Erinnerungen einer Überflüssigen - Lena Christ - E-Book

Erinnerungen einer Überflüssigen E-Book

Lena Christ

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Beschreibung

Lena Christ (1881 - 1920) war eine bayerische Schriftstellerin. In ihren Büchern verarbeitete sie ihre eigenen Erlebnisse und liefert einen tiefen Einblick in das ärmliche Leben der Arbeiterklasse in Deutschland Anfang des 20. Jahrhunderts. 1912 erschienen mit Hilfe von Ludwig Thoma ihre "Erinnerungen einer Überflüssigen". Darin schildert sie in ungewöhnlich deutlichen Worten ihr Leben, das zerrüttete Verhältnis zu ihrer Mutter und die menschlichen und sexuellen Tragödien ihrer Ehe. (Wikipedia)

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Erinnerungen einer Überflüssigen

Erinnerungen einer ÜberflüssigenInhaltImpressum

Erinnerungen einer Überflüssigen

Inhalt

Oft habe ich versucht, mir meine früheste Kindheit ins Gedächtnis zurückzurufen, doch reicht meine Erinnerung nur bis zu meinem fünften Lebensjahr und ist auch da schon teilweise ausgelöscht. Mit voller Klarheit aber steht noch ein Sonntagvormittag im Winter desselben Jahres vor mir, als ich, an Scharlach erkrankt, auf dem Kanapee in der Wohnstube lag; es war dies der einzige Raum, der geheizt wurde.

Der Großvater war in seinem geblumten Samtgilet, dem braunen Rock mit den silbernen Knöpfen und dem blauen, faltigen Tuchmantel in die Kirche vorausgegangen, während die Großmutter in dem schönen Kleide, das bald bläulich, bald rötlich schillerte, noch vor mir stand und mich ansah, wobei sie immer wieder das schwarze seidene Kopftuch zurechtrückte. Neben der Tür aber stand in Hemdsärmeln der alte Hausl und wollte eben den Sonntagsrock vom Nagel nehmen, als sich die Großmutter umdrehte und zu ihm sagte: „Geh, Hausl, bleib du heunt dahoam und gib aufs Kind Obacht und tus Haus hüten; i möcht aa amal wieda in d’ Kirch geh’.“

Darauf ließ der Hausl seinen Rock hängen und zog wieder seinen blauen, gestrickten Janker an, und die Großmutter ging zu dem Wandschränklein, das in die Mauer eingelassen war, nahm daraus das Weihbrunnkrügl und wollte gehen. In der Tür aber wandte sie sich noch einmal um und sagte zu mir: „Also, daß d’ schö liegn bleibst, Dirnei; i bet scho für di, daß d’ wieda g’sund wirst.“

Als sie fort war, ging der alte Hausl in seine Kammer, sich zu rasieren. Da fiel mir ein, ich könnte wieder einmal zu unserer Nachbarin, der alten Sailergroßmutter, gehen. Geschwind stand ich auf und lief hinaus in den Schnee und vor ihr Haus. Ich fand aber die Tür zugesperrt und niemanden daheim; denn sie waren alle in der Kirche. Und da ich nun lange im Hemd und dem roten Flanellunterröckl barfuß im Schnee gestanden war und vergebens gewartet hatte, schlich ich wieder heim; denn es war bitter kalt. Als der Hausl mich kommen sah, machte er ein ganz entsetztes Gesicht und kopfschüttelnd nahm er mich auf den Arm und legte mich wieder nieder. Alsbald fiel ich in ein heftiges Fieber und soll darauf viele Wochen krank gelegen sein, und man hat geglaubt, daß ich sterben müßte. Aber der Großvater hat mich gepflegt, und so bin ich wieder gesund geworden.

Der Großvater nämlich verstand sich auf alles, und wo man im Dorf eine Hilfe brauchte, da wurde er geholt. Er war Schreiner, Maurer, Maler, Zimmermann und Kuhdoktor, und manchmal hat er auch dem Totengräber ausgeholfen. Und weil er so überall zur Hand war, hieß man ihn den Handschuster, und der Name wurde der Hausname und ich war die Handschusterleni.

Der Großvater war bartlos und groß und gerade gewachsen und hatte trotz der mannigfachen schweren Arbeit schlanke schöne Hände. Die hab ich in späterer Zeit oft betrachtet, wenn er am Abend auf der Hausbank saß und über irgend etwas nachdachte.

Er war überhaupt anders als die Leute im Dorfe; denn er sprach wenig, ging nicht ins Wirtshaus und war bei keiner Wahl, wie er auch sonst allem öffentlichen Wesen fern blieb. Statt dessen erzählte man, daß er oft im Verborgenen geholfen habe; und wo einem Armen das Haus abgebrannt war, da habe er beim Aufbau mit zugegriffen, ohne lang nach dem Lohn zu fragen.

