Erinnerungen des Waldes - Mikaël Brun-Arnaud - E-Book

Erinnerungen des Waldes E-Book

Mikaël Brun-Arnaud

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Beschreibung

Warm, witzig, wunderbar, weise und waldig – einfach WooW In einer großen, alten Eiche, mitten im Dorfwald von Schönrinde, führt Archibald Fuchs seine eigene Buchhandlung. Er liebt sein ruhiges Leben, die geordneten Regale und die unterhaltsamen Gespräche mit seinen Kunden. Eines Tages jedoch bringt sein Freund und Stammkunde Ferdinand Maulwurf die Ordnung völlig durcheinander. Ferdinand wird zunehmend zerstreuter und vergesslicher und kann seine Frau nicht mehr finden. Nun hofft er in seiner Autobiografie Antworten zu finden. Diese hat Archibald jedoch vor einigen Tagen verkauft. Kurzerhand erklärt sich der Fuchs bereit, seinem Freund zu helfen. Die beiden machen sich auf den Weg quer durch den Wald, und ein großes Abenteuer beginnt – werden die beiden Ferdinands Frau finden?

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Seitenzahl: 214

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Mickaël Brun-Arnaud

Erinnerungen des Waldes

Aus dem Französischen übersetzt von Julia Süßbrich

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Mémoires de la forêt. Les souvenirs de Ferdinand Taupe bei l’école des loisirs, Paris.

 

Deutsche Erstausgabe

© der deutschsprachigen Ausgabe: Atrium Verlag AG, Imprint WooW Books, Zürich 2023

Alle Rechte vorbehalten

Text: Mickaël Brun-Arnaud

Cover und Illustrationen: Sanoe

© 2022, l’école des loisirs, Paris

Aus dem Französischen übersetzt von Julia Süßbrich

Lektorat: Barbara Schlichtmann

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03967-007-9

 

www.WooW-Books.de

www.instagram.com/woowbooks_verlag

Im Gedenken an meine Urgroßmutter Anita.

Es gibt keinen Wald, in dem

ich dich nicht wiederfinden kann.

Die Buchhandlung von Schönrinde

Der Fuchs hatte den ganzen Tag gearbeitet, um den Staub wegzubekommen, der sich schon viel zu lange auf den Regalen ansammelte. Die allermeisten Bücher in der Dorfbuchhandlung von Schönrinde gab es genau ein einziges Mal; es war also wichtig, dass sie unter den besten Bedingungen aufbewahrt wurden. Archibald Fuchs war ein gewissenhafter Geschäftsmann, aber wenn man einen kleinen Laden in einer Baumhöhle, mitten im Herzen des Waldes, erbte, dann konnte man damit rechnen, dass die Natur sich stets durchsetzen und überall Erde eindringen würde. Was für eine drollige Idee sein Vorgänger gehabt hatte! Mit dem Wachs von Edwina Bär, das er sorgsam in einem Tontopf verwahrte, rieb der Fuchs sorgfältig jedes einzelne Regalbrett ab, das direkt in die Eichenwand geschnitzt war. Dabei verschonte er die schönen gebundenen Bücher, die dort standen und still auf einen Erwerber warteten. Manche der Werke befanden sich seit Jahren an dieser Stelle – vielleicht sogar seit Jahrhunderten –, denn die Buchhandlung war dem Fuchs von seinem Vater hinterlassen worden, der sie bereits von seinem Vater bekommen hatte, der … sich nicht mehr so genau erinnerte, von wem er sie erhalten hatte.

Hoch oben auf seiner Leiter sitzend, vergnügte Archibald sich damit, noch einmal die Titel zu lesen, die in goldenen Lettern auf den Ledereinbänden standen. Das Geheimnis des Haselnussdiebes, von Alexander Eichhörnchen, Karotten effizient und mühelos anbauen, von Benedikt Kaninchen, 1001 Apfelrezepte einer Chefköchin, von Mia-Rubinette Laubfrosch … Der Buchhändler erinnerte sich an jeden Schriftsteller, der ihm fiebrig sein Manuskript gebracht hatte, voller Hoffnung, dass es von der Buchhandlung des Fuchses angenommen und vielleicht eines Tages – davon träumten sie – verkauft würde! Das richtige Buch für das richtige Tier zu finden, war eine wichtige Aufgabe, vor allem wenn es nur ein Exemplar davon gab! Ich muss hier zuverlässiger Ordnung halten, dachte Archibald voller Scham, während er seinen Staublappen vor dem kleinen runden Fenster mit Holzrahmen ausschüttelte.

