Erinnerungen an die Zeit unter Ford - John Updike - E-Book

Erinnerungen an die Zeit unter Ford E-Book

John Updike

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Beschreibung

Ein amerikanischer College-Dozent arbeitet an einem Artikel über die Präsidentschaft Gerald Fords (1974-1977). Tatsächlich erinnert er sich nur an seine eigenen komplizierten Frauengeschichten aus dieser Zeit und an seine Arbeit an einem Buch über den 15. Präsidenten, James Buchanan (1857-1861). "Die Biographie eines höchst pflichtbewussten Puritaners und die intime Chronik eines ewig lüsternen College-Professors aus den unbeschwerten siebziger Jahren. Ein Roman des späten 20. Jahrhunderts wird gekreuzt mit einem aus der Zeit der industriellen Revolution. Updike erzählt auch hier mit der ihm eigenen Meisterschaft." (Die ZEIT)

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John Updike

Erinnerungen an die Zeit unter Ford

Aus dem Englischen von Maria Carlsson

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Ein amerikanischer College-Dozent arbeitet an einem Artikel über die Präsidentschaft Gerald Fords (1974–1977). Tatsächlich erinnert er sich nur an seine eigenen komplizierten Frauengeschichten aus dieser Zeit und an seine Arbeit an einem Buch über den 15. Präsidenten, James Buchanan (1857–1861). «Die Biographie eines höchst pflichtbewussten Puritaners und die intime Chronik eines ewig lüsternen College-Professors aus den unbeschwerten siebziger Jahren. Ein Roman des späten 20. Jahrhunderts wird gekreuzt mit einem aus der Zeit der industriellen Revolution. Updike erzählt auch hier mit der ihm eigenen Meisterschaft.» (Die ZEIT)

Über John Updike

Geboren am 18.03.1932 in der Kleinstadt Shillington, Pennsylvania, als einziges Kind des Sekundarschullehrers und Diakons Wesley Russel Updike und dessen Frau Linda Grace Hoyer. Kindheit in materieller Bedrücktheit. Schulbesuch weiterhin in Shillington. 1950 Stipendium zum Studium am Harvard College, Hauptfach Anglistik; Abschluss des Untergraduiertenstudiums 1954 mit summa cum laude. Er heiratete 1953 die Kunststudentin Mary Entwistle Pennington, mit der er nach Abschluss des Studiums ein Jahr an die Ruskin School of Drawing and Fine Art in Oxford, England, ging.

Nach Rückkehr in die USA von 1955 bis 1957 fest angestellt beim Magazin «The New Yorker». Danach verfasste er als freier Mitarbeiter Kurzgeschichten und einflussreiche literarische Kritiken. 1957 Umzug nach Ipswich im neuenglischen Massachusetts. 1964 Vortragsreisen durch die UdSSR, Rumänien, Bulgarien und die Tschechoslowakei. Seit 1964 war Updike Mitglied des National Institute of Arts and Letters. 1973 Fulbright-Lektor in Afrika. 1976 Mitglied der American Academy of Arts and Letters.

Auszeichnungen: Guggenheim Fellowship in Poetry für «The Carpendered Hen and Other Tame Creatures» (1959); Rosenthal Foundation Award des National Institute of Arts and Letters für «Das Fest am Abend» (1960); Pulitzer Price for Fiction für «Bessere Verhältnisse» (1982); Lincoln Literary Award (1983); Distinguished Pennsylvania Artist Award (1983); National Book Critics Circle Award for Criticism für «Amerikaner und andere Menschen» (1984); St. Louis Literary Award (1988);

Bobst Award for Fiction (1988); National Medal of Arts (1989); Premio Scanno (1991); O’Henry Award für «A Sandstone Farmhouse» aus «The Afterlife and Other Stories» (1991); Common Wealth Award (1993); Conch Republic Prize for Literature (1993) Commandeur de l’ordre des arts et des lettres (1995); The Howells Medal from the Academy of Arts and Letters (1995). John Updike starb am 27. Januar 2009 in Massachusetts. Sein gesamtes Werk ist auf Deutsch im Rowohlt Verlag und im Rowohlt Taschenbuch Verlag erschienen.

Mir ist wohl bewußt, daß der Leser nicht nach Belehrung verlangt, doch ich kann nicht anders, ich muß sie ihm erteilen.

Rousseau, Bekenntnisse

Der Mensch ist in seinem Wesen das Gedächtnis des Seins, aber des Seins

Heidegger, Zur Seinsfrage

Von: Alfred L. Clayton, Bachelor of Arts 1958, Ph. 1962

An: Northern New England Association of American Historians, Putney, Vermont

Betr.: Erbetene Erinnerungen und Impressionen aus der Regierungszeit des Gerald R. Ford (1974–1977) für das Schriftliche Symposion über denselben, das in Rückblick, der Dreivierteljahres-Zeitschrift der NNEAAH, erscheinen soll

 

Ich erinnere mich, daß ich mit meinen verlassenen Kindern vor dem Fernseher saß, als Nixon zurücktrat. Meine Frau war ausgegangen, zu einer Verabredung, und hatte mich gebeten, auf die Kinder aufzupassen. Wir lebten seit Juni getrennt, seit zwei Monaten, der Rücktritt fand ja im August statt. Nixon, mit seinem verbeulten Gesicht und seiner beängstigenden, ausgerasteten Art, sah aus, als werde er gleich weinen. Die Kinder und ich hatten noch nie einen Präsidenten zurücktreten sehen. Niemand in der Geschichte der Vereinigten Staaten hatte das je gesehen.

Unsere Eindrücke – nun ja, wer weiß schon, was für Eindrücke Kinder haben? Andrew war fünfzehn, Buzzy gerade dreizehn, Daphne pummelige, verletzliche elf. Für sie, deren geschichtliches Bewußtsein seit höchstens zehn Jahren bestand, war dieser Rücktritt vielleicht nicht so epochal. Die späten Sechziger und frühen Siebziger hatten so viel an bizarren Schlagzeilen und absonderlichem Fernsehen hervorgebracht, daß meine Kinder vermutlich weniger beeindruckt waren als ich. Nicht allzu lange zuvor hatte auch Spiro Agnew seinen Hut nehmen müssen, und so war Gerald Ford unser einziger nicht gewählter Präsident, wenn man von Joe Tumulty absieht, der nach Wilsons Schlaganfall einsprang, oder von James G. Blaine während des Sommers, da der arme Garfield nach und nach von der medizinischen Wissenschaft des Jahres 1881 hingemordet wurde, indes Chester Arthur (der als korrupt galt, obschon er ein exzellenter Angler war und meterweise, mit perfektem schottischen Akzent, Robert Burns vortragen konnte) sich in New York City vor dem erhabenen Amt verbarg, das er schließlich doch antreten sollte. Wären meine Kinder wie ich, hätte es sie getröstet, daß ein landesweiter Skandal uns von jenem ablenkte, der wie ein großer klammer Frosch, den Schlammgeruch unwiderruflichen Verlustes ausdünstend, im Schoß unserer Familie hockte: mein Treubruch, meine Abwesenheit im täglichen Leben, nachdem ich all die Jahre ihres kurzen Daseins mit meiner Anwesenheit bestimmt hatte, mit meinem Kommen und vorübergehenden Verschwinden, meinem Auf- und Untergehen, meinem Trösten und Strafen; ich hatte sie im Auto zur Schule und ins Sommercamp gebracht, an den Strand und in die Berge, nach Maine und Massachusetts, war ihrer Mutter bei ihren zerzausten Pflichten zwischen Frühstück und Schlafenszeit zur Hand gegangen, hatte Windeln gewechselt und, vor kurzem erst, nervös auf dem Beifahrersitz gesessen, als Andrew von seinem neuerworbenen Führerschein Gebrauch machte. Ich war das einsame einzige Kind eines ältlichen republikanischen Ehepaars, und Vater zu sein war ein Wunder für mich gewesen, ein erstaunliches Vergnügen; mein Stundenplan am Wayward Junior College, damals ein reines Mädchen-College am einst lieblichen Wayward River hier im südlichsten Zipfel New Hampshires, gestattete mir ein nahezu ständiges Vatersein, oder, vielleicht treffender, ein Brudersein – eine locker-heitere Kumpelhaftigkeit, eher die eines älteren Bruders denn die eines Erzeugers. Aufgewachsen ohne Geschwister, hatte ich mir, mit beiläufiger Zustimmung meiner Frau, welche erschaffen. 1936 im Norden Vermonts geboren, wo die Berge flacher werden und sich nach Kanada hinfläzen, bekam ich von meinen standhaften Eltern den Namen des einnehmenden, aber erfolglosen Kandidaten, der in jenem Jahr gegen Roosevelt angetreten war, und wurde Vater im zarten Alter von zweiundzwanzig, während meines ersten Universitätsjahrs nach dem Bachelor of Arts. Die Geburtshelferin, eine stämmige Frau mit hellgrüner, enganliegender Chirurgenmütze auf dem Kopf, tauchte aus den Tiefen des Cambridge City Hospital auf, wischte sich, wie ein Schlachter an seiner blutigen Schürze, die Hände am Kittel ab und streckte sie mir hin mit den strengen Worten: «Sie haben einen Sohn.» Buzzy folgte, als ich fünfundzwanzig war und noch nicht promoviert hatte, und die liebe Daphne – die kleinste bei der Geburt, ganze dreitausendeinhundert Gramm, und die mit den strahlendsten Augen, damals und immer – wiederum zwei Jahre später, 1963, im Herbst, als Kennedy erschossen wurde und das zweite Halbjahr meiner ersten Dozentur begonnen hatte, im grünen, frostigen Dartmouth. Tage der Jugend, der Ahnungslosigkeit! Tage des ungetrübten, unangekränkelten Sichentfaltens! Ich war mit allen Insignien der Männlichkeit versehen, nur nicht mit der Einstellung, dem Verhalten eines erwachsenen Mannes. Meine Königin, meine blaß sommersprossige, rothaarige Braut, hatte noch ihre Taille, ihre geschmeidigen, milchhellen Beine und war von einer trägen Bereitwilligkeit, alles auszuprobieren. Dann brachen Lyndon Johnsons aufgeladene Sechziger wie ein psychedelisches Gewitter über uns herein. Wir zügelten unsere Fruchtbarkeit und kuschelten uns zusammen zum Glücklichsein.

