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Wer ahnt schon, wie leicht es ist, von Betrügern ausgetrickst zu werden, deren einziges Ziel es ist, möglichst viel Geld aus einem herauszupressen? Dass es anderen passiert, liest man in der Zeitung oder hört es im Fernsehen. Aber, dass man selbst schnell zum Opfer perfider Betrugsmaschen werden kann, ist für viele kaum vorstellbar. Auch Bella ahnt nicht, was ihr bevorsteht. Der abwechslungsreiche Krimi spielt auf Sylt, in Greetsiel, Pilsum, Leer, Gießen und in der schönen Goethe-Stadt Wetzlar. Psychologisch, ideenreich, spannend - mit christlichen Aspekten.
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Seitenzahl: 304
Veröffentlichungsjahr: 2022
Gretchen Hilbrands
Im Schatten des Betrügers
Kriminalroman
© 2021 Gretchen Hilbrands
Umschlag: Gretchen Hilbrands
Coverfoto: Annika Hilbrands
Lektorat, Korrektorat: Inka Radtke
ISBN
Paperback
978-3-347-42241-4
Hardcover
978-3-347-42242-1
e-Book
978-3-347-42243-8
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany.
Sylt - Mittwoch, 19. Mai
Unüberhörbar und aufdringlich klingelte das Telefon. Unterbrochen nur hin und wieder von einer kleinen Pause, um dann erneut im unnachgiebigen Stakkato fortzufahren. Es war früher Morgen. Bellas Gefühl nach noch weit vor sieben Uhr.
„Welcher Trottel ist das denn?“ Bella zog sich das Kissen über beide Ohren. Sie war todmüde. Erst spät am Abend war sie von ihrer Geschäftsreise aus Italien und Portugal nach Sylt zurückgekehrt. Mit dem Flieger. Auch wenn das am bequemsten gewesen war, was sie jetzt brauchte, war Ruhe. Ruhe und Stille, um den dringend notwendigen Schlaf nachzuholen, den sie in den letzten Tagen viel zu wenig bekommen hatte. Heute war ihr freier Tag. Das Privileg, nach einer Geschäftsreise einen Tag frei zu haben, hatte sie sich schwer bei ihrem Bruder erkämpfen müssen.
Isabell Boysen, von Familie und Freunden Bella genannt, weil der Vater sie von klein auf so gerufen hatte, war mit ihrem Bruder Raik gemeinsam Eigentümerin von vier exquisiten Schuh-Stores Luxus&Me(h)er in Westerland, Keitum, Kampen und in Hamburg. Die beiden hatten das elterliche Erbe wie selbstverständlich übernommen und so ihre Aufgaben gefunden. Es war das Einfachste und Lukrativste gewesen, so weiterzumachen, wie sie es von Kind auf gelernt hatten. Und da beide in ähnlicher Weise gedacht hatten, brauchte das Erbe nach dem frühen Tod ihrer Eltern nicht aufgeteilt zu werden, was sich als absoluter Glücksfall herausstellte. Raik und Bella waren sich schnell einig gewesen.
Raik, der mit Daike verheiratet war und zwei Kinder hatte, Tomke und Joris, war ins elterliche Reetdachhaus eingezogen, das direkt in Westerland stand. Es war praktisch, schnell im Geschäft zu sein und die Kinder in der Schule, nur wenige Straßen entfernt, gut aufgehoben zu wissen.
Bella, ihres Zeichens Single, hatte das Anwesen in Keitum geerbt, ausgebaut und so nicht nur eine schöne Wohnung für sich, sondern auch noch zwei Ferienwohnungen und einen der Schuh-Stores auf ihrem Grundstück. Diesen Laden in Keitum hatte Bella erst vor knapp acht Jahren eröffnet, nachdem sie, Raik und Daike gemerkt hatten, dass immer mehr betuchte Touristen in Keitum Urlaub machten und direkt im Ort das Shopping-Erlebnis suchten.
Raik und Bella hatten enormes Glück gehabt, dass die Eltern schon vor vielen Jahren in der Lage gewesen waren, zwei Häuser in Westerland und etwas später das große Grundstück in Keitum kaufen zu können. Auch die Eltern hatten geerbt und ihr Geld sofort und gut investiert. Der Vater war durch und durch Kaufmann gewesen. Die Familie hatte enorm von seinem Wissen und kaufmännischem Geschick profitiert. Und das bis zum heutigen Tag.
Mittlerweile waren die Grundstückspreise in astronomische Höhen geschossen. Das Leben auf Sylt war unglaublich teuer geworden und musste hart erarbeitet werden. Das gemeinsam verwaltete Erbe vereinfachte dies aber enorm. So hatte es bisher nie Streitigkeiten gegeben, was das Finanzielle betraf. In anderer Weise natürlich schon, da standen sich Raik und Bella oft in nichts nach. Aber dass sie auf Sylt leben und bleiben wollten, war von den Geschwistern nie infrage gestellt worden. Sylt war für Touristen wie Einwohner ein Sehnsuchtsort, die die Nordsee mit ihren ganz unterschiedlichen Stimmungen und Wetterbedingungen sowie die riesigen scheinbar schier unendlichen Sandstrände liebten. Sylt bot seinen Besuchern viel. „Viel“ für die Touristen war aber auch immer mit viel Arbeit für die Einheimischen verbunden. Arbeit, die sich oftmals hinter den Kulissen abspielte und von deren Geschäftigkeit Touristen nichts mitbekommen sollten.
