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Karla plant zu ihrem Geburtstag ein großes Familientreffen und ist voller Vorfreude. Doch plötzlich überstürzen sich die Ereignisse: Martina verschwindet spurlos und die dunkle Vergangenheit kommt ans Tageslicht. "Zunächst als unterhaltsame Familiengeschichte beginnend, entwickelt sich diese in rasantem Tempo zum Krimi und zeigt, zu was tiefverborgene Lügen und krankhaftes Verhalten in vier Generationen einer Familie führen können und wie Vergebung möglich ist. Unterhaltsam, spannend, packend - ein Krimi ganz nach meinem Geschmack." Anne Peters, Leserin
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Seitenzahl: 331
Veröffentlichungsjahr: 2022
Gretchen Hilbrands
Erbarmungslos ahnungslos
Kriminalroman
© 2022 Gretchen Hilbrands
Lektorat: Inka Radtke
ISBN Softcover: 978-3-347-77168-0
ISBN Hardcover: 978-3-347-77169-7
ISBN E-Book: 978-3-347-77170-3
ISBN Großschrift: 978-3-347-77171-0
Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Gießen – Mittwoch, 16. März
Noch während der kleine Kaffeevollautomat zischend und sprudelnd seiner natürlichen Bestimmung nachkam und den heißersehnten ersten Latte Macchiato als Frühstücksersatz für Christine zauberte, wirbelte diese im Bad herum und genoss es, sich um kurz vor 6 Uhr morgens mal so richtig Zeit lassen zu können. Das Radio in der Küche plärrte in Konkurrenz zur Kaffeemaschine und verbreitete eine lautstarke und alles durchdringende Rockmusik. Erst jetzt wurde Christine bewusst, dass es noch vom gestrigen Tag auf voller Lautstärke lief. In Windeseile lief sie in die Küche, um es leiser zu stellen und den womöglich süßen Schlaf ihrer Nachbarn zu so früher Morgenstunde nicht zu torpedieren.
Genau in diesem Augenblick schaltete sich der Moderator ein: „Einen wunderschönen guten Morgen, für alle die, die jetzt erst zuhören. Wie Sie als treue Hörer natürlich wissen, informieren wir Sie den ganzen Vormittag mit den absoluten Top-News. Und hier ist sie auch schon, die erste noch brandheiße Meldung von der Polizei aus Gießen. Kaum eine Minute alt und schon ist sie auf dem Weg zu Ihnen, liebe Hörerinnen und Hörer. Aktueller geht es ja wohl kaum. Was sage ich, Sie sind genau beim richtigen Sender, nämlich bei uns.“
Der Moderator hatte eine unglaublich attraktive Stimme mit einer faszinierenden Satzmelodie. Christine setzte sich mit ihrem Latte an den Esstisch und hörte begeistert zu. Nicht nur die Meldung an sich ließ Spannendes erwarten, auch die Art der Intonation seines Sprechens.
„Also, falls es eventuelle Zeugen gibt, die heute Nacht in Langgöns auffällige Beobachtungen gemacht haben sollten, melden Sie sich schnellstens bei der Polizei in Gießen. Aber nicht alle auf einmal, bitte.“ Nach einer gekonnt gesetzten kleinen sympathischen Pause und einem kleinen Lacher fuhr er dann auch schon fort: „Also zugehört und aufgepasst. Vielleicht werden Sie ja heute Zeuge des Tages. Erneut hat es nämlich in Hessen eine Geldautomatensprengung gegeben. Dieses Mal in Langgöns.“
Christine horchte auf, Langgöns war nur wenige Kilometer von Gießen entfernt. Es war nicht das erste Mal, dass es in der letzten Zeit in Hessen und auch hier im Landkreis zu brutalen Überfällen auf Bankautomaten gekommen war. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis es auch einmal in Gießen passieren könnte. Aufmerksam folgte sie den weiteren Informationen.
„Um 2.30 Uhr heute Nacht ist der Geldautomat der Sparkasse in Langgöns höchstwahrscheinlich mit einem Festsprengstoff in die Luft gejagt worden. Der Automat befindet sich laut Pressesprecherin der Gießener Polizei in einem Vorraum des Gebäudes und der ist wohl auch nachts zugänglich. Wie auch immer“, der Moderator machte wieder eine kleine Pause und Christine lehnte sich entspannt zurück, um seiner Schilderung bis zum Ende zuzuhören, „es scheint ein sehr hoher Sachschaden am und im völlig demolierten Gebäude mitsamt zersplitterten Scheiben und Fenstern und zum großen Teil abgesprengter Fassade entstanden zu sein. Auch parkende Fahrzeuge vor der Bank sind wohl in Mitleidenschaft gezogen worden. Wie viel Geld erbeutet wurde, ist momentan noch nicht bekannt. Aber erste Anwohner haben laut Polizei von einem ohrenbetäubenden Knall und einer heftigen Explosion gesprochen, von der sie geweckt wurden, und von mindestens zwei Tätern, die sie noch kurz darauf gesehen haben wollen und die höchstwahrscheinlich mit einem dunklen Audi Avant wohl mit rücksichtsloser Geschwindigkeit aus Langgöns geflüchtet sind. Die Fahndung läuft auf vollen Touren. Also, wer etwas beobachtet hat, bitte unbedingt unter der folgenden Telefonnummer melden: 0641/7006 25 … Trauen Sie sich. Also, wer war noch so alles heute Nacht in und um Langgöns herum unterwegs und hat irgendetwas Ungewöhnliches in der Zeit so um rund 2.30 Uhr, davor oder danach, beobachtet?“
Christine schüttelte den Kopf, irgendwie hatte sie das Gefühl, dass die Welt immer verrückter und gefährlicher zu werden schien. Da es nun wohl zunächst keine weiteren Neuigkeiten geben würde, schaltete sie das Radio aus und zog sich an. Eine gute halbe Stunde später schwang sie sich voller Begeisterung aufs Fahrrad und genoss die Ungezwungenheit ihrer neu erworbenen Freiheit und somit jeden einzelnen Augenblick des noch kalten Märzmorgens.