[Rückblick-Redaktion, zerhacken Sie meine Absätze nicht in mechanische Zehnzeiler. Ich nehme Ihr Symposion ernst, manche Gedanken ziehen sich lang hin wie Flüsse bei Tauwetter, andere brechen ab wie Eiszapfen. Überlassen Sie das Abbrechen bitte mir.]

So saß ich da bei meinen drei Kindern weniger als Schurke denn als viertes Opfer, ein weiteres Kind der beschädigten, führerlosen Nation und der hereinbrechenden Dunkelheit (warum hatte Nixon mit seinem Rücktritt bis zum Abend gewartet? Um nicht wie eine von den tagsüber gesendeten Seifenopern zu wirken?). Diese Pose, daß ich auch nur ein unglücklicher Teilhaber unseres familiären Elends war und nicht vielmehr sein Urheber, war in der Tat praktisch für uns alle: meinen Kindern war so die Möglichkeit gegeben, mich weiterhin gern zu haben und sich zu freuen, wenn ich zu Besuch kam, mal herauskroch aus meiner asketischen kleinen Junggesellenbude auf der anderen Seite des Flusses, in Adams, dem Inbegriff eines darniederliegenden Industriestandorts – einem Flecken, in dem sich ausschließlich Textilfabriken angesiedelt hatten und der 1797 zu Ehren des geplagten zweiten Präsidenten, gewissermaßen eines Jungen aus der Nachbarschaft, umbenannt worden war –, und, so gut sie es vermochten, ihre Aufenthalte bei mir und die mageren Vergnügungen zu genießen, die Adams zu bieten hatte: eine Bowlingbahn, ein Strand aus aufgeschüttetem Sand am Seeufer, ein chinesisches Restaurant, in dem Daphne einmal ein Wahrsageplätzchen ohne Wahrsagezettel bekommen hatte und in Tränen ausgebrochen war, weil sie dachte, das bedeute, daß sie sterben müsse, und ein einziges überlebendes Lichtspieltheater im menschenleeren Zentrum, eines von denen mit Vordach, viel Plüsch und rokokohafter Eingangshalle, die überall in den kleinen Städten rasch verschwanden, mit Brettern vernagelt und mit Graffiti beschmiert untergingen, nachdem sie vorher noch eine düster-reißerische Phase als jugendgefährdende Sexfilmkinos gehabt hatten. (Sex stand während der Ford-Administration noch in einem guten Ruf. Betty Ford war eine muntere, von keinen Zwängen geplagte Tänzerin bei Martha Graham gewesen und verkündete zu Beginn der Amtszeit, daß sie und Gerald beabsichtigten, weiterhin im selben Bett zu schlafen. Ihre Kinder tauchten gelegentlich in den Schlagzeilen auf mit Geschichten aus ihrem Leben, das ebenso ungeeignet für die Öffentlichkeit war wie das anderer junger Erwachsener. In jenen Jahren gab es One-night stands, Saunen, Sex-shops in Hülle und Fülle. Geschlechtskrankheiten waren eine leicht zu behebende Panne. Syphilis, Tripper – kein Problem. Die Filzläuse, die pfiffigen kleinen Plagegeister der Matratzenlager in den Sechzigern, hatten sich verzogen, als die Mieten in den Städten stiegen, und die Herpesbläschen mit ihrem intimen Brennen hatten ihren Siegeszug noch nicht angetreten. Das Paradies des Fleisches war in Reichweite. Was unter Eisenhower undenkbar gewesen war und unter Kennedy gewagt, war unter Ford nahezu obligatorisch geworden. Nur daß die Leute langsam verrückt wurden, wie die Bürger damals im alten Rom, die einen von zuviel Sex, die anderen vom Blei in den Leitungsrohren. Ford, früher ein stattlicher Brocken, reizte Frauen auf eine Weise, wie Nixon das nicht getan hatte. Ich meine mich zu erinnern, daß zweimal innerhalb weniger Wochen ein weibliches Wesen mit einem Schießeisen auf ihn losging. Squeaky Fromme war zu high, um abzudrücken, und Sara Jane Moore schoß aus nächster Nähe daneben. [Rückblick-Red.: Fakten eventuell nachprüfen? Die gesamte Parenthese kann gestrichen werden, falls es Platzprobleme gibt. Aber Sie wollten Impressionen.] Ich hatte keinen Fernseher in meiner kargen Behausung im dritten Stock – ein schmales Zimmer, wo ich mir aus zwei Aktenschränken und einem Türblatt einen Schreibtisch gebaut hatte, und eine quadratische Kammer, die fast ganz von einem Doppelbett ausgefüllt wurde, beide Räume mit je einem Fenster, das auf eine enge Seitenstraße im Schatten einer stillgelegten Spinnerei hinausging –, und war, was Nachrichten betraf, auf die stündlichen Zusammenfassungen und seltenen Extrameldungen des WADM angewiesen, des einzigen Senders in der Region, der klassische Musik brachte; hinzu kamen die Schlagzeilen in anderer Leute Zeitungen und überholte Magazine in den Wartezimmern von Zahnärzten, Rechtsanwälten, Optikern etc., die ich in den neunundzwanzig Monaten der Ford-Administration konsultierte.) In jenem lieben sterbenden Lichtspieltheater namens Rialto, mit den blankgewetzten Plüschsesseln und den abblätternden vergoldeten Putten, sahen meine drei strubbelköpfigen Putten und ich den Paten, Teil II, und den Weißen Hai. Beide machten Daphne und mir angst, auch wenn die Jungen die Nase über uns rümpften. Zur Zeit des Weißen Hais war Andrew groß genug, mit Führerschein, um es demütigend zu finden, mit seinem Vater ins Kino zu gehen. Und obwohl Der weiße Hai das Publikum in Scharen anlockte, bis auf die erhöhten Logenplätze und den steilen Balkon hinauf, war das Schicksal des Rialto besiegelt; wenige Monate später wurde es ein Softpornokino.

Absatz.

Während ich dasaß und zusah, wie Nixon zurücktrat, hatte ich die Illusion, daß das Haus, in dem wir uns befanden, eine große viktorianische Villa mit Mansarddach und ausgebautem zweiten Stock, von dessen Fenstern man die gelben Ziegelschornsteine des College-Heizwerks sah, noch immer meines war; die Bücher, eine Sammlung, deren Grundstock unsere College-Lehrbücher bildeten, kamen mir vor, als seien sie meine, und die Einrichtung, ein von Kindern malträtiertes buntes Durcheinander aus Schaumstoffsofas und Leinengurtstühlen, wackligen dänischen Lampentischchen und chrombeinigen niedrigen Sesseln mit Paisleytüchern und troddelbesetzten Schals über den durchgescheuerten Lehnen, kam mir auch so vor, als gehörte sie noch mir, mitsamt den Katzenhaaren auf den Polstern und den Staubflocken unterm Sofa, den fast leeren Spirituosenflaschen in der Speisekammer und den Ballons aus Japanpapier, die hier und da als Lampenschirme herhielten – alles in unserem Ehestil, einem Unisexstil, zu dem meine Frau und ich leichthändig, vom Universitätsleben der späten Fünfziger geprägt, den Grundstein gelegt hatten und der dann in der Hitze und den Mühen des «Sympathisantentums» der Sechziger ausgeschmückt wurde und der Verwitterung anheimfiel. Ich hatte meine Frau verlassen, nicht aber unsere Ehe, die Struktur unserer Ehe, unsere Denkart, und ich war weit davon entfernt, mir klarzumachen, daß dies Haus für mich verloren war, dies fusselige, fransige Nest, das sie und ich Zweig für Zweig zusammengetragen hatten, nicht zu reden von den drei Vögelchen, die so vertrauensvoll und hilflos und still neben mir im flackernden Licht der explodierenden Ambitionen und Träume eines einzelnen Mannes hockten (er trete zum Wohle der Nation zurück, erklärte Nixon, und nicht etwa aus irgendwelchen persönlichen Neigungen und Motiven: «Ich bin nie ein Drückeberger gewesen», sagte er mit zittriger Stimme und finsterem Blick. «Das Amt niederzulegen, bevor meine Zeit um ist, widerstrebt jeder Faser in mir») – daß dies Haus für mich dahin war, aufgegeben, meinem Leben ebenso unwiederbringlich verloren wie das Zuhause meiner Kindheit im Dörfchen Hayes, meine Studentenbude in Middlebury, unsere Doktoranden-Unterkünfte in Cambridge, in einem backsteinernen Apartmentgebäude an der Kirkland Street unweit des damaligen Germanischen Museums, oder das kleine apfelgrüne Cape-Cod-Cottage, unser erstes richtiges Haus, mit Garten, Keller und Briefschlitz, das die Universität uns in Hanover gleich hinter der Route 120, einen Steinwurf von den Orozco-Wandmalereien entfernt, vermietet hatte. In diesem Wohnzimmer war ich in Wahrheit nichts wesentlich anderes als ein Fernsehbild – ein flüchtiger Gast, ein Epiphänomenon.