In den letzten Tagen hatte Bella für ihr Unternehmen mal wieder die kleinen Schuh- und Taschenmanufakturen zunächst in Italien und anschließend in Portugal aufgesucht und die erlesensten Schuhe erworben, beziehungsweise in Auftrag gegeben. In diesen Manufakturen wurden nur ganz wenige von jedem Modell und in jeder Größe produziert. Einige waren per se Einzelpaare, kreiert vom Schuhmachermeister mit viel Liebe zum Detail. Etliche wurden aber auch nach den individuellen Wünschen und Vorstellungen ihrer zukünftigen Träger angefertigt, wofür Bella sorgte, wenn sie vor Ort in Italien oder Portugal war. Bella stand in enger Verbindung mit ihrer Stammkundschaft, die alljährlich auch deshalb wieder nach Sylt kam, um in den Genuss dieser einzigartigen Schuhe zu gelangen. In persönlichen Gesprächen mit den Meistern ihres Fachs in ihren kleinen Betrieben wurde nahezu jeder Wunsch erfüllbar, so denn das nötige Geld floss. Und es floss. Reichlich.
Auch die Handtaschen waren zumeist Unikate, unverwechselbar und wunderschön zugleich. Versehen mit all jenen Accessoires, die auch die zukünftigen Trägerinnen stylisch aussehen ließen. Alles, Schuhe wie Taschen, waren Kunstwerke und ihnen gemeinsam war das Versprechen von Langlebigkeit und Tragekomfort. Ausgefallene Textur- und Farbkombinationen, gezielt eingesetzte Raffinessen, hier und da ein Stück Eigenwilligkeit in Kombination mit präzise eingesetztem Knowhow, rundeten die qualitativ hochwertigen und hochpreisigen Modelle formvollendet ab. Sylt hatte die Kundschaft dafür, Hamburg natürlich auch. Das Besondere an Boysens Geschäften war daher auch diese Form der Individualität als Alleinstellungsmerkmal, die auch dem zukünftigen Träger geschickt vermittelt und von vielen verinnerlicht wurde.
Damit das gelang, übte Bella ihre Arbeit qualifiziert und äußerst professionell rund um die Uhr und zu allen Jahreszeiten aus, von vier Urlaubswochen pro Jahr mal abgesehen. Nach den vielen Jahren, die Bella schon im Geschäft durchlebt hatte, war ihr Alltag gut strukturiert und geplant.
Vom Gefühl her glich ein Tag dem anderen. Und das, obwohl Bella mehrmals im Jahr nach Italien und immer häufiger auch nach Portugal zu den kleinen Familienbetrieben reiste. Trotzdem, vor allem auch zu den Saisonzeiten, ähnelten sich die Tage, einer wie der andere. Genossen die Urlauber Meer, Sonne, Wind und Wellen oder abends die zahlreichen Konzerte in der Konzertmuschel auf der Seeuferpromenade, was Bella ihnen von Herzen gönnte, winkte ihr, nachdem die Geschäfte geschlossen waren, noch lange kein Feierabend. Natürlich hatten sie Personal angestellt und auch Daike war, vor allem in Kampen, unermüdlich in den Stores beschäftigt. Trotz allem blieb aber reichlich Arbeit für Bella und Raik übrig. Beide waren es nicht anders gewohnt und arbeiteten oft bis spät in die Nacht. Sie hatten bereits als Jugendliche im elterlichen Betrieb ausgeholfen und sich in den Nachmittags- und Abendstunden sowie in den Ferien ihr Taschengeld verdient. Die Aufgaben, die die Eltern ihnen zugetraut hatten, waren immer größer geworden, was Bella und Raik sehr gefallen hatte. Und schließlich, nach dem plötzlichen Tod der Eltern, hatten Bella und Raik wie selbstverständlich die Geschäfte weitergeführt, wie sie es quasi mit der Muttermilch aufgesogen hatten.
Doch jetzt, jetzt nach all diesen Jahren, Bella wurde bald 40, fühlte sich Bella nach ihrem letzten anstrengenden Trip dermaßen ausgelaugt und ausgepowert, wie sie es lange nicht mehr gewesen war. Doch es nützte nichts, das Telefon behielt das lärmende Stakkato bei und erhielt von ihrem Smartphone auf dem Nachttisch prominente Unterstützung. Es brachte nichts, beides noch länger zu ignorieren.
„Ja?“, muffelte Bella dann auch schließlich in den Telefonhörer hinein. „Wer ist denn da?“
„Ich bin´s, Bella. Du musst unbedingt sofort zum Laden nach Kampen kommen. Daike kann heute nicht.“ Raiks Stimme drang durchdringend an Bellas Ohr. „Hörst du, Bella? Daike fällt heute aus. Und ich selbst bin im Hauptgeschäft in Westerland. Und Frau …“
Bella fiel ihm ins Wort und betonte einige der Worte herausfordernd. Ihr war klar, Raik würde sie sonst sowieso nicht ernstnehmen: „Raik, ich bin erst vor wenigen Stunden aus Italien wiedergekommen und bin fix und fertig. Wir hatten verabredet, dass ich am nächsten Tag immer frei nehmen kann. Ich muss heute noch dringend zur Bank, in meinem Kühlschrank regiert eine gähnende Leere und außerdem hast dumich aufgeweckt. Ich …“
„Das weiß ich doch, Bella“, drückte Raik in seiner unnachahmlichen Art Verständnis aus, wie immer, wenn er etwas bei Bella erreichen wollte. „Aber es ist ein Notfall. Daike geht es gar nicht gut. Sie kann nicht arbeiten. ES GEHT NICHT!“ Raik begann jeden einzelnen Buchstaben endlos zu dehnen, was Bella zur Weißglut nervte.
„Was soll das heißen, es geht nicht? Hast du schon mal auf die Uhr geschaut? Ich habe FREI.“ Bella fiel in das gleiche Taktmaß ihres Bruders. „FINITO. Schluss. Ich bin fix und fertig.“ Bella warf den Hörer ins Regal, drehte sich auf die andere Bettseite und wollte einfach nur weiterschlafen. Wieder schrillte das Telefon. Raik ließ nicht locker. Wie so häufig nicht. Bella musste immer wieder einspringen, wenn in seiner Familie etwas Unvorhergesehenes passierte.
