Lügen im Sturzflug - Gretchen Hilbrands - E-Book

Lügen im Sturzflug E-Book

Gretchen Hilbrands

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Beschreibung

Vor den Augen seiner Tochter Meike stürzt der begeisterte Sportflieger Björn Karbach mit einem Sportflugzeug ab. Nach seinem Tod wird Meike und seiner Frau Kathrin deutlich, wie sehr Björn sie in ein Lügengebilde hineingezogen hat. Erst allmählich bauen die beiden sich ein neues Leben auf. Dann überschlagen sich die Ereignisse und die Vergangenheit des Vaters und ihres Freundes Sam verfolgt sie mehr und mehr und wird zur lebensbedrohlichen Gefahr. Psychologisch, ideenreich, spannend - mit christlichen Aspekten. Leseprobe: "Mit voller Gewalt wurde Kathrin hochgezogen. Der Mann war brutal. Kathrin bekam es mit der Angst zu tun. Und sie hatte sein Gesicht gesehen. Egal, wie es ausgehen würde, die Gefahr, dass der Mann schießen würde, war sehr groß. Er konnte nur verlieren, wenn sie überlebte. Fast wäre sie ohnmächtig geworden, aber in quasi letzter Minute musste sie an Meike denken. Und wieder gewann die Löwin in ihr die Oberhand."

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Seitenzahl: 276

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ich habe schon früh im Leben gemerkt, dass die Not eines Lügengebäudes viel größer ist als die Lüge selber.

Sigrid S. (93 Jahre)

Gretchen Hilbrands

Lügen im Sturzflug

Kriminalroman

© 2021 Gretchen Hilbrands

Umschlag, Illustration: Gretchen Hilbrands

Coverfoto: Nikola Roth

Korrektorat, Titel: Inka Radtke

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback

ISBN 978-3-347-23741-4

Hardcover

ISBN 978-3-347-23742-1

e-Book

ISBN 978-3-347-23743-8

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Leer (Ostfriesland)    Montag, 12. Oktober

Manchmal ist das Leben ganz schön schwer, seufzte Meike innerlich, bemüht, ihre Gedanken nicht in ihrer Mimik deutlich werden zu lassen, für den Fall, dass ihre Mutter noch hinter ihr herschaute. Mütter hatten eben einen sechsten, ach was, auch noch einen siebten oder achten Sinn, war Meikes Erfahrung. Geheimnisse und Mütter wollten sich eben nicht vertragen, da war sich Meike ganz sicher. Wenn Mama alles wüsste, sie würde mir die Hammelbeine lang ziehen, dachte Meike, während sie ihren Fahrradschlüssel aus der Hosentasche zog. Gut, dass Mama nicht alles weiß. Nur, ewig werde ich diese Versteckspiele nicht aufrechterhalten können. Meike nahm ihr Fahrrad aus der Garage und machte sich auf den Weg zur Schule. Sie war knapp dran. Zum Glück war allerdings der Schulweg nicht mehr so lang wie früher. Es hatte eben auch Vorteile, in einer Kleinstadt zu wohnen.

In aller Eile radelte Meike am Hafen vorbei. Eines der Glanzlichter neben der schönen Altstadt hier in Leer. Ja, das Leben in Leer hatte was. Hier konnte Meike auch erst einmal Abstand zu den letzten Jahren gewinnen. Fast schien es ihr, als wenn die Zeit vor Leer allmählich aus ihrem Leben verschwand, aber eben nur fast.

Das Einleben in Leer war Meike nicht schwergefallen. Ostfriesland. Leer in Ostfriesland. Als Mama sagte, dass sie wieder heiraten wolle und sie beide dann nach Ostfriesland ziehen würden, hatte sich alles, aber auch wirklich alles in Meike gesperrt. Ostfriesland lag für sie dort, wo sich Hase und Igel gute Nacht sagten. Die Menschen wären absolut stur und würden nur Plattdeutsch reden, so hatte sie gehört. Doch weit gefehlt. Die Leute waren absolut in der Lage, Hochdeutsch zu reden und nett waren sie auch. Sehr nett sogar, fand Meike.

Ganz in Gedanken war Meike inzwischen in der Schule angekommen. Gerade noch rechtzeitig konnte sie sich rennend ins Klassenzimmer mogeln, bevor Herr Dr. Rainders die Tür energisch hinter sich schloss. Auch wenn es Meike sichtlich schwerfiel, von ihren Gedanken Abschied nehmen zu müssen, zu schwer wog einfach der Stein, der seit ihrer Geheimniskrämerei in ihrem Herzen eingezogen war, Meike riss sich zusammen und folgte den mehr oder weniger interessanten Ausführungen ihres Chemielehrers.

Frankfurt am Main – Blick in die Vergangenheit

In Meike Karbachs 16-jährigem Leben hatte es schon so manches Abenteuer gegeben. Sie hatte mit ihrer Mutter Kathrin, ihrem Vater Björn und dem kleineren Bruder Mathis in einem Dorf südlich von Frankfurt am Main gelebt. Als Meike 13 Jahre alt war, hatte sich jedoch alles, aber auch wirklich alles, verändert.

Von Natur aus war Meike selbstbewusst. Schon früh hatte sie gewusst, dass sie eines Tages wie ihr Vater fliegen wollte. Björn war Hobbypilot gewesen. Kleine Maschinen, in denen man sich noch so richtig den Wind um die Nase wehen lassen konnte, wie er immer sagte, waren einfach „sein Ding“ gewesen.