Damals, im Frühjahr nach meiner Krankheit, war es nun mein größtes Vergnügen, mit ihm auf dem Wagen, vor den unser Ochs gespannt war, aufs Feld hinauszufahren. Von den Äckern, die auf den Höhen rings um das Dorf lagen, konnte man die fernen Berge sehen, und der Großvater sagte mir von dem höchsten, daß es der Wendelstein sei.

Während er nun pflügte oder säete, brockte ich Blumen und betrachtete sie und die Welt dahinter durch bunte Scherben, die ich vor dem Hause des Glasers aufgelesen hatte; oder ich lief mit dem Sturm über die Wiesen und suchte ihn zu überschreien.

Abends auf dem Rückweg setzte mich dann der Großvater rittlings auf den Ochsen, und so sah ich schon von weitem die bläulichen Rauchwölklein über unserem Dache, die uns anzeigten, daß die Abendsuppe schon auf dem Feuer stand.

Waren wir daheim angekommen, so sprang ich rasch in die Küche, steckte, wenn die Großmutter in der Speis war, die Nase in alle Hafen und Tiegel, zu sehen, was es Gutes gäbe, und lief dann hinter dem Großvater drein, der vom Hausflöz durch den Stall in die Scheune ging, dort die Ackergeräte verwahrte und hierauf in dem Schuppen Holz für den Herd herrichtete. Ich tummelte mich derweilen in der Tenne, die wie der Stall und Schuppen an das kleine, freundlich mit bläulicher Farbe getünchte Wohnhaus angebaut war und mit ihm unter einem Dache stand, das sauber mit Holzschindeln eingedeckt und mit Felsblöcken beschwert war. Rings um das Häuschen zog sich ein saftiger Grasgrund, und von den Fenstern der Wohnstube, an denen reichblühende Geranien und Menschenleben standen, sah man im Sommer ein zierliches Gemüsegärtlein, dessen Beete mit feurigen Nelken, Dahlien, fliegenden Herzlein und buschigen Rosensträuchern eingefaßt waren. Am Eingang des Gärtleins stand ein großer Rosmarinstrauch, den der Großvater bei seiner Heirat selbst gepflanzt hatte.

Von der Tenne nun schlüpfte ich des öftern in den Hühnerstall und durchsuchte ihn nach Eiern. Besonders als Ostern nicht mehr fern war, trieb es mich immer wieder dahin; denn um diese Zeit gab es unter uns ein großes Vergnügen, das Oarscheiben. Da zogen alle Kinder des Dorfes zu den großen Bauernhöfen, und dort wurden wir bewirtet und bekamen G’selchts, Osterbrot und bunte Eier. Diese aber wurden nicht gegessen, sondern zum Oarscheiben aufgehoben. Dabei teilten wir uns in zwei Parteien, und die einen standen hüben, die anderen drüben; dazwischen aber waren in schräger Lage zwei Rechen aneinander gelegt, und auf dieser Bahn ließen wir unsere Eier hinunterrollen. Die Partei nun, auf deren Seite das Ei fiel, hatte es gewonnen, und wo am Schluß die meisten Eier lagen, war der Sieg. Freilich begann dann oft erst der eigentliche Kampf, und die Eier, die zuvor gerollt waren, flogen jetzt.

Während aber die andern sich noch rauften, sammelte ich, ohne mich besonders sichtbar zu machen, mit flinker Hand die also zu Waffen gebrauchten Eier und lief alsdann mit meinem vollen Schürzlein heim, wo ich dem Großvater die Beute vor die Füße kugeln ließ.

Da gab’s dann andern Tags ein gutes Gericht, den Oarsülot, zu dessen Bereitung ich schon am frühen Morgen mit der Großmutter den wildwachsenden Feldsalat von einer nahen Anhöhe brocken mußte, während der Großvater derweil daheim die Eier fein zerhackt und zerrührt hatte, was er alle Ostern selber tat, da keins ihm dies Geschäft recht machen konnte.

Auch sonst war er oft in der Küche draußen und half der Großmutter Rüben schälen oder Semmeln schneiden für die Alltagskost, die Knödel; denn diese durften keinen Tag fehlen. Auch am Sonntag kamen sie, freilich viel größer und schwärzer, als Leberknödel auf den Tisch.

Das Wasser, in dem die Knödel, die neben ihrer Schmackhaftigkeit auch noch den Vorzug der Billigkeit hatten, gesotten wurden, wurde bei uns nie weggeschüttet, sondern in einer großen bemalten Schüssel aufgetragen. Dazu stellte die Großmutter ein Pfännlein mit heißem Schmalz und braunen Zwiebeln und im Sommer auch ein Schüsselchen voll Schnittlauch. Der Großvater langte dann den von der Mutter selbstgebackenen Brotlaib, der mittels unseres großen Hausschlüssels ringsum mit einem Kranz von ringförmigen Eindrücken verziert war, aus dem Wandschränklein und begann langsam und bedächtig Schnittlein um Schnittlein in die Brüh zu schneiden. Danach goß er die Schmelz darüber, würzte gut mit Salz und Pfeffer und rührte mit seinem Löffel etliche Male um. Alsdann sagte er: „So Muatta, jatz ko’st betn.“

Fleisch kam bei uns nur zu ganz besonderen Gelegenheiten auf den Tisch, und selbst am Sonntag genügten meinen Großeltern die Leberknödel mit dem Tauch, einem Gemüse von Dotschen, Rüben oder Kohlraben. Nur der Großvater erhielt als Feiertagsmahl ein Stück gesottenes Rindsfett, das er gesalzen und gepfeffert nur mit einem Stücklein Brote aß.