„Heute nicht“, grummelte Bella ins Kopfkissen und ließ das Telefon einfach Telefon sein. Es nervte. Raik nervte. Fürchterlich.
Schließlich war Bella so wach, dass es einfach keinen Sinn mehr machte, an Schlaf zu denken. Sie stieg aus dem Bett, ging ins Bad und stellte bei ihrer Rückkehr erstaunt fest, dass Raik doch tatsächlich klein beigegeben hatte. Beide Telefone, Handy und Mobilteil, waren in einen tiefen Schlaf gefallen. „Na toll“, stöhnte Bella, „da hätte ich ja auch gleich liegenbleiben können. Da ich nun aber schon mal angezogen bin, kann ich mir auch erstmal einen Kaffee machen.“ Gesagt, getan. Und während der Kaffeeautomat mahlend und zischend seine Arbeit verrichtete, bereitete sich Bella von den kärglichen Brotresten im Kühlschrank eine kleine, magere Stärkung.
Im nächsten Moment klingelte es wieder. Sturmmäßig. Dieses Mal an der Haustür. Vor eben dieser stand Raik, der sich, kaum, dass Bella die Tür geöffnet hatte, wortgewandt Gehör verschaffte. Bella hätte ihm die Tür am liebsten an den Kopf geknallt. Das Ende vom Lied war jedoch, dass Bella sich nun doch nach Kampen aufmachte, um die Reichen und scheinbar Schönen mit herzlichster und freundlichster Miene zu bedienen. Und das, obwohl in ihr selbst die widerstrebendsten Gefühle kämpften. Hätte irgendjemand Bella nach ihren Emotionen gefragt, derjenige wäre verwundert rückwärts aus dem Geschäft geeilt. Aber da niemand fragte, erfuhr auch niemand davon. Wenig später sollte Bella aber sagen, dass an diesem Morgen der glücklichste Moment ihrer neuen Zukunft eintrat und ihr eine neue, nie gekannte, erfrischende, geradezu himmlische Dimension hinzufügte, die sich Bella niemals hatte vorstellen können und die sie somit auch nie erhofft hatte. Ab jetzt sah Bella all das Geschehene an diesem Morgen als Fügung an. Es ist schon erstaunlich, wie wandelbar der menschliche Geist ist, wenn nur die richtigen Stellschrauben ihre Position gefunden haben. Bei Bella jedenfalls legten sie eine Punktlandung hin.
Sylt - Mittwoch, 19. Mai
Bodo von Hohenstedt genoss das herrliche Sonnenwetter auf der Uferpromenade in Westerland. Sylt füllte sich mehr und mehr. Die Touristen strömten geradezu auf die Insel. Gut für die Sylter Geschäftswelt. Gut für Bodo von Hohenstedt. Je mehr Menschen hier waren, umso weniger würde er auffallen. Bodo von Hohenstedt war als Feriengast auf der Insel. Er hatte sich eine Auszeit aus dem beschwerlichen Arbeitsleben, so war seine Formulierung einem Freund gegenüber, hochverdient und war auf Sylt geradezu untergetaucht. In der Masse der Feriengäste würde er nicht sonderlich auffallen, vor allem da nicht, wo sich die gut betuchten Erholungssuchenden aufhielten. Bodo hatte im Morandi eingecheckt. Das Luxushotel hatte Erholung auf höchstem Niveau versprochen und damit geworben, dass es direkt am Strand lag. Bodo genoss seine Suite mit Meeresblick und Balkon, welche auch als „persönlicher Logensitz direkt am Meer“ bezeichnet wurde. Bodo von Hohenstedt konnte dem nur zustimmen. Selten hatten ihn die Versprechen eines Hotels so überzeugt wie diese. Und in Sachen Hotel kannte Bodo sich bestens aus.
An diesem Morgen hatte Bodo Lust, sich mit neuen Schuhen einzudecken. Bald würde er die Insel auf Nimmerwiedersehen verlassen. Ein Einkauf bei diesem strahlenden Sonnenwetter würde seine Laune noch weiter beflügeln. Vor wenigen Tagen hatte er den Schuh-Store Luxus & Me(h)er in Westerland entdeckt. Bodo war begeistert von dem erlesenen Sortiment feinster Herrenschuhe gewesen. Allein, dass der Inhaber Raik Boysen dort anwesend war, hatte ihn vom Shoppen abgehalten. Raik war nett gewesen, hilfsbereit und hatte ihn gut beraten, aber ein Geschäft war nicht zustande gekommen. Was an Bodo lag. Seine erprobte und gut durchdachte Masche konnte Bodo nur bei Frauen ausspielen. Bodo kaufte, aber Bodo bezahlte grundsätzlich nur per Rechnung. Das war ein Grundprinzip seines Handelns. Um damit erfolgreich zu sein, hatte Bodo sein großes Talent, wie er Frauen für sich gewann und sie quasi um den Finger wickeln konnte, zur Perfektion gebracht. Bislang war seine Taktik zu nahezu hundert Prozent aufgegangen. Dass die Damen im Nachhinein auf den nicht bezahlten Rechnungen sitzenblieben, war nicht sein Problem, sondern Kalkül seiner List.
So beschloss Bodo an diesem Vormittag, kurz vor 12 Uhr mittags nach Kampen in den Laden von Luxus & Me(h)er zu gehen. Hier würde er auf Raiks schwangere Frau treffen, die dort fast an allen Tagen der Woche arbeitete, diese Information hatte er Raik in einem Smalltalk entlockt. Wahrscheinlich war die verheiratete Dame nicht ganz so empfänglich für Bodos Taktik, aber Probieren ging ja bekanntlich übers Studieren. Und Bodo wollte unbedingt drei oder wenigstens zwei Paar Schuhe als Trophäen von Sylt mitnehmen.
