Er liebt sie nicht - Sharon Bolton - E-Book

Er liebt sie nicht E-Book

Sharon Bolton

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Beschreibung

Er ist ein Serienkiller. Er hat vier junge Frauen brutal ermordet. Doch auch nach seiner Verurteilung beteuert er noch immer seine Unschuld. Nun sucht er jemanden, der seinen Fall neu aufrollt. Jemanden, der seine Geschichte erzählt. Damit die Wahrheit ans Licht kommt. Maggie Rose könnte das. Doch die erfolgreiche Rechtsanwältin und True-Crime-Autorin zögert. Sie widersetzt sich seinen Bitten, antwortet nicht auf seine Briefe aus dem Gefängnis. Dabei ist er ein charismatischer und erfolgsverwöhnter Mann, gutaussehend und intelligent. Wie lange wird Maggie ihm noch widerstehen können? Denn insgeheim hat sie längst damit begonnen, seine Geschichte aufzuschreiben …

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Seitenzahl: 577

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Buch

Eigentlich ist die Juristin und Buchautorin Maggie Rose von seiner Schuld überzeugt. Wieso sollte sie also in dem angestrebten Berufungsverfahren seine Verteidigung übernehmen? Hamish Wolfe. Chirurg. Frauenschwarm. Frauenmörder. Doch auch Maggie Rose eilt ein Ruf voraus: Ihre True-Crime-Bücher sind Bestseller, und Wolfe wäre nicht der Erste, dessen Urteil mit ihrer Hilfe aufgehoben werden könnte – sehr zum Ärger der Polizei. Doch obgleich Wolfes Unterstützer sämtliche Register ziehen, bleibt Maggie hart. Insgeheim jedoch beginnt sie, sich näher mit dem skandalbehafteten Fall zu befassen, und stößt auf eine Menge Ungereimtheiten. Und anscheinend setzt jemand alles daran, dass der Prozess nicht neu aufgerollt wird. Läuft der wahre Mörder noch immer frei herum? Schon wittert Maggie den Stoff für ihren nächsten Bestseller und lässt sich auf eine lebensgefährliche Recherche ein …

Weitere Informationen zu Sharon Bolton sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Sharon Bolton

ER LIEBT SIE NICHT

THRILLER

Aus dem Englischenvon Marie-Luise Bezzenberger

MANHATTAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Daisy in Chains« bei Bantam Press, an imprint of Transworld Publishers, London.

Dies ist eine rein fiktive Erzählung. In bestimmten Fällen werden die Namen realer Zeitungen oder Zeitschriften verwendet; die Schlagzeilen, die Namen der Journalisten und die Inhalte der Artikel jedoch sind alle Fiktion. Die Artikel und Journalisten sowie sämtliche anderen Namen, Personen und Ereignisse sind von der Autorin alle frei erfunden, und jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen ist reiner Zufall.

Manhattan Bücher erscheinen im Wilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung September 2016

Copyright © der Originalausgabe 2016 by Sharon Bolton

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, München

Umschlaggestaltung und Konzeption: Buxdesign | München,

Umschlagfoto: © Plainpicture/Reilika Landen

Redaktion: Eva Wagner

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-17498-9V003

www.penguin.de

Für die Ladys vom Blue Socks Book Club,die mich von Anfang an unterstützt haben.

Prolog

HMP Isle of Wight – Parkhurst

Clissold Road

Newport

Meine Liebste,

wenn ich an die Augenblicke denke, die mir die größte Freude bereitet haben: eine unbezwingbare Felswand zu erklettern, früh am Weihnachtsmorgen den Mond über dem Meer zu betrachten, als mein Hund zum ersten Mal Schnee gesehen hat … das alles verblasst neben der Sekunde, als ich Dir in die Augen sah und wusste, dass Du mich liebst.

Du erscheinst an diesem öden Ort wie ein Regenbogen. Deine Farben leuchten, verscheuchen Schatten, lassen die kalten, harten Linien meines Kerkers weicher erscheinen. Deine Gegenwart ändert alles.

Als ich herkam, dachte ich, kein Schicksal könnte grausamer sein. Wie sehr habe ich mich geirrt. Diese Gitterstäbe sind nichts. Fern von Dir zu sein, jeden Moment meines Tages ohne Dich zu durchleben, das ist die Folter, die mich brechen wird.

Ich sehne mich nach Dir.

Hamish

EIGENTUM DER POLIZEI VON AVON AND SOMERSET. AZ 544/45.2 Hamish Wolfe

HMP Isle of Wight – Parkhurst

Clissold Road

Newport

Maggie Rose

c/o Ellipsis Literary Agency

Bute Street

London WC3

Montag, 2. November 2015

Sehr geehrte Miss Rose,

ich bin kein Mörder.

Ich weiß, die Anwältin in Ihnen wird sagen: Beweise! Zeigen Sie mir Beweise! Und glauben Sie mir, das kann ich tun, jede Menge. Fürs Erste jedoch richte ich einen schlichten Appell an die Wahrheitssucherin, die Sie – wie ich genau weiß – sind.

Ich bin unschuldig. Bitte helfen Sie mir.

Ihr

Hamish Wolfe

Anne Louise Moorcroft

Ellipsis Literary Agency

Bute Street

London WC3

Mr Hamish Wolfe

c/o HMP Isle of Wight

18. November 2015

Re: Maggie Rose

Sehr geehrter Mr Wolfe,

meine Klientin bedauert, dass ihre Antwort dieselbe bleiben muss. Ihre gegenwärtigen Projekte werden sie bis auf Weiteres vollkommen in Anspruch nehmen, daher muss sie Ihre Bitte, Sie in Ihrem Rechtsfall zu beraten, abermals ablehnen.

Sie hat mich gebeten, künftige Korrespondenz von Ihnen nicht mehr weiterzuleiten. Es wäre besser, wenn Sie uns nicht noch einmal kontaktieren würden.

Mit freundlichen Grüßen,

Anne Louise Moorcroft

1. Kapitel

An der Küste des Bristolkanals in Somerset, ungefähr gleich weit von Minehead und Weston-super-Mare entfernt, befindet sich ein großes Abflussrohr.

Niemand kann es leiden.

Durch das Rohr, eine geschwärzte Betonröhre von anderthalb Metern Durchmesser, fließt überschüssiges Regenwasser aus dem Ackerland der Mendip Hills ab; hundert Meter vor der Ufermauer mündet es in den Kanal. Bei Flut stöhnt und brüllt das Meerwasser darin, während Steine und Treibholz mit erschreckender Wucht gegen die Betonwände krachen.

Wenn Wanderer, Hundebesitzer oder Fischer an der Einstiegsluke vorbeikommen, beschleunigen sie ihre Schritte. Ein Viereck aus hohen stählernen Gittern hält sie auf Abstand, doch das käfigartige Gebilde fördert lediglich die Illusion, dass sich da etwas Bedrohliches unter der Erde regt. Und niemand schätzt die stinkenden, öligen Tropfen, die bei jeder hohen Welle durch den Lukendeckel aus feinmaschigem Stahlgitter spritzen. Organisches Material wird dort hineingeschwemmt und verfault. Tatsächlich fängt das Abflussrohr alles ein, was am Meer finster und schrecklich ist, und verdichtet es.

Maggie Rose war das Rohr schon immer unheimlich. In ein paar Minuten wird sie Angst haben, dass sie darin umkommt.

Wenn sie den Strand erreicht, nimmt Maggie meistens den Klippenpfad. An diesem Morgen lenkt eine kleine Stoffpuppe sie ab, die einsam und verlassen auf der Ufermauer liegt. Verdutzt bückt sie sich, um sie aufzuheben. An diesen Strand kommen keine Kinder. Es gibt keinen Sand zum Spielen, und auf den großen glatten Kieselsteinen kommt man schwer vorwärts. Maggie hat hier noch nie ein Kind gesehen und würde mitten im Winter auch nicht damit rechnen.

Die Puppe in der Hand, sieht sie sich um, schaut auf das zornige Wasser, blickt zu den Möwen hinauf, die hoch und verschlagen zwischen den immer tiefer hängenden Wolken gleiten. Auf der Wiese hinter ihr sieht sie Schafe, schlaff und unglücklich in ihren bereiften Wollpelzen.

Der Strand ist verwaist. Ein Kind kann sie nicht entdecken. Nur zwei Menschen, denen möglicherweise eins abhandengekommen ist.

Dort, wo das Regenwasserrohr endet, stehen eine dünne Frau mit kurzem hellem Haar und ein Mann in Anglerkleidung bis zu den Knien im Wasser. Anscheinend versucht die Frau, in das Rohr zu kriechen, doch die brechenden Wellen und der Angler halten sie davon ab.

»Was ist passiert?« Maggie weiß nicht genau, ob die zwei sie hören. Der Wind reißt alle Geräusche mit, außer denen, die er selbst macht. Wieder prallt eine Welle gegen das Paar, und der Mann fällt hin.

Das Wasser ist eiskalt, als Maggie hineintritt, und die rollenden Kiesel machen das Waten gefährlich. Durch das graue schlammige Wasser kann sie den Grund nicht sehen. Ein wenig außer Atem erreicht sie die beiden, gerade als der Angler mühsam auf die Beine kommt.

»Ich geh da jetzt rein.« Die Frau ist drauf und dran, in das Abwasserrohr zu steigen. »Mein Sohn überlebt es nicht, wenn ihr was passiert.«

Maggie denkt an die Stoffpuppe, die jetzt in ihrer Manteltasche steckt. Ein Enkelkind? Ein Kind von vielleicht sechs Jahren könnte in dem Rohr aufrecht stehen; es würde nur das Abenteuer sehen, das dieser geheimnisvolle Tunnel bietet, und nicht an die Gefahr durch die auflaufende Flut denken.