[Rückblick: Ich bitte um Entschuldigung für all den Dekor. Aber Dekor ist Teil des Lebens, ist unauflöslich unseren Erinnerungen und Impressionen eingewoben. Als mich die freundliche und schmeichelhafte Aufforderung der NNEAAH erreichte, zu ihrem Schriftlichen Symposion etwas beizusteuern, ging ich auf gut Glück in die Bücherei und blätterte einige Nachschlagewerke durch, die Art von Instantgeschichte, die man erhält, wenn man alte Schlagzeilen zusammenträgt, und war verblüfft, welch hohen Nachrichtenanteil der Tod ausmacht, pur und schnörkellos. In diesen Übergangsmonaten von 1974, wer starb da nicht alles : Chet Huntley und Georges Pompidou, Juan Perón und Earl Warren, Duke Ellington und die Mutter von Martin Luther King jr., Walter Lippmann und Jack Benny, Generalissimo Franco war ernsthaft leidend und Evel Knievel alles andere als wohlauf. Evel Knievel wollte mit einer Rakete über einen Canyon in Idaho fliegen, was ihm mißlang; von Pompidou wurde der Ausspruch wiedergegeben : «Jeder Politiker (Tous les politiciens) hat seine Probleme (ont leurs problèmes). Nixon hat Watergate (Nixon a Watergate), und ich werde sterben (et je vais mourir).» Ich weiß schon, Rückblick-Redaktion, Sie wollen dies Zeug nicht, das jeder Student im dritten Semester, der Zugang zu einem intakten Mikrofilm-Lesegerät hat, Ihnen zusammensuchen kann. Sie wollen lebendige Erinnerungen und Impressionen: das unverfälschte Zeugnis derer unter uns, die, anders als die eben genannten, das Glück hatten, die Ford-Administration zu überleben. Neulich abend habe ich mit tiefer Rührung einen verzappelten Schwarzweißfilm aus dem Jahr 1913 gesehen: die Überlebenden der Pickett-Attacke, die sich fünfzig Jahre später, als alte Männer, auf dem Schlachtfeld von Gettysburg trafen. Die Südstaatler taten so, als griffen sie wieder an, und humpelten, auf ihre Krückstöcke gestützt, vorwärts, und die Nordstaatler hinkten hinter der Steinmauer auf dem Cemetery Ridge hervor und umarmten sie. Tränen, Gelächter. Junge Totschläger, aus denen liebe alte Männer geworden waren. Es muß nur genügend Zeit verstreichen, und wir sind alle Geschichte, nicht wahr? Wenn Sie sich mal richtig elend fühlen möchten, liebe NNEAAH, denken Sie an die Zeit, die immer weiter verstreichen wird, wenn Sie schon tot sind. Wenn wir tot sind, sollte ich sagen. Wenn ich den mir zugewiesenen Platz falsch eingeschätzt habe, stutzen Sie diesen Text bitte so weit zurecht, daß er Ihren redaktionellen Erfordernissen entspricht.]

Erinnerung ist von einer Fleckigkeit, als sei der Film in die Entwicklerflüssigkeit nicht eingetaucht, sondern nur mit ihr besprenkelt worden. Und das Auge macht dann, wie bei einer optischen Täuschung, das ihm Mögliche aus den Flecken. Die Königin der Unordnung kam, sagen wir, gegen Mitternacht zurück. Es war August, ein schwüler Monat in unserem Flußtal, aber der Sommer rollte sich an den Rändern schon ein, die Rasenflächen waren ausgedörrt und die Zikaden auf dem Höhepunkt ihres Gezirps. Sie muß ein kleines blaßgeblümtes Baumwollkleid auf ihrem üppigen, aber immer noch geschmeidigen Körper getragen haben, mit schnürsenkeldünnen Achselträgern, und mir muß der Gedanke durch den Kopf geschossen sein, daß sie dies Kleid an diesem Abend ausgezogen und später wieder angezogen hatte, um nach Haus zu gehen. Nach Haus – sie hatte ein paar Verluste erlitten, aber dies Wort, diese Wirklichkeit waren ihr geblieben. «Wie ging's mit den Kindern?» wird sie gefragt haben.

«Gut. Sie waren süß. Wir haben Nixon zugesehen und versucht, Mille Bornes zu spielen, bis Daphne quengelig wurde.»

Daphnes Mutter schüttelte einen kleinen, locker gestrickten weißen Pullover ab, den sie sich wie ein Cape umgehängt hatte. Die Sommersprossen auf ihren nackten Schultern waren so dicht, daß sie wie Sonnenbräune aussahen. Schräg zur Decke hinaufsehend, als hätte dort plötzlich ein Spinnengewebe ihre Aufmerksamkeit gefesselt, fragte sie, ein wenig schüchtern: «Haben sie was gesagt?»

«Nein», sagte ich.

«Auch nicht, als Daphne im Bett war? Die Jungen?»

«Nein, Norma. Was hätten sie denn sagen sollen. Sie haben sich mit mir Hawaii Five-O angesehen, und dann habe ich sie zu Bett geschickt. Ich habe mit Daphne gebetet, aber die Jungen haben mir gesagt, du hättest das Beten abgeschafft.»

«Hab ich das?» fragte sie, wandte den Kopf und äugte zu einem anderen Spinnengewebe hinauf. Ihr Haar hatte die Farbe einer getrockneten – einer geschwefelten, sagen die Reformhäuser – Aprikose, die ins Licht gehalten wird, und war so wellig, daß sie auch damals, als ganz glattes Haar in Mode war, zusammen mit Sandelholzperlen und schmutzigen bloßen Füßen, immer wuschelköpfig ausgesehen hatte. Ich stellte mir ihr Haar ausgebreitet auf einem Kissen vor wie eine herausgequollene Polsterfüllung und die fleischigen Hände ihres Freundes, die sich in diesen Überfluß gruben. Ein Überfluß an Haar auch unten, ingwerfarben, kribbelnd, und in ihren Achselhöhlen in jenen Barfußjahren, als es schick war, es nicht wegzurasieren. Ihre Schienbeine hatten damals gekratzt wie ein Männerkinn. Ich hatte mir einen Bart wachsen lassen, der dünn und bocksartig geraten war. Wir fuhren mit unseren Freunden immer zum Nacktbaden an einen See nördlich von Hanover, und einmal war ich so stoned gewesen, daß ich mich transparent fühlte wie eine Qualle und mir einbildete, wir seien alle eine große glückliche Familie; ich hatte mich einer Frau zugewandt, die neben mir im Sand lag, und irgendwie muß ich um ein Lob für Normas üppige Figur gebeten haben, denn ich erinnere mich, wie die trockene sarkastische Stimme dieser anderen Frau sich durch meine schimmernden Quallenwände schnitt: Es freut mich ja so für dich, Alf. «Es kam mir so heuchlerisch vor», sagte meine Königin der Unordnung, «so wie wir leben. Nichts ist mehr heilig und überhaupt.»

«Wie war's denn mit Ben?» Sie hatte sich mit Benjamin Wadleigh getroffen. Dem Dekan der Musikabteilung, Leiter der Chorgemeinschaft, einem hochgewachsenen, kopflastigen Mann mit großen gedunsenen weißen Händen, die stampfend, knetend in Klaviertasten wühlten wie in Schlamm. Er lebte seit kurzem getrennt von seiner kleinen Frau Wendy und war ein Langzeit-Anbeter meiner buschigen, milchhäutigen, großbrüstigen Ehegefährtin. «Wo macht ihr beiden es eigentlich, um elf in der Nacht?»

«Wir nehmen den Wald», sagte sie, in einem Ton, der mich im unklaren ließ, ob sie Spaß machte. «Oder den Rücksitz seines Kombis. In der Not frißt der Teufel und so weiter. Möchtest du einen Drink?» Sie schlenderte Richtung Speisekammer, wo all die fast leeren Flaschen standen. Die beiden Katzen waren beim Klang ihrer Stimme aus den Ecken hervorgekommen, in denen sie sich vor mir versteckt hatten, und strichen ihr in einem schnurrenden Zopf, einer pelzigen Doppelhelix der Zuneigung, um die Beine. Ich war allergisch gegen Katzenhaar und neigte dazu, nach den Tieren zu treten, wenn sie mir zu nahe kamen. Ihr Schnurren brachte mir wieder den im Hintergrund pulsenden Zikadengesang zum Bewußtsein – ein Geräusch wie kein anderes, das das Gehirn radioartig ein- und ausblenden kann.

«Bloß nicht», sagte ich und erhob mich aus meinem dänischen Sessel. Die eine Teaklehne war kaputt – als ich hier noch wohnte, hatte ich sie immer wieder geleimt. Ich versuchte, mir hartnäckig haftende Katzenhaare von der Sitzfläche meiner Hose zu streichen. Ich war neue Verpflichtungen eingegangen: meine dunkeläugige Geliebte beobachtete meine ehelichen Besuche wie ein Habicht und erwartete minuziös genaue Berichterstattung. «Ich gebe mir Mühe, ein geregeltes Leben zu führen», erklärte ich, nicht ohne Reumütigkeit.

«Ist es das wirklich?» In der Hand hielt sie zwei Zoll silbrig blaßgrünen Wermuts, der Farbe ihrer Augen sehr ähnlich, in einem verschmierten Orangensaftglas, das sie unabgewaschen aus der Spülmaschine gefischt hatte. Sie neigte mir Gesicht und Stimme zu und sagte: «Alf, du mußt mit ihnen reden, sie sind durcheinander und verletzt und bedrängen mich mit Fragen – ‹Was hat ihm an uns denn nicht gefallen?›, ‹Ist sie denn wirklich so toll?›, ‹Bringt er das wohl je hinter sich und kommt zu uns zurück?›»

Ich nahm es ihr übel, daß sie versuchte, mit weiblicher Redseligkeit das männliche Schweigen zu zerreißen, das glatte Narbengewebe, das die Jungen und ich über meine Fahnenflucht hatten wachsen lassen.