Bodos äußerst gepflegter Oldtimer, ein Mercedes-Benz 280 SE Coupé 3.5, der locker seine 100 000 € wert war, parkte an prominentester Stelle direkt vor dem Hotel, neben weiteren auf Hochglanz gewienerten Stahlkarossen edelster Güte. Der Mercedes war quasi seine Eintrittskarte ins Hotel und der Page schwer beeindruckt gewesen.
Bodo hatte später jedoch feststellen müssen, dass sehr viele Spaziergänger mit großer Beachtung und Bewunderung auf diese ganz besonderen Fahrzeuge reagierten. Und so auch um den Mercedes herumliefen und ihn bestaunten und etliche über diesen außergewöhnlichen Oldtimer fachsimpelten, was Bodo auf der einen Seite auch sehr genoss, zeugte dies doch von seinem erlesenen Geschmack und seinem erhabenen Gespür für das Extravagante.
Aber es war auch für ihn nicht immer von Vorteil. Leider fiel er mit diesem Fahrzeug auch bei seinen „Einkaufstouren“ auf, daher hatte er es bisher wenig genutzt und einfach vor dem Hotel stehen gelassen. Diesen Faktor hatte Bodo auf seiner „Autoeinkaufstour“ in Stuttgart total unterschätzt. Jetzt war ihm sehr daran gelegen, dass nicht zu viele Leute sein Gesicht, welches natürlich fachmännisch geschminkt und durch kosmetische Tricks reichlich verändert war, denn darin war Bodo Meister, mit dem Wagen in Verbindung bringen konnten. Trotzdem konnte er mögliche Zeugen, die ihn im Nachhinein äußerst differenziert beschreiben würden, nicht gebrauchen. Außerdem wollte er für eine erneute gesichtsverändernde Operation nicht schon wieder Geld ausgeben.
Seinem großen Ego jedoch hatte es aber absolut gefallen, dieses außergewöhnliche Coupé wenigstens für die Zeit auf Sylt als seinen Besitz ansehen zu dürfen. Er hatte den Oldtimer vor längerer Zeit bei einem Bekannten, der Sammler war, in dessen großer Garage in Stuttgart als einen Oldtimer von vielen erblickt und ein günstiger Moment hatte ihm, Bodo, offenbart, dass eben dieser Bekannte zurzeit auf Lanzarote im Krankenhaus lag. Da Bodo nicht nur handwerklich geschickt war, sondern auch reichliche Kenntnisse im Bereich der Informatik hatte, war es ihm trotz modernster Sicherheitstechnik ein Leichtes gewesen, dieses wunderbare Coupé „auszuleihen“. Dabei wähnte Bodo sich sicher, der Verlust des Oldtimers würde nicht auffallen, sein Bekannter verbrachte die Winter- und Frühjahrsmonate seit vielen Jahren immer auf den Kanaren im eigenen Haus. Der Krankenhausaufenthalt bot Bodo nun eine zusätzliche Sicherheit vor einer unerwarteten Rückkehr des Mannes. Bodo hatte auch gar nicht vor, den Wagen über Wochen zu behalten. Er würde ihn schon frühzeitig wieder in die Garage in Stuttgart fahren. Aber jetzt, jetzt wollte er dieses wunderbare Coupé einfach nur genießen und als seinen Besitz ansehen.
Als Bodo an all das dachte, er fuhr gerade nach Kampen, wo er ohnehin bei den Reichsten der Reichen nicht auffallen würde, musste er lachen. Er war einfach genial. Und seine Pläne auch. Ein Meister seines Fachs. Egal, was seine Kompagnons auch immer wieder für Einwände hatten und diese in nervender Weise zum Ausdruck brachten, Bodo war einfach der Größte und auf der Gewinnerseite des Lebens. Schon immer. Und das würde auch immer so bleiben, dessen war sich Bodo sicher. Und Sylt würde er ja sowieso in wenigen Tagen verlassen. Um nun also seinen Schuheinkauf in die Tat umzusetzen, fuhr Bodo nach Kampen, parkte in der Nähe von Luxus&Me(h)er und ging flotten Schrittes ins Geschäft hinein. Zwei Kunden gaben ihm beim Hinausgehen quasi die Türklinke in die Hand.
Wie gut, er war allein mit der Schwangeren. Aber genau das war sie nicht: schwanger. Also konnte es sich nicht um Raik Boysens Frau handeln, aber egal, Hauptsache, es war eine Frau.
„Einen wunderschönen guten Morgen“, flötete Bodo. Schon bei der Begrüßung gab er sich als Tourist zu erkennen, aber Bella hätte sowieso gewusst, dass er nicht zu den Einwohnern von Sylt zählte. Sie kannte zwar längst nicht alle, aber Touristen erkannte sie sofort, egal, welche Mühe sich der Kunde auch geben mochte.
„Moin“, Bella versuchte ihr freundlichstes Lächeln ins Gesicht zu zaubern, was ihr trotz der morgendlichen Misere mit Raik auch gelang. Hier war der Kunde König, das verstand sich von selbst. Und wenn er dann auch noch so umwerfend und charmant aussah wie dieser Mann, dann ließ Bella sich natürlich nicht lumpen. Wer weiß, was ich ihm alles verkaufen kann, so dachte Bella noch, als sie sich auch schon im besten Verkaufsgespräch wiederfand.
Zwei Meister ihres Fachs hatten sich getroffen. Und keiner stand dem anderen nach. Bodo sah sofort, dass er hier eine Frau besonderen Formats vor sich hatte. Super gepflegt, wie er auch, legte auch sie offenbar großen Wert auf ihr Äußeres. Ob sie die Schwester von Raik Boysen ist, überlegte er und erinnerte sich, dass er auf der Website von Luxus&Me(h)er gelesen hatte, dass das Geschäft inhabergeführt sei, und zwar von einem Geschwisterpaar.