Seit heute war sie Rentnerin. Wie sehr hatte sie diesem Tag entgegengefiebert. Endlich, endlich war er da. Aufstehen können, wann sie wollte, zu Bett gehen, wann es ihr gefiel, und nicht mehr vom Takt der Arbeit im Krankenhaus bestimmt zu werden. Keinen Schichtdienst mehr machen zu müssen, keinen Nachtdienst mehr, keine plötzlichen Anrufe mehr an den freien Tagen, die sie zurückriefen in die Tretmühle all dessen, was sie jahrzehntelang mit voller Überzeugung und Tatendrang geleistet hatte: ihre Arbeit als Krankenschwester.
Eigentlich hatte Christine Ärztin werden wollen und auch schon ein paar Semester Medizin studiert, aber dann hatte das Leben ihr dazwischengefunkt. Sie lächelte, als sie daran zurückdachte, dabei war ihr damals überhaupt nicht zum Lachen zu Mute gewesen. Egal. Heute war der erste Tag ihres neuen Rentnerlebens, das sie fröhlich und völlig ungebunden beginnen konnte. Oder musste, je nach Sichtweise. Christine trat in die Pedale. Komisch, warum nur kam ihr dieser melancholische Gedanke gerade jetzt? Seit Tagen hatte sie nicht mehr an Johann denken müssen, ihren so sehr geliebten Mann, ihren Seelenverwandten, der er nicht von Anfang an gewesen war, zu dem er aber im Lauf der Zeit ihrer Ehe mehr und mehr geworden war. Wehmütig dachte Christine zurück. Auch an den plötzlichen Tod von Johann, der erbarmungslos und ohne zu fragen ihr gemeinsames Leben beendet und Christines Alltag völlig aus dem Ruder hatte laufen lassen. Zunächst zumindest. Auch, wenn ihr die beiden gemeinsamen Kinder, Martina und Johannes, der nach seinem Vater genannt worden war, unter die Arme gegriffen hatten und Anke, ihre liebste und innigste Freundin, ständig für sie da gewesen war und auch einige ihrer gemeinsamen Freunde und Arbeitskollegen immer wieder angerufen hatten, vorbeigekommen waren und sich gemeldet hatten, so fehlte ihr Johann, der ruhige und bedächtige Fels in der Brandung ihrer Beziehung, sehr. Christine seufzte und wischte den Gedanken an den Verlust von Johann beherzt beiseite. Heute nicht, Johann, schob sie hinterher, heute will ich nicht trauern. Heute will ich mich freuen, dass ich nicht mehr zur Arbeit hetzen muss, heute will ich den Tag genießen. Diesen außergewöhnlichen ersten Tag meines neuen Rentnerdaseins.
Voller Kraft trat sie erneut in die Pedale, um kurz darauf an der roten Ampel anzuhalten. Nach Johanns Tod vor fast fünf Jahren war Christine in eine kleinere Wohnung an den Nahrungsberg gezogen. Jetzt, wo sie alleine lebte, reichte ihr der deutlich eingeschränkte Platz und es war ihr gelungen, ein äußerst gemütliches eigenes Reich zu schaffen. Klein, heimelig und mit all dem Komfort, den sie so liebte und brauchte. Schon sprang die Ampel auf Grün und Christine warf sich förmlich in den frühen Morgenverkehr, der hier für Gießen so typisch war. Warum, so schüttelte Christine den Kopf, bin ich auch nur so früh zum Markt unterwegs? Dass er ab 7 Uhr geöffnet hat, heißt doch nicht, dass ich gleich als eine der Ersten dort sein muss. Typisch ich, schmunzelte Christine, die Frühaufsteherin, die sie ja eigentlich gar nicht mehr sein wollte oder musste. Auch etwas, was ich mir abgewöhnen sollte, nein, darf, grinste sie in sich hinein. Um diese Zeit an dem kalten Märztag war es doch irgendwie nicht wirklich ein Vergnügen, sich durch Gießen zu quälen, dabei brauchte man für die 1,2 Kilometer vom Nahrungsberg zum Lindenplatz mit dem Fahrrad eigentlich nur gut fünf Minuten. Wenn alles glatt lief. Was man vom heutigen Morgen nicht wirklich so sagen konnte. Christine sah um sich herum. Wo nur kamen all die Menschen her zu dieser frühen Stunde? Im Krankenhaus hatte sie um diese Zeit im Frühdienst schon mehr als eine Stunde gearbeitet und beim Spätdienst hätte sie noch geschlafen. Meistens zumindest. Oder immer wieder einmal. Auch das abhängig von der jeweiligen Lebenssituation.
Irgendwann gelang es Christine dann aber doch, die Ostanlage am Berliner Platz in Richtung der Straße Neuen Bäue zu überqueren. Auch hier war der Autoverkehr immens. Als Fahrradfahrer hatte man schon einige Kämpfe zu ertragen. Kaum hatte sie diesen Gedanken, da schoss direkt vor ihrer Nase von rechts kommend urplötzlich ein schwarzer Kombi aus einer kleinen Seitenstraße heraus und nahm ihr damit völlig unvermittelt die Vorfahrt. In quasi letzter Minute riss Christine laut schimpfend, was der Autofahrer weder hörte noch mitbekam, den Fahrradlenker herum und kam stolpernd zum Stehen, was ihr sicherlich einige blaue Flecken bescheren würde. Sichtlich wütend und Dampf ablassend lief sie zunächst in Richtung Markt, um dann wenige Meter weiter doch wieder ihr Glück auf dem Fahrrad zu suchen.
Wie schön war es doch, in der Heimatstadt zu sein, wo alles so vertraut war, dachte Christine ein paar Minuten später und hatte den Vorfall mit dem Autofahrer schon fast verdrängt, während sie am Gießkannenmuseum vorbei direkt auf den Eingang des Botanischen Gartens zufuhr, um ihr Rad am dortigen Fahrradständer festzuketten. Wertschätzend sah Christine zum Alten Schloss und seiner neuen Fassade hoch. Wie gut, dass doch etliche Gebäude in Gießen nach dem verheerenden Bombardement vom 6. Dezember 1944, wobei 86% der Stadt mit ihren Stadtteilen zerstört wurden, wieder aufgebaut worden waren. Auch Gießen hatte eine schöne mittelalterliche Altstadt gehabt, wie auf alten Abbildungen zu sehen war, aber im Wahnsinn des Krieges war das dichtbesiedelte Stadtzentrum durch Bomben und Feuersturm nahezu ausgelöscht worden. Christine schüttelte unwillig ihren Kopf. Warum nur mussten Menschen sich immer wieder bekriegen? Wozu dieses sinnlose Zerstören und das Töten Unschuldiger? Wie grausam konnten Menschen sein … Wieder kamen melancholische Gedanken und wieder schob Christine sie beiseite. Heute war sie zum Genießen hier und nicht zum Grübeln.