«Vor allem die Jungen», fuhr sie fort. «Daphne ist die robusteste, sie ist so offen und noch so kindlich. Aber die Jungen – ich weiß nicht, was in ihren Köpfen vorgeht. Sie sind sehr, sehr rücksichtsvoll mit mir, gehen auf Zehenspitzen herum, als ob ich krank wäre, werfen mir nicht vor, daß ich so dumm war, dich zu verlieren, geben sich Mühe, all die vielen kleinen Sachen im Haus zu erledigen, um die du dich früher gekümmert hast …»

Meist ließ sie ihre Sätze dahinwehen, eine Aufforderung für ihren Gesprächspartner, sich etwas einfallen zu lassen. Ihre Bilder, wenn sie Zeit zum Malen fand, blieben immer unvollendet, wie die von Cézanne. Immer gab es ein, zwei leere Stellen. Auch ihr Gesicht blieb für gewöhnlich leer, nicht einmal Lippenstift benutzte sie. Wenn sie es mal mit Mascara versuchte, sah sie aus wie ein kleines Mädchen, das sich als Hexe zurechtgemacht hat. In den törichten Sechzigern hatte sie eine Vorliebe für Zöpfe, und um auf Parties einen besonderen Effekt zu erzielen, flocht sie sich manchmal die eine Hälfte ihres Haars streng zusammen und ließ die andere Hälfte bauschig abstehen. Ihr Haar– habe ich das klar ausgedrückt? – war nicht gelockt, es war schlangenlinienförmig gewellt, und der orangefarbene Ton war nicht exakt der einer gedörrten Aprikose, sondern blasser, so daß ihr Schamhaar sich nicht allzusehr von ihrer Haut abhob, sondern deren Farbe eher in einer leicht abgewandelten Schattierung zu wiederholen schien. Jetzt, da Bens lebendige Säfte noch in ihr schwammen, brachte sie mir – das trüb schwarzweiße, hohle, gespenstische Gefühl, mit dem ich Nixon im Fernsehen zugeschaut hatte, mit Farbe ausfüllend – die Empfindung von Scham mit, Scham als ein bodenloser innerer Tiefdruck, eine spürbare Gashülle, die einem die Glieder verlangsamt und verdickt, wie es die Schwerkraft auf dem Saturn tun würde, Scham, mein neuer Planet, seit meiner Fahnenflucht, die mein Haus hohl und (dies alte angelsächsische Wort von trostlosem Gewicht) hlafordleas, gattenlos, gemacht hatte. Aber wie bei vielen ihrer Handlungen hatte Norma auch hier für Vollständigkeit nichts übrig. Nachdem sie mich dahin gebracht hatte, daß ich die Treppe hinaufkriechen, meine Kinder wecken und sie um Vergebung bitten wollte, sah sie auf die zerschrammte, oft geleimte Lehne des Sessels herunter, aus dem ich aufgestanden war, und fragte zerstreut: «Was hast du gerade gelesen?»

Ich hatte ein Buch aufgeschlagen auf der Lehne liegenlassen. Es war Verteidigung der Sklaverei: Die Ansichten des alten Südens, herausgegeben von Eric L. McKitrick. «Eine Sammlung von positiven Meinungen über die Sklaverei vor dem Bürgerkrieg», sagte ich. «Einige der Argumente sind sehr aufrichtig und mitfühlend. Die Sklavenhalter waren nicht nur übel.»

«Sklavenhalter halten sich nie für übel», sagte sie. Ich spürte in ihrer Erwiderung einen feministischen Stachel, der durch mein schlechtes und typisch männliches Verhalten neu gespitzt worden war. Sie milderte ihn ab: «Geht es immer noch um Buchanan?»

Während der letzten zehn Jahre unseres gemeinsamen Lebens hatte ich in meiner freien Zeit und in den Ferien versucht, ein biographisches Werk zu schreiben, etwas Historisch-Psychologisches, Lyrisch-Elegisches – in der Art, wie Jonathan Spence es mit den Chinesen macht – über James Buchanan, den fünfzehnten Präsidenten der Vereinigten Staaten. New Hampshires Sohn Franklin Pierce war der vierzehnte gewesen, aber mein Interesse hatte sich auf seinen Gesandten in England und späteren Nachfolger auf dem präsidialen heißen Stuhl konzentriert. Der einzige unverheiratete Präsident, der älteste bis Eisenhower, der letzte, der einen Stehkragen trug, und der letzte der Doughfaces, der dem Süden zugetanen Kompromißler, bevor der Nord-Süd-Krieg alle Kompromisse hinwegfegte. Ein großer Kerl, ein Meter achtzig, mit schielenden Augen, schiefgeneigtem Kopf und einer linkischen Höflichkeit, die mein Herz einnahm. Er vermittelte eine gewisse dunstige Vorurteilslosigkeit, die Weitherzigkeit der Ambivalenz, wohingegen Pierce vom engeren New-England-Zuschnitt war, trüb wie eine alte Pfeilspitze aus Feuerstein. Die Leute beklagten sich, daß Buchanan so entschlußlos sei – mir gefiel das. Es liegt ein zivilisierter Heroismus in Entschlußlosigkeit – «den Besten mangelt es an jeglicher Überzeugung» etc. Er und seine Nichte Harriet Lane führten das eleganteste Weiße Haus seit Dolley Madison, und auch das gefiel mir. Mir wurde leichter zumut, wenn ich an ihn dachte. Der alte Gent war so ritterlich-tapfer im flackernden Schatten des Bürgerkriegs. Sie wissen, wie das ist, Historikerkollegen – man sucht nach einem kleinen Fleck, nicht zu festgetreten von anderen Füßen, wo man vielleicht ein paar Wicken ziehen kann. Meine Bemühungen, die ohne Ende waren, weil eine Recherche die nächste nach sich zog und immer so weiter und alle Recherchen zusammen ins Vergessen mündeten und in die definitive Erkenntnis, daß historische Wahrheit auf immer schwer zu fassen ist, hatten kurz nach Daphnes großäugiger Ankunft in dieser Welt begonnen, als wir um der Kinder und um unserer selbst willen beschlossen, daß wir nun vollzählig seien. Das war eine weise Entscheidung, aber auch ein Jammer, denn Norma und ich hatten ein natürliches Talent zur Herstellung von Kindern; unsere Spermien und Eizellen klickten, im Gegensatz zu unserer Libido, glatt ineinander, und das Geschäft von Schwangerschaft, Geburt, Säuglingspflege und Kleinkinderziehung gab uns beiden das Gefühl, ein gesundes Unternehmen zu sein.

«Immer noch», mußte ich zugeben. Mein Versuch, unsere Familie um ein strammes Buch zu erweitern, hatte sich als schmerzlich langwierig und bis dahin als vergeblich erwiesen. Möglicherweise war Buchanan der Grund für unsere Trennung : ich hoffte, daß eine Lebensveränderung den saumseligen, schwach sich regenden alten Fötus, den ich seit einem Jahrzehnt in mir trug, vielleicht in Bewegung bringen könnte.

«Vielleicht solltest du ihn aufgeben und es mit jemand anderem versuchen», schlug meine Königin der Unordnung boshaft, wenn auch schüchtern vor. «Er ist so langweilig.»

«Er ist nicht langweilig», beharrte ich monogam, «ich liebe ihn.»

Aus irgendeinem Grund – ich wußte, daß es so kommen würde – traf sie das ; auf ihren Wangen zeigte sich ein leichtes Rosa im matten, troddelumhangenen Lampenlicht des Zimmers. Die zarte Röte ließ ihre Augen grüner erscheinen. In ihrer Verletztheit nippte sie am funkelnden Wermut. Ich überlegte, ob es als Spaß gemeint war, was sie über sich und Ben gesagt hatte. Sie dünstete den schwachen Heuduft aus, den Frauen im Sommer haben.

«Schade, daß du Nixons Rücktrittsrede nicht mitbekommen hast, du hast was verpaßt», sagte ich.

«Wir haben einen Teil davon im Autoradio gehört.»

Auf dem Weg in den Wald oder wo auch immer. Ben wohnte in einem der Mädchenwohnheime von Wayward, wo nach zweiundzwanzig Uhr keine Gäste mehr geduldet wurden. «Wir haben's uns alle zusammen angesehen», sagte ich, eine häusliche Harmonie beschwörend, die so nicht bestanden hatte. «Es war traurig.»

«Warum?» Norma war eine unbeirrbare Liberale. «Das einzig Traurige ist, daß jetzt dieser Idiot Ford ans Ruder kommt.»

«Sagt Ben, daß Ford ein Idiot ist?»

«Ich sage das.»

«Weißt du, Liebling», sagte ich, «du solltest dich vorsehen im Wald. Da gibt es Giftsumach, ganz zu schweigen von Schlangen.»

Sie schob sich einen Kringel ihres unordentlichen welligen Haars aus der Stirn und blies hinauf, als ob ihn das an seinem Platz halten könnte. Sie sah wieder schräg zur Decke, aber diesmal mit einem anderen, weniger interessierten Blick; ich kannte sie gut genug, um zu wissen, daß sie sich von dieser Heimkehr nichts mehr versprach. Sie war müde und wollte ins Bett. Sie kippte den Rest des Wermuts hinunter und sagte : «Sieh du dich auch vor. Da draußen sind jede Menge Männerjägerinnen unterwegs.»

Nichts, das sie sagte, hätte jemals nicht irgendwie gestimmt. Eine meiner Erinnerungen an die Ford-Jahre – in der Tat die zweitwichtigste in diesem Bericht, so wie sie sich nach vorn drängt – gilt einer feuchten Möse, die unten an meinem Rücken leckte, als eine nackte Frau sich rittlings auf mich setzte, um mir, angeblich zur Entspannung, die Schultern zu massieren. Die Massage war als eine Art Belohnung, als therapeutisches Zwischenspiel bei unserer Zweipersonenorgie gedacht, aber ich habe Massagen nie wirklich gemocht, nie recht die dahintersteckende chiropraktische Theorie geglaubt, und das Gefühl – wie ein großer Zungenkuß gleich oberhalb der Furche meines Hinterns – ließ mich innerlich schaudern. Die Schuld liegt bei mir, bei meiner prüden Generation. Männer, die nach der Truman-Administration geboren sind und von früher Jugend an mit Aktphotos in überregionalen Magazinen gelebt haben und mit Dokumentarfilmen über die menschliche Geburt, die dem Fernsehzuschauer keine Wehenkontraktion ersparen, können sich unsere von den Vätern und Vorvätern ererbte Unschuld hinsichtlich der weiblichen Genitalien vermutlich kaum vorstellen. Diese zwei Paar Lippen, die großen und die kleinen. Das Gerüschte, das sie haben, und wie sie in einer kleinen wulstigen Schwellung um die Klitoris zusammenlaufen. Ihre fahle, austernhafte, kaum zu ertragende Kompliziertheit, deren Anblick man sich ersparte; man überließ ihn, ebenso wie die optische Qual der Entbindung, gern den Gynäkologen. Augen zu und ran, hieß die Devise in jenen Tagen, und: Verzieh dich vom Schauplatz so schnell wie's nur geht. Neun Monate später begann dann die verantwortungsvolle Vaterschaft. Sie haben einen Sohn. Das waren dunkle Zeiten damals, in denen man alles im Dunkeln tat, wie Spermatozoen sich blind den Eileiter hinauf zum Ei schlängeln. Vorbei jetzt: die Möse ist keine fellgesäumte Abwesenheit mehr, die in binärer Opposition zur phallischen Anwesenheit steht, sie hat jetzt eine deutliche Präsenz, mit einer eigenen aggressiven Anatomie. Wenn sie gut genug ist, das Drängen einer Erektion in sich aufzunehmen, dann ist sie erst recht gut genug, ein eisiges bißchen Schleim auf der liebesheißen Haut des Verführers zu hinterlegen.