Björn hatte seine große Leidenschaft der Sportfliegerei konsequent auch gegen die Bedenken seiner Frau durchgesetzt. Und Kathrin war auch damit einverstanden gewesen, bis, ja, bis die Kinder da waren und Björn sie regelmäßig mitnahm. Kathrins große Angst war ein möglicher Absturz. Björn hatte diese Angst nicht ernst genommen. Abstürzen würden vielleicht die Anderen, aber er doch nicht. Zu groß sei sein fliegerisches Können, zu viel Erfahrung habe er, und außerdem würde er das Schicksal ja nicht herausfordern…

Meike hatte Björns Leidenschaft geteilt. Nichts hatte sie jemals so begeistern können wie das Fliegen. Seit sie klein war, träumte sie davon, ihren Pilotenschein für Sportflugzeuge und dann später auch für größere Flugzeuge machen zu können. Längst stand ihr Berufswunsch fest: Pilotin. Früher wollte sie unbedingt zu British Airways, für deren imposante Flugzeuge mit dem Union Jack auf der Heckflosse sie schon als kleines Kind geschwärmt hatte: „Die roten Streifen fliegen so toll im Wind“. Irgendwann war diese Schwärmerei unwichtig geworden. Von dem Zeitpunkt an hieß es, Hauptsache FLIEGEN.

Mathis war ebenfalls begeistert mitgeflogen. Wann immer sich die Gelegenheit bot, begleitete er den Vater voller Stolz, und zwar stets gegen den Willen und das Wissen der Mutter.

Mathis zweite Liebe galt den Tieren. Diese zogen ihn ebenfalls an, in ihrer ganzen hinreißenden Vielfalt. Es gab keinen Zoo in Deutschland, dessen Tiere Mathis nicht kannte. Wenn nicht vom Zoobesuch her, so doch aus dem Fernsehen oder aus dem Internet. Auch hiermit konnte er sich stundenlang beschäftigen. Dumm nur, dass die Schule so viel seiner Zeit in Anspruch nahm…

Kathrin war von Beruf Tierärztin. Nach einer längeren Elternzeit arbeitete sie wieder. Und so hatte sie auch nicht mitbekommen können, dass Björn die Kinder immer häufiger mit auf den Flugplatz nahm. Hätte sie dies auch nur ansatzweise geahnt, so wäre sie mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen angegangen.

Aber so blieb es eben, wie es war. Kaum war die Mutter am Nachmittag wieder in der Praxis und der Vater von der Arbeit zu Hause, so machten sich die drei Airliners, wie sie sich nannten, auf den Weg zum naheliegenden Flugplatz in Frankfurt-Egelsbach. Björn hatte dort ständig etwas zu tun. Entweder war er in der Luft, teils um sich zu entspannen, wie er es nannte, und teils, weil er hier einen Nebenjob bei Sam hatte, der in Egelsbach eine Zweigstelle seiner Firma auf dem Fluggelände betrieb.

Sam Backards hatte vor einigen Jahren in Frankfurt Hahn einen Flugbetrieb mit angegliederter Flugschule aufgemacht, als die Amerikaner den ursprünglichen Militär-Flughafen an Deutschland zurückgegeben hatten. Sam kam gebürtig aus den USA, war in Deutschland stationiert gewesen und nun, nachdem die amerikanischen Soldaten ihre Einheit aufgegeben hatten, einfach als Relikt einer vergangenen Zeit hiergeblieben. Nichts, aber auch gar nichts, hätte ihn dazu bewegen können, zurück in die USA zu gehen. Das deutsche Leben gefiel ihm. Auch wenn es in Manchem wesentlich komplizierter zu sein schien, als er es als Amerikaner gewohnt war. Aber schon allein die Liebe zu seiner deutschen Frau Simone hatte ihn überzeugt, genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort auf der Welt zu sein.

Sam war zunächst ausschließlich in seiner Firma in Frankfurt-Hahn, also in Rheinland-Pfalz, tätig gewesen, und damit in etwa 125 Auto-Kilometer von Frankfurt am Main entfernt. Aber schon bald hatte er erkannt, dass er für seine Firma eine weitere Basis auf einem kleineren Flugplatz in der Nähe von Frankfurt benötigte. Er hatte sich für den Verkehrsflugplatz in Egelsbach entschieden, der ca. 10 km südlich vom Rhein-Main-Flughafen entfernt lag. Hier hatte Sam zwei Cessnas und eine Piper im Hangar stehen und brauchte für die 100 km Flugdistanz nach Hahn je nach Windverhältnissen nur ca. 25 Minuten. So konnte er auf effektive Weise zwischen dem Wohnsitz der Backards in Frankfurt und seiner Firma in Hahn pendeln.

Für Björn, der mit seiner Familie in einem Dorf bei Frankfurt lebte, war diese Entscheidung ein Glücksfall. So war er schnell nach der eigentlichen Arbeit bei seiner heißgeliebten und schönsten Nebentätigkeit der Welt. Und das nahezu ohne großen zeitlichen Verlust.