Das Markttreiben hatte bereits begonnen. Bisher waren nur wenige Käufer zu sehen. Noch füllten die Marktbeschicker ihre letzten Waren auf an den imposanten Marktständen, die vom Lindenplatz bis zum Brandplatz direkt vor dem alten Schloss reichten. Die Marktlaubenstraße, die beide Plätze miteinander verband und ihren passenden Namen von eben diesem geschäftigen Treiben her bezog, bestach mit ihren gelb-braunen Arkaden, die auf der gegenüber liegenden Straßenseite ihr bemerkenswertes Gegenstück fanden und dem Markt ihren besonderen Glanz verliehen. Riesige Sonnenschirme, direkt davor aufgebaut, beschatteten das feil Gebotene, von dem es eine breite Palette gab: von strahlend blühenden Blumen in Töpfen und Sträußen, buntem frisch geerntetem Gemüse und Obst über duftende Brot und Backwaren sowie ein ausgiebiges Wurst- und Fleischangebot als auch herrliches Käsesortiment bis hin zu Gewürzen, Honig, Eis, Kuchen und vielen weiteren warmen und kalten besonderen Leckereien zum Sofortgenießen oder Mitnehmen.
Was Christine sah und roch, es war ein Fest für alle Sinne. Sie genoss sie sehr, diese tolle Atmosphäre, die sich, je mehr Kunden kamen, noch steigerte und Umstehende wie Verkaufende in ihren Bann zog. Ich liebe es, frohlockte Christine und sog die noch kühle, aber duftende Luft genüsslich ein: Herrlich! Und sie nahm sich vor, auch am Samstag wiederzukommen. Alleine der besonderen Momente und des immensen Zeitvermögens wegen, über das sie nun verfügte. Immer wieder einmal grüßte sie jemanden kurz im Vorbeigehen oder wurde begrüßend erkannt. Ab und zu kam es zu einem kleinen Plausch. Christine wunderte sich selbst, dass sie bisher so gut wie nie auf diesem Markt gewesen war. Ob sie ihre Tochter Martina, die in Frankfurt wohnte und sie am Wochenende besuchen wollte, bewegen konnte, sie auf den Markt zu begleiten? Wieder musste Christine lächeln. Martina war morgens kaum aus dem Bett zu bekommen und würde sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht begleiten. Aber das würde sie selbst auf keinen Fall vom erneuten Besuch des Wochenmarktes abhalten, dessen war sie sich sicher und sie machte sich auf die Suche nach erlesenen Köstlichkeiten, mit denen sie sich die nächsten Mahlzeiten und Tage versüßen wollte. Und Tulpen, die sie über alles liebte, einen schönen großen, edlen Tulpenstrauß, den gönne ich mir, nahm sich Christine vor und warf sich für die nächsten Stunden regelrecht ins Marktgetümmel. Und das, ohne zu bemerken, wie die Zeit verging. Welch ein berauschendes Gefühl, sich diesem nie gekannten neuen Luxus einfach hingeben zu können.
Kaum war Christine von ihrem Einkauf wieder zu Hause, klingelte das Telefon.
„Mama, wo um alles in der Welt warst du?“
Typisch Martina, immer mit der Tür ins Haus fallen, kurz und knapp und äußerst direkt, dachte Christine und musste schlucken. „Guten Morgen, liebe Martina. Wie schön, dass du anrufst.“ Christine legte eine kurze Pause ein, in der sie einen kaum hörbaren, gegrummelten Gegengruß vernahm. Beherzt fuhr sie fort: „Wo ich war? Auf dem Wochenmarkt. Was ist denn los, Martina?“
Martina arbeitete als Journalistin, lebte in Frankfurt am Main, war 42 Jahre alt und überzeugter Single. Anders als ihr drei Jahre jüngerer Bruder Johannes, der mit seiner Familie in Butzbach wohnte, hatte sie einfach keine Lust auf Mann und Kinder, was sie immer wieder lauthals betonte, seit Christine ihr vor ein paar Jahren in einem sich zufällig ergebenen Gespräch erzählt hatte, dass sie noch von weiteren Enkelkindern träumte. Seitdem verkniff sich Christine irgendwelche Hinweise in besagter Richtung. Und eigentlich war es vielleicht auch besser so, schlussfolgerte sie, Martina hatte schon eine gewisse Art von selbstsüchtigem Verhalten. Nicht nur Johannes hatte in seiner Kindheit immer wieder darunter zu leiden gehabt, auch Johann und ihr selber waren die manchmal doch ziemlich ausschweifenden egozentrischen Auswüchse sprichwörtlich auf den Wecker gegangen. Auf der anderen Seite konnte Martina aber auch wieder liebevoll und anhänglich sein. Trotzdem, wenn es darum ging, ihre Ziele durchzusetzen, reagierte Martina meistens unerbittlich.
„Na ja, ich habe schon mehrmals angerufen. Du warst nicht da. Und an dein Handy bist du auch nicht gegangen. Du …“
„Martina, also bitte. Heute ist der erste Tag meines …“
„Weiß ich doch. Also hast du endlich Zeit zum Ausschlafen und brauchst nicht mehr …“
Christine unterbrach sie. Sie hatte einfach keine Lust auf indirekte Vorwürfe und Anweisungen ihrer erwachsenen Tochter, die sich oft tage- und manchmal wochenlang nicht meldete. „Ok, schön und gut. Du kommst doch in zwei Tagen, oder? Also, was liegt an?“
„Ich kann dich nicht besuchen kommen. Mein Chef will, dass ich eine Recherche in Südspanien von einem plötzlich erkrankten Kollegen übernehme. Und zwar sofort. Heute am späten Nachmittag geht mein Flieger. Das ist eine Megachance für mich. Ich …“
„Na, das ist doch klasse, Martina. Versteh´ ich doch. Ich wünsche dir richtig viel Erfolg, mein Schatz!“
„Danke, Mama. Ich wusste, dass du es begreifst. Ich mache es wieder gut. Versprochen. Ich melde mich, wenn ich wieder da bin. Das kann aber vier Wochen dauern. Direkt im Anschluss, also ab Mitte April, habe ich Urlaub und wir können was Gemeinsames unternehmen. Okay?“
„Sehr gerne. Ich nehme dich beim Wort.“
„Kannst du. Such dir was Schönes aus. Tschau, Mama.“
Noch ehe Christine etwas erwidern konnte, hatte Martina schon aufgelegt. „Dass du es begreifst“, Christine schüttelte sich, typisch Martina. Ganz schön anmaßend ihre Ausdrucksweise, so empfand sie das Gesagte. Und das als Journalistin. Aber ich bin mal gespannt, ob du dein Versprechen auch einlöst, dachte Christine. Sie konnte es sich nicht wirklich vorstellen. Aber dieses Mal lass ich dich nicht vom Haken. Auf den Wochenendbesuch von Martina hatte sie auch viele Wochen warten müssen. Zu- und Absagen hatten sich kontinuierlich die Hand gegeben.