Die Frau war merkwürdigerweise nicht die Dame meines Herzens, die Frau, um derentwillen ich meine Frau verlassen hatte; es war die kleine Wendy Wadleigh, die mich, ich weiß nicht mehr, unter welchem Vorwand, in meinem staubigen Apartment in Adams aufgesucht hatte – vermutlich um über Normas Verhältnis mit ihrem eigenen Mann, dem großköpfigen Ben, zu reden. Ich war mit Wendy nie recht warm geworden; ihre Beine waren zu kurz, ihr Schwerpunkt saß zu tief, ihre Debbie-Reynoldshafte Energie war zu wahllos, das Kornblumenblau ihrer Augen zu eifrig und leuchtend. Sie joggte, sie kochte makrobiotisch, sie spielte Bratsche, sie gab Dyslektikern Privatunterricht, sie trainierte die Wayward-Mädchen in Hockey und Lacrosse, sie schwamm jeden Tag im collegeeigenen Pool, sie trug ihr blasses Haar in einem glänzenden, sportlichen kleinen «Flip». Aber in jenen fernen Ford-Tagen galt es als ausgemacht, daß ein Mann und eine Frau, die allein in einem Zimmer mit abschließbarer Tür waren, gefälligst zu vögeln hatten. Sie war kaum eine halbe Stunde bei mir, als wir auch schon die khakifarbenen Rouleaus herunterzogen, die Tür verriegelten und zusätzlich die Sicherheitskette einklinkten, den Hörer neben den Apparat legten und sein automatisches Tuten unter einem Kissen erstickten, das wir vom plötzlich zum Dreh- und Angelpunkt gewordenen Bett nahmen. Mein Apartment in Adams – ich sagte es schon [siehe Seite 11] bestand aus zwei Zimmern, zuzüglich einer Küche von der Größe eines Bads, und einem Bad von der Größe eines Wandschranks. Die beiden Fenster gingen auf die Rückseite einer Fabrik hinaus, wo ein paar bläuliche Lampen über lange leere Geschoßflächen wachten, die noch die geisterhaften Spuren von nach Süden verfrachteten Maschinen trugen. Wenn man das Gesicht gegen die Scheibe preßte, konnte man seitlich am vorspringenden Neonschild eines Restaurants vorbei zur zwei Häuser entfernten Straßenecke sehen, wo präjapanische Autos ihre rostigen langen Flanken durchs Ampellicht zogen. Winzige Fußgänger flackerten auf dieser Hauptstraße am spiegelgerahmten Eingang eines Schuhgeschäfts vorbei, das ständig mit endgültiger Schließung drohte. Um die Ablenkung auf ein Mindestmaß zu reduzieren, schaltete ich WADM aus, wo irgend jemandes Symphonie sich wieder und wieder zu einer donnernden Entladung des Themas des gerade gespielten Satzes hocharbeitete. Denke nur ich, daß klassische Musik sich sehr schwertut, klarzumachen, worauf sie hinauswill? All dies leidenschaftliche Suchen, und am Ende kommt doch nur wieder die Grundtonart heraus, mit der's angefangen hat. Ich höre nie hin, außer wenn ich mich in Zwischenwelten befinde – beim Autofahren oder während jener Übergangsjahre der Ford-Administration.

Im plötzlichen Rouleaudämmer unterdrückte Wendy ihren angeborenen Hang zum Plappern und zog sich rasch bis auf die weiße Unterwäsche aus, die leuchtete wie die weichen Tageslichtstreifen unter den braunen Säumen der Segeltuchrouleaus. Ich tat es ihr nach und behielt vorerst meine Unterhose an, als zögerte ich, den Verband von einer flammenden Wunde zu nehmen. Die blumige Etikette, wenn man eine Frau zum erstenmal vögelt! Erwartet die Dame ein Kondom? Soll man ihr anbieten, das Bad zu benutzen, und es auch selber aufsuchen, wie vor einer langen Autofahrt? Gibt es irgendwelche äußeren Makel oder Merkmale, die einer Erklärung bedürfen, weil sie sonst vielleicht beunruhigend wirken, oder sollen wir das Fleisch für sich sprechen lassen? Die linkische Verlegenheit versetzt uns in die Kindheit zurück, eine Zeit, da man keine allgemein anerkannten Benehmensweisen kennt. In dieser jähen Nähe türmt sich, wie eine einschüchternde Klippe, eine subtile, aber ungeheuer gegenwärtige Neuartigkeit auf: hinsichtlich des Geruchs, der Textur, der erotischen Neigung, der mutmaßlichen Erfahrung und Erwartung des andern. Obwohl ich Wendy schon auf manchem Collegeball im Arm gehalten hatte und in den unsicheren Spätstadien vieler Kollegiumstreffen, wenn der Gastgeber einen ohnehin schon ausgedehnten Abend noch weiter in die Länge ziehen wollte und eine vergessene Billy-Eckstine-LP hervorkramte, war ihr Körper mir im Grunde fremd. Ihre Haut zwischen BH und Slip fühlte sich kühler an, als ich erwartet hatte, und härter in den Kurven, besonders an den benachbarten Hälften ihres prominenten Hinterteils. Ich nahm mir die unerhörte Kühnheit heraus, sie dort zu liebkosen, durch das seidige Futteral ihres Slips hindurch, der einen bikinihafteren Schnitt hatte, als ich es gewohnt war. Es war rücksichtsvoll und vielleicht auch schlau von Wendy, daß sie ihre Unterwäsche anbehielt; als eine Frau meiner Generation verstand sie, was eine Studentin nicht verstanden hätte: daß ich das Schutzbedürfnis hatte, nicht allzu plötzlich den Herrlichkeiten des weiblichen Körpers ausgesetzt zu werden, und daß diese Unterwäsche für mich mit meiner langen gradualistischen Geschichte der verstohlenen Blicke – von unten in einen Rock hinauf oder ins Ärmelloch einer Bluse hinein – und der Rücksitzfummeleien mit widerspenstigen Gummibändern und Verschlüssen ein Stimulans war. Aber warum ihr Listigkeit unterstellen, vielleicht war sie selber befangen, und ihr Sinn für Etikette verlangte, daß wir einen späteren Zeitpunkt unseres Zusammenseins abwarteten, um uns gegenseitig, mit zitternden Händen, diese letzten Kleidungsstücke herunterzunesteln. Denn obschon man das Jahr 1974 schrieb, waren wir doch nicht hineingeboren in die Freiheiten der Zeit, sondern durch die Schüchternheiten und Tabus früherer Ären gegangen, um hier anzulangen. Sogar die späten Sechziger hatten noch eine Unschuld – eine gezwungene Oh-Boy!-Barbarella-mä&ige Frohsinnigkeit, bei der man Orgasmen abzählte wie die Blütenblätter eines Gänseblümchens –, die die gründlich erfahrene Ford-Epoche nicht besaß. In jeder Ära gibt es, in der Disposition ihrer Bürger, beides gleichzeitig: früheres soziales Pioniertum wird vom Mainstream-Leben aufgesogen, und die Energie, die vor kurzem noch Durchbrüche geschafft und Widerstandshaltungen getragen hat, erschöpft sich. College-Kids hatten sich schon zurückgezogen von Revolution und Dharma, aus Angst, in der stark zurückgehenden Wirtschaft keinen Platz zu finden oder bei sinnlosen Protestaktionen erschossen zu werden, wie bei den Unruhen an der Kent State University. Die Hippies der späten Fünfziger waren jetzt lederne alte Tischler und Schafhirtinnen, von Kindern geplagt und von LSD benebelt, und hatten sich in den Winkeln eines künstlich ländlichen Amerika verkrochen. Wir lagen eine Weile da und küßten uns, Wendy Wadleigh und ich – betrieben Heavy-petting, wie man das früher so schnurrig nannte –, und brachten uns gegenseitig in Stimmung: ihr Mund wurde immer unbefestigter und feuchter, ihr Körper schien sich in den Verwerfungen des erotischen Raums in so etwas wie ein schräg gekipptes Raumschiff zu verwandeln, das mir durch ihren Mund Spucke und spirituelle Energie eintrichterte, bis hinunter zu meinen Zehen, die sich in die Wölbung ihrer Füße schmiegten. Ich fing an, im Hyperspace der Liebe zu schweben; meine Finger tasteten sich unterm elastischen Slipbündchen hindurch zu den parabolischen Rundungen ihrer aluminiumglatten Hinterbacken und zum samtigen Grübchen hoch dazwischen; sie machte einen runden Rücken, um den Provokationswinkel zu vergrößern, und mit ein wenig Zutun ihrer Daumen fielen die weißen, schimmernden Untersachen von unseren Körpern wie Mandarinenschalen.

[Rückblick-Red.: Dies und das folgende sollte, strenggenommen, im Plusquamperfekt stehen, da der Bericht post coitum einsetzt: «.. .und mit ein wenig Zutun ihrer Daumen waren die weißen, schimmernden Untersachen von unseren Körpern gefallen etc.» Ändern Sie entsprechend, wenn Sie es für entscheidend erachten. Ferner, die Metapher im letzten Satz könnte alternativ lauten : «…  von unseren Körpern geplatzt wie die Kapseln von Impatiens-Samen.» Falls man voraussetzen darf, daß unsere Leser wissen, wie Impatiens-Samen sich verhalten.]

