außer ihm und Joanna befanden sich nur vier andere Personen im Lokal. Zwei Streifenpolizisten, der kleine alte Barbesitzer Agostino und dieser deutsche Künstler, der im Haus auf der anderen Straßenseite direkt über Joannas Wohnung sein Atelier hatte. Die stellten für Mc Cullogh keine Bedrohung dar und damit war der Weg frei dieser Schlampe zu zeigen, wer hier der Boss war.

Jim erhob seine rechte Hand und schlug ihr mitten ins Gesicht: "Du elende, dreckige Straßennutte hast hier überhaupt nichts zu sagen!" Als er erneut auf sie einschlug, stellten die zwei Polizisten ihre Kaffeetassen auf den Tresen und verließen die Bar so schnell sie konnten. Sie kannten Jim Mc Cullogh von der Drogenfahndung und hatten keine Lust sich mit ihm anzulegen. Da war es einfacher ein paar Nachtvögel draußen auf der Straße zur Ordnung zu rufen.

Agostino brachte Michael das herrlich duftende, warme Essen: "Hier, dein Käsebrot mit Ei", sagte er mit seiner gewohnt ruhigen Stimme und schien von der momentanen Situation unbeeindruckt zu sein.

"Danke, Giuseppe", erwiderte Michael und beschloss sich um sein Frühstück zu kümmern. Auf eine nähere Bekanntschaft mit Sergeant Jim Mc Cullogh war er nicht besonders scharf.

Jim war im ganzen Quartier als äußerst aggressiver, korrupter Bulle bekannt; einer, der es mit dem Gesetz nicht immer genau nahm. Michael hatte genug Geschichten über Mc Cullogh gehört um zu wissen, dass man sich in diesen Streit besser nicht einmischte.

Jim schlug Joanna noch zweimal mitten ins Gesicht, bevor er sich etwas beruhigte. "Wir gehen jetzt aufs Damenklo und du wirst mir dort einen blasen … und vielleicht, aber nur vielleicht, wenn der Blowjob gut war, bin ich bereit den Stoff mit dir zu teilen."

Sie war bereits auf Entzug und das Angebot vom Sergeant nahm sie sofort an. Dass es sich bereits um ihren Stoff handelte, für den sie die ganze Nacht angeschafft hatte, war ihr mittlerweile egal. Es ging jetzt darum, möglichst schnell an das Heroin zu kommen.

Die beiden verschwanden auf der Damentoilette. Kurz darauf hörten Agostino und Michael Jim laut stöhnen. Sie sahen sich an und wussten, dass sich Joanna dort drin Mühe gab einen guten Job zu machen.

Nach fünf Minuten war das Stöhnen vorbei und nach weiteren zehn Minuten ging die Tür der Toilette auf. Michael sah, wie Jim und Joanna durch die Tür torkelten. Die zwei hielten sich aneinander fest und kicherten dabei wie zwei Kinder, die gerade etwas ausgefressen hatten. Als sie an ihm vorbei zum Ausgang wankten konnte er erkennen, dass beide zugedröhnt waren.

Joanna und Mc Cullogh nahmen keine Notiz von Michael und Agostino, als sie an ihnen vorbei zum Ausgang gingen. Mc Cullogh öffnete die Tür und winkte sie mit einer kleinen Verbeugung an sich vorbei ins Freie. Sein Dienstwagen stand ungefähr 50 Meter weiter oben, direkt auf der Kreuzung 26th Street Ecke 2th Avenue. sie hakte sich bei ihm ein und begleitete ihn zu seinem Auto. Als sie beim Auto angekommen waren, umarmten sie sich und er küsste sie leidenschaftlich zur Verabschiedung.

Als Jim hinter sich ein leises, amüsiertes Kichern hörte, lies er Joanna los und gab ihr mit einem Klaps auf den Hintern zu verstehen, dass die Zärtlichkeiten beendet waren und sie nach Hause gehen sollte. Mc Cullogh drehte sich um; er wollte sehen, welches weibliche Wesen sie allem Anschein nach amüsiert beobachtet und dabei gekichert hatte. Sein Schmunzeln wich schnell einem angewiderten Gesichtsausdruck.