Gießen – Dienstag, 22. März
Christine hatte die folgenden Tage ausgiebig ausgekostet und am Sonntag ihre beiden Enkelkinder, Johannes und seine Frau in Butzbach besucht und daraus einen Tagesausflug werden lassen. Sie war mit dem Zug in die 24 km entfernt liegende mittelalterliche Kleinstadt Butzbach gefahren und schon durch die Stadt in der Wetterau mit ihrer hübschen Altstadt und den Resten der ehemaligen Stadtmauer gestreift, als die Familie sich noch ihren frühmorgendlichen Träumen hingab. Nie hatte Christine richtig Zeit gehabt, sich Butzbach ausgiebig anzuschauen, irgendwie war sie immer in Eile gewesen, was sie prompt an Martina erinnerte. Ob diese das von ihr geerbt hatte? Schon lustig, was für Gedanken einen plötzlich beschäftigten, wenn man über mehr Zeit verfügte, hatte sie noch gedacht, als sie nach ausgiebiger Tour schließlich am späten Vormittag bei Johannes vor der Tür gestanden hatte.
Es war ein wirklich wunderschöner Tag gewesen. Christine hatte ihn sehr genossen und nahm sich vor, nicht allzu lange mit einem erneuten Besuch zu warten. Ihre Enkel hatten sie geradezu gedrängt, auch ja ganz schnell wiederzukommen. Christine musste lachen, als sie jetzt erneut daran dachte, und freute sich, dass sie einfach und beherzt zugesagt hatte. Zeit zu haben, war kein Luxus mehr. Morgen gehe ich wieder auf den Wochenmarkt und heute Nachmittag mache ich einen Spaziergang in der Parkanlage auf dem Alten Friedhof und anschließend … In diesem Moment klingelte es an ihrer Wohnungstür. Es war ein Nachbar, der als Postangestellter arbeitete.
„Gemoije, Frau Boller. Ich habe gestern zufällig diesen Brief bei uns auf der Arbeit entdeckt. Er ist an sie adressiert, allerdings mit einer Uralt-Adresse. Das sind sie doch: Christine und Dr. Johann Boller, Marburger Str. 232, oder? Ich konnte ihn gerade noch abfangen, bevor er zurückgesendet werden sollte.“
„Oh, guten Morgen, Herr Sauter. Ja, das bin ich. Das ist aber schon sehr, sehr lange her, dass wir dort als Familie zur Miete gewohnt haben. Danach haben wir vor mehr als 28 Jahren im Klinikviertel ein Haus gebaut und nun wohne ich seit dem Tod meines Mannes auch schon wieder über drei Jahre hier.“
„Ich weiß, Sie haben ja einen Nachsendeantrag von der letzten Adresse gestellt, allerdings ist die hier angegebene Adresse längst nicht mehr erfasst. Aber ich dachte, ich versuche es einfach und frage Sie mal …“
„Das ist total nett von Ihnen, dass Sie sich darum gekümmert haben und ihn mir extra bringen. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“ Was Herr Sauter leider ablehnen musste, aus terminlichen Gründen. Christine dankte ihm noch einmal ganz herzlich, bevor ihr Nachbar, dem sie nur hin und wieder begegnete, wieder verschwand.
Mit dem Brief in der Hand und voller Neugier auf seinen Inhalt, setzte Christine sich mit der obligatorischen Tasse Kaffee an den Esstisch. Wer um alles in der Welt mochte ihr an diese alte Adresse geschrieben haben, die schon mehr als 30 Jahre nicht mehr gültig war? Die Kinder gingen noch zur Grundschule, als sie dort gewohnt hatten, und Johann war heiß darauf gewesen, endlich ein eigenes Haus für sie alle bauen zu lassen, wozu sie bis dahin zeitlich einfach nie gekommen waren. Damals war er noch Arzt in der Uniklinik gewesen. Auf der Hand balancierend hielt Christine den kuriosen Brief und dachte an die gemeinsamen Zeiten mit Johann zurück. Johann, ihr Halt, ihre Stütze … Kurz schloss sie die Augen, schluckte und nahm beherzt das Kneipchen, wie die Hessen das Kartoffelschälmesser nennen, und schlitzte den Umschlag auf. Erstaunt und geradezu erleichtert blickte sie auf die Einladungskarte zum 95. Geburtstag von Johanns Tante Karla.
Karla Koers - ewig hatten sie keinen Kontakt mehr zu Karla und ihren Kindern gehabt. Wie zu der gesamten Verwandtschaft in Norddeutschland nicht. Die Gründe waren immer die gleichen: Keine Zeit für irgendetwas. Egal, was es auch gewesen war, selbstverständlich ging die Arbeit vor. Immer! Johann hatte zwar hin und wieder einmal nach dem Tod seiner Mutter mit seiner Tante telefoniert, die als Einzige von den zwei Schwestern seiner Mutter noch lebte, aber insgesamt doch eher selten. Nach Johanns so plötzlichem Tod 2017 war dann auch dieser Kontakt allmählich eingeschlafen. Christine hatte es zunächst nicht vermocht, Karla anzurufen und über Johann zu reden, so hatte diese nur eine Traueranzeige nach der Beisetzung erhalten. Die Beerdigung hatte im kleinen, erlesenen Rahmen stattgefunden, Johann hatte es so verfügt. Christine und den Kindern war es recht gewesen. Und später war ihr die Beziehung zur norddeutschen Familie ihres Mannes nicht mehr wichtig gewesen.