Ich glaube nicht, daß Wendy zum Höhepunkt kam, auch wenn ihr Atmungsapparat viel Verzückung ausdrückte und ihre Augen wundervoll die Farbe wechselten – ihr Blau wurde tintendunkel im Augenblick meines Eindringens – und sie mit großer energischer Entschlossenheit die Hüften bewegte. Nicht gewöhnt an ihre Sorte von Feuchtigkeit, verblüfft, in ihr zu sein, kam ich ohne Zweifel zu rasch. Das war auch so eine elementare Tatsache, die zu begreifen ich Zeit brauchte: Mösen sind so individuell wie Gesichter, und sich in eine neue zu vertiefen ist ein heftiger chemischer Vorgang. Ihre Feuchtigkeit war so extrem geworden, daß ich dauernd ausrutschte, wie ein Mann mit glattsohligen Stiefeln auf einer morastigen Böschung, und noch vor dem letzten Pulsen meiner Ejakulation fing ich an, Widerwillen gegen diesen Geschlechtsakt zu hegen, der, wie ich fand, nicht einmal zur Hälfte meine Idee gewesen war.

So war ich, als sie sich nach einigem freundlichen Geschnatter da in meinem Bett, zwei Zoll von meinem Gesicht entfernt, auf den Knien aufrichtete und mir wie eine therapeutische Amazone den Rücken knetete, in keiner verliebten Stimmung, und die Beize meines Ressentiments hat diese Empfindung erstarrtem Bernstein gleich seit nahezu siebzehn Jahren konserviert. Sie maßte sich an, ihre Bekanntschaft mit mir auf körperliche Dienstleistungen auszudehnen, wie sie nur einer Ehefrau zustehen, und das, wo ich mit der einen noch verheiratet war und mir eine andere – die Vollkommene Ehefrau – in Warteposition hielt. Ich war drauf und dran, zu bocken und diesen hexenhaften Inkubus abzuwerfen, der feucht auf meinem Rücken ritt, und gab mich dann doch gehorsam, wenn auch mißmutig ihren Fitnessclub-Gefälligkeiten hin, vermutlich abgelenkt von vielerlei Sorgen: daß meine vollkommene und zukünftige Ehefrau mich über das Telephon zu erreichen versuchte, dessen Hörer ich abgenommen und daneben gelegt hatte; daß eines meiner verlassenen Kinder im Fluß ertrunken oder auf dem Eis eingebrochen war (die Jahreszeit dieses Vorkommnisses ist unklar, irgendeine kleine Voreingenommenheit in meinem Erinnerungsmechanismus möchte, daß es Winter war, mit Eiszapfen an der Feuerleiter und Stiefeln und Fausthandschuhen zwischen Wendys abgelegten Kleidern); daß ich eine Verabredung mit einer meiner schusseligen Studentinnen drüben in Wayward vergessen hatte; daß ich Klausurarbeiten korrigieren oder an meinem Buch schreiben sollte, meinem kostbaren, mir auf der Seele liegenden, hoffnungslosen Buch. Denn wir vergessen, wenn wir unser Leben unter dem Aspekt des Beischlafs sehen, daß der Akt von weniger erhabenen Realitäten eingefaßt und bedrängt wird – von Terminen und Ängsten, den Küchengerüchen, die vom unteren Stockwerk heraufdringen, und dem hungrigen Knurren des eigenen Magens, vom Wechsel des Lichts und vom dunklen Druck des Tages, wenn der Nachmittag auf der gilbenden Tapete in die graue Trübnis vertaner Zeit hinüberebbt. Und die ganze Zeit quillt der große Himmel hinter den sonnentrockenen braunen Rouleaus (unterteilt wie Graham-Crackers durch die Sprossen und Streben der Schiebefenster) von seinen unbeachteten leuchtenden schäumenden Wolkentürmen über. Nein, nur im Rückblick, Rückblick, sind unsere amourösen Begegnungen ideal, frei von Störungen. Und dennoch: auch wenn mich alles darin bestätigt, daß Wendy Wadleigh zu vögeln das letzte war, das ich, bei meinem sorgfältig ausgetüftelten Lebensplan, hätte tun dürfen, bleibt doch der wundervolle Farbwechsel ihrer Augen zu preisen, der bei der, wie die Rechtsexperten sagen, Penetration vor sich ging – nicht nur dies erste Mal, sondern auch alle anderen Male danach. Ich habe geschrieben: kornblumenblau, aber wie jede Farbzuordnung ist das ein sprachlicher Konfektionsartikel, mit dem ich, kein Botaniker, wahrscheinlich nur das Blütenblättrige beschreiben möchte, das sie hatten, das Blaufoliierte in der Iris, das im Augenblick weiter unten stattfindenden Eindringens etwas Religiöses bekam, etwas übernatürlich Zärtliches, Dreidimensionales, könnte man sagen [*] – die geweiteten Pupillen Bohrlöcher in die Unendlichkeit, während braungelbe Flecken aus der Matrix schimmernden Gels aufstiegen wie Funken in einem Hologramm. Diese fleischliche Vereinigung gefiel ihr, sagten ihre Augen, und wie mösenmüde und abgelenkt man auch war, man schmolz doch ein wenig dahin.

«Deine Muskeln sind so angespannt», sagte sie, auf meinem Rücken sitzend. «Laß dich fallen, Alfred.» Sie sprach beide Silben meines Namens aus, als sei ein Scherz darin enthalten.

«Ich versuch's ja. Aber ich frage mich die ganze Zeit, was zum Teufel wir hier eigentlich tun, du und ich.»

«Wir lieben uns», sagte Wendy schüchtern; sie spürte, daß ich voller Beschwerden und Vorwürfe war und nur postkoitale Höflichkeit mich daran hinderte, sie herauszulassen. «Die Menschen brauchen das, sie müssen lieben, und wenn sie's nicht von ihren Ehepartnern bekommen, suchen sie es woanders.»

«Ja schon, aber, Wendy, Süße –»

«Du hast Norma und dazu noch Genevieve?» sprach sie den Satz für mich zu Ende, die Namen der beiden Pole meines (für die unordentliche Ford-Ära) nicht untypischen Dilemmas ins Spiel bringend.

«So ähnlich», gab ich zu und drückte das Gesicht tiefer ins Kissen. Ihre Daumen und Fingerkuppen setzten meinen Kappenmuskeln gehörig zu, besonders oben an der knirschenden Stelle, wo das Muskeldreieck ins Schulterende des Schlüsselbeins übergeht. Jedesmal, wenn sie sich hochhob, um die Knetarbeit mit ihrem kleinen plumpen Gewicht zu unterstützen, entfernte sich der nasse Kuß weiter unten von meinem Rücken, und wenn ihre Hände abwärts wanderten zu den breiten Rückenmuskeln, kehrte er zurück. Ich fing an, es angenehm zu finden. «Gut», gab ich widerwillig zu.

«Siehst du», sagte sie, auf diese ärgerliche weibliche Art meine Gedanken lesend. «Nimm's einfach hin, Alfred. Keine Komplikationen. Keine Verpflichtungen. Pflücke den Tag, wie Saul Bellow sagt. Laß zu, daß ich mich dir als Geschenk gebe. Was hast du sonst noch gern, was soll ich tun?»

«Mußt du nicht nach Hause, Wendy? Kommen deine Kinder nicht bald aus der Schule zurück?»

«Ben ist da, das reicht. Er wollte im Haus ein bißchen arbeiten. Er kriegt 'ne Gefängnispsychose in diesem Studentenheim. Ich hab ihm gesagt, ich fahre nach Portsmouth, zum Einkaufen. Es gibt ein paar neue Kleiderläden dort.»

«Norma sagt, sie schläft mit ihm im Wald.»

«Das stört dich?» Knuff, kniff. «Wieso denn?» Hoch, Kuß. Sie war eine Wippe.

«Es kommt mir unzivilisiert vor.»

«Du hast meine Frage nicht beantwortet.»

«Welche Frage?» Sie lullte mich ein, walkte mich in mein Reptiliengehirn hinunter. Ich war so entspannt, daß ich aufs Kissen gesabbert hatte, der Baumwollbezug hatte sich an einer Stelle in der Form Südamerikas verdunkelt. Körperflüssigkeiten hatten in den guten alten Ford-Tagen noch keine tödliche Virendimension; man planschte vergnügt und unbeschwert darin herum und versuchte nicht, sich die mikroskopischen Galaxien im Innern vorzustellen, die Geschwader kugeliger Raumschiffe, die dick mit Schlüsseln besetzt sind, mit denen sie unsere Zellwände aufschließen. Der Rhythmus von Wendys Hintern, der sich auf und nieder wippend auf meinen drückte und mein eigenes Sperma auf mich tröpfeln ließ, erwies sich als ansteckend; ich spürte das Verlangen zurückzusickern, entgegen der Schwerkraft meiner besseren Einsicht.

«Was du außerdem möchtest, das ich tun soll», antwortete sie.

Ich entschied mich zum Gegenangriff, bevor meine Mannhaftigkeit gänzlich weggewiegt wurde, und wälzte mich herum, das Dreieck zwischen ihren runden weißen Schenkeln weiter auseinander spannend. Glatte mondfarbene Schenkel, ein Saum aus Platinhärchen, wo die rasierten Flächen aufhörten, und das ovale Schimmern einer Impfpocke. Ihre Augen wechselten wieder die Farbe, als sie die Neuerstehung meiner Erektion sahen. Die phallische Entität sandte einen sauren salinen Geruch aus. «Es gibt etwas», gestand ich meiner uneingeladenen, vom Mond herabgeschneiten Besucherin.

«Was, Liebster?» Wie höflich sie war. Wie begierig, das Richtige zu tun. Was sah sie in mir? Einen Nichtehemann, vermutete ich. Es gibt eine wunderbare Last des Grolls, an der Nichtgatten nicht zu tragen haben.

«Setz dich auf mein Gesicht.» Meine Stimme klang heiser. Ich war durstig, durstig nach Vergessen, nach einer kleineren Welt. Ich wollte annulliert werden von ihrer Vulva.