***

Michael hatte sein Frühstück beendet und wollte nach Hause ins Bett. "Giuseppe, die Rechnung bitte."

Agostino tippte den Betrag in die Kasse ein. "Das macht 5 Dollar und 30 Cents."

Er griff in die äußere Tasche seines Mantels und da war sie, diese Karte. Wegen dieser Karte, die vor zwei Tagen in seinem Briefkasten gelegen hatte, hatte er die letzten 42 Stunden nicht mehr schlafen können. Wegen dieser Karte musste er Schatten der Vergangenheit fertigstellen, denn da, auf dieser Karte waren sie, diese Schatten der Vergangenheit. Er zog die Karte aus der Tasche und las den Text mittlerweile schon zum 20. Mal durch: Einladung zur Vernissage der Ausstellung von Joachim Rau im Chelsea Museum of Contemporary Art in New York. Das Datum der Eröffnung war am Freitag, 29. September, um 18:00 Uhr. Nach kurzem Überlegen realisierte er, dass es bereits Donnerstagmorgen war und somit die Eröffnung schon am nächsten Abend stattfinden würde. Was ihm aber wirklich in die Glieder gefahren war, als er die Karte vor zwei Tagen das erste Mal in seinen Händen gehalten hatte, war die kleine, handgeschriebene Notiz unten rechts: Wir würden uns freuen, dich zu sehen, stand da. Auch wenn es ganz klein geschrieben dastand, diese Schrift war für ihn unverwechselbar und eindeutig wiederzuerkennen. Es war ihre Schrift, Michael glaubte sogar einen leichten Hauch ihres Parfums an der Karte zu riechen. Es war die Schrift von Christine.

Er legte einen Zehndollarschein auf die Theke, verlangte von Agostino zwei Dollar zurück und verließ das Lokal.

2. Kapitel: Steffi, der Transvestit

Steffi erschrak, als Jim Mc Cullogh sich umdrehte und sie sah, wer da mit Joanna geschmust hatte. Sie hätte sich ohrfeigen können, dass sie das Auto nicht gleich erkannt hatte. Sie hätte auch Mc Cullogh schon von hinten erkennen müssen, diesen 45-jährigen, eins achtzig großen, breitschultrigen Glatzkopf. Aber jetzt war es zu spät. Mc Cullogh, der größte Schwulenhasser der ganzen New Yorker Polizei, stand vor ihr und sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.

"Na, wen haben wir denn da? Soll ich Steffi oder lieber Stephen sagen?", fragte Mc Cullogh hämisch grinsend und machte die fünf Schritte, die sie voneinander trennten, auf sie zu. "Haben die Transen für heute schon Feierabend?" Jim begann, um sie herum zu gehen. Genau hinter ihr stehend schlug er seine Faust mit voller Wucht gegen ihre Rippen.

Steffi stöhnte laut auf und fiel vor Schmerz auf die Knie. Ihre Jacke, die sie nur über die Schultern gelegt hatte, fiel dabei zu Boden.

Mc Cullogh ging weiter um sie herum und stand wieder genau vor ihr. Jetzt konnte Jim von oben durch den Ausschnitt der weit geöffneten Bluse ihre großen, straffen Brüste sehen. Dass dieser Anblick ihn erregte, machte ihn noch wütender. Sie schaute mit Tränen in den Augen zu ihm auf. Dieser ängstliche, zerbrechliche Blick und diese vollen, blutrot geschminkten Lippen erregten ihn noch mehr. Jim merkte, dass er einen Ständer bekam. Am liebsten hätte er Steffi den Rock hochgezogen und sie von hinten richtig durchgefickt. Jetzt war er endgültig in Rage. Dass ihn dieser geschminkte Silikontittenschwanzlutscher erregte, das war zu viel für ihn. Schwule waren in seinen Augen arme Schweine, Abschaum, mussten von der Straße weg. In seinem Job gehörte es zur Tagesroutine, diese Perverslinge zu verhaften und einzubuchten. Ein Grund ließ sich immer finden … unsittliches Verhalten in der Öffentlichkeit oder einem Homo etwas Koks in die Tasche schieben, um ihn wegen Drogenmissbrauch oder, noch besser, wegen Handel mit verbotenen Betäubungsmitteln zu verhaften. Am meisten hasste Jim Transvestiten. Diese geschminkten Schwanzweiber hätten seiner Meinung nach alle eine Kugel in den Kopf verdient, besonders die attraktiven, die er am liebsten selber gefickt hätte. Ich bin nicht schwul, nein, ich bin nicht schwul, fuhr es ihm durch den Kopf.