An Ostern aber ließen sich’s die Großeltern nicht nehmen, ein ordentliches Stück Geselchtes und dazu noch einen Tiegel voll von unserm selbstgemachten Kraut aufzustellen, nebst einem Körblein Eier, die samt dem mit viel Zyperben und Weinbeerln gebackenen Osterbrot schon in der Früh des Ostertags vom Großvater zur Weih’ getragen wurden.

Auch sonst gab’s allerlei Vergnügungen und Kurzweil für die Großen und die Kleinen, und es war auch um die Osterzeit, daß die Kinder, die ungefähr in meinem Alter waren, anfingen, etwas Heimliches untereinander zu treiben. Der Schlosserflorian und die Ropferzenzi hatten im Stall bei der Wagnerin die Zicklein angeschaut, und hierbei hatte der Florian der Zenzi, die vor ihm hockte, unter den Rock gesehen und hatte ihr darauf auch etwas gewiesen. Dabei überraschte sie die Wagnerin, und alsbald wußte es das ganze Dorf. Die Kinder aber, die fünf- und sechsjährigen, hatten nichts anderes zu tun, als dies sofort nachzuahmen, und alsbald saßen auf den Heuböden oder hinter der Planke vom Huberwirt die Pärlein im Gras und betrachteten einander.

Diese Vorfälle wurden nun von einem alten, frommen Fräulein dem Herrn Pfarrer hinterbracht, der dann am darauffolgenden Sonntag von der Kanzel herab wetterte über die Zuchtlosigkeit der Eltern, die nicht acht gehabt hätten auf das Heiligste der Kinder, auf ihre Unschuld. Viele von den Eltern hatten es aber in der Sorge um das Ihre übersehen, manche wohl auch übersehen wollen.

Mit dem beginnenden Sommer fingen wir an, zu fischen. Da suchte man sich einen Stecken; daran wurde eine alte Gabel gebunden und mit ihr nach den Dollen oder Mühlkoppen, die sich im Bach unter Steinen, Scherben oder alten Häfen verborgen hielten, gestochen. Mit dem Stecken wurde der Stein zur Seite geschoben, und wenn der Fisch hervorschoß, wurde er angespießt. Ich war nun so geschickt, daß ich sie auch mit der Hand fangen konnte. Da nahm ich den Rock auf, stieg in den Bach hinein, bückte mich, tauchte vorsichtig den rechten Arm ins Wasser und näherte mich mit der Hand dem Fisch, bis er zwischen meinen Fingern stand; dann griff ich rasch zu. Gegen Abend trugen wir dann in einem alten Hafen den ganzen Fang heim. War die Großmutter im Stall, so schlug ich in der Küche die Fische mit einem Stein auf den Kopf, nahm heimlich Schmalz aus der Speisekammer und warf die Fische, nachdem ich noch schnell Salz, Mehl und ein paar Eier darangetan, in eine Pfanne. Die gebratenen Dollen brachte ich dann hinaus vors Haus, wo die anderen Kinder im Gras saßen und warteten. Unter dem Essen wurde nun erst die Schwimmblase und was sonst noch im Innern des Fisches war, mit dem Finger herausgeholt.

Einmal freilich wäre ich beim Fischen beinah ertrunken, und das kam so: Da hat die Großmutter mit unserer Nachbarin, der alten Sailerin, die sehr schwerhörig war, Wasch g’schwoabt, d. i. Wäsche im Bach gespült. Als sie beide mit dem schweren Zuber davongingen, rief mir die Großmutter zu: „Lenei, daß d’ fei du dahoam bleibst und ja net abi gehst am Bach, net daß d’ eini fallst und dasaufst.“

Ich aber nahm, dem Verbot zum Trotz, meinen Stecken mit der Gabel und einen großen Hafen und schlich leise hinterdrein.