Johanns Mutter Waltraud hingegen hatte früher dafür gesorgt, dass sie ihre norddeutsche Verwandtschaft hin und wieder mal besuchten. Entweder reisten sie dann alle nach Borkum, wo Charlotte und Gerd Dänekas, Johanns älteste Tante und deren Mann, eine Pension besaßen, oder zu der jüngsten Tante Karla und ihren Kindern, die in der Grafschaft Bentheim zu Hause waren, wo sie als Familie in umliegenden Pensionen oder Hotels Unterkünfte anmieteten, in denen die seltenen Familientreffen oder Feste dann auch stattfanden. Johann hatte es strikt abgelehnt, auf dem Hof oder auch nur in dessen Nähe zu übernachten. Immerhin hatte er sich anfangs das große Anwesen einmal angeschaut, aber den ältesten Sohn von Karla dort nicht angetroffen und ihn somit auch nie kennengelernt. Auch bei den jeweiligen Familientreffen war er niemals dabei gewesen, aus welchen Gründen auch immer. Was Christine äußerst merkwürdig vorkam, sie aber auch nicht daran gehindert hatte, ihre Zeit lieber mit Martina in Nordhorn beim Shoppen zu verbringen als Johann zur Hofbesichtigung zu begleiten.
Nun lebten Johanns Eltern beide schon lange nicht mehr. Karlas Mann Hermann war schon 1969 gestorben und Karla hatte den landwirtschaftlichen Hof ihrer Eltern mit ihrer Mutter Hedwig alleine weiterbewirtschaftet, bevor ihr ältester Sohn Friederich diesen irgendwann übernahm. Christine war ihm bei den dann doch wieder spärlichen Treffen nie begegnet. Von der ganzen Familie Koers hatte sie nur mit Karla, deren zweitgeborenem Sohn Karl und der Tochter Hermine und deren Familie zu tun gehabt. Auch Borkum hatte sie als Familie nicht wirklich zum Urlaubmachen gereizt. Sie waren lieber in wärmere Gefilde gefahren. Johann war zwar auf Borkum geboren worden, aber Urlaub machen wollte er dort nicht. Und das hatte irgendwie mit seiner Mutter Waltraud zu tun, aber was das genau war, darüber hatten sie und Johann nie gesprochen. Andere Dinge waren einfach wichtiger gewesen. Und Christine hatte nie nachgefragt.
Wie benommen schreckte Christine aus ihren Gedanken auf. All das war für sie längst Vergangenheit. Und doch sah sie aufmerksam auf die liebevoll gestaltete Einladung, die konkret an sie, Martina und Johannes und deren Familien gerichtet war. „Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr zu meinem 95. Geburtstag nach Rhauderfehn kommen würdet“, stand dort. Karla würde sich also freuen. Und auf einmal erwachte in Christine so etwas wie Sehnsucht. Sehnsucht nach Verwandtschaft, die sie und auch Johann schon lange nicht mehr gehabt und ehrlicherweise auch nicht gesucht hatten. Auch hierbei hatte der Zeitfaktor eine immense Rolle gespielt. Vielleicht wäre es doch schön, so dachte Christine mehr und mehr interessiert, Karla noch einmal wiederzusehen. Wer weiß, wie lange die einzige Tante von Johann, die ihr eigentlich immer liebevoll und geradezu herzlich begegnet war, noch leben mochte? Und vielleicht war es auch schön, neue Kontakte zu ihren Kindern aufzubauen. Christine selber war, wie Johann, ein Einzelkind und auch in ihrer Verwandtschaft war niemand mehr da, außer Verwandten, die man eigentlich schon nicht mehr als Verwandte bezeichnen konnte. Aber Karla lebte noch. Und ihre Kinder. Vielleicht sollte sie doch …
Der Gedanke nahm mehr und mehr Fahrt auf. Spontan rief sie Johannes an und erzählte ihm von der Einladung und handelte sich direkt eine Abfuhr ein. Darin ähnelte er dann doch sehr seinem Vater. Auf gar keinen Fall würden sie als Familie mitkommen. Niemals, so waren seine Abschiedsworte gewesen. Martina wollte sie in ihrer Recherche in Spanien nicht stören und deshalb nicht anrufen, aber hatte diese sie nicht geradezu herausgefordert, etwas zu planen, was sie als Mutter und Tochter in Angriff nehmen könnten, wenn sie im April Urlaub haben würde? Dass Martina an so etwas nicht gedacht hatte, war Christine klar, aber in diesem Fall saß sie endlich mal am längeren Hebel. Endlich würde Martina ihren Egoismus mal nicht ausspielen können. Versprochen war schließlich versprochen!
Forsch griff Christine erneut zum Telefonhörer und rief ihre beste Freundin Anke an und verabredete sich mit ihr zum nachmittäglichen Spaziergang, um ihr von der unverhofften Einladung von Karla Koers zu erzählen. Und auch, um sich mit ihr über die neuesten Entwicklungen nach der Sprengung in der Sparkasse in Langgöns auszutauschen. Immerhin war das jetzt das lokale Gesprächsthema, das auch die Gießener nicht in Ruhe ließ.