In Egelsbach boten vor allem Nick, ein angestellter Pilot, und Björn Flugunterricht an oder übernahmen Aufträge, die ihnen von Sams Firma aus Hahn übermittelt wurden. Außerdem hatte die Firma an beiden Standorten attraktive Rundflüge mit herrlichen Aussichten aus dem Cockpit im Programm. In Egelsbach war dies besonders reizvoll, so schwärmte Björn immer wieder und machte kräftig Werbung bei jedem, der es hören wollte oder nicht.

Björn war fasziniert von Flügen rund um die glitzernde Frankfurter Skyline mit dem Wahrzeichen Frankfurts, dem 256,5 m hohen MesseTurm, auch liebevoll Bleistift genannt, oder den anderen über 30 verschiedenen Hochhäusern der Stadt, die Frankfurt zur einzigen Stadt Deutschlands machten, die überhaupt eine solche Skyline im Angebot hatte. Majestätisch, atemberaubend, glitzernd und strahlend im Sonnenlicht in ihren dekorativen Komponenten.

Aber auch die reich bewaldeten Bergmassive, wie der Taunus, der Feldberg, der Odenwald oder der Vogelsberg, dem ja immerhin größten Vulkanmassiv Mitteleuropas, sowie die kontrastreich und farblich herrliche, wie von Meisterhand gestaltete Wetterau mit ihren je nach Jahreszeit leuchtenden Äckern und Feldern, hatten es Björn, wie vielen anderen auch, angetan. Welch wunderschöne Gegenden, abwechslungsreich in der Farbgebung und Gestaltung, mit zahlreichen Burgen und Schlössern aus einer längst vergangenen Zeit, herrlichen Fernsichten, kleinen Altstädten mit Fachwerkbauten, mittelalterlichen Städten, bizarren Basaltlandschaften, Tälern, Bergen, flachen Feldern, Flussläufen und deren Quellen… All das sei eine malerische Komposition für jeden Betrachter, abwechslungsreich und attraktiv für Flugschüler, herausfordernd und schön zugleich, so hatte Björn geschwärmt. Und tatsächlich kamen viele Flugschüler aus genau diesen Motiven nach Egelsbach und ließen sich von Björns Begeisterung vom Fliegen und der Landschaft allzu gerne anstecken.

Aber auch Gewerbetreibende, die ein schnelles Lufttaxi benötigten, um den ständigen Staus auf den Autobahnen, vor allem der A5, zu entgehen, genossen den guten, schnellen und verlässlichen Service, den Sam mit seinem Betrieb garantierte. Die meisten Angestellten von Sam arbeiteten in Hahn, von wo aus Flugplätze in ganz Deutschland immer wieder angeflogen wurden ebenso wie im nahen Ausland. Egelsbach war der ideale Standort für Sam und Björn. Sam war schnell in Hahn mit seiner Piper, die er meistens flog, und konnte so die Hauptgeschäfte in Hahn erledigen, während Björn in jeder freien Minute, die er erübrigen konnte, jederzeit gerne bereit war, mit Flugschülern Maschine und Gegend zu erkunden. Für Björn die schönste Nebentätigkeit, die es gab.

Sam war Björns bester Kumpel und Verbündeter. Auf Sam und Nick konnte sich Björn verlassen, wenn denn Kathrin mal am Tower oder in der Flugschule anrief oder schlimmer noch, dort plötzlich auftauchte. Damit Björn seiner Leidenschaft frönen konnte, ließen sich beide alle möglichen Ausreden einfallen. Und es fielen ihnen viele ein. Unendlich viele.

So waren auch Meike und Mathis mit den Notlügen ihres Vaters aufgewachsen. Notlügen seien das Salz in der Suppe hatte ihnen dieser auf ihre Nachfragen erklärt. Wohl hatten beide Kinder ihren Vater darauf angesprochen, wo denn die Grenze zwischen Lüge, die ihnen die Eltern strikt verboten hatten - „Lügen darf man nicht!“ - und der Notlüge, die der Vater immer dann einsetzte, wenn er sie für klug hielt, läge. Notlügen seien manchmal notwendig, war seine Antwort gewesen.

Merkwürdig war für Meike nur die Erfahrung, dass der Vater ihre Notlügen, die sie hin und wieder gebrauchte, stets kritisierte und als falsch einstufte. Na ja, Erwachsene sind manchmal komisch, war Meikes Erkenntnis gewesen. Mal darf man, weil es dem Erwachsenen in den Kram passt, und dann darf man wieder nicht, weil er sich ausgebootet und belogen vorkam. Ihrem Vater war die Notlüge jedoch stets der Weg gewesen, um Kathrin in der falschen Sicherheit zu wiegen, dass ihren drei Liebsten auf dem Flugplatz nichts passieren könne.

Doch genau das war geschehen. Es war etwas passiert. Wie so oft waren Björn, Mathis und Meike auf dem Flugplatz in Egelsbach gewesen. Meike hatte gerade ihre ganz große Überraschung für die Mutter in der Tasche: ihren Pilotenschein für Sportfliegerei als jüngste Pilotin in der Geschichte der Sportfliegerei mit einer Sondererlaubnis.