»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?« Maggie muss der Frau direkt ins Ohr brüllen.

»Vor einer Minute, vielleicht auch zwei.« Die Stimme der Frau ist vom Schreien fast völlig weg. »Sie ist tiefer da reingelaufen, weg von den Wellen.«

Nun ja, das ist ja wenigstens etwas.

»Von hier aus können Sie da nicht rein«, schreit Maggie. »In einer Viertelstunde ist das Ding voll bis obenhin. Dann ertrinken Sie beide.« Eine Viertelstunde ist vielleicht optimistisch gerechnet. Das Wasser steht bereits hoch, schnappt nach Maggies Oberschenkeln. Der Pegel in der Röhre wird mit jeder neuen Welle steigen, bis es für das kleine Mädchen ganz einfach keinen Ausweg mehr gibt. »Vielleicht können wir sie weiter oben rausholen.« Maggie wendet sich an den Angler. »Können Sie hierbleiben, solange es nicht zu gefährlich ist? Für den Fall, dass sie rausgeschwemmt wird?« Zu der Frau sagt sie: »Kommen Sie mit, ich werde Hilfe brauchen.«

Die beiden Frauen halten sich an den Händen und waten an Land; ihre Kleider sind völlig durchweicht, noch ehe sie den Strand erreichen. Als sie eilig wieder über die Ufermauer steigen, läuft die gut zwanzig Jahre jüngere Maggie voraus. Sie geht jeden Tag hier entlang. Sie hat gesehen, wie Kanalarbeiter von oben in das Rohr hinabgestiegen sind.

»Was ist?« Die Frau holt sie ein, als Maggie das Metallgitter erreicht, das die Einstiegsluke umgibt.

»Schsch!«

Die beiden Frauen lauschen dem Grollen, Saugen und Stöhnen unter ihren Füßen. Irgendetwas ziemlich Großes kracht dort unten umher.

»Das sind Wellen.« Maggie zeigt durch das Gitter. »Wenn die Flut voll aufgelaufen ist, spritzt es da durch den Rost raus. Jetzt noch nicht, also steht das Rohr unter uns noch nicht unter Wasser, zumindest noch nicht die ganze Zeit. Helfen Sie mir mal da rauf.«

Auf der anderen Seite legt sie sich auf den Bauch und hält das Gesicht über die Luke. »Hallo! Kannst du mich hören? Komm hierher!«

»Daisy«, sagt die Frau; ihre Stimme klingt gepresst und heiser. »Sie heißt Daisy.«

»Daisy!«, brüllt Maggie noch einmal und zerrt an dem Lukendeckel. »Wenn du mich hören kannst, komm hierher!« Wieder reißt sie an dem Deckel, doch der rührt sich nicht.

»Hilft das hier?« Der Angler ist inzwischen angekommen und streckt die Hand durch das Gitter. »Das ist ein Leatherman-Tool. Versuchen Sie’s mal mit einem von den Schraubenschlüsseln.«

Während die Großmutter vor sich hin wimmert, greift Maggie nach dem Allzweckwerkzeug und findet einen Schraubenschlüssel in der richtigen Größe. »Halt durch, Daisy, wir kommen.«

Sie dreht das Schloss und spürt, wie es nachgibt.

»Na los, Mädchen«, drängt der Angler. »Du schaffst es!«

Der Bügel des Schlosses löst sich. Der Deckel scheppert auf den Betonboden, und Maggie starrt in die Finsternis dort unten. Ehe sie es sich anders überlegen kann, schwingt sie die Beine herum und springt. Dann hockt sie in dem Tunnel und kann nichts sehen, nichts hören, außer dem Tosen des immer näher kommenden Wassers. Tief gebückt und die Hände an die Seitenwände gestützt, beginnt sie, sich vorwärtszutasten, und ruft aufmunternd nach dem Kind.

»Daisy! Hab keine Angst. Komm einfach zu mir.«

Nach noch nicht einmal einem Dutzend Schritte bedeckt Wasser ihre Knöchel, flutet mit jeder Welle höher. Die Großmutter und der Angler rufen noch immer nach dem Kind, und das ist auch gut so, denn Maggie möchte hier unten den Mund nicht noch einmal aufmachen, wenn es nicht unbedingt sein muss. Ein weiteres Dutzend Schritte. Das Wasser reicht ihr fast bis zu den Knien. Allmählich tut ihr der Rücken weh, und ihre Oberschenkelmuskeln halten diese gekrümmte Haltung nicht mehr lange aus.

»Daisy?«

Eine große Welle prallt gegen sie, trifft sie voll ins Gesicht. Das Kind ist tot. Es ist hoffnungslos. Gerade macht Maggie kehrt, als eine weitere Welle sie trifft und sie aus dem Gleichgewicht bringt. Sie fällt auf die Knie und hört ein kratzendes Geräusch hinter sich. Dann ein erstickter Klagelaut und schweres Atmen. Ein schlotternder Körper drängt sich gegen sie. Sie dreht sich um und sieht verängstigte Augen, die ihr entgegenstarren, hört ein verzweifeltes, dankbares Aufkläffen.

Daisy ist ein Hund.

Ihre eigene Blödheit kann sie später verfluchen. Maggie bekommt das Halsband des Hundes gerade noch zu fassen, als eine neuerliche Welle versucht, das Tier ins Meer hinauszuziehen. Als das Wasser zurückweicht, nutzt der Hund den Halt, den Maggies Körper bietet, und klettert über sie hinweg. Er saust auf die Luke zu.

Wieder eine Welle, eine größere. Einen Augenblick lang ist Maggie völlig unter Wasser, spürt, wie sie über den Betonboden des Rohrs rutscht. In der glatten runden Röhre gibt es nichts zum Festhalten. Noch eine Welle; sie rutscht wieder zurück. Die Wellen lassen ihr keine Zeit, um sich zu fangen, bevor die nächste zuschlägt. Sie wird immer tiefer in den Tunnel hineingezogen.

Ein paar Meter entfernt bellt Daisy, die nicht aus dem Rohr hinausspringen kann, wie wild. Die Frau und der Angler brüllen immer noch. Fast zu durchgefroren, um sich zu rühren, kaum in der Lage, wieder zu Atem zu kommen, kriecht Maggie vorwärts.

Sie wird bei dem Versuch, einen Hund zu retten, draufgehen. Wie ungeheuer lächerlich.

Dann ist der Hund auf ihrem Rücken; seine spitzen Krallen bohren sich durch ihren Mantel, als er sie als Sprungbrett benutzt. Krallen kratzen an Stein, und der Hund ist oben.

Maggie stemmt die Füße ab, hält sich am Rand der Luke fest und springt ab.

Wieder sicher auf festem Boden, sinkt sie neben der erschöpften Daisy zusammen.

»Oh, braves Mädchen, kluges Mädchen, gut gemacht!«

Ohne recht zu wissen, ob das Lob ihr gilt oder dem Geschöpf, das sie gerade gerettet hat, streicht Maggie mit der Hand über die Flanke des nassen zitternden Tieres. Große braune Augen starren aus einem hübschen Hundegesicht zu ihr empor. Der schlanke glatte Körper ist mit schwarzen Flecken übersät. Daisy ist ein Dalmatiner.

»Hey, Süße.« Maggie schiebt den Hund zur Seite und macht den Lukendeckel wieder zu, gerade als eine Welle – eine, die sie beide hätte umbringen können – die Röhre heraufgefegt kommt. Sie hört ein metallisches Klirren am Gitter und weiß instinktiv, was es ist. Rasches Nachschauen in ihren Taschen bestätigt es. Sie hat ihren Autoschlüssel im Tunnel verloren.

»Ich heiße Sandra«, sagt die Frau, während sie den Motor anlässt und dem Angler zum Abschied zuwinkt. »Gleich sind Sie zu Hause.«

»Danke.« Maggie sieht zu, wie ihr eigenes Auto im Seitenspiegel immer kleiner wird. Sie wird mit dem Fahrrad zurückkommen müssen, um es zu holen. Oder sie muss sich ein Taxi rufen.

»Ich glaube, hinten liegt noch eine Decke.«

Maggie hat bereits eine Decke um den Schultern, und die Heizung ist voll aufgedreht, doch sie kann nicht aufhören zu zittern. »Sind Sie sicher, dass Sie in Ihr Haus reinkommen? Sonst nehme ich Sie nämlich mit zu mir und lasse Ihnen ein Bad ein. Ich heiße übrigens Sandra.«

»Ich habe einen Schlüssel im Garten versteckt.« Maggie würde die drei Kilometer lieber schweigend zurücklegen.

»Ich kann meinen Mann anrufen und ihm sagen, er soll die Heizung aufdrehen und Ihnen heiße Schokolade machen. Meine Sachen wären Ihnen wahrscheinlich viel zu groß, aber sie wären warm und trocken.«

»Vielen Dank, aber ich habe die Heizung angelassen.«

»Haben Sie auch Hunde?« Sandra ist keine attraktive Frau. Ihr Gesicht ist zu schmal, die Lippen fast nicht vorhanden, der Unterkiefer zu kräftig. Wahrscheinlich ist ihr fast ebenso kalt wie Maggie; ihre Haut ist fleckig, die Nasenspitze rot. Auch sie muss schleunigst nach Hause.