Jim hasste Steffi, seit sie sich das erste Mal getroffen hatten. Schon damals hatte sie ihn auf eine seltsame Weise in ihren Bann gezogen. Es war während einer Razzia gewesen, die das Drogendezernat zusammen mit der Sitte vor zwölf Monaten im Pink Horse durchgeführt hatte. Da hatte sie das erste Mal vor ihm gestanden. Er hatte es damals nicht glauben können, dass eine so schöne Frau in diesem elenden Tuntenladen arbeitete. Für ihn war Steffi zweifellos eine der heißesten Frauen, die er je gesehen hatte. Die langen, schlanken Beine, die schmale Taille, die großen, runden Brüste und dieses zarte Gesicht mit den hohen Wangenknochen, der kleinen Nase, den großen, leuchtenden, grünen Augen und vor allem diesen vollen Lippen! Diese Vollblutfrau konnte, wie er damals dachte, unmöglich eine Tunte sein. Als sie ihm den Ausweis gezeigt und er darin den Namen Stephen und weiter unten bei Geschlecht männlich gelesen hatte, war ihm übel geworden. Schon damals hatte es ihn wütend gemacht, sich in ihr so getäuscht zu haben. Seinen Kollegen war damals nicht entgangen, wie gut ihm Steffi gefiel, und wochenlang machten sie sich deswegen lustig über ihn. Dass Jim noch monatelang an Steffi dachte und sich zwingen musste nicht in diese Transvestitenbar zurückzugehen, um sie nach einem Date zu fragen, vereinfachte ihre jetzige Situation nicht gerade. Und wie sie da weinend vor ihm kniete, konnte er den Frust, den er ihr gegenüber aufgebaut hatte, nicht mehr zurückhalten. Ich sollte ihr noch ein paar Fausthiebe in die Fresse schlagen, fuhr es ihm durch den Kopf. Aber was … Jim spürte auf einmal Steffis Hand zwischen seinen Beinen. Sie hatte gemerkt, dass Mc Cullogh einen Ständer hatte und glaubte, wenn sie ihn befriedigen würde, würde sie danach ohne weitere Schikanen nach Hause gehen können. Das war zu viel für Mc Cullogh — eine Tunte, die im auf offener Straße zwischen die Beine griff, das ging gar nicht. Er zog seinen Dienstrevolver aus dem Halfter …

Michael kam aus dem Lokal heraus und wickelte sich den Schal um den Hals. Beim Zuknöpfen des Mantels fiel ihm Mc Cullogh auf, der eine Frau die vor ihm auf den Knien lag und zweifelsohne nicht Joanna war, malträtierte. Als Mc Cullogh die Waffe zog und Anstalten machte auf die Frau zu schießen, schrie er Jim an.

Mc Cullogh erschrak — mehr über sich selbst als wegen dem Schrei, der aus der Nähe kam. Fast hätte er einen Mord begangen und mit dem Deutschen als Zeugen wäre es selbst für ihn eng geworden. Heroin im Blut und mit der Dienstwaffe eine unbewaffnete Transe auf offener Straße morgens um halb fünf zu erschießen, das wäre auch für ihn das Ende gewesen. Dass ihn diese Transe so weit gebracht hatte, ärgerte ihn so sehr, dass Jim Steffi mit dem Revolver ins Gesicht schlug, bevor er die Waffe ins Halfter zurücksteckte und sich umdrehte, um in sein Auto zu steigen und wegzufahren.