Die Großmutter und die Sailerin hatten sich auf die große Waschbank, die in den Bach hineingebaut war, gekniet und wuschen und hörten bei dem Rauschen des Wassers nicht, wie ich mich hinter ihrem Rücken auf die Waschbank legte. Kaum hatte ich mit meinem Stecken einen Stein zur Seite gerückt, als schon ein großer Dollen herausfuhr. Ich ziele und steche mit der Gabel zu; aber die war nicht festgebunden und rutscht ab. Inzwischen war der Fisch zur Seite geschnellt und blieb nahe dem Ufer über dem Sand stehen. Mir schien die Stelle seicht genug, um ihn jetzt mit der Hand fangen zu können. Ich stülpe also meinen Ärmel auf, strecke den Arm aus und will den Fisch fassen, versinke aber mit der Hand tief in den weichen Ufersand; dabei verliere ich das Gleichgewicht und stürze in den Bach, jedoch so, daß die Füße noch auf der Waschbank blieben. Den Kopf unter Wasser zerre und zapple ich so lange, bis ich die Füße nachziehen konnte. Derweilen hatte mir aber das Wasser schon alle Kraft genommen, und trieb mich nun unter der Waschbrücke hindurch grad unter die Hände meiner Großmutter.

„Jess’, Mariand Josef, insa Lenei!“ schrie sie und ließ das Wäschestück fahren, packte die alte Sailerin am Arm, schüttelte sie heftig und schrie ihr ins Ohr: „He, Soalerin, hilf, insa Lenei datrinkt!“

Darauf zogen sie mich heraus und führten mich heim.

Als der Großvater mich sah, meinte er: „Aba Lenei, gel, jetz hast es; wie leicht kunntst dasuffa sei!“

Der Hausl aber, der auf dem Kanapee saß, spottete: „Gel, bist in Bach einig’falln, du Schliffi!“

Der Hausl, Balthasar Hauser, wie er eigentlich hieß, war im Übrigen mein guter Freund. Im Dorf war er freilich wenig beliebt, weil er recht barsch war und ein großer Geizhals. Ging er umher, so streckte er die Arme weit hinter sich hinaus; denn er war schon ganz krumm und alt. Er lebte bei den Großeltern im Austrag und bewohnte die an unsere Wohnstube anstoßende Kammer. Darin hatte er aus der Mauer ein paar Ziegelsteine herausgebrochen, das Loch ausgemauert und vor die Öffnung als Tür ein dickes Brettlein gemacht, das in Scharnieren hing und an das der Schlosser ein Schloß hatte anbringen müssen. In diesen Behälter tat er sein Geld und seine Kostbarkeiten, schmierte das Türlein mit Kalk zu und machte mit einem Farbstift einen winzigen Punkt an die Stelle, wo sich das Schlüsselloch befand. So glaubte er seine Habe erst sicher vor den Menschen, denn außer mir wußte niemand um diesen geheimen Ort. Wenn er nun einige Pfennige brauchte, wie an den Sonntagen zum Bier, so ging er in seine Kammer, zog die Vorhänge zu, kratzte mit einem Messer den Kalk vom Schlüsselloch, und sobald er das Wenige, das er jeweils brauchte, herausgenommen hatte, strich er alles wieder zu und machte einen neuen Punkt. Das Häflein mit dem Kalk bewahrte er unter dem Bett auf, das Nachtgeschirr darübergestürzt. Damit nun nicht etwa jemand diese Dinge fände, putzte er selbst seine Kammer und machte sein Bett. Auch wusch er selber seine Wäsche; denn er fürchtete, der Großmutter etwas zahlen zu müssen; und zwar wusch er immer nur ein Stück, hängte es darauf in die Sonne und setzte sich dazu, damit es ihm nicht etwa gestohlen wurde. Kam ich an solchen Tagen und sagte: „Hausl, geh mit mir furt!“, so zeigte er auf sein Sacktüchl und sagte: „Wart a bißl, bis mei Schneuztüchl trucka is.“

Außer ihm waren bei meinen Großeltern noch Kostkinder im Hause, die die Großmutter aufzog.

Sie war eigentlich nicht meine rechte Großmutter, sondern nur die Schwester derselben. Meine leibliche Großmutter habe ich nicht gekannt; sie war schon lange tot. Von ihr hat mir die Großmutter im Winter, wenn sie mit der alten Sailerin und der Huberwirtsmarie am Spinnrad saß, viel erzählt. Sie sei eine sehr böse Frau gewesen, im ganzen Ort gefürchtet, und alle Leute seien froh gewesen, als sie endlich mit achtunddreißig Jahren gestorben sei. Sie hatte lange an Magen- und Leberkrebs gelitten; darum hatte ihre Schwester schon bei ihren Lebzeiten das Hauswesen beim Großvater geführt und die Kinder erzogen. Eigentlich aber war sie eine Nähterin.

Als nun der Großvater Witwer war, wollte er die Schwägerin heiraten; da sie aber in ihrer Jugend Mitglied und später Präfektin des weltlichen dritten Ordens des heiligen Franziskus geworden war, mußte er deswegen sich an den Papst wenden, der ihr unter der Bedingung Dispens erteilte, daß sie mit ihrem Manne eine sogenannte Josephsehe führe, das heißt, die gelobte Keuschheit bewahre. Daher kam es wohl auch, daß der Großvater sie immer mit großer Achtung behandelte und ihr niemals ein böses Wort gab. Nur einmal war eine Geschichte:

Von unsern Kühen gab eine, das Bräundl, zu wenig Milch. Da nahm sich der Großvater vor, sie nach Holzkirchen auf den Markt zu führen und gegen eine bessere umzutauschen. Obwohl nun die Großmutter dagegen war, hat er sie doch fortgetrieben und dafür eine wunderschöne, schwarzfleckige Kuh heimgebracht.