Sofort ließ Bodo ein paar Testballons steigen, auf die Bella auch brav einging. So war sich Bodo schnell sicher und eine neue Idee, viel größer als seine eigentliche, aber auch deutlich gewagter und riskanter, nahm Platz in der Gondel seines Gedankenkarussells. Und dieses startete blitzschnell zu einer neuen Testfahrt: Was wäre, wenn ich nun doch einmal wieder meine Kunst live unter Beweis stellte? Was wäre, wenn ich nur dieses eine Mal noch, nicht übers Internet, sondern hier direkt auf Sylt, meine große Liebe suchte und fände? Sekundenschnell wog Bodo diese Gedanken ab, klärte mit einem Blick, ob Bella Boysen, so hatte sie sich ihm vorgestellt, einen Ehering trug, und war fortan ganz der Charmeur feinster Schule.
So blieben Bella und Bodo nicht lange beim Smalltalk, sondern fachsimpelten über Schuhlabels, hochqualitative Materialien, außergewöhnliche Accessoires, neueste Schuhtrends, Exklusivität und Tragekomfort vor allem der italienischen Ware mitsamt deren ausdrucksstarkem Chic und hatten gegenseitig einen fulminanten Spaß aneinander. Bella erzählte von ihren Reisen zu den italienischen und portugiesischen Manufakturen, deren besonderen künstlerischen Arbeiten, Lust und Freude an all diesen erlesenen Kunstwerken, die sie in diesem Fall durch Schuhe auch belegte. Dabei wählte sie zielsicher die Designs aus, die ein Mann von Bodos Format als klares Statement seiner Persönlichkeit und seines individuellen Charakters zu tragen pflegte. Und Bodo sprang sprichwörtlich auf diesen Zug auf. Seine Reaktionen waren formvollendet und zielsicher, seine Fragen motivierten Bella zu noch mehr Details und Schilderungen all dessen, was sie in Italien und Portugal erlebt hatte, und sein Interesse an all dem schien riesengroß zu sein.
Bodo war zuvorkommend höflich, kaufte schließlich zwei Paar Schuhe und bezahlte ganz gegen seine Gewohnheiten und Überzeugungen und das tatsächlich auch noch in bar. Er habe leider seine Kreditkarte im Hotel gelassen, war seine Begründung gewesen. Normalerweise führe er natürlich nicht so viel Bargeld mit sich, da man ja doch alles per Karte bezahlen könne, aber gerade heute habe er Bargeld abgehoben. Für den alltäglichen Lebensgenuss beim Schlendern in den Fußgängerzonen, hatte er lächelnd und augenzwinkernd hinzugefügt und Bella verschwörerisch dabei angesehen. Was diese wiederum magisch anziehend fand. Zwar wunderte sie sich noch über die Masse an Geld, die Bodo dabei hatte, aber die Erklärung hatte er ja mitgeliefert. Ungewöhnlich zwar, aber als Geschäftsfrau war Bella sozusagen schon nahezu jede Begründung untergekommen, von den kuriosen Erlebnissen mit ihren Kunden mal ganz abgesehen. Und die Hauptsache war ja, dass die Ware bezahlt wurde, wie, ob mit Bargeld oder Karte, war schließlich völlig egal.
Als Bodo schließlich das Geschäft verließ, ärgerte es ihn schon sehr, dass er nun doch einen Haufen Geld für diese Schuhe hatte bezahlen müssen und sie nicht umsonst hatte mitnehmen können, aber er sah sie in diesem Moment als Investition für einen noch viel größeren materiellen Gewinn an. Aus diesem Grund hatte Bodo alles, was er an Charme besaß, eingesetzt und Bella zu einem Abendspaziergang am Meer in Westerland überzeugen können.
Bella war auch sofort darauf eingegangen, worüber sie sich selbst im Nachhinein nur noch wundern konnte. Das entsprach so gar nicht ihrem Wesen. Nur, so ein außergewöhnlicher Mann war ihr ja auch tatsächlich nie zuvor begegnet, was ja an sich schon was heißen wollte. In seiner Nähe hatte sie sich total wohlgefühlt. Es war, als wenn sie auf derselben Wellenlänge schwämmen, hatte Bella noch gedacht, um sich sofort selbst auszuschimpfen: Dumme Kuh, reagierst, als wenn du ein Teenager wärst. Da war Bodo allerdings schon gegangen, mit dem Versprechen, sie um 21.00 Uhr auf der Strandpromenade an der Konzertmuschel zu treffen. Also blieb Bella nichts anderes übrig als hinzugehen, was sie im Grunde genommen ja auch äußerst entzückend fand.
„Ein Gentleman erster Güte“, erzählte Bella ihren Freundinnen Freya Bondes und Heike Petersen bei ihrem wöchentlich stattfindenden Treffen am folgenden Sonntagabend. „Außergewöhnlich, äußerst charmant, interessiert, hochintelligent und sieht phänomenal aus, fast wie ein Filmheld“, schwärmte sie ihren Freundinnen vor. „Wow, was für ein Mann! Er hat irgendwas, was kaum ein anderer Mann hat. Zumindest ist mir noch kein solcher begegnet. Und er kann zuhören …“ Bella war hin und weg von ihm. Was genau das „irgendwas“ war, konnte sie nicht in Worte fassen, was nun wiederum beide Freundinnen äußerst merkwürdig fanden. Aber beide hatten Bella schon sehr lange nicht mehr so gelöst, spaßig und entspannt erlebt und genossen das fröhliche Zusammensein mit ihr seit langer Zeit mal wieder ausgiebig.
„Ich habe ja so meine Zweifel, was diesen Mann angeht“, äußerte Freya später auf dem Nachhauseweg Heike gegenüber, „so ein Exemplar von Mann ist einfach zu schön, um wahr zu sein.“ Worauf auch Heike ihre Skepsis in Worte fasste: „Ich wollte Bellas Stimmung ja nicht trüben, es war so schön, sie mal wieder so happy zu erleben. Aber mir kommt das auch irgendwie komisch vor. Merkwürdig, dass er noch frei herumläuft.“
Freya sah Heike mit großen Augen an und bekam kaum noch Luft vor lauter Lachen. „Oha, wenn Bella uns hören und sehen könnte“, gluckste nun auch Heike vor sich hin. „Hoffentlich behalten wir mit unserer Diagnose nicht recht.“ Die beiden Freundinnen behielten ihren Argwohn jedoch für sich, beäugten die aufkeimende Beziehung zwischen Bella und Bodo aber mit Argusaugen. Sie gönnten Bella ihr Glück, auch wenn sie trotzdem misstrauisch blieben.