»Vorsicht, Herr Fuchs! Ich bin hier unten!«, schimpfte ein leises Stimmchen draußen vor der Buchhandlung.

Auf zwei leise »Haa…haaaa« folgte ein lautes »Hatschi!« und ein Schwung Papierbögen, die man vor dem runden Fensterchen umherwirbeln sah.

»Hilfe! Mein Manuskript! Mein Meisterwerk!«, hörte man die Stimme weiter schimpfen.

Ohne eine Sekunde zu verlieren, glitt der Fuchs die Leiter hinab, schlängelte sich zwischen den Verkaufstischen hindurch und stürzte nach draußen, um zu dem zu eilen, dessen Stimme er zu seinem Leidwesen erkannt hatte.

Im strahlenden, sich bereits rot färbenden Licht der Sonne bemühte sich eine Schildkröte, wieder Ordnung in ihre Blätter zu bringen.

»Sie hätten besser aufpassen können, Herr Fuchs! Oder sind Sie etwa nicht gespannt darauf, meinen nächsten Aufsatz zu lesen?«

»Guten Abend, Herr Schildkröte«, erwiderte der Buchhändler und entschuldigte sich halb amüsiert, halb gekränkt, »es tut mir wirklich leid, ich putzte gerade ein wenig Staub und war zerstreut …«

»Helfen Sie mir lieber, alles aufzuheben, bevor möglicherweise noch das Wetter beschließt umzuschlagen!«

Sie machten sich eifrig daran, das Manuskript zu ordnen, bis Phineas Schildkröte, wie immer auf den Tresen gestützt, Archibald Fuchs einen gut eingeübten Werbetext entgegenschmetterte und erklärte, warum sein Buch auf jeden Fall in den Regalbrettern der Buchhandlung von Schönrinde thronen müsste …

»Der Panzer ist voll! Überlegungen zur psychischen Belastung einer mutigen Schildkröte ist die Frucht monatelanger Arbeit, und ich wage zu hoffen, dass es seinen Platz bei Ihnen finden wird …«

»Aber selbstverständlich, Herr Schildkröte«, unterbrach ihn der Fuchs. Nebenbei lochte er das Manuskript mit seinen scharfen Krallen und bereitete schon den Faden vor, der bald die Seiten des Buches zusammenhalten würde. »Ich stelle es gleich neben Ihre Gedanken über eine zu schnelle Gesellschaft und Ihren Aufsatz über das Aufräumen: Wenn Ihr Haus zu einer Last wird, die Sie am Fortkommen hindert. Was halten Sie davon?«

Erfreut, dass der Buchhändler mit seinen Werken vertraut war, willigte Phineas Schildkröte ein. Dann rückte er erst seine Fliege und dann seine Brille zurecht, die nur dank zweier Klebestreifen an seinen Schläfen hielt.

»Ach? Die sind noch nicht weg? Ich hatte gehofft, sie würden mit der Zeit Abnehmer finden … Aber darüber wollte ich sowieso mit Ihnen sprechen. Sind Sie sicher, dass dieses Regal am besten dazu geeignet ist, meine Werke auszustellen? Es läge mir fern, auch nur daran zu denken, Ihre Fähigkeiten als Bücherspezialist infrage zu stellen, aber ich wollte Ihnen doch gern diese Liste mit Anmerkungen zur Anordnung der Aufsatzbände in Ihrer Buchhandlung übermitteln, und ich bin sicher, dass …«

Ganz in Anspruch genommen von der Schildkröte, die ihre Beobachtungen und Hinweise laut aufzählte, sah Archibald das Tier nicht, das den Laden betreten hatte. Er hätte nicht sagen können, ob es ein Männchen oder ein Weibchen war, ein Nagetier oder ein Igel, denn der Fremde hatte nicht um Auskunft gebeten und sich nach einem freundlichen »Guten Abend, die Herren« geradewegs den Büchern zugewandt. Dann war er zwischen den Regalen umherflaniert und hatte sein Fell, seine Schuppen oder vielleicht auch seine Federn von Buchumschlag zu Buchumschlag und Regal zu Regal geschleppt, bis er gefunden hatte, was er wünschte – nun, also, wahrscheinlich war es so. Der Fuchs kassierte geistesabwesend den rätselhaften Kunden ab, ohne ihm dabei weitere Aufmerksamkeit zu schenken. Er war viel zu sehr in den Vorschlägen des sehr redseligen Phineas Schildkröte versunken, der ihm erklärte, seine Schriften sollten dauerhaft auf dem Tresen oder ganz vorn im Schaufenster ausgestellt werden, wo jeder sie sehen konnte.