Als sie nun das erstemal von der Großmutter gemolken wurde, gab auch sie nur ein paar Liter Milch. Da meinte man, es komme von der Anstrengung; aber es wurde nicht besser. Als sie nach ungefähr einer Woche nicht mehr als fünf Liter Milch gab, während wir sonst von unsern Kühen zehn bis zwölf Liter hatten, ward die Großmutter sehr ärgerlich und fing an, mit dem Großvater zu streiten und sagte: „Da hättst aa nix Bessers toa könna, als wie dös Viech daher bringa; hättst halt’s Bräundl g’haltn. Bringst da so an Ranka daher, der oan’s Fuada wegfrißt und für nix guat is.“

Da wurde der Großvater zornig: „Sei stad! Was vastehst denn du, du Rindviech! Dös ko i da Kuah net o’sehgn, daß koa Milli gibt bei so an Trumm Euter. Na weis i’s halt wieder furt in Gott’snam’, daß d’ an Ruah gibst, alt’s Rindviech.“

Darauf erwiderte die Großmutter nichts, sondern ging in die Kuchl hinaus.

Als sie aber beim Nachtessen das Tischgebet sprach, fing sie plötzlich beim Vaterunser an ganz laut zu schluchzen und lief hinaus. Da sprach ich das Gebet zu Ende und sagte darauf zum Großvater: „Gel, jetz hast es, weilst so grob bist. Warum greinst denn a so, wo’s es net braucht! Mei Großmuatta is brav, und balst es no amal schimpfst, nacha mag i di nimma!“

Darauf sagte der Hausl, der auch mit uns aß: „Woaßt, Handschuasta, dös sell muaß i selm sagn; da hast an schlechtn Tausch g’macht. Da hat d’ Handschuasterin scho recht, und i moan, dösmal warst du’s Rindviech g’wen.“

Diese Rede freute mich, und ich ließ das Essen stehen, lief zur Großmutter in die Küche, setzte mich auf ihren Schoß und sagte: „Großmuatterl, sei stad und woan nimma. Der Großvata is dir scho wieda guat und der Hausl sagt’s aa, daß der Großvata ’s Rindviech is. Jatz weist er d’ Kuah wieder furt und kaaft dir a andere. Und i hab’s eahm scho g’sagt, er darf di nimma ausgreina.“

Da nahm sie mich um den Hals und sagte: „Du bist halt mei Brave, gel Lenei.“

Darauf aß ich mit ihr draußen in der Küche zur Nacht, zog sie danach wieder in die Stube und rief: „So Großvata, jatz is dir d’ Großmuatta wieda guat und woant nimma; jatz muaßt aba versprecha, daß d’ es wieda magst und nimma greinst.“

Da lachte er: „No, in Gottsnam, Hex, na mag i ’s halt wieda.“

In der Nacht hab ich zwischen ihnen beiden geschlafen und hab ein jedes bei der Hand genommen und ihnen die Hände gedrückt und sie festgehalten.

Auf einmal fängt die Großmutter aufs neue zu schluchzen an: „Naa, i ko’s net vergessn, was d’ g’sagt hast, wo i dir g’wiß a bravs, rieglsams Wei’ g’wen bin.“

„Stad bist ma!“ erwiderte der Großvater. „Bevor i harb wer’. Dös ko an jedn passiern; geh nur und kaaf du ei!“

Jetzt wurde ich wild, stieß den Großvater mit Füßen, schopfte ihn bei den Haaren und schrie: „Jatz werd’s ma z’ dumm! Jatz laß d’ mei Großmuatta steh, sunst steh i auf und laaf furt und geh zu der Münkara Muatta; da is scheena, da werd net g’strittn und g’greint!“

Darauf mußte sich die Großmutter in die Mitte legen und ich legte mich hinaus. Der Großvater aber lachte: „Geh, schlaf, du Nachtei!“

Am andern Tag in der Früh fragte ich gleich die Großmutter: „Is er dir wieda guat, der Vata?“

„Ja,“ erwiderte sie, „mir san scho guat.“

Aber beim Beten weinte sie wieder wie den Tag zuvor, und so ging es noch drei oder vier Tage fort.

Die Kuh aber hat der Großvater an den Huberwirt verkauft und dafür vom Schneider zu Balkham eine wunderschöne, trächtige heimgebracht.

Damit war der Streit geschlichtet und ich brauchte nicht mehr zu der Münkara Muatta, das heißt zu meiner Mutter in München, zu gehen, die ich übrigens noch nie gesehen hatte und von der ich nur hatte reden hören. Zu dieser Zeit aber kam ein Brief an meine Großmutter, darin die Mutter schrieb, daß sie bald kommen würde, uns zu besuchen.