Als Jim losfuhr, erreichte Michael die Frau. Er bückte sich zu ihr hinunter, um ihr auf die Beine zu helfen. Erst jetzt erkannte er Steffi. Auf ihrer Nase war vom Schlag die Haut aufgeplatzt. Das Blut lief über den Nasenrücken, die Nasenflügel und die Wangen und tropfte auf ihre Bluse. Michael griff in seine Hosentasche und zog ein sauberes Taschentuch hervor, um es sanft auf ihre Platzwunde zu drücken. Sie griff danach und während sie es sich selber auf die Wunde hielt, bekam sie weiche Knie und begann zu torkeln. Er packte sie an beiden Armen und zog sie an sich, um sie festzuhalten.

Nach einer Weile, die Steffi wie eine Ewigkeit erschien, kam ihre Sicherheit langsam zurück. Sie begann es zu genießen, in den Armen von Michael zu liegen und lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter und schloss für einen Moment die Augen. Es kam ihr vor, als würde sie Brad Pitt in irgendeinem Hollywoodfilm in den Armen liegen, nachdem er die halbe Unterwelt ausgelöscht hatte, um sie zu retten. Leider war der gut aussehende Deutsche, der ihrer Meinung nach dem Vergleich mit Brad Pitt durchaus standhalten konnte, wie sie aus früheren Begegnungen mit ihm wusste, durch und durch Hetero.

Michael löste die Umarmung langsam und als Steffi wieder sicher zu stehen schien, zog er seine Arme von ihr weg und hob ihre Jacke auf, um sie ihr über die Schultern zu legen. Zusätzlich zog er seinen Mantel aus, um ihn ihr ebenfalls über die Schultern zu legen.

"Ich begleite dich nach Hause", sagte er, während seine Hände zärtlich ihre Wangen streichelten.

Steffi genoss die Aufmerksamkeit und war froh, dass sie von ihm nach Hause begleitet wurde.

Nach 15 Minuten standen sie vor ihrem Haus, welches nur zwei Blocks entfernt war. Sie zog den Mantel aus und gab ihn seinem mittlerweile frierenden Besitzer zurück.

Während er den Mantel anzog, neigte sie sich leicht nach vorne und gab ihm einen Kuss auf den Mund: "Ich stehe in deiner Schuld. Du kannst immer und zu jeder Zeit bei mir klingeln, ich bin immer für dich da. Ich wohne im dritten Stock, Appartement 314."

Während sie sich wegdrehte, um zur Haustür zu gehen, kamen ihr die Tränen. Je besser sie diesen Deutschen kannte, desto mehr verliebte sie sich in ihn, und je mehr sie ihn liebte, desto mehr schmerzte es sie, dass ihre Gefühle nicht erwidert wurden. Während sie durch die Tür ging, drehte sie sich kurz um und winkte ihm mit Tränen in den Augen nach.

3. Kapitel: Joanna mit Überdosis

Als er nach Hause ging, fühlte sich Michael richtig durchgefroren. Nur das Hemd und der Schal auf dem Weg zu Steffis Wohnung waren bei dieser Kälte eindeutig zu wenig Kleidung gewesen. Seine Hände griffen in die Manteltaschen, um sich aufzuwärmen, und da fühlte er wieder diese Karte, die zwei Tage zuvor in seinem Briefkasten gelegen hatte. Freitag, 18:00 Uhr, raste es durch seinen Kopf, das waren noch knapp 37 Stunden.

5:30 Uhr zeigte seine Uhr, als er vor seinem Haus ankam und den Schlüssel ins Schloss der Haustür steckte.

Die Tür ließ sich nur einen Spalt weit öffnen. Allem Anschein nach blockierte sie etwas. Er stieß fester gegen die Tür und konnte ein paar rote Pumps erkennen. Das waren die Schuhe von Joanna. Michael lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür, bis der Spalt groß genug war, um sich durchzuzwängen.