»Das macht drei Haselnüsse, bitte«, verlangte der Buchhändler, während er das Buch in eine Papiertüte schob, ohne auf dessen Titel zu achten.

Als er seinem Kunden danken und ihm die vierte Haselnuss zurückgeben wollte, die dieser versehentlich hatte auf dem Tresen liegen lassen, war der Kunde schon verschwunden. Die große Wanduhr hinten im Laden schlug acht Mal, wie zur Erlösung – für Herrn Fuchs war es endlich Zeit, zu schließen und sich von der Schildkröte und deren Bemerkungen zur Führung seines eigenen Ladens zu verabschieden.

»Haben Sie unendlichen Dank, Herr Schildkröte. Ich habe mir alles gut gemerkt, was Sie mir gesagt haben! Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden«, fügte der Buchhändler hinzu, während er Phineas Schildkröte an den Schultern zum Ausgang schob und die Tür hinter ihm dreifach verriegelte. »Ich muss noch sehr viel erledigen!«

»Aber ich habe Ihnen meine Notizen nicht dagelassen«, rief die Schildkröte durch die Tür und hüpfte ein paarmal hoch, damit der Fuchs sie durch die Scheiben sehen konnte.

»Keine Angst, ich besitze ein Elefantengedächtnis!«

Nach diesen Worten zog der Händler rasch die Vorhänge zu und löschte anschließend die Kerzen im Kronleuchter schneller, als man gucken konnte.

Müde vom Regalputzen und den endlosen Reden der Schildkröte, trödelte er nicht, sondern nähte Phineas’ Manuskript schnell in einen hübschen Umschlag aus Pilzleder und gravierte den pompösen Titel ein, den der Schriftsteller gewählt hatte. Als die Arbeit beendet war, stellte er das Werk auf dasselbe Regalbrett, auf dem die anderen Aufsätze thronten, über deren Titel sich die übrige Kundschaft lustig machte. Dann besann er sich jedoch und nahm es mit in sein Schlafzimmer im oberen Stockwerk. Ein guter Buchhändler liest jedes Buch, das er bindet, das ist eine Frage des Prinzips und elementarer Logik! Ach, meine Regale …, dachte er, als er durch die verlassene Buchhandlung streifte. Archibald erinnerte sich gerührt daran, wie er zum ersten Mal die Buchhandlung betreten hatte, seine Pfote in der Pfote seines Vaters. Damals, als kleiner Welpe, waren ihm die Regalwände riesig vorgekommen: Vielleicht gab es da Tausende, nein, Millionen von Büchern! In jenem Moment hatte er gewusst, er würde den Laden eines Tages übernehmen und selbst der beste Buchhändler des Waldes werden. Aber am heutigen Abend, unter seine karierte Decke gekuschelt, nachdem er eine gute Hokkaidokürbis-Suppe mit Röhrenpilzen und Croûtons gegessen hatte, sagte er sich: Auch wenn ihm sein Leben sehr gefiel, wäre es ihm nicht unlieb, ein Abenteuer zu erleben. Nichts Außergewöhnliches! Schließlich sind Füchse vor allem Meister der Weisheit und Planung … Könnte er doch nur den Mut aufbringen, ein Abenteurer zu sein! Als er über dem Buch von Phineas Schildkröte einschlief, wusste Archibald noch nicht, dass sein Abenteuer soeben begonnen hatte …

Herr Maulwurf

Zu der Begegnung mit Herrn Maulwurf kam es gleich nach dem Frühstück. Herr Fuchs saß in seiner Küche und garnierte seine Brote mit Rapsbutter, einer Spur Salz und leckerem Kakaopulver, als der Kuckuck aus seiner Wanduhr ihn darauf hinwies, dass es Zeit war, sein Geschäft zu öffnen.