Da sagte mein Großvater zu mir: „Dirnei, jatz muaßt brav sei, d’ Münkara Muatta kimmt; dö bringt dir ebbas Scheens mit. Bal’ s’ kimmt, na derfst es von der Bahn abholn.“

Ich glaubte natürlich, meine Münkara Muatta käme schon am selben Tag, an dem der Brief gekommen war; schlich mich also barfuß und ohne Hut oder Tüchl gegen die Sonnenhitze, es war im Spätsommer, fort und lief, so schnell ich konnte, über die Brücke den Berg hinauf durch Felder und Wiesen über Schloß Zinneberg und Westerndorf nach der Waldstraße, die gen Grafing führt. Dies war am Nachmittag nach der Vesperzeit. Ich lief durch den Wald, der anfangs ganz licht ist, bald aber dicht, finster und unheimlich wird, bis an eine Stelle, wo ein Feldkreuz mit einem Bild des Fegfeuers und daneben ein Marterl steht als Wahrzeichen, daß hier ein Bauer erschlagen aufgefunden wurde. Da fürchtete ich mich so sehr, daß ich kaum mehr zu atmen, noch mich vom Fleck zu rühren vermochte.

Derweilen kamen zwei Radfahrer, die mich nach dem kürzesten Weg nach Grafing fragten. Da löste sich meine Angst und indem ich rief: „Oes derfts grad dera Straßn nachfahrn!“ stürmte ich schon an den Herren, die von ihren Rädern abgestiegen waren, vorbei und lief, so rasch mich meine Füße trugen, bis nach Moosach, dem nächsten größeren Dorfe. Dort bat ich eine Bäuerin um einen Trunk Wasser. Freundlich gab sie mir einen Weidling voll Milch und eine Schmalznudel dazu und fragte mich: „Wo kimmst denn her, Dirndei, und wo gehst denn hin?“

„I geh auf Grafing und geh meiner Münkara Muatta z’gegn.“

Sie mahnte noch: „Gel, tua di fei net volaafa, Kind!“ und begleitete mich bis unter die Haustür. Mit einem lauten: „Gelt’s Gott!“ und „Pfüat Gott, Bäuerin!“ lief ich wieder weiter, die Straße über Waldbach, Baumhau, den großen Untersumpf entlang nach Grafing.

Schweißtriefend und keuchend kam ich ungefähr um sieben Uhr abends dort am Bahnhof an und fragte einen Bediensteten: „Bitt schön, wißt’s ös net, wenn daß der Zug vo’ Münka kimmt?“

Der aber meinte, vor acht Uhr käme keiner mehr; denn der letzte sei um fünf Uhr schon gekommen.

Ich glaubte es ihm nicht und fragte einen andern: „Habt’s ös mei Münkara Muatta net kemma sehgn?“

Da fing der Mann an zu schelten und ich stand traurig da und wußte nicht, was anfangen. In diesem Augenblick kam ein Zug. Ich stürmte über den Bahnsteig und lief sofort auf eine vornehm gekleidete Frau zu, die grad ausgestiegen war und fragte sie: „Bist du mei Münkara Muatta?“

Sie aber gab mir keine Antwort. Inzwischen hörte ich rufen: „Personenzug über Kirchseeon, Haar, Trudering nach München!“ Da wurde es mir klar, daß es der Zug von Rosenheim war. Ich setzte mich also auf eine Bank und wartete, bis der Achtuhrzug aus München kam. Da stiegen aber nur einige Männer aus und ich mußte mich wieder auf den Heimweg machen, da es schon ziemlich dunkel geworden war.

Ich fing nun wieder an zu laufen, zurück durch den Wald und den Sumpf.

Inzwischen war es fast Nacht geworden und ich sah plötzlich, daß ich mich verirrt hatte.

Nach einem langen Umweg kam ich über Bruck nach Wildenholzen. Es ist das ein kleines, wundernettes Örtlein am Fuß eines schönen, bewaldeten Bergabhanges.

Ganz erschöpft bat ich in dem Wirtshaus, das am Berge stand, ob ich nicht rasten dürfe und wie weit ich wohl noch hätte bis zu meinem Großvater.

„Ja mei, Dirndei, da kimmst heunt nimma hin! Da is gescheita, wennst bei ins da bleibst; morgen fruah fahrst na mit an Bauern hoam. Aba jatz kimm eina, na kriagst was z’essn.“

Ich konnte vor Müdigkeit und Seitenstechen kaum etwas essen und auch nur schlecht schlafen. Schreckliche Träume verfolgten mich und ich meinte in den Sumpf geraten zu sein und versinken zu müssen.

Am Morgen gab die Frau Wirtin mir noch einen Kaffee und dann setzte mich der Bauer, der nach unserm Dorf fuhr, auf den Wagen.