Rhauderfehn – Dienstag, 22. März
Zur selben Zeit saß gut 420 km weiter nördlich Karla Koers auf ihrem mittlerweile abgewetzten Sofa, das schon bessere Tage gesehen hatte, und sah sich alte Fotoalben an. Seit knapp zehn Jahren lebte Karla nun bei ihrer Tochter Hermine Groothuis und deren Familie in Rhauderfehn in Ostfriesland. In sich gekehrt und geistesabwesend betrachtete sie jedes einzelne Foto von ihren Schwestern und deren Familien und ließ die lange zurückliegenden und sich dahinter verbergenden Geschichten gedanklich lebendig werden. Besonders die Fotos auf Borkum, wo der kleine Johann geboren worden war, hatten es ihr angetan. Wie jung sie gewesen waren, sie und ihre beiden Schwestern. Es war das einzige Mal, dass sie als verheiratete Schwestern gemeinsam auf Borkum gewesen waren. Charlottes Mann, Gerd, war Borkumer und damals noch als Kapitän zur See gefahren. Er und Charlotte hatten sein anmutiges Elternhaus in einzelnen Schritten nach ihrer Hochzeit ab 1947 zur Pension ausgebaut und Charlotte hatte diese ab dem Sommer 1953 betrieben. Ein wirklich schönes Haus. Waltraud und sie hatten Charlotte vor der Saison noch besuchen wollen und waren viel länger als ursprünglich geplant bei ihr geblieben. So kam es, dass Johann dort geboren worden war. Auf manchen Fotos waren auch ihr zweijähriger Friederich und der einjährige Karl mit drauf. Noch heute glaubte sie die Erleichterung zu spüren, die dieser gemeinsame Urlaub mit ihren beiden Kindern und ihren Schwestern trotz der noch andauernden Malerarbeiten in manchen Pensionsräumen, für sie, Karla, bewirkt hatte. Sowohl Waltraud als auch Charlotte hatten sich um die beiden mitgekümmert. Auch Charlotte hatte zwei Kinder, aber die Zwillinge waren bereits drei bzw. vier Jahre älter als ihre beiden. Zudem hatte Charlotte zu diesem Zeitpunkt schon zwei Zimmermädchen engagiert, die Kinder über alles liebten und gerade die älteren in alles, was so im Alltag anfiel, ganz unbekümmert integrierten. Es hatte viel Arbeit in der neuen Pension gegeben.
Trotzdem war der Besuch auf Borkum für Karla erholsam gewesen. Zumindest in manchen Dingen. Seit frühester Kindheit hatte sie auf dem elterlichen Hof mitgeackert. Im wahrsten Sinn des Wortes. Keine Arbeit war ihr zu schwer, für nichts war sie sich zu schade gewesen. Sie, Karla, packte an, wo wie nur konnte. Hermann und sie hatten 1950 geheiratet und nach den Geburten war sie … Ein lauter Knall riss sie aus ihren Gedanken und schon flog die Tür auf.
„Entschuldige bitte, Mama“, Hermine stob mit hochrotem Kopf und einem großen Wäschekorb herein, „der Wind hat mir doch tatsächlich die Haustür so zugepfeffert, dass ich sie nicht mehr halten konnte.“
„Hach, hast du mich erschreckt.“
Hermine stellte den Wäschekorb auf den Boden und meinte nur lapidar: „Ich dachte, ich besuche dich einfach mal und falte die Wäsche bei dir. Was machst du gerade?“
„Ich sehe mir Fotos von früher an, von damals, als die Jungs noch so klein waren.“
„Ach so. Die Fotos vom Hof aus der Grafschaft Bentheim?“ Hermine wusste, wie sehr ihre Mutter darunter litt, dass sie dort nicht mehr wohnen konnte. Sie hatte ihre Heimat so sehr geliebt, aber die Umstände hatten es einfach nicht hergegeben. Freundlich und wohlwollend ausgedrückt, reflektierte sie, ohne es auszusprechen. Ihre Mutter hatte genug unter den ganzen Scherereien gelitten. Sie musste und wollte sie nicht daran erinnern. Obwohl sie sich sicher war, dass diese sowieso immer wieder darüber nachgrübelte.
„Ach, nein, nicht die Bilder aus der Grafschaft. Weißt du, heute müsste doch meine Geburtstagseinladung bei Bollers in Gießen eingetroffen sein. Heute oder gestern schon. Ich bin so gespannt, ob sie kommen, die Christine und ihre Kinder. Du glaubst nicht, wie viel mir das bedeuteten würde. Na ja, und da fielen mir gerade die Fotos von Waltraud und unser gemeinsamer Urlaub auf Borkum bei Charlotte damals ein. Ich war gerade ganz tief versunken in den alten Geschichten.“
„Zeig mal, Mama. Irgendwie kann ich mich gar nicht an die Aufnahmen erinnern.“
Während der nächsten Stunde und einiger guter Tassen ostfriesischen Tees lauschte Hermine den Geschichten ihrer Mutter und vergaß ihre Geschäftigkeit. Und ihr wurde klar, dass es ihrer Mutter wirklich viel bedeutete, Johanns Familie mal wieder bei sich zu haben. Warum auch immer. Verstehen und nachvollziehen konnte sie es nicht und tat es als Eigentümlichkeit einer alten Frau ab. Dass sie sich seit Johanns Tod sehr viele Gedanken über ihn und seine Kinder machte, verschwieg Karla wohlweislich. Hermine hätte es sowieso nicht verstanden.
Papenburg – Dienstag, 22. März
Friederich Koers war ein beinharter und sehr erfolgreicher Unternehmer mit Firmensitz in Papenburg im Emsland. Als ältester Sohn von Karla und Hermann Koers war er mit seinen Geschwistern Karl und Hermine auf dem großen landwirtschaftlichen Anwesen in der Grafschaft Bentheim aufgewachsen. Nach dem Tod seiner Großmutter Hedwig Meyering, der der gesamte Besitz nach dem Tod ihres Mannes rechtlich gehört und die mit ihnen als Familie dort gelebt hatte, erbte Friederich als ältester Sohn von Hermann und Karla den Hof mit allen Immobilien und Ländereien. Und das mit voller Zustimmung seiner Großmutter Hedwig, die von Friederich schon immer schauspielernd liebevoll „um den Finger gewickelt worden war“. Hedwig hatte, egal, was Friederich auch anpackte, ihn als äußerst engagiert, extrem vorausschauend und unglaublich talentiert zu würdigen gewusst. Und Friederich hatte schon immer seine eigene Form der Wahrheit so kunstfertig verkauft, dass gerade diejenigen, die ihn liebten, keine Zweifel an dem hegten, was er zu sagen pflegte. Friederichs geheimer Rivale, sein Bruder Karl, der nach seinem Großvater und Karla benannt worden war, könnte den Hof ebenfalls erben und übernehmen, hatte der Vater Friederich als Junge einmal erzählt, sollte er, Friederich, auf Dauer kein Interesse an der landwirtschaftlichen Arbeit haben und sich beruflich anders orientieren wollen. Karl war ja nur ein Jahr jünger und arbeitete wie Friederich auch schon von Kindesbeinen auf dem Hof mit. Aber Friederich hatte die Zeichen der Zeit schon als Teenager erkannt und dafür gesorgt, dass seine Oma Hedwig gar nicht erst auf die Idee kam, die natürliche Erbfolge zu ändern. Was rechtlich durchaus möglich gewesen wäre.