»So, es ist Punkt zehn Uhr«, sagte sich der Buchhändler und knotete seine blaue Schürze knapp über seinem Schwanz zusammen. »Wer wird wohl der erste Kunde sein, der heute durch die Ladentür kommt …?«

Während er das lackierte Holzschild BUCHHANDLUNG DER FAMILIE FUCHS aufstellte, das Herr Biber kürzlich aufgefrischt hatte, hörte Archibald, wie jemand sich mehrfach entschuldigte, weil er immer wieder Passanten anrempelte.

»Oh, entschuldigen Sie bitte, es tut mir fürchterlich leid … Ups, pardon, ich bitte tausendfach um Entschuldigung, ich bin aber auch unaufmerksam, Sie wissen ja, was man über uns sagt … Auweia, tut mir leid … Ach nein, das ist ja nur ein Baum … Guten Tag, freut mich, Sie … Ups!«

Amüsiert hielt der Fuchs Ausschau nach dem tollpatschigen Tier. Im Schatten der Eichen war gerade ein kleines Säugetier in ein Weißdorngebüsch gefallen. Als es sich wieder aufrappelte, erkannte der Buchhändler Ferdinand Maulwurf an der halben Walnussschale, die er auf dem Rücken trug, und an der riesigen Brille, die ihm schief auf der Schnauze hing. Schon als Archibald noch ein Welpe war und sein Vater die Buchhandlung führte, war er Kunde gewesen und hatte immer das Geschäft besucht. Der alte Herr Maulwurf, von zerstreuter Natur, kam sehr regelmäßig in die Buchhandlung und warf dabei genauso regelmäßig die Drehständer mit den Büchern und Postkarten um. Jemandem damit wehtun oder schaden wollte er natürlich nie – er war einfach sehr alt und sah kaum noch etwas … Manchmal kaufte er ein Buch und ließ es dann versehentlich auf dem Tresen liegen, oder vergaß seinen Schirm und kam so triefnass nach Hause, dass ihm das Regenwasser an den großen Brillengläsern herablief. An anderen Tagen trank der Maulwurf aus Archibalds Heiße-Schokolade-mit-Mäusespeck-Tasse, in der Annahme, es wäre seine und er befände sich in seinem Wohnzimmer, schön gemütlich mit seinen Pantoffeln an den Pfoten – wahrscheinlich kam er darauf, weil er diese tatsächlich noch an seinen Pfoten trug.

»Guten Tag, Herr Maulwurf«, grüßte der Fuchs, »wie geht es Ihnen heute?«

»Herr Fuchs, mein Freund, sind Sie es?«, fragte der Maulwurf, während er seine Brille zurechtrückte und seine Hose mit den Hosenträgern so hoch zog, dass es eigentlich zu hoch und unangenehm sein musste.

»Genau, ich bin es, Ferdinand. Sind Sie auf der Suche nach einer neuen Lektüre?«

»Ach, Herr Fuchs, wenn Sie wüssten, wie froh ich bin, Sie zu sehen!«

Heiter kam Ferdinand Maulwurf auf ihn zu. Aber kaum hatte er ein paar Schritte getan, fiel ihm sein Stock aus der Pfote, und er stolperte, der Tollpatsch! Der Fuchs eilte hin, um ihm wieder auf die Beine zu helfen. Der Maulwurf, noch auf dem Waldboden liegend und mit Tränen der Rührung in den Augen, streckte ihm seine Arme entgegen.

»Ach, Herr Fuchs, mein lieber Freund. Wenn Sie wüssten, wie froh ich bin, Sie zu sehen!«

»Aber Ferdinand, wir haben uns doch gerade schon …« Archibald besann sich jedoch und stellte den tapferen Maulwurf auf die Pfoten. »Kommen Sie herein, ich mache Ihnen eine Tasse heiße Schokolade mit Mäusespeck!«

In seiner ganz eigenen Gangart folgte der Maulwurf dem Buchhändler – ein wankender Gang, nicht im Gleichgewicht, sondern in einem Rhythmus aus knarzendem Schwanken in den Hüften und leisem »Autsch!«, »Pflaume!« und »Apfel aber auch! Alt sein macht keinen Spaß, mein Freund!«. In der halben Walnussschale auf seinem Rücken hörte man bei jedem Schritt den Inhalt herumpoltern, und sein Stock stieß gegen alle Bänke, Mülleimer und Straßenlaternen entlang des Weges: Ding! Peng! Pling! Bong!

Sobald Archibald den Maulwurf in den großen roten Sessel nahe dem Schaufenster gesetzt hatte, stellte er erst einmal zwei dampfende Schokolade-Mäusespeck-Tassen auf seinen Baumscheibentisch.