»Wenn ich einen Hund hätte, hätte ich ihn doch dabei, meinen Sie nicht?« Maggie dreht sich nach dem Dalmatiner um, der auf dem Rücksitz tief und fest schläft. Die Stoffpuppe, die der Hund beschnüffelt und sich geschnappt hat, noch ehe die beiden wieder über das Gitter gekrabbelt waren, schaut gerade eben noch unter seinem Kopf hervor. »Ich bin froh, dass Daisy okay ist.«

Sandra fährt an den Straßenrand, um ein anderes Auto vorbeizulassen. »Ich bin heute hergekommen, um mit Ihnen zu reden«, sagt sie. »Ich wollte nicht zu Ihnen nach Hause kommen; ich wollte mich nicht aufdrängen, also dachte ich, ich warte am Strand auf Sie. Und dann ist Daisy weggerannt, kurz bevor Sie gekommen sind. Das Ganze wäre beinahe fürchterlich schiefgegangen.«

Maggie schaut starr geradeaus. »Die Straße ist frei.«

»Ich bin heute Vormittag bei Ihnen vorbeigefahren«, sagt Sandra, noch ehe sie auch nur den Gang eingelegt hat. »Und gestern Vormittag auch. Ich hab Ihren Wagen aus der Auffahrt fahren sehen. Ich habe mir gedacht, dass Sie hierher wollen. Und dass Sie bei Flut herkommen.«

Um darauf zu kommen, muss die Frau sie länger als zwei Tage beobachtet haben; wahrscheinlich ist sie ihr schon einmal zum Strand gefolgt.

»Worüber wollten Sie denn mit mir reden?« Sie sind fast an der Hauptstraße. Von hier aus kann sie nötigenfalls zu Fuß gehen.

»Ich habe alle Ihre Bücher gelesen.« Sandra atmet schwer, als sei sie im Geschwindschritt zu Fuß unterwegs und fahre nicht im Auto eine schmale Landstraße entlang. »Irgendjemand hat mir vor einem halben Jahr drei davon geschickt. Jemand, der es gut mit mir meint, ich habe nie rausgefunden, wer’s war. Die anderen vier habe ich mir gekauft.«

»Vielen Dank.« Von hier aus sind es fünf bis zehn Minuten bis nach Hause. Länger, wenn sie gezwungen ist, zu Fuß zu gehen.

»Ich fand sie gut. Ist gut das richtige Wort? Ich weiß nicht genau. Ich fand sie interessant. Sie argumentieren gut. Und sie waren gut zu lesen. Nicht zu viel fachlicher Kram. Und Sie übertreiben’s nicht mit Blut und Gewalt.«

»Meistens lesen die Leute Krimis gerade wegen der willkürlichen Gewalt«, bemerkt Maggie.

»Arbeiten Sie gerade an einem neuen Buch?«

»Immer.«

»Sie dürfen wohl nicht sagen, wovon es handelt? Ich meine, von wem es handelt?«

»Ich darf tun und lassen, was ich will. Aber ich spreche nicht über unvollendete Projekte.«

»Sie fragen sich bestimmt, warum ich mich darüber auslasse.«

»Ehrlich gesagt, frage ich mich, woher Sie wissen, wo ich wohne.«

Sandra nimmt vor einer Kurve Gas weg. Als es wieder geradeaus geht, blickt sie kurz zu Maggie hinüber. »Ich bin Sandra Wolfe.«

Einen Augenblick lang starren die beiden Frauen einander an. »Hamishs Mutter«, fügt Sandra unnötigerweise hinzu.

»Das ist Hamishs Hund.« Maggie sieht sich nach dem reglosen Tier um. »Natürlich. Ich erinnere mich an ein Foto von den beiden. Das wurde während des Prozesses oft verwendet.«

»Seine Verteidiger fanden, es wäre das sympathischste. Hamish und sein geliebter Hund. Nicht dass es irgendwas geholfen hätte.«

»Und sie heißt Daisy?«

»Mein Sohn hat Ihnen geschrieben. Viermal. Ich weiß, dass Sie die Briefe gekriegt haben. Er hat mir Ihre Antworten gezeigt.«

»Woher haben Sie meine Adresse?«

Sandras Kinn ist störrisch vorgereckt, die Haltung eines Menschen, der weiß, dass er im Unrecht ist, aber nicht zurückstecken wird. »Jemand hat sie für mich rausgefunden. Ich habe versprochen, dass ich nicht sage, wer. Machen Sie sich bitte keine Sorgen; ich würde nicht im Traum daran denken, mich in Ihre Privatsphäre zu drängen. Deswegen habe ich ja am Strand auf Sie gewartet, um mit Ihnen zu reden.«

»Man könnte anmerken, dass das hier aufdringlicher ist. Zu Hause könnte ich die Tür zumachen. Jetzt kann ich nur warten, bis Sie mich nach Hause fahren.«

Sie haben die Hauptstraße erreicht. Sandra zieht die Handbremse an.

»Miss Rose, mein Sohn ist unschuldig. Er ist kein Mörder. Ich kenne ihn.«

Maggie schlingt die Arme fest um den Oberkörper. Die Kälte schmerzt allmählich. »Ich bin sicher, dass Sie das glauben, aber denken Sie, irgendeine Mutter eines verurteilten Serienmörders sagt etwas anderes? Hier ist um diese Tageszeit normalerweise viel Verkehr. Sie müssen sich vorsehen.«

Direkt vor einem gelben Auto fahren sie auf die Straße hinaus.

»Er war an dem Abend, als Zoe Sykes umgebracht worden ist, mit mir essen.« Sandra achtet nicht auf das zornige Hupen. »Wir waren essen, ich habe ihn nach Hause gefahren. Er hätte sie nicht umbringen können, daraus folgt also doch, dass er die anderen auch nicht umgebracht hat, nicht wahr? Alle vier Frauen sind von demselben Täter umgebracht worden. Wenn Hamish also eine von ihnen nicht getötet hat, kann er doch auch die anderen nicht umgebracht haben.«

Sie sind am Ortseingang. Keine fünf Minuten mehr bis zu Maggies Haus. »Ich fürchte, ich weiß nur sehr wenig über den Fall.«

»Die Polizei hat mir nicht geglaubt. Die dachten, ich lüge. Die vom Restaurant konnten auch nicht helfen. Es gab keine Überwachungsaufnahmen. Das Personal konnte sich nicht mehr erinnern, aber ich weiß, dass er mit mir zusammen war. Er hat die Sykes nicht umgebracht.«

»Und trotzdem haben die Geschworenen das geglaubt.«

»Waren Sie schon mal in einem Gefängnis, Miss Rose?«

»Ja, sehr oft.«

»Dann wissen Sie ja, wie das ist. Anständige Menschen, Menschen wie Hamish, die können im Gefängnis nicht überleben. Dieser Gestank und die Gewalt und der ständige Krach. Er hat nicht einen Moment der Stille erlebt, seit er verurteilt worden ist.«

»Dann ist das Beste, was Sie tun können, dafür zu sorgen, dass er genug Ohrenstöpsel hat.«

Sandra zuckt zurück. »Gestern hat es auf seinem Flur eine Schlägerei gegeben. Die ganze Zeit sind sie hinter ihm her. Er fürchtet jeden Tag um sein Leben.«

»Warum ich?«

»Bitte?«

»Warum ist es Ihrem Sohn so wichtig, dass ich seinen Fall übernehme? Hier bitte rechts, in die High Street.«

»Ich bin ja nicht die Einzige. Es gibt eine Menge Leute, die auf Hamishs Seite sind. Leute, die von dem Fall gelesen haben. Die wissen, dass es ein Justizirrtum war. Miss Rose, ich wünschte, Sie würden sie kennenlernen. Die haben eine Website. Die können Sie googeln.«

»Mrs Wolfe.«

»Sandra, bitte.«

»Wie ich Ihrem Sohn schon persönlich geschrieben habe, bin ich bis auf Weiteres voll ausgelastet. Ich habe einfach keine Zeit. Gleich vor dem Pub da rechts. Danke fürs Herfahren.«

»Ich kann Sie auch zurückfahren, damit Sie Ihren Wagen holen können. Wenn Sie sich umgezogen haben.«

»Ich nehme mir ein Taxi. Und wenn Sie meine Direktheit jetzt bitte entschuldigen wollen, ich rechne nicht damit, Sie noch einmal am Strand auf mich warten zu sehen.«

»Warten Sie!«

Maggie ist schon halb aus dem Auto. Sie dreht den Kopf und sieht, dass Sandra ihr etwas hinhält. Eine kleine viereckige Pappschachtel. »Er hat mich gebeten, Ihnen die hier zu geben. Die macht er selbst.«

Maggie setzt zu einem Kopfschütteln an. Auf dem Rücksitz öffnet Daisy die Augen.

»Bitte, Maggie, was kann es denn schaden?«

Maggie nimmt die gelbe Schachtel mit der weißen Schleife, schließt die Autotür und geht die Auffahrt hinauf. Erst als sie um die Ecke gebogen ist und man sie nicht mehr sehen kann, öffnet sie die Schachtel.

Darin ist eine Blume aus Papier. Die Blütenblätter sind weiß, der Stängel und die Blätter leuchtend smaragdgrün. Sie ist wunderschön, vollkommen.

Ein rechtmäßig verurteilter Mörder hat ihr eine Rose geschickt.

2. Kapitel

The Times online, Montag, 8. September 2014

KONTROVERSE VOR GERICHT BEI ERÖFFNUNG DES WOLFE-PROZESSES

Hamish Wolfe hat sich heute am ersten Tag des Verfahrens gegen ihn im Old Bailey geweigert, auf schuldig oder unschuldig zu plädieren. Nach englischem Recht wird er als Angeklagter nunmehr so behandelt, als hätte er auf unschuldig plädiert.