Auf Wendys Mach-ich-auch-alles-richtig-Gesicht mit den mädchenhaften vollen Wangen und den fraulichen Krähenfüßchen und hoffnungsvollen Augen und dem zerstrubbelten blonden Schopf malte sich ein Zögern, ein rasches Überdenken, eine Spur von Angst, hier zu sein, mit diesem rauhen Fremden. «O Liebling», sagte sie ausweichend. «Ich bin da unten ganz naß und schmierig.»

«Na, wennschon, dennschon», sagte ich oder hätte ich sagen sollen oder scheine ich jetzt, da ich dies schreibe, heiter-wurstig gesagt zu haben. Ich zwängte meinen Körper zu ihr hinunter, während sie, mir rittlings auf der Brust sitzend, ihr vorstoßender Muff zinnfarben, auf den Knien weiter hinaufwatschelte auf dem schwankenden, klagend ächzenden Bett.

Das Bett, lassen Sie mich das erklären, war mein erstes Ehebett gewesen, ein asketisch einfaches Stahlrohrgestell mit Sprungfederrahmen und Schaumstoffmatratze, das ich in einem Möbelgroßmarkt in Keene gekauft hatte. Später hatte es einem eleganten Redwoodbett Platz gemacht, das wir in Cambridge bei Furniture in Parts gefunden hatten, und war in den zweiten Stock des Wayward-Hauses gewandert. Als ich auszog, bekam ich die Erlaubnis (Norma erwies sich als ziemlich possessiv, als es bei uns knirschte, und war beim Auseinanderdividieren unseres gemeinsamen Besitzes nicht so unordentlich, wie es mir lieb gewesen wäre), es mitzunehmen, zusammen mit zwei Regieklappstühlen, einem doughnutförmigen Lesesessel aus Schaumstoff mit krümeligem Naugahyde-Bezug, einem Gateleg-Tisch, den ich geerbt hatte, als meine Mutter nach Florida zog, einem abgetretenen Orientteppich, der aus derselben Quelle stammte, meinem aus einem Türblatt und zwei Aktenschränken bestehenden Schreibtisch, einem fleckigen goldgerahmten Spiegel, den die Königin der Unordnung nie gemocht hatte, weil sie darin nicht so aussah, wie sie wollte, mehreren ihrer unvollendeten Ölbilder, damit ich mich an sie erinnerte, und einem Pappkarton voll einzelner Teller, Tassen, Besteckteile und Küchenutensilien, einschließlich einer wundervoll nutzlosen altmodischen konischen Kartoffelquetsche mitsamt ihrem perforierten konischen «weiblichen» Gegenstück. Die Vollkommene Ehefrau machte mich darauf aufmerksam, daß ich als Müllmann benutzt würde. Ich hätte alles selbst transportieren können, in meinem stattlichen Corvair-Kabrio – einem mittlerweile rostenden und scheppernden Relikt aus den Sechzigern, das wie eine Badewanne mit Heckmotor geformt war –, wenn das Bett und ein grünes ausziehbares Sofa nicht gewesen wären, das mit seinem inneren Klappmechanismus so schwer wie ein gußeisernes Maschinenteil war und aus unserer Zeit in Dartmouth stammte. Stallworth und Söhne, die fast alle im College anfallenden Umzüge organisieren, schickten ihren kleinsten Möbelwagen für die kurze Fahrt über den Fluß, und der alte Gus Stallworth kam persönlich vorbei, mit seinen beiden Söhnen. Gus muß siebzig gewesen sein, aber er konnte immer noch, mit einem anderen zusammen, ein Bettsofa mit eisernem Rahmen und einen Aktenschrank mit vier vollen Schubfächern hochwuchten, ohne den nassen Zigarrenstummel aus dem Mund zu nehmen. Lebenslanges schweres Heben hatte seine inneren Organe zusammengepreßt und ihn so dicht und massiv gemacht wie einen Metallbarren. Seine Söhne waren größer und hatten mehr Luft und noch im Gären begriffenes Malz in sich, zeigten aber bei allem, was sie taten, die gleiche bleierne Geduld mit unbeseelten Dingen wie ihr Vater, während sie sich in meinem auseinanderfallenden Haushalt und über die Rampe in den Möbelwagen mit seinen Schutzpolstern, seinen Seilen, seiner widerhallenden Leere bewegten. Es war schrecklich, ihnen zuzusehen, wie sie hin und her trotteten, sozusagen blockfrei, und meinen dürftigen Hausrat, meine hakige Olivetti, meinen schmutzigolivfarbenen Schreibmaschinentisch, meine Gelenkarmlampe, meine Kartons voll ungeordneter Arbeitsnotizen, wegnahmen aus dem Haus, das mit jeder Subtraktion mehr zu Normas Haus wurde. Im kommenden August würde es erst acht kurze Jahre hersein, daß die Stallworths unseren Umzug in dies Haus besorgt hatten. Meine Frau und die Kinder konnten nicht mit ansehen, wie ich auszog, und hatten den Schauplatz verlassen. Ich war allein mit den Stallworths und unterdrückte mein Verlangen, etwas herauszuschreien wie: «Halt, stopp, das Ganze ist ein Irrtum, eine verrückte Übertreibung, ich und meine Sachen gehören hierher, gehören in die mütterlich fürsorgliche Unordnung gebettet, Staubflocken und Katzenhaare auf uns versammelnd, untadelig fest verankert in häuslicher Lethargie und psychosexuellem Kompromiß!» Vater und Söhne trotteten, brummelnd und murmelnd, in zementfarbenen Anzügen steckend, weiter hin und her, Sklaven der erotischen Launen der gebildeten Stände.

Norma erlaubte mir nur die Bücher mitzunehmen, die mit meiner Arbeit zu tun hatten, einschließlich der kleinen Bibliothek über James Buchanan, die ich zusammengetragen hatte – die in trübem Grün gehaltenen, bei Antiquarian Press nachgedruckten zwölf Bände der Schriften von James Buchanan, bestehend aus seinen Reden, Staatsschriften und seiner Privatkorrespondenz, herausgegeben von John Bassett Moore; eine reizende dicke kleine Ausgabe von R.G. Hortons Wahlkampf-Biographie von 1857 mit geprägtem braunen Einband, Wasserflecken und seidenpapiergeschütztem Kupferstichporträt; die beiden kastanienbraunen, gleichfalls im Nachdruck erschienenen Bände von Curtis' Biographie von 1883, die Harriet Lane Johnston, im inbrünstigen Verlangen, ihrem Onkel möge Gerechtigkeit widerfahren, inspiriert hatte; Gerald Auchampaughs konfuses defensives James Buchanan und sein Kabinett am Vorabend der Sezession, ein taubengraues Paperback; Philip Shriver Kleins Biographie Präsident James Buchanan von 1962, und seither ohne Konkurrenz, in einem mit Tesafilm geklebten, lebhaft blauweiß gemusterten und mit dem Siegel der Vereinigten Staaten geschmückten Schutzumschlag; ebenfalls mit diesem Siegel und noch manch anderem patriotischen Emblem versehen, eine teure mattschwarz gebundene Ausgabe des 835 Seiten starken Berichts des Covode-Untersuchungsausschusses, den das Repräsentantenhaus 1860 hatte drucken und weithin als Anti-Buchanan-Propaganda verteilen lassen; historische Schriften, die Zeit vor dem Bürgerkrieg betreffend, von Allen Nevins, RoyFranklin Nichols, Avery Craven, Bruce Catton und Kenneth M. Stampp; in aggressiven modernen Umschlägen steckende Biographien solcher Gestalten wie Stephen Douglas, Buchanans bête noire, und John Slidell, seiner éminence grise; Broschüren und kurze Abhandlungen, Wheatland und das alte Lancaster betreffend; bündelweise, in Getränkekisten, aus denen ich die Unterteilungen entfernt hatte, Notizzettel, die allmählich von Unentzifferbarkeit überwachsen waren wie von einer Moosart; und in mehreren Schachteln, die einst sauberes Schreibmaschinenpapier enthalten hatten, mein oft begonnenes, sich immer weiter verästelndes, nie zu Ende geführtes Buch. Es war nicht eigentlich eine Biographie (die hatte Klein definitiv besorgt, auch wenn ich oft gedacht hatte, daß es schön gewesen wäre, er hätte sich dazu entschlossen, das umfassendere Werk zu schreiben, das er, wie er uns in seinem Vorwort mitteilt, ursprünglich vorgehabt hatte), sondern eher das Nachspüren eines Musters, einer wechselseitigen Beziehung, des sonderbaren langen Ringkampfs zwischen Gott und Buchanan, der sich früh in seinem Leben an einer jähen Flamme der Gewalt verbrannt hatte und fortan all sein Geschick, seine Intelligenz, seinen ausdauernden Fleiß der Vermeidung weiterer Hitze widmete und doch am Ende verbrannte, als die Union unter ihm explodierte. Die Götter sind größer als wir, sollte die Moral sein. Sie vernichten uns zu ihrem Zeitvertreib.

Mein Buch begann mit Buchanans frommen, ängstlich umsorgten Lebensanfängen in einer Blockhütte im gebirgigen Herzen von Pennsylvania, in der Niederlassung Stony Batter, einem so verlassenen Fleck, daß die Mutter, so ging die Legende, dem Kind eine Glocke um den Hals hängte, aus Furcht, daß es zu tief in den Wald lief und sich verirrte. Aus dieser Waldeinsamkeit – eine wilde, düstere Schlucht, nennt Klein sie poetisch, ringsum, nur nach Osten nicht, von ragenden Bergen umschlossen und heute weit entfernt von jedem Zentrum kommerzieller Aktivität– stieg die Familie, nach Jamies Geburt im Jahr 1791 um fünf Töchter vergrößert, zur Zivilisation hinab, zu einer Farm in der kleinen, durch und durch schottisch-presbyterianischen Stadt Mercersburg. Der Vater des zukünftigen Präsidenten, auch er ein James, galt am Ort als strenger Mann, der in dem Laden, den er führte, Kredit gewährte, ihn aber nie verlängerte. «Je mehr man von den Menschen weiß», pflegte er zu sagen, sagt Klein, «desto mehr mißtraut man ihnen.» Ein harter grimmiger Geschäftsmann, wie Kafkas Vater – ein schützender, gefühlloser Berg von einem Vater. Die Mutter des Jungen, als Elizabeth Sperr geboren, war, wie so oft die Mutter in der Biographie eines erfolgreichen Mannes, sensibel, religiös, der Poesie zugetan. Sie konnte mühelos, schrieb ihr Sohn in einer autobiographischen Skizze, Passagen von Milton, Pope, Young, Cowper und Thomson hersagen. Klein schreibt, aus ungenannten Quellen schöpfend: Ihr Bestreben war, in den Himmel zu kommen, ihr Leben ein stilles Hinnehmen dessen, was kam. Sie war die erste Unterweiserin des jungen James ; mit sechs Jahren kam er dann an die Old Stone Academy in Mercersburg. Der presbyterianische Pastor von Mercersburg, Dr. John King, von dem Buchanan später schreiben sollte, er habe nie einen Menschen kennengelernt, für den [er] größere Verehrung empfunden hätte, bestand darauf, daß der Junge, im Alter von sechzehn Jahren, aufs Dickinson College in Carlisle geschickt wurde, obgleich James Buchanan sen. behauptete, ohne die Hilfe seines Ältesten im Laden und auf der Farm nicht zurechtzukommen. Die Mutter hoffte, Jamie werde in den geistlichen Stand eintreten, der Vater aber bestimmte ihn für die Rechtswissenschaft.