»Also, mein guter Freund, was führt Sie zu mir?«

»Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen! Es ist ein außerordentlicher Notfall!«

Der Maulwurf sprang auf, wobei er beinahe seine Schokoladentasse umwarf.

»Wo kann es nur sein? Wo habe ich es zum letzten Mal gesehen?«

Nachdem Archibald den Vorabend damit verbracht hatte, seine Buchhandlung peinlich genau aufzuräumen, musste der Fuchs nun dabei zusehen, wie der Maulwurf in seiner Aufregung so schnell und heftig gegen die Regalbretter stieß, dass die Bücher eins nach dem anderen herausstürzten wie eine literarische Lawine. Archibald fackelte nicht lang, sondern schnellte aus dem Sessel und fing an, dem Maulwurf hinterherlaufend die Bücher aufzufangen, die aus den Regalen sprangen wie die Flöhe auf dem Rücken seines Onkels Barnabas! Seine thematische Ordnung war ruiniert: Plötzlich trafen die Kochrezepte auf Detektiv Rüssels polizeiliche Ermittlungen von Simon Schwein – das passte nicht!

»Aber was suchen Sie denn, Ferdinand? Vielleicht kann ich Ihnen helfen! Sie begraben uns ja gleich unter einem Bücherberg!«

Der verängstigte Maulwurf jedoch nahm ihn jetzt gar nicht mehr wahr.

»Ich war doch ganz sicher, dass es hier war, Apfel noch mal! Mein Gedächtnis spielt mir immer häufiger Streiche! Ach, bei aller Ferdinand-Maulwurf-Ehre, ich werde es finden, koste es, was es wolle!«

Die Buchhandlung befand sich mittlerweile in gewaltiger Unordnung. Als Liesel Wiesel zur Ladentür hereintrat und ihr beinahe Franz Bärs Winterschlaf-Liebes-Lexikon auf den Kopf fiel, sagte sie sich, dass sie wohl besser ein andermal wiederkäme …

»Ferdinand, sagen Sie mir doch bitte, was Sie suchen! Das wäre viel einfacher, nicht wahr?«, rief der Fuchs hinter einem riesigen Bücherstapel hervor, den er gerade aufgefangen hatte.

»Ich suche mein Buch! Es war hier, und ich brauche es furchtbar dringend!«

»Ihr Buch? Welches Buch?«, staunte der Ladenbesitzer.

Aber der Maulwurf hörte ihm schon nicht mehr zu, sondern hockte auf einem Regal, in dem sich kein einziges Buch mehr befand. Wie ein Matrose, der mit den Augen den Horizont absucht, ließ Ferdinand seine Augen über die Regale wandern, auf der Suche nach dem geheimnisvollen Buch – aber Pflaume noch mal, es war verschwunden! Vom Gewicht der entschieden zu schweren halben Walnussschale auf seinem Rücken beinahe zu Fall gebracht, wurde Ferdinand gerade noch vom Fuchs aufgefangen. Sobald Archibald gesehen hatte, dass sein Freund das Gleichgewicht verlor, hatte er sich einiger Bücher, die er trug, auf dem nächsten Tisch entledigt. Als der Maulwurf nun ganz in den Armen des Buchhändlers lag, weinte er heiße Tränen und schluchzte sehr – er durchnässte seinen Pelz in außerordentlichem Kummer.

»Na, na«, tröstete ihn Archibald, während er seinen Freund in den Sessel setzte und ihm die Tasse Mäusespeck-Schokolade reichte. »Und wenn Sie mir vielleicht doch erklären würden, worum es geht, mein lieber Ferdinand?«

»Schon seit Wochen suche ich verzweifelt mein Buch, und gestern Abend habe ich plötzlich gedacht, es müsste bei Ihnen sein, in dem Regal da ganz hinten in der Buchhandlung, bei den Autobiografien. Aber da ist es nicht!«

Nun weinte der Maulwurf noch mehr und schnäuzte sich in sein großes kariertes Taschentuch.

»Ihr Buch? Aber mein Freund, Sie haben mir ja nie erzählt, dass Sie ein Buch geschrieben haben!«

»Doch, vor sehr, sehr, sehr langer Zeit! Ich glaube, ich hatte es Ihrem Vater übergeben, oder vielleicht sogar noch Ihrem Großvater! Es sind meine Erinnerungen: Erinnerungen aus Unter-Erde, von Ferdinand Maulwurf. Sind Sie sicher, dass Sie es nie, wirklich niemals gesehen haben?«, flehte der weinerliche Maulwurf.