Wolfe, im dunkelgrauen Anzug, weißem Hemd und blauer Krawatte, schien dem Verfahren aufmerksam zu folgen. Als er jedoch aufgefordert wurde, sich zu äußern, blieb er stumm, obgleich der vorsitzende Richter, Mr Peters, ihn bei drei verschiedenen Gelegenheiten darauf hinwies, dass dies nicht in seinem besten Interesse sei.

Bis zu seiner Verhaftung war Wolfe ein führender Krebsmediziner, einer der angesehensten jungen Ärzte im Südwesten Englands, von dem man annahm, dass er es in seinem Beruf weit bringen würde. Er war Sportler, spielte Rugby und Hockey und war ein erfahrener und geschickter Sport- und Höhlenkletterer. Zudem hatte er einen Pilotenschein. Wolfe, der allgemein als sehr gutaussehender Mann gilt, schien mit einer liebevollen Familie und einem großen Freundeskreis gesegnet zu sein. Vor Kurzem hatte er seine Verlobung mit dem prominenten Model Claire Cole bekannt gegeben. Heute sieht er sich mit einer Anklage wegen Entführung und vierfachen Mordes konfrontiert. Im Falle einer Verurteilung wird er wahrscheinlich den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen.

Das Verschwinden von vier jungen Frauen zwischen Juni 2012 und November 2013 löste eine der umfangreichsten Ermittlungen aus, die die Polizei von Avon und Somerset jemals durchgeführt hat, doch es war ein glücklicher Zufall für Detective Constable Peter Weston, der zu Wolfes Verhaftung im Dezember 2013 führte.

Es ist selten, dass sich jemand weigert zu plädieren; normalerweise jedoch deutet dies darauf hin, dass der Angeklagte die Autorität des Gerichts nicht anerkennen will. Interessanterweise wurden drei verschiedene psychiatrische Gutachten, die von der Staatsanwaltschaft in Auftrag gegeben worden waren, unvollständig eingereicht, was Anlass zu Spekulationen gab, dass Wolfe möglicherweise nicht verhandlungsfähig sei. Der Detective, der ihn verhaftet hatte, widersprach dem jedoch energisch. »Absoluter Blödsinn«, sagte Peter Weston, inzwischen zum Detective Sergeant befördert. »Wolfe versteht sehr gut, was los ist, und er ist durchaus in der Lage, ein Schuld- oder Unschuldsbekenntnis abzugeben. Er spielt Spielchen mit uns. So macht er das immer.«

Der Prozess gegen Hamish Wolfe wird morgen fortgesetzt.

(Maggie Rose, AZ 004/TT8914 Hamish Wolfe)

3. Kapitel

»Ich muss jetzt wirklich Schluss machen. Warum besprichst du das nicht mit Tim?«

»Das kommt verdammt noch mal überhaupt nicht –«

Die Leitung ist tot. Detective Sergeant Peter Weston beginnt zu zählen. Eins, zwei, drei … nein, er schafft es nicht bis zu den zweistelligen Zahlen. Diesmal nicht.

Sein Blick huscht zum Beifahrersitz hinüber, wo eine goldene Armbanduhr liegt wie weggeworfener Müll. Er nimmt sie zur Hand, staunt darüber, wie Gold seine Wärme behalten kann, sogar an einem Tag wie diesem, und betrachtet sie einen Moment lang.

Na ja, ihm wird das Ding nie passen.

Noch immer kochend vor Wut steigt er aus und öffnet den Kofferraum, bemerkt die winzigen Eissplitter kaum, die auf jeden Quadratzentimeter entblößter Haut einstechen. Der Radschlüssel ist kalt, auf eine Art und Weise, wie Gold niemals kalt ist. Er lässt die Uhr auf den Gehsteig fallen und schlägt einmal mit dem Radschlüssel zu.

Dann hebt er drei Bruchstücke auf, wobei er sich nicht die Mühe macht, sämtliche Splitter des Ziffernblatts aufzulesen, und lässt sie in eine Beweismitteltüte aus dem Handschuhfach fallen. Seine Hände werden allmählich steif vor Kälte, aber er holt sein Handy heraus.

Hab deine Uhr gefunden, tippt er. Hatte sich wohl in der Schiene vom Vordersitz verklemmt. Lässt sich vielleicht reparieren. Ich geb sie Tim.

Nachdem die häuslichen Angelegenheiten somit geregelt sind, kann er ja weiterarbeiten.

Er drückt die eiserne Pforte auf und knirscht durch eine Allee aus froststarren Lorbeerbüschen den Weg hinauf. Der Garten ist lang und schmal. Hohe Bäume wachsen hinter dem Pfarrhaus aus frühgeorgianischer Zeit, wölben sich darum herum, behüten es wie wachsame Eltern. Zu beiden Seiten der Haustür sind große Fenster. Weston hat das Gefühl, als könne er die eleganten, geräumigen Zimmer dahinter beschreiben, ohne sie zu sehen, mit ihren hohen Stuckdecken und den getünchten Wänden.

Es gibt weder eine Klingel noch einen Klopfer an der rot lackierten Tür, nur eine altmodische Messingglocke. Pete stößt sie an, und ein tiefes, sattes Läuten ertönt. Er wartet dreißig Sekunden, vielleicht auch eine Minute, bis er hört, wie eine Sicherheitskette gelöst und ein Schloss aufgeschlossen wird.

Warme Luft haucht aus dem Haus, als die Tür aufgeht. Eine Frau steht direkt vor ihm; die erhöhte Türschwelle bringt ihr Gesicht auf eine Höhe mit seinem.

»Miss Rose? Maggie Rose?«

Pete verspürt jenen vorübergehenden Kontrollverlust des Überraschtseins. Jeder Bulle im ganzen Land hat schon von Maggie Rose gehört: Strafverteidigerin, Verfasserin von True-Crime-Romanen und eine kollektive Heimsuchung für die Polizei, aber nur wenige sind ihr je begegnet. Sie gibt keine Interviews, hat nie ein Foto von sich veröffentlicht.

Wahrscheinlich ist sie noch auf der richtigen Seite der vierzig und so schlank, dass sie zerbrechlich wirkt, sogar in dem viel zu großen weißen Wollpullover, der ihr fast bis zu den Oberschenkeln reicht. Zarte Züge in einem scharf geschnittenen, sehr blassen Gesicht. Ihre Augen sind blau. Ihr Haar auch.

»Was kann ich für Sie tun, Detective?«

Nicht einfach nur blau gespült wie das einer vornehmen älteren Dame. Nicht nur so halbherzige blaue Strähnen, wie man sie manchmal beim Glastonbury Festival in der Menge sieht. Das hier ist ein leuchtendes Türkisblau, das von einem Mittelscheitel aufspringt und sich sanft bis knapp unters Kinn wellt.

Er hat keine Ahnung, woher sie weiß, dass er von der Polizei ist.

»Detective Sergeant Peter Weston.« Er hält seinen Dienstausweis hoch. »Ich habe auf ein paar Minuten Ihrer Zeit gehofft.«

»Kommen Sie kurz rein.«

Er folgt ihr einen blassgrünen Flur hinunter, vorbei an Holztüren, die fest geschlossen sind. Die Küche ist groß und in Creme- und Blassgoldschattierungen gehalten.

Während er sich umgesehen hat – er ist Polizist, er kann nicht anders –, hat Rose mit hochgezogenen Beinen in einem Sessel dicht neben dem Herd Platz genommen. Ihre Hausschuhe sind riesige Pelzstiefel. Blau wie ihr Haar.

»Setzen Sie sich ruhig.«

Verstohlen wirft er einen Blick auf den Laptop auf dem Küchentisch, als er den Stuhl hervorzieht, doch der Bildschirmschoner ist hochgefahren und zeigt ständig wechselnde Szenen arktischen Ödlands: gewaltige Schneewehen, Eisformationen, blaues Eis.

»Darf ich mich kurz vergewissern, dass Sie Maggie Rose sind?«

»Die bin ich. Wird das hier lange dauern? Und erfordert es die Höflichkeit, dass ich Ihnen Kaffee anbiete?«

»Das ist Ihre Entscheidung, Miss Rose. Ich bin hier, weil ich gehört habe, dass Sie gestern Besuch von Sandra Wolfe hatten.«

Sie nickt beim Sprechen mit dem Kopf. »Sie ist zuerst hierhergekommen, soweit ich es verstanden habe, hat aber nicht geläutet. Wie sie selbst zugegeben hat, ist sie mir zum Strand gefolgt. Dort hat sie mit mir gesprochen.«

Maggie Rose hat so eine bedächtige Art zu reden, jedes Wort sorgfältig abzuwägen, als spreche sie vor Publikum.

»Darf ich fragen, um was es bei diesem Gespräch ging?«

»Ich nehme an, das können Sie sich denken.«

»Tun Sie mir den Gefallen.«

»Sie möchte, dass ich den Fall ihres Sohnes übernehme, um ihr geliebtes Kind – an dessen Unschuld sie übrigens aufrichtig glaubt – aus dem Gefängnis zu holen.«

»Und was haben Sie gesagt?«

Rose blinzelt. Ihre Wimpern sind dunkel, doch er kann keine klebrigen Mascarakrümel sehen. »Darf ich Sie zuerst etwas fragen?«, erkundigt sie sich.