Es war Björns Geheimnis geblieben, wie er dazu gekommen war. Aber was spielte das für eine Rolle. Hauptsache, Meike durfte den Schein machen. Wenn Kathrin erst sehen würde, dass es Meike mit der Fliegerei Ernst war und sie schon etliche Flugstunden und den Pilotenschein für kleinmotorige Flugzeuge in der Tasche hätte, dann würde ihr Widerstand sicherlich brechen, hatte er gemeint. Wenn denn Meike den Schein erst in der Tasche hätte, dann könnte Kathrin sich nicht mehr dagegen auflehnen. „Und am besten, du gibst ihn der Mama an ihrem Geburtstag“, hatte er gemeint. „Dann ist sie am mildesten gestimmt und immer besonders guter Laune. Außerdem macht sie dann frei. Und das ist am besten für uns alle.“

Also hatten Meike und Mathis geschwiegen. Meike hatte heimlich und in vielen Stunden für die theoretische Prüfung gelernt und dann unter der Obhut ihres Vaters die praktischen Übungen gemacht. Und dann war der große Tag da. Drei Tage vor Kathrins Geburtstag.

Die Prüfung war gut gelaufen, sehr gut sogar für ihr Alter. Voller Stolz hatte Meike die Lizenz vom Prüfer erhalten und in den Händen gehalten. Überglücklich und zuversichtlich war sie gewesen, als dann plötzlich Sam auf der Bildfläche erschien.

Sam hatte nach einer komplizierten OP am Fuß einige Tage im Krankenhaus verbracht. Daher hatte er seine neueste Errungenschaft direkt nach Egelsbach und nicht nach Hahn ausliefern lassen. Seine neue Perle, eine nigelnagelneue einmotorige Cirrus SR22-G6 war zwischenzeitlich geliefert worden, die natürlich ohne Sams Einwilligung nicht ausprobiert werden durfte.

Die Cirrus SR22-G6 war ein modernes Leichtflugzeug der Superlative und hatte eine immense Stange Geld gekostet. Dafür bot sie modernste Technik vom Feinsten. Und dazu noch schnell, ultraleicht, supersicher. Die amerikanische Firma Cirrus setzte schon mit dem Eingangsmodell SR22-G1 neue Standards in der allgemeinen Luftfahrt, aber diese gerade erst auf dem Markt erschienene Weiterentwicklung erfüllte Sams größten Wunschtraum.

Durch „Vitamin B“ war es Sam gelungen, das Modell SR22-G6 als einer der Ersten, direkt vom Hersteller zu erwerben. Das Fliegerherz galoppierte in Freudensprüngen: modernste ausgefeilte Technik, gekoppelt mit reichlich neuesten Features, eine komfortable, luxuriöse Innenausstattung und das herausragende Gesamtrettungssystem, welches im Notfall eine Landung des gesamten Flugzeugs am Fallschirm ermöglichte, sodass die Maschine ohne große Schäden langsam Richtung Boden sinken konnte, waren nur ein paar der Pluspunkte dieses Leichtflugzeugs erster Sahne.

Sam frohlockte beim Anblick dieses Kleinods. Diese neue Maschine bedeutete Arbeiten mit hohem Genuss und absolutem Spaßfaktor. Eine Perle, die er sich zugelegt hatte, auch wenn die Vernunft und das große finanzielle Loch eine andere Sprache sprachen.

Simone kam mit Sam direkt aus dem Krankenhaus. Björn sollte den Flug absolvieren und dabei den Flughafen in Konstanz anpeilen. Er hatte seine Tochter noch schnell in den Arm genommen und es plötzlich ganz eilig gehabt. Mathis hatte gebettelt, dass er doch mit wolle, schließlich habe er die ganze Zeit nur zuschauen müssen, wie seine Schwester ihre Runden drehen durfte. Björn war voller Stolz auf Meike gewesen und hatte eingewilligt, wohl wissend, dass Kathrin abends sauer auf ihn sein würde, wenn sie erst spät nach Hause kommen würden. Denn spät würde es werden bei der angepeilten Flugroute. Trotzdem hatte er sich auf den Flug eingelassen und gefreut, eine solche Gelegenheit erhielt man so schnell nicht wieder. Ihm war klar, dass Sam selber hatte fliegen wollen. Was für ein Geschenk des Schicksals, Björns Begeisterung kannte keine Grenzen. Er durfte diese absolut neue, traumhafte Cirrus als Erster der Firma fliegen. Vor allen anderen. Und auf Kosten der Firma. Megastark! Und natürlich durfte Mathis mitfliegen. Wie immer, wenn Björn in dieser ausgelassenen Stimmung war und Mathis nur genug bettelte.

Die Formalitäten waren schnell erledigt, Simone hatte vorgesorgt. Die Maschine stand aufgetankt im Hangar. Eigentlich war Sam nicht damit einverstanden gewesen, dass Mathis mitflog, aber Björn hatte ihn beruhigt. Und Björn konnte sich fast alles bei Sam erlauben, zu sehr war dieser auf ihn angewiesen. Dazu kam, dass Björn mehrere Tausend Flugstunden nachweisen konnte, technisch absolut versiert war und einfach einen Faible fürs Fliegen hatte.

„Solche Mitarbeiter braucht das Land“, dachte Sam, der schweren Herzens den Erstflug mit der Cirrus nicht selber machen konnte, weil er diese klobige, nach vorne hin offene Gipsschiene am Bein hatte. Der Arzt hatte ihn krankgeschrieben, ihm verboten zu fliegen und den Fuß zu belasten. „Zumindest momentan noch und dann die nächsten 14 Tage auch noch“, hatte der Chirurg lachend und augenzwinkernd gemeint. Er solle einfach zuhause bleiben und die PECH-Regel anwenden, riet der Arzt: Pause, Eis, Compression, Hochlagern.