Während der Buchhändler tief in die traurigen Augen seines Freundes blickte, erinnerte er sich plötzlich.

Ein Bucheinband aus grünem Leder, vier Haselnüsse statt drei. Fell, Schuppen oder vielleicht Federn. Der endlose Vortrag von Phineas Schildkröte.

Apfel noch mal! Es war das Buch, das er am Abend zuvor verkauft hatte!

Ferdinands Geschichte

Archibald Fuchs war ziemlich in Verlegenheit geraten: Da wusste nun einmal jemand genau, was er suchte, und er selbst war nicht in der Lage, seinen Kunden zufriedenzustellen! Wie hatte er übersehen können, dass Erinnerungen aus Unter-Erde in seinen Regalen gestanden hatte?

»Es tut mir leid, Ferdinand … Ich habe in meiner Aufgabe als Waldbuchhändler versagt, als ich vergessen habe, den Käufer zu notieren«, entschuldigte sich der Fuchs verdattert.

»Uuuuhuuuu, wie soll ich es denn jetzt schaffen, mein Freund? Wie?«

Erschüttert hatte der Maulwurf ein zweites kariertes Taschentuch in der Größe einer Decke aus seiner Tasche gezogen und schnäuzte sich nun kräftig mit lauten Trompetengeräuschen: Tüüü! Tüüü! Jedes Mal, wenn er in den Stoff prustete, klingelten die kleinen Figürchen, die in manchen Regalen standen, wie Glöckchen und drohten auf dem Boden zu zerschellen. Archibald war auf der Hut und bereit, wenn nötig alles aufzufangen. Während Ferdinand immer noch weinte und weinte, löste er die Knoten der Bänder, mit denen die halbe Walnussschale auf seinem Rücken befestigt war. In ihr verstaute er die Bücher, wenn er welche kaufte, aber auch eine ganze Menge anderen Kram. Bisweilen war es daher nicht angenehm, wenn man seine Nase oder Schnauze in die Nähe der Walnussschale brachte – vor allem, wenn Ferdinand sein Butterbrot darin für ein paar Tage vergaß oder das Glas mit den Pflaumen nicht richtig verschloss … Diesmal zog er einen vergilbten Umschlag daraus hervor, und einen kleinen Zettel. Und, zum dankbaren Apfel aber auch!, nichts von dem, was er hervorzog, roch oder klebte vom vergorenen Pflaumensaft!

»Mein liebster Freund, ich muss Ihnen etwas gestehen, etwas sehr Wichtiges. Aber ich habe Angst vor Ihrer Reaktion …«

»Aber Ferdinand, Sie wissen doch, dass Sie mir alles sagen können. Ich werde Sie nie verurteilen«, antwortete Archibald und ergriff Ferdinands Pfote.

»Also gut, mein Freund, schauen Sie, mir ist kürzlich bewusst geworden, dass bei mir irgendetwas nicht stimmte … Mir ist bewusst geworden, dass … mir ist bewusst geworden …«

Er verstummte, sah wie weggetreten aus.

»Ferdinand?«

»Ja, Herr Fuchs?«

»›Mir ist bewusst geworden, dass …‹ Und wie weiter?«, fragte Archibald.

»Das weiß ich nicht, Herr Fuchs, mein Freund, was ist Ihnen denn bewusst geworden?«, wollte der Maulwurf wissen.

»Doch nicht mir, Ferdinand, sondern Ihnen!«, entgegnete Archibald etwas gereizt.

»Mir? Ach ja? Ich …«

Da sah er den Zettel, den er noch in seiner Pfote hielt.

»Ach ja! Mir ist bewusst geworden, dass bei mir irgendetwas nicht stimmte … Mir ist bewusst geworden, dass …«

»Dass …?«

Die Augen des Fuchses wurden größer.