Joanna lag ohnmächtig am Boden und hatte sich erbrochen. Wahrscheinlich hatte sie bei Agostino zu viel Heroin gespritzt oder der Stoff war nicht gut gewesen. Er bückte sich über sie, um sich zu vergewissern, dass sie noch einen Puls hatte. Er war kaum zu spüren, aber regelmäßig, und sie atmete. Michael hob Joanna auf und wollte sie in ihre Wohnung bringen. Es erstaunte ihn, wie leicht dieses kleine Häufchen Frau war. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, sah er sie im hellen Licht der Eingangshalle. Ihr Gesicht konnte man jetzt gut erkennen. Bisher hatten sie sich nur nachts im fahlen Licht des Treppenhauses oder in einer schummrigen Kneipe oder Bar in der Nachbarschaft gesehen. Mit der starken Schminke im Gesicht und den durch jahrelangen Drogenmissbrauch ausgemergelten Wangen sowie den eingefallenen Augenhöhlen sah sie eindeutig älter aus, als sie war. Bisher hatte er ihr Alter so um die 40 geschätzt. Aber jetzt, im hellen Licht der Eingangslampe bemerkte Michael, dass Joanna viel jünger war, als er bisher angenommen hatte. Sie konnte höchstens Mitte bis Ende 20 sein. Er realisierte, dass sie ohne Schminke, ohne Drogen und mit etwas mehr auf den Hüften eigentlich eine bildhübsche junge Frau wäre.

Er trug sie zum Lift. Der war schon wieder kaputt, wie meistens, seit er hier wohnte. Seine bleierne Müdigkeit und Erschöpfung machten ihm beim Treppensteigen zu schaffen. Immerhin waren 44 Stunden seit seinem letzten Schlaf vergangen, und diese Stunden hatten es wirklich in sich gehabt: Zuerst war die Karte gekommen, dann hatte er eines seiner schwierigsten Gemälde fertiggemalt und anschließend war da noch der Ärger mit Mc Cullogh gewesen, Steffi und jetzt noch Joanna. Es war zu viel für seinen Geschmack, viel zu viel. Eigentlich wollte Michael nur noch in seine Wohnung im fünften Stock und schlafen.

Endlich stand er mit der immer noch ohnmächtigen Fixerin in seinen Armen vor deren Wohnungstür im vierten Stock.

"Mist! Mist! Mist, verdammter Mist!", fluchte er.

Erst jetzt war ihm aufgefallen, dass Joannas Handtasche, in welcher sich wahrscheinlich ihre Wohnungsschlüssel befanden fehlte. Die lag vermutlich noch unten im Hausflur. Michael legte Joanna vorsichtig vor ihrer Tür auf den Boden und lief die vier Stockwerke runter und gleich wieder rauf.

Erneut vor dem Appartement mit der Nummer 42 angelangt, schloss er die Tür auf und schleppte sie hinein. Die Wohnung hatte, neben einem für deutsche Verhältnisse winzigen Bad, zwei weitere kleine Räume die aufgeteilt waren in eine Wohnküche und ein Schlafzimmer. Die Schlafzimmertür war zum Glück offen und er konnte die Ohnmächtige zum Bett tragen, ohne sie ein weiteres Mal ablegen zu müssen. Als er mit ihr im Arm vor dem Bett stand, hörte er eine ängstliche Mädchenstimme:

"Mutti, Mutti, bist du es?

Michael antwortete leise: "Ich bin es, Lilly! Mutti ist krank und ich will sie ins Bett bringen."

"Daddy!", rief Lilly, als sie Michaels Stimme erkannte und aus dem Bett sprang.

Er schmunzelte über das Daddy und legte Joanna aufs Bett. Lilly half ihm ihrer Mutter Schuhe und Jacke auszuziehen.

"Hast du eine Schüssel und ein Tuch, um Mutti das Gesicht zu waschen?"

"Ja, haben wir in der Küche. Mutti kotzt in letzter Zeit öfters."

"Erbrechen, Lilly, das heißt erbrechen und nicht kotzen." Michael konnte es nicht ertragen, wenn ein kleines, hübsches achtjähriges Mädchen wie Lilly ordinär redete.

Einige Minuten später hatten sie Joanna mit einem Handtuch und warmem Wasser mehr oder weniger sauber bekommen. Der Versuch, ihr etwas Wasser zu trinken zu geben, scheiterte ebenso wie die Weckversuche. Michael überlegte kurz … er musste unbedingt etwas schlafen, aber in dieser Situation die Wohnung zu verlassen, kam für ihn nicht infrage. So legte er sich angezogen zu Joanna und Lilly ins Bett und schlief sofort ein.