»Schießen Sie los.«

»Woher wissen Sie, dass wir uns begegnet sind?«

»Wir überwachen die Website, die sie und ein paar von ihren Freunden unterhalten. Es gibt da einen öffentlich zugänglichen Chatroom. Sie – ich rede jetzt von Sandra Wolfe – hat einem anderen Mitglied der Gruppe erzählt, dass sie Sie getroffen hat.«

»Dann wissen Sie wahrscheinlich bereits, was ich ihr geantwortet habe.«

Da hat sie ihn erwischt. »Sie wird es wieder versuchen«, sagt er. »Sandra Wolfe ist kein Mensch, der schnell aufgibt. Nächstes Mal macht sie sich vielleicht nicht die Mühe, am Strand auf Sie zu warten, da klopft sie vielleicht direkt bei Ihnen an. Vielleicht bringt sie ja auch ein paar von ihren Freunden mit. Sie trauert, Miss Rose, sie glaubt, ihrem Sohn sei etwas angehängt worden. Und solche Frauen sind nicht immer psychisch stabil.«

Rose rutscht tiefer in den Sessel, zieht die Fersen ans Gesäß. »Dann sind Sie also aus Sorge um mich hier?«

»Ich bin hier, weil diese Leute – die ich, ehrlich gesagt, am liebsten als Spinner und Sonderlinge bezeichnen würde, aber das ist ein bisschen voreingenommen und nicht gerade politisch korrekt, also nenne ich sie einfach mal irregeleitete Individuen – von mir aus tun können, was sie wollen, aber ich möchte nicht, dass sie ganz normale Leute belästigen oder ihnen sogar Angst machen.«

Sie weicht seinem Blick nicht aus. »Ich hatte keine Angst.«

»Nein, das habe ich auch nicht erwartet.«

»Und Sie lügen mir etwas vor.«

Er fährt übertrieben zusammen. »Wie bitte?«

»Sie sind nicht hier, weil Sie sich Sorgen machen. Sie sind hier, weil Sie nicht wollen, dass ich Hamish Wolfe als Mandanten annehme. Sie wollen nicht, dass ich all die alten Details ausgrabe, Ihre Fehler aufdecke, Sie verantwortlich mache. Hamish Wolfe einzubuchten war der größte Erfolg Ihrer Karriere – das waren doch Sie, oder? Ich erinnere mich an Ihren Namen in den Zeitungen –, und Sie können den Gedanken nicht ertragen, dass dieses Urteil aufgehoben wird.«

Pete spürt, wie sein Herz anfängt zu rasen. »Wir haben keine Fehler gemacht. Hamish Wolfe ist schuldig.«

»Jeder macht mal Fehler. Sogar Hamish Wolfe. Deswegen haben Sie ihn ja geschnappt. Und wenn Sie mich fragen, ich bin ganz Ihrer Meinung. Ich habe nicht vor, seinen Fall zu übernehmen.«

Wieder ändert sie ihre Haltung, stellt die Füße auf den Boden. »Aber lassen Sie mich eins klarstellen, Sergeant«, fügt sie hinzu. »Sollte ich beschließen, es doch zu tun, dann wird mich kein noch so starker Druck Ihrerseits davon abhalten.«

Er steht auf, bevor sie Gelegenheit hat, sich zu erheben. »Hätten Sie was dagegen, wenn ich mal Ihre Toilette benutze? Kalter Tag und zu viel Kaffee, fürchte ich.«

Mit einem Kopfnicken deutet sie auf die Tür hinter ihm. »Durch die kommen Sie in den hinteren Flur. Die Tür direkt gegenüber ist die Toilette.«

»Danke.« Er verlässt den Raum und ist sich darüber im Klaren, dass ihr Blick ihm folgt. Rechts von ihm ist die Hintertür des Hauses, durch die Verglasung kann er eine Doppelgarage sehen. Die Toilette im Erdgeschoss ist ein kleiner Raum, schlicht und funktional. Links von ihm ist noch eine Tür.

Aus der Küche, die er gerade verlassen hat, sind Stimmen zu hören, gedämpft, aber unverkennbar.

Als er wieder in die Küche kommt, beugt sich Maggie Rose gerade über den Tisch und starrt auf den Laptop. Sie ist allein. Rasch schließt sie die Anwendung auf dem Bildschirm, doch er hat seinen Namen darauf gesehen.

»Danke«, sagt er. »Ich habe dann wohl genug von Ihrer Zeit in Anspruch genommen.«

Sie antwortet nicht, setzt sich aber wieder in ihren Sessel; diesmal zieht sie die Beine unter ihren Pullover. Es hat etwas sehr Kindliches an sich, wie sie dasitzt. Wären die winzigen Falten in ihrem Gesicht nicht, könnte sie sogar aussehen wie ein Kind.

Er macht einen Schritt auf die Tür zu. »Es tut mir leid, dass Sandra Wolfe Sie angesprochen hat. Es tut mir leid, dass Wolfe Sie mit Briefen belästigt hat. Das haben wir auch auf der Website gefunden. Ich wollte, ich könnte Ihnen anbieten, wegen der Unannehmlichkeiten, die Ihnen das bestimmt beschert hat, etwas zu unternehmen, aber ich fürchte, das kann ich nicht. Diese Leute dürfen innerhalb der gesetzlichen Vorgaben tun, was sie wollen.«

»Mit Gesetzen kenne ich mich ziemlich gut aus, vielen Dank.«

»Was ich aber tun kann, ist, Ihnen einen Rat geben. Und ich rate Ihnen, sich nicht mit Sandra Wolfe abzugeben, oder mit dem Wolfe-Rudel, oder wie immer sich dieser Idiotenhaufen diese Woche gerade nennt. Und ganz sicher rate ich Ihnen, sich nicht mit Hamish Wolfe einzulassen – niemals.«

»Wenn Sie mir einen Rat geben, Sergeant, warum habe ich dann das Gefühl, dass mir gedroht wird?«

Sie hat sich nicht gerührt; sie hockt noch immer zusammengerollt wie eine Katze in dem großen Sessel. Er kann sich nicht vorstellen, dass irgendjemand weniger bedroht aussehen könnte.

Aus einer plötzlichen Laune heraus tritt Pete ans Fenster. Der Garten ist riesig, und die wenigen Farben, die durch den Reif hindurch zu sehen sind, sind stumpf und gedämpft. Der Rasen, der sich von der Hintertür aus erstreckt, ist weiß wie Kreide, und die hohen Backsteinmauern, die Reihe großer alter Bäume, die dichten Büsche scheinen sich verschworen zu haben, das Sonnenlicht fernzuhalten.

»Wohnen Sie hier ganz allein, Miss Rose?«

Etwas bewegt sich in der Spiegelung der Fensterscheibe, als Maggie Rose sich hinter ihm erhebt. Ihr sonderbares Haar und ihr blasses Gesicht tauchen hinter seiner Schulter auf.

»Dieses Gefühl, bedroht zu werden, ist immer noch nicht weg.«

»Entschuldigen Sie. Das war wirklich nicht meine Absicht.« Er dreht sich zu ihr um. »Bevor ihr Sohn verhaftet worden ist, war Sandra Wolfe wahrscheinlich eine nette bürgerliche Lady aus Somerset, die halbtags gearbeitet, Freunde zum Abendessen eingeladen und Samstagabend im Golfclub gegessen hat. Aber wir wissen doch alle, wozu Tiermütter fähig sind, wenn ihre Jungen bedroht werden.«

»Auf mich hat sie einfach nur sehr unglücklich gewirkt, aber ich werd’s mir merken.«

Sie dreht sich um, und ihm bleibt nicht viel anderes übrig, als ihr aus der Küche zu folgen. Im Flur schaut er sich nach Anzeichen dafür um, dass noch jemand im Haus ist, doch die Türen sind immer noch alle geschlossen.

»Bei dieser Aktionsgruppe ist das was ganz anderes«, meint er. »Meiner Ansicht nach war keiner von denen jemals normal. Ein paar haben entweder kleinere Vorstrafen oder hatten bekanntermaßen psychische Probleme. Die meisten sind arbeitslos oder geringfügig beschäftigt. Es gibt nur sehr wenig in ihrem Leben, also suchen sie sich etwas, wofür sie sich starkmachen können, um diese Leere zu füllen. Und nachdem sie etwas gefunden haben, sind sie mit großer Überzeugung dabei. Einzeln sind die vielleicht gar kein besonders großes Problem, aber sie stacheln sich gegenseitig an und schaukeln sich gegenseitig hoch.«

An der Haustür dreht sie sich zu ihm um. »Das Konzept ist mir bekannt. So was nennt man Gruppendynamik.«

»Na ja, also, genau das ist hier am Werk. Ich würde Ihnen also raten, Ihre persönlichen Sicherheitsmaßnahmen noch mal zu überdenken. Sorgen Sie dafür, dass die Schlösser gut in Schuss sind, schaffen Sie sich eine Außenbeleuchtung an, wenn Sie noch keine haben, und legen Sie die Kette vor. Diese Leute wissen, wo Sie wohnen.«

Etwas in ihrem Gesicht wird weicher, so dass er schon glaubt, dass sie vielleicht im Begriff ist zu lächeln. »Ich werd’s mir merken.«

Er nutzt die Gelegenheit, rasch die Treppe hinaufzuschauen. Niemand oben auf dem Absatz.

»Bitte tun Sie das«, erwidert er. »Aber lassen Sie sich vor allem nicht in Versuchung führen, sich mit Hamish Wolfe abzugeben. Ich habe diesem Mann in die Augen gesehen, und glauben Sie mir, da ist nichts Menschliches. Mr Wolfe ist kein Mensch, Miss Rose. Er ist ein Monster.«

Sie lächelt. Diesmal richtig. Ihr Mund ist breiter, als ihm klar war, ihre blassen Lippen voller. Sie hat ebenmäßige, kleine weiße Zähne. »Ich hab gehört, er kommt bei Frauen gut an.«

»Das ist oft so. Deswegen schaffen die es ja auch, so viele umzubringen.«

»Wissen Sie was, das interessiert mich wirklich. Nicht die Tatsache, dass die Frauen vor seiner Festnahme auf ihn geflogen sind. Er sieht ja gut aus, daran ist nichts Bemerkenswertes. Was mich fasziniert, ist die Masse von Frauen, die ihm, nach allem, was man so hört, ins Gefängnis schreiben. Was glauben Sie, warum tun die das?«

»Alle berüchtigten Mörder haben ihre Fanclubs«, antwortet er.