Sylt - 20. - 26. Mai
Bella und Bodo trafen sich immer wieder in den wenigen Tagen, die Bodo noch auf der Insel bleiben konnte, und Bella blühte in dieser Zeit so richtig auf. So lebendig hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt, wie sie es selbst ausdrückte. Sogar Raik war dies aufgefallen, was er Daike beim Abendessen auch brühwarm erzählte.
„Wieso, war Tante Bella denn tot?“, löcherte die achtjährige Tomke in aller Unschuld ihre Eltern, die beide schmunzeln mussten. Worauf der drei Jahre ältere Joris sich an die Stirn fasste und seinen Senf dazu gab: „Bei dir piepts ja wohl! Und zwar da oben.“
Es war Daike, die Tomke erklärte, was der Papa gemeint hatte.
Sylt - Juni, Juli, August
Für Bella und Bodo sollten noch viele kurzfristige Treffen und fast tägliche Telefonate oder Anrufe per Skype erfolgen. Immer wieder kam Bodo für ein paar Tage nach Sylt, oft völlig überraschend, was Bella ganz schön aus dem inneren Takt brachte und ihre ganze Flexibilität forderte. Und jeder dieser Besuche zeigte ihr, wie wichtig sie für Bodo zunehmend wurde.
Stets reiste er mit wechselnden Luxuskarossen an. Auf die erstaunte Nachfrage von Bella hatte Bodo die meisten von ihnen als Firmenwagen bezeichnet. Sein Mercedes Coupé wollte er lieber schonen, hatte er Bella erklärt. Für Oldtimer sei es nicht gut, wenn sie zu viele Kilometer auf den Buckel bekämen, hatte er noch gemeint. Und außerdem beschäftige er sich mit dem Gedanken, sich von dem Fahrzeug zu trennen, solange es sich finanziell noch lohnen würde. Bella hatte seine Argumente gut nachvollziehen können.
Bella genoss es sehr, wenn Bodo da war. Allerdings hatte sie nur sehr wenig Zeit für ihn, was sie fürchterlich ärgerte. Obwohl Bella eigens eine Aushilfe für ihren Laden in Keitum engagierte, wenn Bodo seine Anreise ankündigte, so bedeutete die Hochsaison auf Sylt, die mittlerweile für Bella gefühlt zehn Monate im Jahr andauerte, Stress pur. Mal kamen die Warenlieferungen alle auf einmal, dann wieder gar nicht oder mit großer Verzögerung. Hin und wieder fielen Züge aus, weil es Probleme auf dem Hindenburgdamm gab. Oft verpassten LKW ihre Termine bei der Güterabfertigung in Niebüll. Dann reisten Kunden früher als erwartet an und die Ware war noch nicht eingetroffen. Oder plötzlich standen scharenweise Tagestouristen im Store, die von einem Bekannten, der auf Sylt Urlaub gemacht hatte, erzählt bekommen hatten, dass sie handgefertigte extravagante stylische Schuhe und Taschen anboten.
Irgendetwas Unvorhergesehenes passierte immer. Auch wenn Raik und Bella sich abwechselnd um die Warenannahme kümmerten, wenn sie dann endlich ankam, musste sie sofort in Empfang genommen, verstaut oder schnellstens auf die jeweiligen Geschäfte auf Sylt verteilt, dort einsortiert oder an bereits wieder abgereiste Kunden verschickt werden. Unmengen an Nachtstunden hatten sie, Raik und auch Daike schon investiert, damit das erlesene Sortiment ihrer Stores glanzvoll und aufs Äußerste ansprechend auch die ersten Kunden am nächsten Morgen willkommen hieß. Wie oft hatte Bella schon Verabredungen am Abend oder am Wochenende mit ihren Freundinnen und Freunden wieder absagen müssen, es war nun einmal so und gehörte zum Geschäftsleben auf Sylt dazu. Aber seit sie Bodo kennengelernt hatte, war sie manches Mal einfach nur noch genervt von den vielen Stunden, die sie nicht mit Bodo verbringen konnte. Mit Raik und Daike hatte sie sich auch schon deswegen in den Haaren gelegen. Es hatte einen erbitterten Streit gegeben. Schön war es nicht gewesen. Für alle drei nicht.
Bella hielt Bodo, wenn es irgendwie passte, eine ihrer Ferienwohnungen frei. Bodo wollte partout sein eigenes Reich haben, dies bekräftigte er immer wieder. Schließlich habe er ja auch zu arbeiten und Enge mochte er gar nicht. Meistens hatte er jedoch woanders übernachten müssen, Bodo kümmerte sich selbst darum. Wo, hatte sie nicht weiter erfragt, sie hatten Wichtigeres zu besprechen. Und Hauptsache, Bodo kam. Und wenn Bodo da war, umgaben ihn eine Zuversicht und Fröhlichkeit, die jedes gerade noch schier unlösbare Problem in scheinbarer Leichtigkeit lösbar erscheinen ließ. Bella faszinierte dies umso mehr, da weder sie noch irgendjemand sonst in ihrem Umfeld über diese besondere Fähigkeit verfügte. Und schließlich trat Bodo ihr immer äußerst großzügig, charmant und liebevoll gegenüber.
„Bella, meine Schöne und Einzige, für dich ist mir nichts zu teuer. Komm, lass uns die Tage genießen, solange wir zusammen sein können.“ Und dann las Bodo ihr die Wünsche von den Augen, lud sie, wo immer er konnte, ein und überraschte Bella immer wieder selbst in den kleinsten Dingen des Lebens. Bodo war unglaublich aufmerksam, höflich, zuvorkommend. Und äußerst spendabel.