Was Friederich plante, hatte Hand und Fuß. Was er wollte, setzte er um. Auch über sprichwörtliche Leichen. So hatte Friederich, der als Student heimlich Betriebswirtschaftslehre studiert hatte, statt Agrarwirtschaft, wie seine verwitwete Mutter und Oma glaubten und auch immer wieder von ihm erzählt bekamen, von vornherein die Weichen so gestellt, dass das gesamte Vermögen ihm allein gehörte und er seine Geschwister nicht auch noch am Gewinn beteiligen musste, sobald er den Hof von Rechts wegen verkaufen konnte. Dass das möglich war, hatte Friederich schon sehr früh herausgefunden. Was er natürlich niemanden wissen ließ.
Nach Hedwigs Tod musste also zunächst ein Verwalter her, der statt Hedwig nun die Entscheidungen für das Anwesen traf und die Arbeit beaufsichtigte. Friederich befand sich noch mitten im Studium und seine Mutter wollte partout nicht, dass er es abbrach, um sich selbst um das Anwesen zu kümmern, was er ihr selbstverständlich angeboten hatte, wohl wissend, dass sie darauf sowieso niemals eingehen würde. Großmutter und Mutter waren seit Studienbeginn unglaublich stolz auf den ersten und einzigen Studenten in ihrer Familie gewesen, der allein zum Wohle des Meyeringschen Anwesens all das profunde Wissen fleißig lernte und einpaukte, wie seine Großmutter Hedwig es immer ausgedrückt hatte. Und Friederich vergaß natürlich auch nicht davon zu berichten, dass auch die Herren Professoren an seiner Universität dies immer wieder hervorhoben und betonten.
Natürlich hätte auch Karl die Aufgabe als Verwalter vorübergehend übernehmen können, aber das wusste Friederich geschickt zu verhindern und so verließ Karl die Grafschaft Bentheim. Karl hätte ihm ja auf irgendeine Art und Weise durchaus auch gefährlich werden können. Also setzte Friederich für weitere Jahre einen ihm wohlgesonnenen Hofverwalter ein, um sein Studium beenden zu können, der auch dann noch blieb, als Friederich komplett auf den Hof zurückkehrte. Um die von Rechts wegen erforderlichen zehn Mindestjahre seit Erbschaftsbeginn zu erfüllen, von denen mittlerweile mehr als zwei Drittel bereits um waren, übernahm Friederich die Entscheidungsgewalt über Hof und Leute in der noch verbleibenden Zeit selbst, wobei intern nach wie vor sein Verwalter das Sagen hatte, was aber niemand zu wissen bekam, und er fügte sicherheitshalber ein weiteres halbes Jahr hinzu, damit ihn niemand rechtlich belangen konnte. Für die zu erledigende Arbeit stellte er zu seiner Unterstützung einige weitere überaus emsige Arbeitskräfte ein, die dann schlussendlich all die Arbeit verrichteten, zu der er einfach keine Lust hatte. Was im Grunde genommen so gut wie alles war. Seiner Mutter verkaufte er dies als neueste wissenschaftliche Erkenntnisse, die weitaus mehr Profit abwarfen als alle vorherigen Modelle. Was sie als, wie er es ausdrückte, einfache Frau hinzunehmen habe, schließlich verstände sie ja nichts von solchen Erwägungen. Im Gegenteil zu ihm. Aber als dann schließlich alles rechtlich in trockenen Tüchern war, wie er später auf Nachfrage und Proteste argumentieren sollte, verkaufte er Hof und Ländereien mit enormem Gewinn, und das, ohne auch nur im Geringsten auf die Einwände von Karla, seinem Bruder Karl oder Hermine und Achim einzugehen. Im Gegenteil, ihn ermutigten ihre Argumente noch mehr und er wusste, dass sie sich um Land und Geld betrogen sahen. Was ihn aber, wie er es zu nennen pflegte, „nur äußerst peripher tangierte“.
In der Grafschaft Bentheim war es schließlich seit uralten Zeiten üblich, dass immer der älteste Sohn den landwirtschaftlichen Hof mit allen Ländereien und dazugehörigen Immobilien erbte, damit dieser im Ganzen auch in der Zukunft existenzerhaltend betrieben werden konnte. Von Generation zu Generation wurden so die Besitztümer weitervererbt.
Auch wenn ihm der Vater das etwas anders erzählt hatte, glaubte Friederich, er habe als Ältester nun einmal das verbriefte Recht, quasi Alleinerbe zu sein. Friederich hatte schon als Junge sofort erkannt, dass der Vater ihm eine andere Lösung für seine Berufswahl anbieten wollte und das womöglich, weil er bemerkt hatte, dass Friederichs Herz nicht wirklich für die Landwirtschaft schlug. Und sofort hatte Friederich sich tatkräftig angestrengt und alles gegeben, um Großmutter, auf die es letztendlich ankam, und Vater, der nur wenige Jahre später starb, zu zeigen, dass er der richtige künftige Besitzer des Meyeringschen Anwesens, so hieß das Anwesen seit vielen Generationen, war. Allein um dieser seiner ganzen Anstrengungen willen glaubte Friederich, dass er all das einfach auch verdient hatte.
Schmutzige Arbeiten lagen Friederich nicht. Und was ihm nicht lag, das machte er nicht. Auf keinen Fall, das war ihm von Anfang an klar gewesen, würde er den Hof auch nur einen Tag länger bewirtschaften, als es ihm notwendig erschien. Irgendwann würden die Ländereien einmal Bauland werden, so hatte Friederich schon lange vor Beginn seines Studiums richtig spekuliert und als es so weit war, hatte er das Anwesen Stück für Stück äußerst lukrativ verkauft. Selbstverständlich hatte er alles langfristig geplant, kalkuliert und vorbereitet. Und das schon zu einer Zeit, als noch niemand sich hätte vorstellen können, dass das Meyeringsche Anwesen irgendwann einmal nicht mehr existieren könnte. Niemand, außer Friederich selbst und der lachte sich eins ins Fäustchen.