Sam war schon absolut genervt von Krankenhausaufenthalt und OP. Und jetzt sollte er sein Lieblingsspielzeug nicht einmal selber ausprobieren können und noch nicht einmal mitfliegen dürfen. Was für ein großer Mist! Nicht, dass es Sam gestört hätte, mitzufliegen. Er hatte gemeint, dass er das ja wohl könne, auch wenn er noch keine Stunde aus dem Krankenhaus entlassen war und die Folgen des Eingriffs noch deutlich spürte. Ihn hätte es nicht gestört, wohl aber Simone, die nicht nachließ, ihn auf die Hinweise des Arztes aufmerksam zu machen.

Also musste ein anderer seiner Piloten fliegen. Die Maschine musste schließlich abgenommen und auf einer längeren Strecke getestet werden. Zufällig war am Vormittag ein Flug nach Konstanz gechartert worden. Ein Idealfall, so brauchte zumindest für den Testflug kein unnötiges Kerosin verschleudert werden. Immerhin versöhnte Sam dieser Gedanke und auch, dass Björn, sein engster Kumpel, für ihn fliegen würde.

Aber ärgerlich war es schon, dass er ausgerechnet Simone gebeten hatte, ihn aus dem Krankenhaus abzuholen. Hätte er sich doch nur einfach ein Taxi genommen. Normalerweise wäre sie in Frankfurt-Hahn in der Firma gewesen und Sam hätte bei Björn einsteigen und mitfliegen können. Aber das konnte er nun wohl vergessen. Simone wachte, befeuert durch die Worte des Arztes, akribisch über ihren Göttergatten. Als ob er ein Kind wäre und nicht selbst entscheiden könnte, was gut für ihn wäre, grollte Sam vor sich hin. Immerhin hatte sich Simone mittlerweile ins Büro hier in Egelsbach verzogen, um ein paar Akten zu holen, und um dann auch Sam in Kürze mit nach Hause nehmen zu können.

Björn war also mit Begeisterung in den Hangar gegangen, hatte sich die Cirrus angeschaut und sie liebevoll getätschelt. Der obligatorische Koffer war ebenso schnell an Bord gewesen wie Mathis und Björn. Die Starterlaubnis wurde problemlos erteilt. Das Flugzeug hob ohne Probleme ab. Wie gerne wäre ich mit an Bord, hatte Meike noch gedacht. Aber der Vater war rigoros gewesen und hatte sich für Mathis entschieden.

Meike und Sam hatten der Cirrus noch nachgeschaut, als es kurz nach dem Start plötzlich einen lauten Knall gab. Vor ihren Augen fiel die Maschine wie ein Stein zu Boden, ohne, dass vom Fallschirm, der ja an Bord war, etwas zu sehen war. Meike war der Schrecken in alle Glieder gefahren. Sam hatte sich, so schnell er konnte, ins Auto gesetzt, um zur Absturzstelle zu fahren. Meike rannte ihm hinterher und so waren die beiden die Ersten an der Unglücksstelle gewesen, noch bevor die Sirenen aufheulten. Alles, woran sich Meike dann erinnern konnte, war das Feuer an der Maschine und Sam, der sie zurückgehalten hatte.

Eine gewaltige Explosion hatte das Wrack zerrissen, unmittelbar, bevor sie es erreichten. Überall waren nur Flammen, stickiger Rauch und Trümmerteile. Sam hatte Meike an sich gedrückt, mit dem Gesicht an seinen Bauch. Nur so konnte er ihr den grausamen Anblick dessen ersparen, was ihm nicht verborgen blieb. Auch ihm fiel der Anblick schwer, unendlich schwer. Unbegreifbar war dies alles. Noch sah er den winkenden Mathis neben Björn im startenden Flugzeug. Und nun dies. Keiner der beiden hatte das Unglück überlebt. Es war, als hätte der Boden unter Sams und Meikes Füßen ein großes Loch bekommen. Sams verheißungsvoller Traum hatte in einem wüsten, grausigen Trümmerfeld sein schnelles Ende gefunden.

Zügig waren Feuerwehr, Rettungsfahrzeuge und Polizei am Unglücksort gewesen. Man hatte Meike zum Flugbüro gebracht, nachdem Sam der Polizei mitgeteilt hatte, dass die Verunglückten Vater und Bruder seien. Aber Meike hatte genug gesehen, um für lange Zeit traumatisiert zu sein…

Leer (Ostfriesland)   Montag, 12. Oktober

„Meike“, ein energischer Herr Dr. Rainders schaute sie vorwurfsvoll an. „Wirst du denn nie mal im Unterricht aufpassen? Seit drei Wochen schaue ich mir das jetzt schon an. Auch, wenn du neu bist, alles hat ein Ende. Und genug ist genug. Ich werde mich bei deiner Mutter beschweren.“

Erschrocken schaute Meike auf. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass ihre Gedanken zum Tag des Unfallgeschehens gewandert waren. Dies passierte ihr immer wieder. Allerdings hatte sie gedacht, sich jetzt besser im Griff zu haben. Auf der neuen Schule in Leer werde ich es schaffen, hatte sich Meike gesagt. Wenn ich nur weit weg von Frankfurt bin. Weg vom Flughafen. Weg aus Hessen. Weg von den Freunden vom Flugplatz… Unweigerlich schossen ihr die Tränen in die Augen.