In Westerndorf stieg ich ab, bedankte mich und ging zu meiner Nanni. Dies war die Schwester meiner Mutter, eine wohlhabende Bäuerin, die auch einen großen Obstgarten hatte. Man nannte sie die Maurerin von Westerndorf, weil der Schwiegervater ein Maurer gewesen war und die Hausnamen fast immer vom Handwerk des Besitzers hergeleitet werden.

Die Nanni führte mich dann auf meine Bitten hin zu meinen Großeltern. Diese hatten mich die ganze Nacht in Ängsten gesucht und beweinten mich schon als tot. Aber kein Wort des Vorwurfs kam aus ihrem Munde.

„Weilst nur grad da bist, Lenei, arms Nachtei, dumms!“

Ohne einen Laut fiel ich dem Großvater in die Arme. Da sah man erst, daß ich ganz heiß und voll Fieber war. Ich bekam Lungenentzündung, von der ich noch nicht genesen war, als etliche Wochen später meine Mutter wirklich kam.

Da trat eine große Frau in die niedere Stube in einem schwarz und weiß karierten Kleide über einem ungeheuern Cul de Paris. Auf dem Kopf trug sie einen weißen Strohhut mit schwarzen Schleifen und einem hohen Strauß von Margeriten. Sie stand da, sah mich kaum an, gab mir auch keine Hand und sagte nur: „Bist auch da!“

Als sie am nächsten Tag wieder fortgefahren war, fragte mich der Großvater: „No, Dirnei, magst nachha eini zu der Münkara Muatta in d’ Stadt?“

Da umhalste ich ihn, schüttelte den Kopf und sagte schnell: „Naa, naa!“

So durfte ich denn noch beim Großvater bleiben und wie zuvor mit ihm gehen, wenn er irgendwo zu arbeiten hatte.

In diesem Herbst war es nun, daß wir einmal zum Ausweißen gingen. Und als der Großvater bei der Arbeit war, schickte er mich wieder heim. Mein Weg führte mich am Obstgarten des Herrn Pfarrers vorbei, darinnen ich schon auf dem Hinweg einen großen Apfel hatte liegen sehen. Als ich jetzt wieder vorüberkam, suchte ich nach einer Zaunlücke, schlupfte hindurch und kroch auf allen Vieren durchs Gras und holte mir den Apfel. Da ich noch einen zweiten liegen sah, aß ich diesen sogleich und nahm den schöneren mit heim, um meiner Großmutter eine Freude zu machen.

„Großmuatterl, da schaug her,“ rief ich, „i hab dir was mitbracht; an schön’n Apfel vom Herrn Pfarrer!“

Da hatte die Großmutter eine rechte Freude; denn sie meinte, der Herr Pfarrer habe ihn mir geschenkt.

„Bist halt mei bravs Lenei; vergunnst deiner Großmuatta aa ebbas.“

Unter diesen Worten schälte sie den Apfel und schabte ihn; denn sie hatte fast keinen Zahn mehr im Munde.

„Ah, der is aba guat! Hättst’n net liaba selba gessn, Dirnei?“

„A naa, Großmuatta, i hab ja scho oan g’habt.“

Ein paar Stunden später sah ich den Herrn Pfarrer daherkommen. Da rührte sich mein schlechtes Gewissen, und ich hab mich hinter die Stiege verschloffen. Inzwischen war meine Großmutter in den Hausgang oder Flöz hinausgegangen, und jetzt seh ich, wie der Herr Pfarrer richtig zu ihr hereingeht und sagt: „Liebe Handschusterin, leider hab ich sehen müssen, daß Ihr Enkelkind, das Lenei, ein paar Äpfel in meinem Garten aufhob und damit davonlief. Hört, Handschusterin: es ist mir nicht um die paar Äpfel; aber die Begierde hätte das Kind bezähmen sollen. Hätte das Lenei mich gebeten, ich hätt’ ihr mit Freuden etliche geschenkt.“

Nach diesen Worten trat der Herr Pfarrer ins Zimmer und unterhielt sich noch längere Zeit mit der Großmutter. Ich aber lief, was ich laufen konnte, nach Westerndorf zu meiner Nanni. Ich wollte auch zur Nacht nicht mehr heim, weil ich Strafe fürchtete; doch hat mich die Nanni schließlich überredet und heimgebracht. Ich hätte aber nicht so viel Angst zu haben brauchen; denn der Großvater hat mich verstanden. Und als die Großmutter anfangen wollte zu schimpfen, fiel er ihr ins Wort: „Stad bist ma! Nix sagst ma übers Kind; hat’s dir ’n vielleicht net bracht? I sags allweil, ’s Lenei hat a guats Herz!“

Da mußte die Mutter still sein. Später einmal traf mich der Herr Pfarrer und sagte: „Liebes Kind, ich hätte dir ganz gerne einen Apfel geschenkt, wenn du mich darum gebeten hättest. Aber selbst aufheben durftest du dir keinen; denn das nennt man Stehlen.“

Neben der Arbeit im Haus, Garten und Stall hat die Großmutter Mieder genäht und war weit und breit wegen ihrer Geschicklichkeit darin berühmt und gesucht.