»Faszinierend.« Sie lächelt noch immer, als sie die Hand nach der Türklinke ausstreckt. »Das würde eigentlich ein sehr interessantes Buch abgeben. Wenn ich Zeit dafür hätte, was nicht der Fall ist.«

»Ich fürchte, Wolfe hätte kein Interesse an Ihnen«, bemerkt Pete.

Sie tauschen im Türrahmen die Plätze, und ganz kurz kann er den merkwürdigen Chemiegeruch ihres Haars riechen.

»Warum?«

Er musterte sie demonstrativ von oben bis unten. »Für den sind Sie ungefähr fünfundzwanzig Kilo zu leicht. Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«

Die Haustür schließt sich, noch ehe er drei Schritte den Weg hinunter ist. Er schaut sich nicht um, hält nicht inne, obwohl sein Handy anfängt zu klingeln, als er die Gartenpforte erreicht. Er steigt in seinen Wagen, sperrt die Kälte aus und schaut auf das Display. Eine von seinen Detective Constables, Liz Nuttall, vierunddreißig Jahre alt. Er drückt auf die grüne Taste. »Schießen Sie los, Nutty.«

»Dann haben Sie’s also geschafft?«, sagt sie. »Wie ist es gelaufen?«

»Sie ist nicht das, was ich erwartet habe, das ist mal sicher. Scheint in Sachen Wolfe ziemlich cool. Hat kein echtes Interesse daran, sich weiter mit Sandra Wolfe abzugeben.«

»Kann es sein, dass sie nur so tut? Übrigens, Latimer hat nach Ihnen gefragt. Ich hab ihm gesagt, Sie sind bei einem Meeting in der County Hall, wegen des Drogen-Präventionsprogramms an den Schulen.«

»Super.« DCI Latimer, ihr gemeinsamer Vorgesetzter, wird keinen Bericht von einem Meeting in der County Hall erwarten. Er macht kein Geheimnis daraus, dass Bürokratie ihn langweilt.

»Hören Sie, Nuts, tun Sie mir einen Gefallen, ja? Überprüfen Sie doch mal das Alte Pfarrhaus.« Er schaut rasch zu dem großen alten Haus hinüber, das er gerade verlassen hat. »Wählerlisten, Strom- und Wasserrechnungen, Sie wissen schon. Rose hat mit jemandem gesprochen, während ich da war, hat aber ziemlich gründlich dafür gesorgt, dass ich den oder die Betreffende nicht zu Gesicht bekomme. Als ob ich auf keinen Fall wissen sollte, dass sie nicht allein war.«

»Ich finde nichts«, verkündet Liz wenige Augenblicke später. »Es ist nichts davon bekannt, dass sie einen Lebensgefährten hat oder einen Untermieter.«

Pete betrachtet noch immer das Haus. Die Fenster sind dunkel und leer. »Aber da drin ist noch jemand, da bin ich mir sicher.«

4. Kapitel

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WIE FETT ZU EINER FRAGE VON LEBEN UND TOD WURDE

Gepostet am 5. Oktober 2014 von Beth Tweedy, nach eigenen Angaben »überdurchschnittlich kräftig«

Zoe Sykes, Jessie Tout, Chloe Wood und Myrtle Reid wurden umgebracht, weil sie dick waren. Das ist eine Tatsache.

Zoe, Jessie, Chloe und Myrtle wurden aufgrund ihrer Konfektionsgröße ausgewählt und dann ermordet. Wir wissen noch immer nicht genau, wie, aber ihr könnt euer Leben darauf verwetten, dass es nicht schön war. Ihre Leichen wurden an finsteren, feuchten, unterirdischen Orten entsorgt, wo sie eigentlich nie hätten entdeckt werden sollen. Zoes Leichnam ist noch immer nicht gefunden worden. Und das ist diesen Frauen zugestoßen, weil wir zu einer Gesellschaft geworden sind, in der Übergewicht die letzte verbliebene Bastion der Vorurteile ist. Weil Dicksein inzwischen dermaßen verabscheut wird, können wir es tolerieren, wenn es ausgelöscht wird.

Die Feindseligkeit denen gegenüber, die nicht unserem Körperideal entsprechen, hat im Laufe der letzten Jahrzehnte zugenommen. Oh, ich weiß, Mädchen mit Schuluniformen in Übergröße sind auf der Straße schon immer verspottet worden. Dicke, vor allem dicke Frauen, sind schon lange eine beliebte Zielscheibe für Komödianten. In den letzten Jahren jedoch hat dieser »Fettismus« eine sehr viel düsterere Wendung genommen.

Wir erleben, dass übergewichtige Frauen in Pubs und auf der Straße tätlich angegriffen werden, und zwar von Menschen beiderlei Geschlechts. Tracey Keith, 140 kg, war nach einer verbalen und physischen Attacke, die sie eines Abends im Juni im Zug nach Hause erlebte, völlig verstört und trug schwere Prellungen davon. Ihr Vergehen? Zu viel Platz auf der Sitzbank einzunehmen. Viele Frauen erzählen ähnliche Geschichten. Dicken Frauen wird der Zutritt zu Nachtclubs verwehrt, in Arztpraxen werden sie schlecht behandelt, weil ihre Beschwerden natürlich in direktem Zusammenhang mit ihrer Figur stehen und damit selbst verschuldet sein müssen. Dicke bekommen keine Jobs, sie bekommen keine Vorstellungstermine, oft kriegen sie nicht einmal ein Taxi, als könnte ihr übermäßiges Körpergewicht der Sitzfederung den Rest geben.

Und all dies wird von der Obrigkeit stillschweigend gebilligt.

Heutzutage ist es okay, wenn einflussreiche Fieslinge wie dieser widerwärtige Ron Carter, der für den Spectator schreibt, sich über die »grauenvoll fetten Weiber und ihre Schwabbelbälger« in der Supermarktschlange auslassen und Witze darüber reißen, dass er die alle ins Hunger-Erziehungscamp schicken würde. Wenn gebildete, intelligente Meinungsmacher so reden, welche Hoffnung besteht dann für die quasselnde Twitter-Unterschicht?

Als Nation sind wir stolz darauf, vielfältig zu sein. Und doch gibt es so gut wie null Toleranz Dicken gegenüber. Frauen mit meiner oder einer noch größeren Konfektionsgröße können sich nicht auf der Straße zeigen, ohne verbal oder physisch behelligt zu werden. Die normalen Regeln in Sachen Benehmen, Respekt und allgemeiner Höflichkeit gelten für uns nicht.

Und jetzt scheint auch das Fundamentalste der Zehn Gebote nicht mehr für uns zu gelten. Hamish Wolfe hat geschworen, Leben, wo immer möglich, zu erhalten, doch er hat sich von dem, was er als Belastung des öffentlichen Gesundheitssystems ansah, so in Rage bringen lassen, dass er die Sache selbst in die Hand genommen hat. Selbst die, die sein Handeln nach außen hin verurteilen, sind insgeheim erleichtert, dass er niemand Wertvollen umgebracht hat. Er hat dicke, unattraktive Frauen getötet, na, das ist doch nicht so schlimm. Vielleicht hat er uns ja allen einen großen Gefallen getan, indem er die künftige finanzielle Belastung des Gesundheitssystems reduziert hat. Ihr denkt, ich übertreibe? Sucht mal in den sozialen Medien unter Hamish + Dicke und schaut, was ihr findet.

Durch sein Handeln hat Wolfe die Kränkung und Misshandlung übergewichtiger Menschen legitimiert. Er hat uns um Jahrzehnte zurückgeworfen.

Hamish Wolfe wird das Gefängnis nicht lebendig verlassen. Doch die Bedrohung für Frauen geht ständig auf der Straße um.

KOMMENTARE

SuziePearShape schreibt:

Ich bin dicker als die Durchschnittsfrauen, aber vollkommen gesund, und heute bin ich bis jetzt Dickerchen, Elefantenweibchen und fette Kuh genannt worden. Und dabei ist erst früher Nachmittag. Ich habe aufgehört mitzuzählen, wie oft ich schon von Wildfremden auf der Straße geschubst, gestoßen oder angepöbelt worden bin bloß wegen meines Aussehens. In der Schlange im Supermarkt gucken andere in meinen Korb und machen blöde Sprüche. Einmal hat mich ein Mann gefragt, ob ich das alles allein aufzuessen gedenke. Ich hab drei Kinder, vielen Dank auch, du Sackgesicht. Du hast recht, Beth, dickere Frauen sind einfach nicht so wichtig.

MellSouth schreibt:

Eine finstere Seite des Dicken-Bashings ist es zu glauben, dicke Frauen wären leicht zu haben. Dass sie, weil sie aussehen, wie sie nun mal aussehen, mit jedem schlafen, dass sie dankbar für Aufmerksamkeit sind. Sie dürfen nicht wählerisch sein, sie müssen nehmen, was sie kriegen können (und tun das oft auch). Eine füllige Frau in einer Bar zu begrapschen, ihr an den Busen oder an den Hintern zu fassen wird von allen als witzig empfunden. Dann heißt es entweder, sie hat es von vornherein darauf angelegt, oder sie sollte dankbar sein, dass überhaupt irgendjemand sie anfassen will. Dicke Frauen werden vom Gesetz schlichtweg nicht so gut geschützt wie ihre dünneren Schwestern.