Dr. Rainders war sichtlich sauer: „Ich rede hier und rede. Ob ich mit einer toten Möwe rede oder mit dir, das macht keinen Unterschied. Aber jetzt ist es genug.“ Welch ein Segen, dass es läutete. Dr. Rainders stob aus dem Klassenzimmer hinaus, als wenn ein Nashorn hinter ihm her wäre.

„Mensch, Meike, was ist denn los?“, wollte Anne, ihre neue Freundin hier in Leer, wissen. „Du hast aber auch total gepennt. Warst wohl in Frankfurt mit deinen Gedanken wie?“

Lars, der sich von seinem vorderen Tisch nach hinten durch die Klasse schob, musste natürlich auch seinen Senf dazugegeben: „Tja, die Hessen, kannst vergessen. Die träumen und schäumen! Und die meisten sind verschlafen, auch die braven…“

„Reim dich oder ich fress dich!“ Anne war jetzt sauer. Ausgerechnet der Musterschüler Lars wieder mit einem seiner doofen Sprüche. Dumm nur, dass die meisten aus der Klasse lachten.

Meike lief rot an. Auch eine dumme Angewohnheit in letzter Zeit. „Du Anne“, versuchte sie noch zu stammeln, doch diese war längst in einem Knäuel von rivalisierenden Jungen verschwunden. Schwärmte sie doch heimlich für Lars, auch wenn ihr dessen Sprüche gehörig auf den Senkel gingen. Meike kam sich total alleingelassen und einsam vor. Viele neue Freunde hatte sie auch noch nicht gewinnen können, genau genommen nur Anne und Heike aus ihrer Klasse.

Das Knäuel der Klassenkameraden löste sich auf, als Frau Marks den Raum betrat. Oh nein, stöhnte Meike innerlich. Jetzt auch noch Englisch. Frau Marks kannte kein Pardon. Wer drei Vokabeln aus der Lektion nicht beherrschte, die sie lernen sollten, der hatte in Zukunft kein einfaches Leben mehr. Und Meike hatte sowieso schon kein einfaches Leben mehr. Seit der Brief vom Landgericht aus Frankfurt am Main gekommen war, konnte sie sich auf nichts mehr konzentrieren. Und schon gar nicht auf englische Vokabeln. Außerdem war die Klasse in Leer weiter im Stoff als in ihrer früheren Schule. Kein Wunder also, dass Meike wieder in Ungnade fiel und sich den nächsten Verweis einholte. Ich will nur noch weg hier, dachte Meike. Alles ist besser als hier bleiben. Einfach nur weg. Keine Schule, keine neue Stadt, keinen neuen Vater und vor allem kein Landgericht. Ich muss irgendwie weg, dachte sie. Nur wohin? Doch zunächst konnte sie sich die Gedanken ersparen, denn nun hatte Frau Marks sich ein neues Opfer gesucht. „Meike, please, let up. Tell me…“

Der Rest des Vormittags verlief zäh und langsam. Aber auch dieser Vormittag ging irgendwann einmal zu Ende. „Kommst du noch mit zu Bruno?“, fragte Anne, auf die Stammpizzeria der Klasse verweisend. „Oder musst du direkt nach Hause?“ Eigentlich gab es keinen Grund für Meike, nicht mitzugehen, aber irgendwie war heute kein guter Tag für sie. „Nein, sorry, ich muss heim.“ „Schade, na ja, wie du willst. He, Jule, warte auf mich, ich komm mit.“ Anne winkte ihr noch fröhlich zu und schon war sie verschwunden.

Meike nahm ihr Fahrrad und schob es vom Schulhof Richtung Heisfelder Straße. Langsam radelte sie dann zum Hafen. Hier konnte sie am besten nachdenken und Entschlüsse fassen. Am Hafen vergnügten sich beim schönsten Herbstwetter Dutzende von Leuten. Also fuhr Meike weiter, bis sie zum Industriehafen kam. Endlich hatte sie einen Platz für sich alleine gefunden. Ein großer Schrottberg schirmte die Sicht Richtung Straße ab. Von der Welt alleingelassen und nicht verstanden, versteckte sich Meike hinter einem verbeulten Auto direkt am Wasser. Was mach ich nur? Meike war so froh, dass sie den Brief abgefangen hatte, der im Briefkasten lag. Aber was mach ich nur?

Zum Glück hatte Kathrin in Leer gleich einen Job wiederbekommen, nachdem sie und Bernd beschlossen hatten zu heiraten. Bernd war aus Leer, Tierarzt wie Kathrin. Sie hatten sich zwei Jahre nach Björns Tod auf einer Messe in Dortmund kennen und schätzen gelernt. Bernd hatte eine eigene Tierarztpraxis hier in Leer. Die beiden verstanden sich auf Anhieb. „Irgendwie liegen wir auf einer Welle“, schwärmte Kathrin. Für Kathrin war es das erste Durchatmen nach Björns Tod, als sie Bernd kennen lernte. Zu früh, fand sie selber. Zu früh für sich selber. Zu früh für Meike. Aber wann ist schon der richtige Zeitpunkt? Und wer bestimmt ihn?