»Dass ich mein Gedächtnis verliere, mein Freund! Es ist wie ein Schweizer Käse, eine Schaumkelle, ein richtiges Sieb! Das ist jetzt sicher ein Schock für Sie, aber ich leide an wiederkehrenden Gedächtnislücken – ich vergesse alles! Meine Schokolade verliert ihre Haselnüsse, mein Baum verliert alle seine Blätter, eins nach dem anderen!«

Während er das erzählte, stand der Maulwurf von seinem Sessel auf und ahmte einen Baum nach, der im Herbst seine Äste vom Gewicht des Laubes befreite. Der Fuchs lehnte an seinem Sessel, hatte die Pfoten vor seiner Schürze gefaltet, blieb still und betrachtete zärtlich seinen Freund. Diese Gedächtnisverluste waren keine wirkliche Überraschung … Was Archibald erstaunte, war vor allem, dass Ferdinand Maulwurf davon so verwirrt war!

»Nun ja, Ferdinand, es ist doch normal, wenn man in Ihrem Alter ein bisschen von seinem Gedächtnis einbüßt. Mein Großvater vergisst manchmal, seine Brotscheiben zu rösten, bevor er sie mit Butter bestreicht. Das kennt man doch von alten Leuten!«

»Nur dass in meinem Falle gar keine Butter zum Bestreichen mehr da ist«, gestand der Maulwurf. »Ich habe bei mir einen Zettel gefunden, auf dem ein Termin bei Doktor Eule erwähnt war. Doch ich kann mich gar nicht daran erinnern, hingegangen zu sein – es ist die Alles-Vergessen-Krankheit, die kommt und alles wegnimmt, von den verrücktesten Erinnerungen bis zu denen an die zärtlichsten Küsse …«, säuselte der Maulwurf mit traurig-glücklicher Stimme vor sich hin.

Archibald hatte schon von der Alles-Vergessen-Krankheit gehört. Er hatte sogar ein Buch darüber gelesen, und dieses Buch stand noch auf einem seiner Regalbretter, in der Abteilung ›Leiden und Heilmittel‹. Es hieß In Erinnerung an die, die keine mehr haben – Die Alles-Vergessen-Krankheit und war geschrieben von Doktor Marcellinus Eule, wahrscheinlich ein Vorfahr des Dorfarztes von Schönrinde. Dieses Werk hatte Archibald sehr berührt, denn es erklärte den Verlauf der Krankheit: zum Beispiel die Zeit, in der man in Pantoffeln aus dem Haus geht statt in seinen Straßenschuhen, oder die, in der man vergeblich etwas sucht, das man schon lange weggeworfen hat. Es gibt auch diese Momente, in denen man Salz statt Zucker in seinen Kaffee gibt, und jene, in denen man noch zwei Küchlein isst, weil man nicht mehr weiß, dass man gerade schon drei davon verspeist hat. Und ihr könnt mir glauben, der Fuchs weiß, wie sich das Bauchweh anfühlt, das man bekommt, wenn man mehr Küchlein isst, als man verdauen kann! Das Buch erklärte sehr gut, dass, selbst wenn alle alten Tiere ein wenig von ihrem Gedächtnis verloren und ›ein bisschen tüdelig im Kopf‹ wurden, die Alles-Vergessen-Krankheit eine schlimmere Form war als die einfache Vergesslichkeit des Alters: Sie bedeutete nämlich, dass man ohne Rückfahrkarte einen Zug bestieg, ohne Hoffnung auf Rückkehr in die Vergangenheit fuhr – eine Reise antrat, auf der die Bahnhöfe im Laufe der Fahrt verschwanden.

»Wegen dieser Krankheit vergesse ich jeden Tag, was mit meiner lieben Mathilde passiert ist. Warum ist sie weggegangen? Na ja, falls sie weggegangen ist … Wenn du dich doch bloß erinnern könntest, du verfluchte Birne!«

Mathilde? Der Buchhändler hatte in ganz Schönrinde noch nie von einer Mathilde gehört. War das ein anderer Maulwurf?

»Mein lieber Ferdinand, es tut mir wirklich leid«, sagte der Fuchs und tätschelte den Kopf seines Freundes, der dabei vor lauter Freude über die Berührung der bekrallten Pfoten schnurrte.

»Das braucht es nicht, Archibald, ich habe ein langes und schönes Leben gelebt und eine Menge leckerer Sachen gegessen. Jetzt ist es nur wichtig, dass ich mein Buch wieder in die Pfoten bekomme. Es enthält den Schlüssel zu meinen Erinnerungen«, warf Ferdinand ein, der nun tatendurstig wirkte.

Die Stimmung von Maulwürfen wechselte aber wirklich schnell!