GazboGoon schreibt:

Fette Weiber wie ihr kotzen mich an. Hör doch einfach auf, so viel zu fressen, dann verschwinden deine Probleme, du dämliches Dreckstück.

Jezzer schreibt:

Schon mal ne fette Tussi gevögelt? Denk mal ans Furzen, dann weißte Bescheid. LOL.

»Lies bloß nie die Kommentare.«

»Du hast recht.« Maggie schließt das Bildschirmfenster.

»Glaubst du, die Leute kaufen denen diese Idee ab, dass die Morde eine Vendetta gegen dicke Frauen sind?«

»Nein. Das meiste in den überregionalen Zeitungen war sehr viel vernünftiger.«

»Wo?«

Maggie klickt durch ihre markierten Artikel. »Das hier zum Beispiel. Im Telegraph.«

The Telegraph online,Mittwoch, 15. Oktober 2014

ES GING NICHT UMS DICKSEIN

Entsetzt über die Hysterie im Umfeld des Urteils gegen Hamish Wolfe im letzten Monat, behauptet Sally Kelsey, dass die Figur der Opfer weitgehend irrelevant war.

Seit Hamish Wolfe seine Haftstrafe angetreten hat, ist kaum ein Tag vergangen, ohne dass ein Artikel unsere Angewohnheit des »Dicken-Bashings« in Grund und Boden verdammt. »Gerechtigkeit auch für dicke Frauen«, tönte die Titelzeile eines bekannten Bloggers letzte Woche, als wäre Wolfe nicht zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt und damit praktisch für den Rest seines Lebens weggesperrt worden. Ich wüsste nicht, wie die Justiz noch heftiger zuschlagen könnte.

Die Polizei ist dafür kritisiert worden, dass sie ihn nicht schnell genug gefasst habe, und sie habe, als Zoe Sykes im Juni 2012 verschwand, nicht begriffen, dass ein Dickenmörder am Werk war. Ganz egal, dass Zoe noch immer nicht gefunden worden ist, dass sie, nachdem sie zuletzt gesehen worden war, tage-, wochen-, ja sogar monatelang lediglich als vermisst geführt wurde, die Polizei hätte schon damals wissen müssen, dass etwas im Busch war. Sie hätte übergewichtige Frauen warnen sollen.

Den Medien wurde vorgeworfen, dass sie den Serienmörder nicht ernst genug nähmen, weil er »doch bloß Dicke umbringt«. Man hat uns beschuldigt, das Verhalten des »Packs« in den sozialen Medien stillschweigend zu billigen, jener Typen, die Facebook- und Twitter-Accounts der Opfer trollen und gehässige Kommentare posten, von wegen, sie hätten bekommen, was sie verdient haben.

Diese Kommentatoren, sowohl in den offiziellen als auch in den inoffiziellen Foren, haben wirklich nicht verstanden, worum es eigentlich geht.

Hamish Wolfe hat keinen Ein-Mann-Feldzug gegen dicke Frauen geführt. Für solchen Blödsinn ist er zu intelligent. Er ist ein Mörder, und wie andere Serienmörder unserer Zeit hatte er ein bestimmtes Opferschema. Zoe, Jessie, Chloe und Myrtle sind ihm aufgefallen. Sie gefielen ihm. Zu ihrem Unglück hatte er eine sehr verschrobene Art, das zu zeigen.

Es gibt viele Beweise dafür – und vieles davon kam bei dem Prozess ans Licht –, dass Hamish Wolfe schon immer auf Dickerchen gestanden hat. Unserer figurbesessenen Gesellschaft fällt es angesichts seines eigenen extrem guten Aussehens schwer, das zu glauben, doch er mochte Dicke. (Lassen Sie sich nicht von den Pressefotos von ihm mit seiner gertenschlanken Verlobten täuschen – manche Männer sind erstaunlich gut darin, ihre Partnerin als Deckmantel zu benutzen.) Wolfe hatte im College etliche üppige Freundinnen, und es wurde sogar ein ziemlich schmuddeliges Video gefunden, auf dem er angeblich Sex mit einer jungen Rubensfrau hat.

Was er getan hat, war furchtbar. Schockierend. Aber es sagt nicht mehr über unsere Gesellschaft aus, als dass wir gelegentlich etwas hervorbringen, das abartig und kaputt ist. Mit Hamish Wolfe stimmt sehr viel nicht, aber kein ernst zu nehmender Kommentator hat jemals suggeriert, dass mit seinen Opfern irgendetwas nicht stimmte.

Aufessen, Ladys. Ihr seid nicht gefährdeter als wir anderen.

Kommentare …

»Nein. Keine Kommentare. Lass das.«

Maggie klickt die Seite weg. »Ich hör ja schon auf.«

»Und was hältst du von Detective Sergeant Weston?«

Sie versucht vergeblich, ein Gähnen zu unterdrücken. »Hab ich eigentlich nicht groß drüber nachgedacht. Schien ganz vernünftig.«

»Glaubst du, an der Idee, dass Wolfes Fans hier aufkreuzen und dich belästigen könnten, ist was dran?«

»Ich bezweifle es. Warum?«

»Ach, ich überlege nur, wie lange du wohl das Knirschen auf dem Kies, den umgestoßenen Blumentopf und das Quietschen diverser Türklinken ignorieren willst? Wie lange dauert es, bis du zugibst, dass da draußen seit einer halben Stunde jemand rumläuft?«

Zuerst kann Maggie dort draußen überhaupt nichts sehen. Die Nacht ist zu finster. Hören kann sie auch nichts, nur das Klicken und Klappern der abkühlenden Zentralheizung. Dann erscheint neben dem Haus ein kleiner Lichtpunkt, als eine einsame Gestalt aus dem Schatten tritt und auf die Straße zustrebt.

Maggie sieht zu, wie ihr mitternächtlicher Besucher die Straße hinunter davongeht, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen.

5. Kapitel

People of Our Time Magazin, Dezember 2014

HUNGRIG WIE EIN WOLFE?

Silvia Pattinson wagt sich nach Parkhurst, um sich mit dem berüchtigten Mr Wolfe zu treffen

Hamish Wolfe bekommt mehr als hundert Briefe im Monat, über 90 Prozent davon von Frauen. Die meisten, erzählt er mir, als ich ihn im Gefängnis auf der Isle of Wight (Parkhurst) treffe, halten ihn für das Opfer eines Justizirrtums.

»Manchmal ist die Wahrheit eben offenkundig«, sagt er. »Nur wer persönliche Interessen hat, sieht sie nicht.«

Als ich ihn frage, wie weit wir auf die Ansichten von Menschen vertrauen sollen, die Wolfe niemals begegnet sind, die sich nie näher mit dem Fall und der Beweislage befasst haben und die vielleicht – bestimmt werde ich rot, als ich das sage – mehr durch sein gutes Aussehen beeinflusst werden als durch echten Gerechtigkeitssinn, bestreitet er, dass es dabei um seine persönlichen Eigenschaften geht.

»Wenn eine Menge Leute etwas für wahr halten, dann liegt das üblicherweise daran, dass es tatsächlich wahr ist. Ich bin das Opfer kostensparender Schmalspurermittlungen, bei denen man auf eine einfache, naheliegende Lösung aus war.«

Als ich mich erkundige, warum er dann nicht in Berufung gegangen ist, meint er, das hätte er auf jeden Fall vor. »Manchmal muss sich der Staub erst legen. Ich denke sehr gründlich darüber nach, mit wem ich in Zukunft zusammenarbeiten möchte. Natürlich will ich den allerbesten Rechtsvertreter, und ich kann warten. Meine Freiheit ist zu wichtig, um sie durch ein übereiltes Berufungsverfahren wegzuwerfen.«

Während er wartet, mangelt es ihm nicht an Frauen, die nur allzu gern bereit sind, ihm die Zeit zu vertreiben. Frauen schicken ihm Geld, schreiben aufmunternde Briefe, schlagen Fluchtpläne vor oder machen ihm sogar Heiratsanträge. Jede geht davon aus, dass sie die Einzige ist, die sich für ihn interessiert, dass er doch bestimmt einsam ist und sich nach ihren Briefen sehnt.

Ich bemerke, dass er mit diesem Interview doch vielleicht die Katze aus dem Sack lässt, was das angeht, doch er zuckt lediglich mit den Schultern. Ich habe den Eindruck, dass ihn die Bewunderung von Frauen, die er wahrscheinlich niemals kennenlernen wird, kaltlässt. Er antwortet nur sehr wenigen, sagt er, nur denjenigen, die ihm intelligent und vernünftig erscheinen, und dann normalerweise auch nur, um ihnen für ihre guten Wünsche zu danken. Viele seiner Briefe gibt er seinen Mithäftlingen, vor allem den Lüsternen.

Als ich die Moral eines solchen Handelns infrage stelle, sieht er mich scharf an. Seine grünen Augen werden schmal, und zum ersten Mal fällt mir wieder ein, dass ich es mit einem rechtskräftig verurteilten Mörder zu tun habe.

»Wenn ein Mann Ihnen seine Unterhose schickt«, fragt er, »mit einer Nachricht, dass er die zwei Tage hintereinander getragen und dann darin masturbiert hat, was würden Sie tun?«

»Sie wegschmeißen«, antworte ich. »In die Tonne treten.« Inzwischen bin ich ein bisschen verunsichert; Wolfe und ich sind allein in einem fensterlosen Raum. Er ist mit Handschellen an den Tisch gefesselt, aber er ist ein kräftig gebauter Mann, und er sitzt mir sehr nahe gegenüber.