Meike war zuerst auch gar nicht erbaut von Bernds plötzlichem Auftauchen. Auch wenn er ein total netter Kerl war. Nett und behutsam. Nicht fordernd. Bernd hatte ihr Zeit gelassen. Viel Zeit. Und dann eines Tages war Bernd mit Kathrin angekommen und sie hatten Meike von der bevorstehenden Hochzeit erzählt. Und dann die bittere Pille: der Umzug nach Leer. Meike war mitgegangen. Es war zwar alles gut, aber irgendwie auch nicht. Der Tod ihres Vaters und Bruders hatte sie eingehüllt in einen watteartigen Zustand, der sie allzu oft vom Leben abschirmte. Wieder sah Meike die Trümmer auf der Wiese liegen und Blut… Zum ersten Mal sah sie in ihrer Erinnerung Blut, viel Blut. Sie erschrak. Das Blut von Björn oder Mathis? Oder von beiden? Die Tränen kamen erneut. Nun war sie nicht mehr in der Lage, sie zu halten.

Auch das war neu. In der ersten Zeit hatte sie oft weinen müssen, aber irgendwann waren die Tränen dann versiegt, so als gäbe es keine mehr… Und nun waren die Tränen plötzlich wieder da. Meike schaute zu dem alten Containerschiff am gegenüberliegenden Kai. Wenn ich doch nur auf so einem Schiff wegfahren könnte. Nur weg. Einfach weg. Der Brief. Der Brief im Kasten. Da war er wieder, der Gedanke an diesen unheilvollen Brief.

Nach dem Flugzeugabsturz von Björn und Mathis hatte die Polizei Kathrin per Autotelefon ausfindig gemacht und sie auf behutsame Weise, so, als müsse Kathrin bei einem Unfall mit einem Tier als Tierärztin Hilfe leisten, in Richtung Flughafen gelotst und vorher abgefangen. Dann hatte man ihr die bittere Wahrheit versucht schonend beizubringen. Aber was war schon schonend an dieser Form der Wahrheit?

Kathrin war wie von Sinnen in Richtung Flugzeug gerannt, unfähig, auch nur ansatzweise zu begreifen, was sich hier abgespielt hatte. Eine Polizeibeamtin hatte sie dann ins Flughafengebäude zu Meike gebracht. Sie waren sich nur schluchzend in die Arme gefallen. Ohne Worte. Nur ein Festhalten der jeweils anderen. Kathrins schlimmster Albtraum war wahr geworden.

Später hatte man sie nach Hause gebracht. Simone und Sam hatten angeboten, dass die zwei bei ihnen bleiben sollten, aber das hatte Kathrin abgelehnt.

Die nächsten Tage und Wochen waren die schwersten ihres ganzen Lebens. Die Polizei hatte die Leichen obduziert, den Unfall an sich untersucht, Verhöre durchgeführt und Protokolle angefertigt. Meike war als Augenzeugin vernommen worden. Sie wollte die Mutter bei der Zeugenaussage nicht dabei haben. So hatte sie bereits als 13Jährige eine Welt kennen gelernt, die ihr in diesem jungen Alter eigentlich noch hätte erspart bleiben sollen.

Es war furchtbar gewesen. Kathrin hatte überhaupt nicht wahrhaben wollen, dass Björn und Mathis nie wiederkommen würden. Wie nur hatte das alles passieren können? Eine enorme Wut auf Björn, die Kathrin fast besinnungslos werden ließ, hatte Meike davon abgehalten, auf die Ereignisse vor dem Unfall einzugehen. So war Kathrin nie gewahr geworden, dass Meike den Pilotenschein gemacht hatte. Und auch Sam und Simone hatten Kathrin gegenüber geschwiegen, weil Meike nicht wollte, dass ihre Mutter jetzt davon erfuhr. „Sie muss es erfahren“, hatte Sam gesagt, aber Meikes Wunsch akzeptiert. Und dann war es plötzlich zu spät für dieses weitere Körnchen Wahrheit.

In Gedanken ging Meike noch einmal die Beerdigung durch, während ihr wieder die Tränen über die Wangen liefen. Die ganzen Bilder, die sie nun noch sehen konnte, waren Bilder, auf denen nur noch zwei Personen waren: Sie und Kathrin. Aus vier war zwei geworden. Welch bittere Wahrheit.

Am gegenüberliegenden Kai erschienen zwei Arbeiter. Beide mit einem Eimer Farbe in der Hand. Die werden doch hoffentlich nicht anfangen wollen zu streichen, dachte Meike und kroch noch weiter in ihr Versteck hinein. Ich will allein sein. Allein sein. Einfach allein sein.

Kathrin hatte an diesem herrlichen Herbsttag nur noch zwei Patienten am Nachmittag gehabt. Gerade piepste Bernd sie an. Er müsse noch nach Ihrhove und dann noch nach Papenburg. Es werde also spät bei ihm werden. Na, dann bin ich endlich mal früh zu Hause, dachte Kathrin, die sich über mangelnde Betätigung in ihrer neuen Heimat nicht beklagen konnte. Sie hatte von Bernd die Kleintierpraxis übernommen, war normalerweise mehr in der Praxis tätig, musste aber immer wieder auch Hausbesuche machen. Ein Extraservice hier auf dem Land.

Leer hatte fast 35 000 Einwohner und war eher eine ländliche und überschaubare Stadt. Eine maritime Stadt mit einer herrlichen Altstadt. Und Leer bot alles, was das Leben so brauchte. Hier ließ es sich wirklich gut leben.