»Wie meinen Sie das?«

»Mein Buch, Erinnerungen aus Unter-Erde! Darin befindet sich meine ganze Jugend! Alle Erinnerungen an meine geliebte, zärtliche Mathilde und unsere Schlemmer-Ausflüge! Die Verbindung zwischen diesen Fotografien, die ich in einer Truhe auf meinem Dachboden wiedergefunden habe! Die Antwort auf all meine Fragen!«

Der Maulwurf schnappte sich den vergilbten Umschlag, den er zuvor aus seiner Nussschale geholt hatte, und zog daraus winzige sepiabraune Fotografien mit Büttenrand hervor, die ganz offensichtlich ein ziemlich langes Leben hinter sich hatten. Dort auf dem Baumscheibentisch, gleich neben den kalt gewordenen Schokolade-Mäusespeck-Tassen, starrten die unschuldigen Augen von Ferdinand und Mathilde Maulwurf in die Kamera, aus glücklich strahlenden Gesichtern.

»Ach! Meine liebste Mathilde«, seufzte der Maulwurf mit tränenfeuchten Augen, »ach, meine liebste Mathilde … Wenn ich dich nur wiederfinden könnte!«

»Ist das Ihre Frau, Ferdinand? Oder einfach eine Freundin?«

»Das eine oder das andere, Archibald! Aber ich erinnere mich nicht mehr, und genau deshalb muss ich mein Buch finden. Nur das weiß, was mir passiert ist, denn alle meine Erinnerungen aus der Zeit, bevor ich die Krankheit bekam, sind darin aufgeschrieben! Ich glaube, als ich noch jünger war, notierte ich mir alles genau«, erklärte der Maulwurf. »Ich glaube, wenn ich mein Buch wieder in den Pfoten hielte, könnte ich mich endlich wieder erinnern an … hmmm, an … Woran wollte ich mich noch gleich erinnern?«

Die Türglocke läutete – aber es war nicht die am Haupteingang. Wie alle großen Läden des Waldes (die von großen Tieren geführt werden) besaß auch die Buchhandlung von Schönrinde eine große Haupteingangstür mit Glaseinsatz, durch die man die großen Kunden kommen sehen konnte. Unter dem Schaufenster gab es eine weitere, ganz kleine Tür mit Glaseinsatz, nicht höher als ein Stapel von fünf bis sechs Romanen und mit eigener Türglocke, extra eingerichtet für die kleinen Tiere. Es wäre auch mühsam gewesen, die schwere Tür der Großen aufzudrücken, wenn man Charlotte Maus hieß und nur ungefähr achteinhalb Zentimeter groß war!

»Guten Tag, Herr Fuchs, ist das nicht ein wun-der-ba-rer Tag?«, stieß die Maus hervor.

»Guten Tag, Frau Maus, da haben Sie ganz recht! Wie geht es Ihnen?«

»Ach, also, mir geht es sehr gut! Aber ich habe gerade Liesel Wiesel getroffen, die mir geschworen hat, dass ihr erst vor ein paar Minuten beim Betreten Ihrer Buchhandlung beinahe ein Auge ausgestochen worden wäre!«

»Oh, das bedeutet wohl …«

Der Fuchs war tief getroffen.

»Machen Sie sich keine Sorgen, Wiesel haben Dickschädel!«, scherzte die Maus.

Und dann ging sie zum Stöbern an die niedrigen Regale, wo die Bücher der kleineren Tiere standen.

Als der Buchhändler anfangen wollte, die Schokolade-Mäusespeck-Tassen vom Tisch zu räumen, bemerkte er, dass auf der Rückseite der vergilbten Aufnahmen etwas geschrieben stand.

»Schauen Sie mal, Ferdinand! Auf den Fotos ist der Zeitpunkt der Aufnahme vermerkt, und manchmal steht sogar klein darunter, wo sie gemacht wurden. Auf den beiden da zum Beispiel: ›Teestube von Petunia Murmeltier‹, ›Eichendorfkonzert‹. Es sieht aus, als wären Sie so gewissenhaft gewesen, manche Orte der Treffen mit Ihrer lieben Mathilde aufzuschreiben!«, staunte Archibald, der seinen Freund eher unbeholfen kannte.

Das Gesicht des Maulwurfs hellte sich auf, und er hüpfte mit zusammengeschlagenen Pfoten im Sessel auf und ab, dass die Federn des Möbelstücks mit geblümtem Bezug nur so quietschten. Ganz sicher war ihm gerade ein Licht aufgegangen!