»Genau das habe ich getan«, sagt er. »Die anderen haben angefangen, die Briefe rauszufischen, also erspare ich ihnen jetzt einfach die Mühe.«

Ich frage, ob die meisten Briefe, die er bekommt, sexueller Natur sind. »Viele ja«, gibt er zu. »Manche wollen wissen, was ich angeblich mit den Opfern gemacht haben soll. Die sind am schlimmsten, wenn ich ehrlich bin. Diesen Frauen ist es egal, ob ich schuldig bin oder nicht. Die hoffen sogar, dass ich schuldig bin und dass ich ihnen schlüpfrige Details liefern kann. Andere fragen, ob in Parkhurst eheliche Besuche gestattet sind. Das ist übrigens nicht der Fall. Meistens sind die Frauen, die mir schreiben, einsam, auch wenn sie schon Familie haben. Sie sind verzweifelt bemüht, Kontakt zu jemandem aufzunehmen, eine ganz besondere Verbindung zu knüpfen. Und mich sehen sie als eine Art leichte Beute. Ich kann ja nicht weg.«

In diesem Moment lächelt Wolfe mich an, und plötzlich habe ich viel mehr Angst vor ihm als in den Momenten, wo er nicht eben charmant war.

»Jedenfalls nicht gleich«, fügt er hinzu.

(Maggie Rose, AZ 00326/5 Hamish Wolfe)

6. Kapitel

HMP Isle of Wight – Parkhurst

Clissold Road

Newport

Mein Liebling,

heute Nacht bin ich aus einem Traum von Dir aufgewacht, der so lebensecht war, dass ich ein paar schlaftrunkene Sekunden lang dachte, Du wärst hier, neben mir. Ich habe die Augen geöffnet, ehe die Realität zu fest zubeißen konnte, und der Raum war von einem blassen, gespenstischen Licht erfüllt.

Ich bin aufgestanden und zum Fenster gegangen, und dabei musste ich daran denken, wie merkwürdig aufgeregt mein Hund in manchen Nächten plötzlich war. Dann bin ich ihr nach unten gefolgt, durch ein Haus, das von einem sonderbaren silbrigen Leuchten erfüllt war, und hinaus in den Garten, wo ich kein dicht über dem Boden schwebendes Alien-Raumschiff vorfand, sondern nur den Vollmond. Sie musste nie wirklich dringend hinaus (ich werde den Tonfall jetzt nicht durch Anmerkungen über die Körperflüssigkeiten von Hunden verderben), sie wollte nur im Mondlicht liegen und sich die Sterne anschauen. Also haben wir beide das zusammen getan.

Gestern Nacht habe ich am Fenster gestanden, den Mond angeschaut und an den Hund gedacht, den ich liebe. Und an die Frau, die ich liebe. Und mich hat eine Vorahnung sich endlos hinstreckender Zeit erfüllt, dass diese kleine Zelle mit ihrem Gestank, ihren Demütigungen, der ständigen Gewalt für alle Zeit meine Welt sein würde. Dass, selbst wenn ich sterbe, meine Hölle diese Form annehmen wird und die Wände mit den Scheißeflecken und das rotzverseuchte Essen immer weitergehen. Und dass die Erinnerung an Dich wie ein erkaltender Stern sein wird, nur ein Erinnern an ein Licht, das die Finsternis unerträglich macht.

Hamish

EIGENTUM DER POLIZEI VON AVON AND SOMERSET. AZ 544/45.2 Hamish Wolfe

7. Kapitel

Im Gemeinschaftsbüro der Kriminalpolizei der Dienststelle Portishead ist dank eines bewaffneten Raubüberfalls und zweier Fälle von Straßenraub gestern Abend im Stadtzentrum von Bristol für einen Vormittag mitten in der Woche ungewöhnlich wenig los. Im Augenblick sind nur Pete, Liz Nuttall und Sunday Sadik da, ein rundlicher, widerlich fröhlicher Mann türkischer Herkunft.

Liz schaut auf ihren Computerbildschirm. »Shane Ridley hat seine Frau in der Badewanne ertränkt«, meint sie, »ehe er ihren Leichnam in Stücke gehackt hat, um ihn zu entsorgen. Die Geschworenen haben weniger als eine Stunde gebraucht, um ihn schuldig zu sprechen. Maggie Rose hat angeblich Beweise dafür gefunden, dass Lara Ridley ein Verhältnis – oder mehrere – mit einem oder mehreren Unbekannten hatte. Sie behauptet, einer von den Liebhabern hätte sie umgebracht.«

Pete, der direkt hinter Liz steht, kann das Foto von Ridleys Frau Lara sehen. Mitte zwanzig, blond, bildschön.

»Also ist sie nicht nur ermordet worden, sondern der Welt wird auch noch erzählt, dass sie ’ne Nutte war«, bemerkt Liz gerade. »Ridleys Berufungsverfahren beginnt in zwei Monaten, und man geht davon aus, dass er Erfolg haben wird. Laras Vater hatte letzten Monat einen stressbedingten Herzinfarkt, und ihre Mutter nimmt Antidepressiva.«

Sunday, der nie aufsteht, wenn er es vermeiden kann, rollt auf seinem Bürostuhl herbei und bremst Zentimeter, bevor er gegen Petes Beine kracht, ab.

»Steve Lampton hat drei Frauen zusammengeschlagen und erwürgt, die er auf Dating-Seiten im Internet kennengelernt hat.« Liz hat ein neues Bildschirmfenster geöffnet. »Nur hat er das laut Maggie Rose eben doch nicht getan, die hat ihn 2007 rausgepaukt. Er hat fast eine halbe Million Entschädigung kassiert, und dem Gerücht nach hat seine Anwältin davon 40 Prozent gekriegt.«

»Die Kollegen aus Gwent haben bei diesen Morden nie nach einem anderen Täter gesucht«, setzt Pete hinzu.

»Nigel Upton war ihr zweitgrößter Erfolg.« Liz ist jetzt so richtig in Fahrt. »Er ist 2008 rausgekommen. Seine Schmerzensgeldklage hat mit einem außergerichtlichen Vergleich geendet, aber man nimmt an, dass er ordentlich abkassiert hat.« Sie schaut über die Schulter. »Also, wenn sich irgendjemand fragt, wie sie sich dieses Scheißriesenhaus leisten kann, hier ist die Antwort.«

Das Telefon auf Sundays Schreibtisch klingelt. Er rollt hinüber und nimmt den Hörer ab.

»Die ist doch ein Vampir«, stellt Liz fest.

»Sie ist unten am Empfang«, meldet Sunday. »Soll ich sie holen?«

Pete richtet sich auf. »Das mache ich. Ich sage nur schnell Latimer Bescheid.« Als er von Liz’ Schreibtisch wegtritt, stößt er ihre Tasche um, woraufhin einiges vom Inhalt über den Boden kullert. Er bückt sich, doch Sunday ist bereits von seinem Stuhl aufgesprungen.

»Möchtest du uns vielleicht was sagen, Liz?« Sunday hält eine Brautmode-Zeitschrift hoch.

Liz wird knallrot und kann Pete nicht ansehen. »Die ist für eine Freundin«, beteuert sie. »Als ob ich noch mal so blöd sein würde.«

Pete öffnet die Tür zum Büro seines Vorgesetzten. »Maggie Rose ist hier«, verkündet er. »Sie ist unten am Empfang.«

DCI Tim Latimer schlägt die Akte zu, in der er gerade gelesen hat, und verstaut sie in einer Schublade. Dann schaltet er seinen Anrufbeantworter ein und rückt die beiden einzigen anderen Gegenstände auf seinem Schreibtisch zurecht. Zwei Fotos. Er steht auf, nimmt sein Jackett von der Stuhllehne und schüttelt imaginäre Falten heraus.

»Dann holen Sie sie mal lieber rauf«, meint er schließlich. »Brenda ist schon in MR3, nehme ich an?«

»Ja. Mit der Beamtin, die die Familie betreut.«

Latimer ist etliche Zentimeter größer als Pete und hat die Angewohnheit, immer ein klein wenig zu dicht vor anderen zu stehen und auf sie herabzuschauen. »Vergessen Sie Ihr Jackett nicht«, sagt er.

Innen an der Bürotür des DCI hängt ein kleiner viereckiger Spiegel. Er gehört nicht zur Standardeinrichtung, und der vorherige Inhaber des Büros hatte auch keinen – Latimer jedoch verlässt den Raum nie, ohne einen Blick dort hineinzuwerfen. Beruhigt, dass jedes einzelne kurze silberne Haar an seinem Platz ist, schreitet er vor Pete her durch das Großraumbüro. Im Gehen zuckt sein Kopf von einer Seite zur anderen. Ungeachtet seiner Anweisungen, dass er vor dem 11. Dezember keinerlei Weihnachtsdekoration sehen will, haben sich zwei Wochen vor dem großen Tag Papiergirlanden und Lametta hier hereingeschlichen, wie Unkraut in die äußersten Ecken eines vernachlässigten Gartens.

Liz wartet mit Petes Jackett an der Tür. Ihr kurzes maisfarbenes Haar liegt nach zehn Uhr morgens nur selten ordentlich am Kopf an, und so kurz vor Mittag sieht das Ganze aus wie eine Keilerei in einer Strohscheune. Wie ein Matador schüttelt sie sein Jackett aus, und er zieht ein Gesicht.

»Machen Sie bloß kein Fass auf.« Sie tritt hinter ihn, damit sie ihm das Jackett leichter über die Schultern ziehen kann. Als ihre Körper sich kurz berühren, kann er ihr Parfum riechen. Und ihren Schweiß. »Viel Glück«, sagt sie.

Im Flur gehen die beiden Männer getrennte Wege, Latimer zum Besprechungszimmer, Pete nach unten zum Empfang.