Immer wieder hatte Bella versucht, die Rechnungen in den Restaurants zu begleichen, was ihr nur mit großer Mühe und Überredungskunst, dann aber immer häufiger auch gelang. Dass Bodo immer zahlte, wollte sie einfach nicht. Als Bodo bei einem ihrer ersten Treffen sein Portemonnaie im Hotel vergessen hatte, was ihm furchtbar peinlich war, hatte Bella innerlich aufgejubelt. Endlich konnte sie ihm deutlich machen, dass sie finanziell völlig unabhängig war und dies auch zu bleiben gedachte. Bodo hatte supergut darauf reagiert, fand Bella und war beruhigt. Dass Bodo sich darauf einließ, sprach total für ihn und machte ihn nur noch sympathischer, davon war Bella überzeugt. Mittlerweile ersehnte sie jeden Besuch von Bodo, jeden Anruf, jede Nachricht auf ihrem Handy. Bodos Nähe füllte ein inneres Vakuum aus, das Bella zwar immer wieder einmal gespürt, aber gedanklich ausgeblendet hatte.
Währenddessen erfreuten sich die Urlauber an den traumhaften, breiten, sauberen Sandstränden mit behaglichen Strandkörben und Liegeplätzen und die für ihre Verhältnisse warme Nordsee, die auch bei Ebbe noch leicht zu erreichen war. Nordseeliebhaber genossen die vielen ganz unterschiedlichen Szenarien, die das Meeresspiel bot: von sanft streichelnden zarten Wellen bei Windstille mit herrlich strahlender Sonne bis hin zur stärksten launigen Brandung und manchmal recht stürmischem Wetter. All das garniert mit einer wechselnden Farbenpracht von fröhlich blau bis hin zu einem beeindruckenden fast schwarz anmutenden Spiel der Farben.
Sylt bot ein herrliches Schwimmvergnügen, Urlaub in allen Kategorien für fast jeden Geldbeutel, ein traumhaftes, kontrastreiches Urlaubsparadies, zu dem das Meer genauso gehörte wie Dünen, Wiesen, kleine Wälder, die Stadt Westerland, einige verwunschene Dörfer sowie List und Hörnum an den Spitzen der Insel mit ihren Häfen, Fähren, Ausflugs- und Fischerbooten. Bella liebte ihre Insel, schwärmte für ihre Insel, aber genießen konnte sie all das schon lange nicht mehr.
Sylt - September - Oktober
So wurde Bella emotional immer abhängiger von Bodo und Bodo seinerseits sprach immer mehr von seiner Sehnsucht nach Bella und seiner großen Liebe zu ihr. Niemals hätte sie gedacht, dass sie, die so abgeklärte Isabell Boysen, sich regelrecht danach sehnte, einen Mann, und zwar genau diesen, ständig um sich zu haben.
Gleichzeitig wurde ihr aber auch bewusst, dass Bodo nie und nimmer nach Sylt ziehen konnte. Sein Beruf als Jurist bei der Deutschen Bank in Frankfurt ließ das einfach nicht zu. Bodo hatte zu viele kurzfristige Termine im In- und Ausland zu erledigen, wo sein schnelles Handeln gefragt und seine Anwesenheit unabdingbar waren. Einige Male hatte Bodo auch von nun auf sofort von Sylt aus einen Geschäftstermin wahrnehmen und die Insel ganz plötzlich verlassen müssen. Natürlich gab es die Möglichkeit, vom Flughafen Sylt aus aufs Festland zu gelangen und dann auch andere größere Flughäfen anzufliegen. Aber auf Dauer war es einfach zu umständlich.
Außerdem hatte Bodo ja immer eines seiner Autos dabei, die er zu seiner eigenen Unabhängigkeit als passionierter Autoliebhaber einfach brauchte, hatte er betont. „Ich liebe es, mir den Fahrtwind um die Ohren wehen zu lassen. Bella, Autofahren ist für mich wie ein aufputschendes lebensbejahendes Lebenselixier. Ohne Auto geht bei mir gar nichts. Und ohne dich auch nicht mehr …“, hatte Bodo lachend ausgeführt. Und Bella hatte ihm jedes Wort geglaubt.
Wenn Bella über ihre Situation mit Bodo nachdachte, musste sie immer mehr an ein Erlebnis in einer Tropfsteinhöhle denken, welches sie als junges Mädchen bei einem der seltenen Urlaube mit ihren Eltern stark beeindruckt hatte: Der Stalaktit gibt, während der Stalagmit nimmt. Langsam, aber stetig, fällt ein kalkhaltiger Wassertropfen vom Stalaktiten von der Höhlendecke herab auf das sich unten am Boden bildende Gegenstück, den Stalagmiten. Ein Vergleich, der ihr immer wieder in den Sinn kam. Noch hatten weder sie noch Bodo von einem gemeinsamen Leben gesprochen, aber der Gedanke war schon lange nicht mehr abwegig. Und Bella war sich im Klaren darüber, dass sie dann wohl diejenige würde sein müssen, die ihr Leben dann möglicherweise ändern musste. Sie würde geben müssen, wie der Stalaktit, das wurde ihr mehr und mehr klar. Bodo konnte nicht einfach so auf Sylt eine neue Existenz aufbauen. Was sollte er denn auch auf Sylt beruflich machen? Er hatte in Frankfurt einen krisenfesten, hochkarätigen Job. Sie auf Sylt auch, aber sollte sie jetzt, da ihr der Traummann ihres Lebens begegnet war, darauf beharren, auf Sylt bleiben zu wollen?