Buchanan wurde 1807 in die vorletzte Klasse des Dickinson College aufgenommen, zusammen mit neunzehn anderen. (Wie angenehm sich in der kleinen Zahl die damalige Jugend unseres Landes ausdrückt – nichts weiter als eine urbar gemachte und besiedelte atlantische Böschung am Rand des ungeheuren Kontinents, den das kommende Jahrhundert geplündert sehen sollte!) Das College hatte mit Schwierigkeiten zu kämpfen, war in einem elenden Zustand, vertraute Buchanan seinen autobiographischen Skizzen an, und ich habe es oft bedauert, nicht auf eine andere Schule geschickt worden zu sein. Es fehlte an wirksamen Regeln, an Disziplinarmaßnahmen, und so machten die jungen Männer weitgehend, was sie wollten. Ein ernsthafter, strebsamer, am Lernen interessierter Jüngling zu sein bedeutete, sich den Spott der anderen Studenten zuzuziehen. Ohne von Natur zum Ungezügelten zu neigen, hauptsächlich dem Beispiel andererfolgend und immer zu dem Zweck, als launig und aufgeweckt zu gelten, machte ich bei jeder Tollheit, jedem Bubenstück mit, an denen die größten [unleserlich] des College sich gütlich taten. An einem Sonntag im September, als James – die Ferien waren zu Ende – ins College zurück wollte, um sein Abschlußjahr anzutreten, traf ein Brief ein, den sein Vater öffnete und ihm wortlos zu lesen gab; er war von Dr. Davidson, dem Direktor des Dickinson, und hatte zum Inhalt, daß nur die Hochachtung, die das Kollegium meinem Vater entgegenbringe, mich bis jetzt davor bewahrt habe, wegen ungebührlichen Betragens von der Anstalt verwiesen zu werden. Daß sie es, so gut sie es vermochten, bis zu diesem Zeitpunkt mit mir ausgehalten hätten, aber daß sie mich nicht wieder aufnehmen würden und daß der Brief geschrieben worden sei, um meinem Vater die Demütigung zu ersparen, mich hinzuschicken und erleben zu müssen, daß ich zurückgewiesen würde. Die Demütigung? Die Schande! Der freundliche Dr. King, Kurator beim Dickinson, schaltete sich ein, er erteilte James eine milde Lektion – die gerade deshalb um so wirkungsvoller war [–] und verbürgte sich bei Dr. Davidson für den jungen Mann; Buchanan wurde wieder aufgenommen und machte 1809 die Abschlußprüfung.

Die Schwierigkeiten zwischen dem Jungen und dem College waren indes nicht ausgeräumt. Beim staatlichen Examen, das der Feier zur Verleihung der Zeugnisse und Auszeichnungen vorausging, beantwortete ich mühelos jede Frage, die mir gestellt wurde. Er glaubte, daß er sich höchste Auszeichnungen verdient habe, das Dickinson-Kollegium jedoch erkannte ihm keine zu; als Grund für die Ablehnung meiner Ansprüche brachten sie vor, daß es einen unguten Präzedenzfall schüfe, wenn das College einen Studenten auszeichnete, der den Regeln der Anstalt und den Professoren mit so wenig Respekt entgegengekommen sei wie ich. Ich bin kaum je, bei keiner Begebenheit meines Lebens, so gedemütigt worden wie bei dieser Zurückweisung.

Dürfen wir einen Augenblick länger bei der Aschenglut von Buchanans prägenden Jahren verweilen, uns an seine eigenen, in diesem Punkt besonders schön formulierten Erinnerungen halten? In einer sehr persönlichen und lebendigen Passage versucht er, die Beziehung zu seiner Mutter wiedererstehen zu lassen. Ihren Söhnen, schrieb er rückblickend (wahrscheinlich lange vor 1828, in einer Skizze, die in mehreren Ansätzen und Tonlagen, einschließlich eines ausweichenden Sprungs in die dritte Person, existiert, doch nicht über dies Jahr hinausgeht), war sie, während sie heranwuchsen, eine wunderbare und anregende Gefährtin. Sie debattierte und disputierte mit ihnen und trug oft den Sieg davon; spottete über ihre Narrheiten und wunderlichen Einfälle; spornte ihren Ehrgeiz an, indem sie ihnen in glühenden Farben Männer vorstellte – und so zur Nachahmung empfahl –, die ihrem Land oder ihresgleichen von Nutzen gewesen waren, und hatte an all ihren Freuden und Kümmernissen teil. Und, noch persönlicher: Ich habe mich oft, in den Ferien von der Schule und dann vom College, gänzlich freiwillig in die Küche gesetzt, wenn sie am Waschzuber stand, und Stunden wohltuender, lehrreicher Unterhaltung mit ihr verbracht. Wir schnuppern hier die tröstliche Laugenschärfe und das belebende Bitteraroma heterosexueller Auseinandersetzung. Welche Frau wird hinfort so unterhalten, spotten, anregen, teilnehmen, wie diese es getan hat? Ist es nicht die biologische Grausamkeit der Mütter, daß sie eine zu große Lücke hinterlassen? Buchanan sollte sein ganzes Leben lang deutlichen Gefallen an der Gesellschaft von Frauen bekunden, er schäkerte zum Beispiel buchstäblich bis zum letzten Augenblick vor der Sezession mit den amüsanten Frauen verschiedener Südstaatenpolitiker herum. Und in seiner Loyalität gegenüber seinen Beratern aus den Südstaaten, auch dann noch, als ihr Rat längst doppelzüngig war, klingt etwas von der Dickinson-Episode an: das Bedürfnis, als launig und aufgeweckt zu gelten, einer von ihnen zu sein. Der Wunsch, gemocht zu werden, der Wunsch, großartig zu sein : sie können gleichzeitig in einem Herzen wohnen, vertragen sich aber nicht unbedingt. Ödipus zum Trotz verließ er das College mit nur wenig Liebe zur Alma Mater im Herzen.

Er bewarb sich fürs Studium der Rechtswissenschaft bei James Hopkins in Lancaster und wurde angenommen. So kam er nach Osten; er überquerte den Susquehanna in einer Fähre. Nicht lange danach sollte es dort, zwischen Columbia und Wrightsville, eine Brücke geben; ein Prozeß wegen ihrer Finanzierung kurz nach der Börsenpanik von 1819 sollte ihn von seiner Werbung um Ann Coleman ablenken, und das Niederbrennen dieser Brücke im Jahr 1863 bewahrte wahrscheinlich sein Haus davor, von General Lees Armee dem Erdboden gleichgemacht zu werden. Aber diese Ereignisse liegen in der Zukunft, sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht Geschichte. Lancaster hatte sechstausend Einwohner und hielt sich für eine Metropole, war die größte binnenländische Stadt der Vereinigten Staaten. Die erste Turnpike der Nation, eine kiesbestreute, holperfreie Straße von Lancaster nach Philadelphia, war von ihren Privatfinanziers im selben Jahr freigegeben worden, da Buchanan geboren wurde – geboren in einer westlichen Station der Great Wagon Road, die durch die Turnpike verbessert und ersetzt wurde. Achtzehn Jahre später kam er in Lancaster an, um Rechtswissenschaft zu studieren. Wenn ich mit strengem Fleiß ein guter Rechtsanwalt werden konnte, so wollte ich es daran nicht fehlen lassen. Und ich kann mit Fug sagen, daß ich nie einen Studenten getroffen habe, der härter gearbeitet hat als ich zu jener Zeit meines Lebens. Ich studierte Rechtswissenschaft und nichts als Rechtswissenschaft oder was im Wesen damit zu tun hatte. Ich gab mir Mühe, alles, was ich las, so gründlich, wie ich es nur vermochte, zu verstehen; und um es mir einzuprägen und mich daran zu gewöhnen, ex tempore zu sprechen, unternahm ich fast jeden Abend einsame Spaziergänge und kleidete die Gedanken, die ich während des Tages aufgenommen hatte, in meine eigenen Worte.

Einsame Spaziergänge. Eine Glocke um den Hals im Wald. Eine elysische Landschaft, in der man laut vor sich hin deklamieren konnte und niemand einen hörte. Anfang 1812, als Hopkins' Lehrtätigkeit endete und Buchanan einundzwanzig wurde, begab er sich gegen den Rat seines Vaters zu Pferd nach Westen, nach Elizabethtown in Kentucky, um sich über ein ausgedehntes Stück Land zu informieren, auf das sein Vater einen partiellen, ungeklärten Rechtsanspruch hatte. Wenn er geblieben wäre, hätte dann ein Clay, ein Lincoln aus ihm werden können? Es ist gut möglich, daß er in jenem Sommer Thomas Lincoln traf, der, laut Klein (Buchanans Autobiographie sagt nichts über diese Exkursion) nahe Elizabethtown [lebte] und zu der Zeit wegen eines streitigen Landanspruchs bei Gericht auf der Prozeßliste