Aus weiter Ferne hörte Michael einen Wecker läuten, der lauter und lauter wurde. Es konnte unmöglich schon 8:00 Uhr sein.

"Daddy, aufstehen, es ist 8:00 Uhr! Ich muss zur Schule," drang Lillys Stimme an sein Ohr. Er öffnete die Augen. Joannas Arm lag immer noch in seiner Hand und ihr Puls war stärker geworden. Er griff an ihre Stirn, um die Temperatur zu fühlen. Alles schien in Ordnung zu sein.

Sie erwachte, drehte sich zu ihm um, öffnete kurz die Augen und murmelte etwas Unverständliches, dann schlief sie gleich wieder ein. Es schien, als wäre sie über den Berg. Als er sich sicher war, dass sie nicht mehr in Lebensgefahr war, ließ er ihr Handgelenk los und drehte sich von ihr weg, um aufzustehen.

Lilly stand bereits fertig angezogen neben dem Bett und wartete darauf, dass er sie zur Schule brachte.

4. Kapitel: Michael wird Lillys Daddy

Vor sechs Monaten, gleich nach seiner Ankunft in New York, lernte Michael Lilly kennen und sie drängte ihn schnell in die Rolle des Ersatzvaters hinein, was ihm am Anfang überhaupt nicht passte. Aber nach kurzer Zeit eroberte dieses kleine blonde Mädchen sein Herz, und er merkte, dass die Verantwortung für Lilly eine gewisse Stabilität in sein eigenes Leben brachte; eine Stabilität, die nach seinem eigenen Entzug auch für ihn wichtig war. Das regelmäßige Aufstehen am Morgen, die Kleine zur Schule bringen, bei Agostinos frühstücken um anschließend im Atelier seiner Arbeit nachzugehen, begann er zu schätzen. Dieser geregelte Tagesablauf hielt ihn davon ab nachts um die Häuser zu ziehen und selber wieder Gefahr zu laufen, zu legalen sowie illegalen Drogen zu greifen.

Am Anfang war es Michael etwas unangenehm, wenn Lilly ihm vor der Schule die Hand reichen wollte und einen Abschiedskuss von ihm verlangte. Ihr war es aber sehr wichtig. Alle anderen Kinder wurden von ihren Eltern in die Schule gebracht und zum Abschied geküsst, nur sie hatte — bevor sie Michael kannte — niemanden gehabt, der sie in die Schule brachte, zum Abschied küsste oder nach der Schule auf sie wartete, um sie in die Arme zu schließen. Jahrelang war sie alleine zur Schule gegangen. Während die anderen Kinder nach Schulschluss ihren Müttern in die Arme gefallen und Händchen haltend nach Hause gegangen waren, hatte sie niemanden gehabt, mit dem sie über das Erlebte, die neusten Neuigkeiten, über ihre Sorgen oder Ängste, hatte reden können.

Dies hatte sich geändert, nachdem Lilly vor sechs Monaten das erste Mal auf Michael getroffen war. Sie saß damals im Treppenhaus und spielte mit ihrem Teddy. Plötzlich stand er mit zwei großen Taschen vor ihr und lächelte sie freundlich an.

"Wie heißt dein Teddy?"

"Einauge. Er heißt Einauge."

Einauge war schlimm zerzaust und voller Löcher. Ein Auge und ein Arm fehlten ihm.

"Hallo Einauge, wie heißt das nette kleine Mädchen hinter dir?"

"Sie heißt Lilly, Prinzessin Lilly."

Michael machte damals eine kleine Verbeugung. "Hallo Prinzessin Lilly, ich bin Michael und wohne ab heute in der Wohnung ganz oben, direkt unter dem Dach." Mit einem Augenzwinkern verabschiedete er sich und ging die Stufen hoch.