Kathrin war gerne hier. Der Tod ihres Mannes und Sohnes hatten ihr so richtig den Boden unter den Füßen genommen. Es war wie ein tiefes Loch, in das sie hineinstürzte. Ein Loch ohne Boden. Kein Halt. Nichts. Nur dieses tiefe, riesige Loch. Als sie sich so einigermaßen gefangen hatte, blieb nur eine große Wut auf Björn zurück. Wie hatte er ihr dies antun können? Immer wieder hatte sie von ihrer Angst gesprochen, ihn immer wieder angefleht, nur ja die Kinder nicht mit ins Flugzeug zu nehmen. Wieder und wieder hatte sie ihn angemahnt. Björn hatte stets mit einem charmanten Lächeln beteuert, dass er dies ja auch gar nicht wolle und mache. Dabei hatte er genau das gemacht.

Kathrin war einfach nur enttäuscht und so richtig sauer wegen dieser ständigen Lügerei. Zuerst hatte sie fassungslos reagiert, hatte Sam, Simone und auch Meike angeschrien, ihre ganze Wut rausgelassen. Die Drei hatten nicht mehr viel gesagt. Die Tatsachen sprachen ja gegen Björn und auch gegen Sam, Simone und Meike. Was noch alles vorgefallen sei, hatte Kathrin wissen wollen. Keiner hatte mehr etwas zu sagen gewagt.

Meike war unheimlich still seit diesem Tag, aber das schrieb Kathrin dem Verlust des Bruders und Vaters zu. Außerdem hatte sie ein Trauma erlitten, ganz eindeutig. Aber so vehement sich Kathrin auch dafür eingesetzt hatte, dass Meike eine Gesprächstherapie bei einem Psychologen machte, so sehr hatte Meike sich dagegen gesträubt. Sie schaffe es auch allein, hatte die selbstbewusste Meike ihr klargemacht.

Und Kathrin glaubte irgendwann daran oder besser, sie wollte irgendwann nur noch daran glauben. Es machte ihr zumindest alles leichter, sich nicht auch noch um Meikes Seelenheil kümmern zu müssen. So war die Zeit ins Land gegangen. Mit den ganzen Problemen, die der Tod nun mal hinterlässt. Dazugekommen war ein großes finanzielles Loch, von dem Kathrin nichts geahnt hatte. Die Fliegerei hatte ihren Tribut gefordert.

Lange hatte sich Kathrin gefragt, was sie denn eigentlich für ein verlogenes Leben mit Björn gelebt hatte. Nach außen war alles in bester Ordnung gewesen. Der sonnige Schein einer heilen Familie sozusagen. Nach Björns Tod hatte alles nur noch düster auf sie gewirkt. Mathis fehlte ihr so sehr. Der kleine, süße Mathis. Der immer bereit war, mit ihr zu den Tieren zu fahren, sich liebevoll um sie zu kümmern und in seiner kindlichen, unschuldigen Art so interessiert und vollständig selbstvergessen zum Wohle der Tiere einfach alles zu machen bereit war.

Mathis war die Perle in Kathrins Leben gewesen. Und nun war nur noch ein Ring übrig, ein Ring ohne Perle. Das waren Kathrins Empfindungen gewesen. Nicht, dass sie Meike nicht ebenso liebte. Aber eben doch auch wieder ganz anders. Meike hatte ganz andere Interessen. Sie steckte ständig ihren Kopf mit Björn zusammen. War auch wenig zu Hause. Immer auf Achse zu irgendwelchen Freundinnen und Freunden unterwegs. Manches Mal hatte sich Kathrin gefragt, wo Meike eigentlich ihr Domizil habe. Aber die selbstbewusste Meike hatte ihr Leben schon fast ohne ihre Hilfe bewältigt. Und das, obwohl sie erst 13 Jahre alt gewesen war, als Björn verunglückte.

Manchmal hatte Kathrin sich gefragt, ob Meike vielleicht auch häufiger mit im Flugzeug war. Sie hatte Meike darauf angesprochen, worauf diese zunächst heftig gestockt und dann lautstark alles abstritten hatte. Ganz hatte Kathrin ihr nicht geglaubt. Aber es war so mühevoll gewesen, sich auch noch damit auseinanderzusetzen. Irgendwann und irgendwie war es leichter, alles auf sich beruhen zu lassen. Nach Björns Tod war Meike dann auch viel mehr zu Hause gewesen, hatte in ihrem Zimmer Musik gehört und einfach vor sich hingedöst. Einmal hatte Kathrin versucht, mit ihr näher darüber zu reden, aber Meike hatte nicht gewollt. Nach dem Vorschlag mit der Therapie war Meike völlig ausgerastet. Was Kathrin denn nun schon wieder wolle. Sie sei doch zu Hause, erledige ihre Aufgaben alle, sei in der Schule gut usw. usw. Kathrin hatte nachgegeben. Wie immer, wenn es brenzlig wurde. Dieses Prinzip hatte sie mit Björn auch verfolgt.

Für Kathrin brachte der Tod von Björn noch eine weitere Problematik mit sich. Nun war sie gezwungen, erst recht Geld ranzuschaffen. Die Kredite wollten abbezahlt und das Haus musste verkauft werden. Es war nicht zu halten gewesen. Kathrin warf sich in ihren Beruf hinein, als gelte es, den Nobelpreis zu erhaschen. Aber ihr gab er Trost und Ablenkung. Und solange Meike mit allem klar kam…