Bella war nie eine Frau gewesen, die sich leichtfertig in einen Mann verliebt hatte. Aber an Bodo hatte sie ihr Herz verloren. Unglaublich, dass ihr das passierte. Bella konnte es sich selbst kaum erklären. Sie hatte nie mit dem Gedanken gespielt, sich woanders niederzulassen. Sie liebte ihre wunderschöne Insel, ihre Heimat, den Sehnsuchtsort so vieler Menschen. Doch seit Bodo aufgetaucht war, gerieten Bellas Entschlüsse und Vorsätze in stürmisches Schwanken. Innerlich hatte sie schon länger eine Einsamkeit verspürt und eine Sehnsucht nach einem Menschen, der nur zu ihr gehörte. Wie oft hatte sie Raik und Daike um genau dieses blinde Verstehen, das Hingezogensein zum anderen und ihr liebevolles Miteinander beneidet. Natürlich gab es auch bei den beiden immer wieder mal Meinungsverschiedenheiten, Streit, unterschiedliche Sichtweisen. Aber was Bella zwischen ihnen wahrnahm, war eine tiefe Seelenverwandtschaft. Und das selbst erleben zu dürfen, zog sie magisch an. Bei Bodo hatte sie das Gefühl, dass genau diese innere gemeinsame Verbundenheit auch zwischen ihnen bestand. So wurde aus der Begeisterung für Bodo mehr und mehr eine sehnsuchtsvolle Liebe, die gestillt werden wollte.
Bodo nahm diese Emotionen von Bella dankbar auf, seine Saat war aufgegangen. Er war bereit für den nächsten Part. Es wurde auch Zeit. Seine Firmenpartner saßen ihm schon länger im Nacken. Mit bitterbösen Anklagen. Verständnis klang anders.
Freya und Heike sahen die große Veränderung von Bella ebenfalls und wussten nicht so recht damit umzugehen. Daike und Raik ging es genauso. Sie alle waren mehr Beobachter als Akteure. Bodo hatten sie bis auf Raik, bei dem Bodo ja im Store gewesen war, kaum getroffen. Bei allen drei stattfindenden Feiern und Partys im Sommer hatte Bodo zunächst zu- und dann kurzfristig wieder abgesagt. Passgenau hatte er jedes Mal ganz plötzlich einen Geschäftstermin per Handy mitgeteilt bekommen und die Insel Hals über Kopf verlassen müssen. Den Vieren kam es sehr merkwürdig vor, dass Bella immer alleine kam. Sie mutmaßten über die wahren Gründe, schwiegen aber Bella gegenüber. Bella jedoch schwärmte ihnen umso mehr von Bodo vor. Was die Anwesenden wiederum nervte. Nur Bella bemerkte nichts davon und schwebte auf ihrer rosafarbenen Wolke 7 durchs Paradies der Verliebten.
Der Tourismus und damit auch der Handel auf Sylt erlebten auch in dieser Saison eine Traumnachfrage. Sylt schien voll im Trend der Urlauber zu stehen. Die Menschen strömten nur so auf die Insel. Für private Kontakte zwischen den Inselbewohnern blieb kaum Zeit. Arbeit gab es gleich bergeweise. Auch Bella war von früh morgens bis spät abends im Geschäft oder im Büro und hatte selbst für Bodo kaum Zeit. Dieser rief mehrmals täglich an, aber Bella hatte fast immer Kunden und nicht mal Zeit zum Essen. Die Leute stürmten die Geschäfte und auch die Stores von Luxus&Me(h)er in Westerland, Keitum und Kampen.
Bella hatte neben dem Verkauf in ihrem Laden in Keitum, wo ihr eine oder manchmal auch zwei Angestellte halfen, noch ebenso viel Arbeit im Büro. Zum Schlafen kam sie viel zu wenig, die Hetze stand ihr bald ins Gesicht geschrieben. Bella hatte das Gefühl, dass die Zeit immer schneller verging. Kaum war gerade Sonntag gewesen, kam schon wieder der nächste. Eine Woche mit täglichen Öffnungszeiten, immer wieder neu eintreffender Ware, Stammkunden mit vielen Extrawünschen und immer wieder zum Teil sehr pingeligen Reklamationen, Pannen in den täglichen Arbeitsabläufen sowie immer wiederkehrende Missverständnisse zwischen dem Personal in den drei Stores und, schlimmer noch zwischen Raik, Daike und Bella, fraßen sich tief in Bellas Seele und schrien innerlich nach einem Stopp!
Bodo, er fehlte ihr so sehr. Sie hatten kaum noch miteinander telefoniert. Gefühlt war Bodo schon seit Wochen nicht mehr auf der Insel gewesen, was nicht stimmte, aber als er das letzte Mal da gewesen war, hatte Bella so gut wie keine Zeit für ihn gehabt. Bella litt fürchterlich. Als sie Raik die dringend benötigten Unterlagen sowie einiges an Waren, welche sie in Keitum gelagert hatte, vorbeibrachte, hatte dieser nur dumme Sprüche auf Lager gehabt, als Bella ihm ihr Herz ausgeschüttet hatte. Und dann warf er mit einem Sturzbach an Worten nur so um sich: „Mensch, Bella, reiß dich endlich zusammen. Stell dich doch nicht so an. Seit du mit Bodo zusammen bist, reagierst du wie eine Mimose. Echt ätzend. Ich kenne dich kaum wieder. Du bist total abgefahren. Hirnrissig, das Ganze. Du spinnst total.“
Und als ob das noch nicht genug gewesen wäre, hatte er noch aggressiv hinzugefügt, dass Daike als Schwangere es viel schlimmer getroffen hätte und sie nicht wegen jeder Lappalie einen Mordsaufstand machen würde. Voller Wut war Bella abgerauscht. Allerdings hatte auch sie ihm vorher noch ordentlich die Meinung gegeigt. Schonungslos offen, viel aggressiver, als sie es tatsächlich meinte, und ohne jegliche geschwisterliche Liebe. Es reichte. Bella hatte einfach genug von all dem, was sich ihr Leben nannte.