Er steckte den Schlüssel, den ihm die Vormieterin Dora — welche er nur vom Mailen her kannte — zugesandt hatte, ins Schloss und die Tür sprang auf. Das Wohnatelier befand sich im Dachgeschoss eines fünfstöckigen Hauses in Chelsea, auch bekannt als Hell's Kitchen, in Manhattan. Es war ein großes, möbliertes Wohnatelier, das aus drei Räumen bestand. Er untersuchte den Kühlschrank und fand zwei Flaschen Bier, eine Flasche Milch, etwas Käse, Butter, Konfitüre und einen selbst gebackenen Kuchen mit einem Zettel darauf: Lieber Michael, ich wünsche dir einen schönen Aufenthalt in New York. Ich habe mein Jahr im Big Apple sehr genossen. In der Kommode liegen frische Laken, Decken und Handtücher. Nimm dich vor den Kolumbianern im vierten Stock in Acht (Drogenmafia). Alles Liebe, Dora . Er fand es damals nett, dass sie ihm etwas im Kühlschrank zurückgelassen hatte, bevor sie zurück nach Deutschland reiste.

Nachdem er etwas gegessen hatte, war es 17:00 Uhr. 24 Stunden zuvor war Michael noch in Berlin gewesen, und jetzt saß er mitten in New York. Obwohl er von der Reise und dem langen Flug müde war, wollte er damals um diese Zeit noch nicht schlafen gehen. Michael verließ die Wohnung wieder und stellte überrascht fest, dass Lilly noch immer im Treppenhaus saß und spielte. Er strich ihr beim Vorübergehen kurz übers Haar und winkte ihr im Weggehen zu.

Der Lärm, der Geruch, die angenehme Frühlingswärme, die ihn umgab, als er auf die Straße trat … Das ist New York, fuhr es ihm durch den Kopf. Jetzt bin ich im Mekka der zeitgenössischen Kunst angekommen! Neugierig begann Michael seine Nachbarschaft auszukundschaften. Beim Spaziergang durch sein neues Quartier fand er schnell heraus, wo der Gemüsehändler, die Bäckerei, Bekleidungsgeschäfte und ein kleiner Supermarkt zu finden waren. Einige Bars, Restaurants und Coffeeshops hatte er auch schon erspäht.

Gegen 22:00 Uhr hatte Michael seine erste New Yorker Erkundungstour beendet und war zufrieden vom Rundgang zurückgegangen. Nachdem er festgestellt hatte, dass der alte Lift wie bereits bei seiner Ankunft am Nachmittag immer noch defekt war, stieg er müde die Treppe empor. Zu seinem Erstaunen saß das kleine Mädchen immer noch dort und schien auf ihn gewartet zu haben.

"Ist deine Mutti nicht da?"

"Nein, sie ist noch nicht zurück."

"Soll ich mich neben dich setzen und mit dir auf sie warten?"

"Oh ja, gerne!"

Michael und Lilly saßen damals rund 15 Minuten auf der Treppe und plauderten, dann hörten sie, wie die Haustür aufging.

Sie vernahmen mehrere spanisch sprechende Männerstimmen. Unten vor dem kaputten Lift fingen die Männer laut an zu fluchen und gleich darauf hörten Michael und Lilly, wie sie missmutig die Treppe emporzusteigen begannen. Da das Treppenhaus um den Liftschacht herumgebaut war, versperrte dieser die Sicht auf die unteren Stockwerke und somit konnte man bis zum letzten Moment nicht sehen, wer die Treppe hochkam. Rechts vom Treppenhaus befand sich ein offener Schacht, der über alle Etagen verlief und wie ein Megafon sämtliche Geräusche, welche im Treppenhaus entstanden, über alle Stockwerke verteilte. Michael und Lilly sahen die Männer erst, als sie auf ihren Treppenabsatz einbogen und direkt vor ihnen standen.

"Holà Gringo, bist du der Neue von oben?"

"Ja", antwortete Michael und stand auf, um den Männern die Hand zu reichen.

"Ich bin Enrique," stellte sich der Erste der drei vor. "Das ist mein Cousin Jesus und der Kleine da ist unser Neffe José."

Michael merkte, dass sie ihn musterten. Die drei wirkten ungepflegt und schmuddelig. Enrique und Jesus schienen in den späten Dreißigern zu sein. José war viel jünger, Mitte 20 vielleicht, und einiges größer als die anderen.