Friederich galt, was er häufig geschickt zu tarnen verstand, als streitbar und impulsiv, launisch und äußerst durchsetzungsstark und laut seiner wenigen Freunde verfügte er über ein ungebrochenes Potenzial an innerem Jähzorn. Kaum jemand traute sich ihm zu widersprechen. Auch seine Mutter Karla nicht. Sie hatte es schon vor langer Zeit aufgegeben und je älter Friederich wurde, umso weniger umgänglich wurde er. Karla hatte ein lebenslanges Wohnrecht auf dem Hof in der von ihr heißgeliebten Grafschaft Bentheim gehabt, aber Friederich hatte sie, ohne sie einzubeziehen, geschweige denn zu fragen, einfach mal eben so ins Emsland verpflanzt und ihr dabei von Anfang an ein schlechtes Gewissen und negative Gefühle eingeredet. „Was willst du denn eigentlich noch alles?“ hatte er ihr vorgeworfen. „Ich habe extra diese schöne Wohnung für dich in meiner Villa einbauen lassen. Und das für einen Haufen Geld. Du hast doch alles, was du brauchst oder etwa nicht? Du glaubst doch wohl nicht wirklich, dass du das alles verdient hast, oder?“ Dabei war sein Kopf puterrot vor Zorn gewesen und es hatte Karla geschienen, als habe sein Schädel tatsächlich geraucht. Erwidert hatte sie nichts mehr. Sie hatte gelernt, dass es besser für sie war zu schweigen.
Keine der Frauen, die Friederich in schöner Regelmäßigkeit anschleppte, hatte es länger bei ihm ausgehalten. Alle hatte er abwertend und oft mit schmerzender Nichtbeachtung behandelt, nachdem sie eine Beziehung mit ihm eingegangen waren und diese schnell den ersten Glanz verloren hatte. Nachtragend und äußerst gekränkt hatte er sich gegeben, wenn sie hatten gehen wollen. Einige von ihnen waren nach vielen Versprechen seinerseits zunächst geblieben. Geerntet hatten sie seinen Hass und seine erbarmungslose Vernichtung in Worten und Taten, sowohl im Hier und Jetzt als auch bei allem, was noch in der Ferne lag. Niemand war jemals seiner Genialität, so sah Friederich es selber, gerecht geworden.
Hinter vorgehaltener Hand sprachen andere von seinem unersättlichen, fresswütigen Ego. Zu seinem hungrigen Bedürfnis nach allseitiger Bewunderung, das er schon als kleiner Junge gehabt hatte, kamen letztendlich ein desaströser Mangel an Einfühlungsvermögen anderen gegenüber sowie ein übersteigertes Selbstwertgefühl hinzu. Friederich war ein Narzisst, wie er im Buche stand. An nichts, was ihm persönlich nichts nutzte, hatte er Interesse. Seine Welt drehte sich einzig und allein um ihn, Friederich. Er war der Nabel der Welt. Manche munkelten schon, dass sein Narzissmus ihn noch einmal ins Unglück stürzen würde. Aber niemand traute sich, es ihm zu sagen. Auch Karla nicht. Und seine Geschwister Karl, der 2002 mit gerade einmal 50 Jahren gestorben war, und Hermine auch nicht. Es hätte auch nichts gebracht, denn Friederich hätte das Problem sowieso nicht erkennen können oder wollen.
Irgendwann vor zehn Jahren hatten Hermine und ihr Mann Karla aus Friederichs Fängen befreit. Zu diesem Zeitpunkt hatte Friederich seine alte Mutter, wie er es damals nannte, „freundlichst überzeugt“, ihm den Haushalt zu führen. In Wirklichkeit hatte er sie massiv in eine Ecke gedrängt und dabei fast geschlagen. Erst im letzten Moment hatte Friederich seine Faust im Schwung noch gestoppt, unmittelbar, bevor sie Karlas Kinn erreichte. Mal wieder war Friederich eine seiner Frauen abhandengekommen, die, wie einige der vorherigen auch, es nun so gar nicht einsah, dass sie für ihn in seiner Villa alles machen sollte und er mit ständiger Abwesenheit glänzte, sie dafür aber mit verachtenden Manieren belohnte. Zusammenhänge, die Friederich natürlich verschlossen blieben, ganz einfach auch deshalb, weil er an so etwas Belangloses niemals einen Gedanken verschwendete.
Daher hatte er sich seine Mutter vorgeknöpft, was er auch öffentlich in seiner Firma herumerzählte, verhalf ihm das dort doch, so glaubte er, zu weiterer Autorität. Jemanden für den Haushalt einzustellen sei betriebswirtschaftlicher Unfug, hatte er Karla deutlich wissen lassen, es koste ihn nur viel Geld. Schließlich sei sie ja auch freiwillig zu ihm gezogen und würde mietfrei bei ihm wohnen, also solle sie sich nicht so anstellen und gefälligst anfangen zu putzen, einzukaufen und all die Dinge zu tun, die in einem Haushalt nun mal so anfielen. Mit dem hohen Alter ihrer mittlerweile 84 Jahre bräuchte sie ihm gar nicht erst zu kommen, das sei absolut kein Argument für ihn und zähle allenfalls als billige Ausrede. Wer essen und wohnen wolle, müsse dafür auch etwas tun.
Einen Zeugen gab es für das Ganze nicht. Und Karla war dankbar dafür. Sie wertete Friederichs Verhalten als Ausrutscher, den man sich ja auch erklären könnte, bei all dem Stress, dem er ausgesetzt gewesen war, so hatte sie später Hermine erklärt, der zufällig die blauen Flecken an Karlas Oberkörper und die gebeugte Schutzhaltung ihres Körpers auffielen. Hermine fiel fast aus allen Wolken aufgrund dieser Argumentation. Ihr war das Verhalten ihrer Mutter schon länger merkwürdig vorgekommen und sie hatte deshalb mehrfach nachgebohrt. Und zwar so sehr, dass Karla schließlich nichts anderes übrig blieb, als die Wahrheit zu sagen. Als nun wiederum Hermine von Karla von vielen lautstarken Streitereien im Hause Koers erzählt bekam, die sie miterlebt, aber bislang verschwiegen hatte, hatte Hermine nicht länger gezögert und den Umzug von Karla schnellstens organisiert und in Friederichs Abwesenheit vollzogen. Fortan lebte Karla bei Hermine und ihrer Familie und Friederich ward nicht mehr gesehen. Volle sieben Jahre