Nun kam da zwei- oder dreimal im Jahr ein Mann aus Schwaben, der zog von Dorf zu Dorf mit seiner Kirm auf dem Rücken und gab für Haderlumpen den Leuten Nähnadeln, Steckklufen, Fingerhüte, Maßbandln und den Kindern Fingerringe. Meiner Großmutter aber gab er für die alten Flicken und die Abfälle von den Miedern neue Miederhaken und Schlingen, die er Moidala und Schloipfala nannte. Einmal waren ihm nun die Miederhaken ausgegangen, und als ihn die Großmutter fragte: „Hast heunt gar koani Miadein?“ sprach er: „Noi, gar koine Moidala geits mehr; lauta Schloipfala kannscht mehr haba.“ Damit wollte er zugleich sagen, daß es jetzt gar keine braven Mädeln mehr in den Dörfern gebe und die meisten sogenannte Schloapfen, das will sagen leichtfertige Wesen seien, die auf jedem Tanzboden herumschleifen und die jeder leicht haben kann.

Zu all dieser Arbeit zog die Großmutter, wie ich schon sagte, Kostkinder auf, welche die Gemeinde ihr wegen ihrer Gewissenhaftigkeit und Sauberkeit übergab. Es waren dies Kinder von Bauerndirnen, von ledigen Gemeindeangehörigen, die wer weiß wo weilten und ihre Kinder der Gemeinde aufbürdeten; aber auch Kinder von Gauklern, die diese einfach den Leuten vor die Tür legten.

So war es auch einmal um die Weihnachtszeit. Draußen lag tiefer Schnee, und wir saßen in der Wohnstube beisammen und jedes hatte seine Beschäftigung: der Großvater band einen Besen, die Großmutter spann und der Hausl baute mir ein Haus aus großen Holzscheiten. Da klopft es mit einem Male ans Fenster. Erschreckt schreit die Großmutter auf; der Großvater aber geht hinaus, zu sehen, wer so spät noch Einlaß begehrt. Er sperrt auf und tritt vor die Tür; im gleichen Augenblick aber hören wir ihn rufen: „Heiliges Kreuz! a Kind!“, und herein bringt er ein kleines Bündel und legt’s auf den Tisch. Die Großmutter springt auf und wickelt es aus. Da liegen zwei kleinwinzige Wesen vor ihr, und wie sie das eine nehmen will, kann sie es nicht heben, weil das andere auch mit in die Höhe geht. Als sie dann die Windeln aufmachte, sahen wir erst, daß die Kinder zusammengewachsen waren. Außen am Bündel war ein Papier befestigt; darin lagen die Taufscheine der Zwillinge und ein Brief des Inhalts, daß eine Seiltänzerin die Kinder geboren und bei der Geburt gestorben sei. Man habe von der Handschusterin gehört und bitte nun um Gottes willen um Aufnahme für die Kinder; die Gemeinde würde schon zahlen. Da sagte die Großmutter: „Um Gottes willen is aa was; auf die Mautschein geht’s aa nimmer z’samm!“

Und so behielt sie die armen Waislein. Als sie aber größer wurden und sitzen lernen sollten, fand man, daß die gewöhnlichen Stühlchen zu klein, eine Bank aber nicht für sie geeignet war; denn das Gesäß, mit dem sie seitlich zusammengewachsen waren, war nicht breiter als das eines Kindes; von den Hüften aufwärts aber nahmen sie den Raum von zweien ein. Also verfertigte ihnen der Großvater ein eigenes Stühlchen, sowie ein Bänklein mit einer runden Lehne, in das er zwei Löcher schnitt, das Bänklein polsterte und die Löcher mit Deckeln versah. Darunter stellte dann die Großmutter bei Bedarf zwei Nachthäflein. Auch alle Kleidungs- und Wäschestücke mußte sie eigens machen und das Süpplein gab sie ihnen nicht aus der gebräuchlichen Saugflasche, sondern nahm ein großes Glas und ließ einen zinnernen Deckel mit zwei Löchlein machen, durch die sie zwei lange Gummischläuchlein zog. Daran befestigte sie dann die Sauger.

Als die Mädchen zwei Jahr alt waren, erkrankte eines von ihnen an Diphtherie, während das andere seltsamerweise ganz gesund blieb.

Sieben Jahre hatten meine Großeltern diese Zwillinge bei sich, bis sie von der Gemeinde an den Besitzer einer Schaubude abgegeben wurden, der sie auf vielen Jahrmärkten herumzeigte.

Doch nicht immer waren es Kinder solch armer oder heimatloser Leute; mitunter wurde auch eins von besserem Stand uns vor die Tür gelegt.

So war eine reiche Dame in Rosenheim, die lange Zeit glücklich mit ihrem Manne, einem Doktor, gelebt hatte. Da ward sein Geist umnachtet und er vertat in kurzer Zeit all sein Gut. Zuletzt sperrte man ihn in ein Irrenhaus und wies die unglückliche Frau, die ihrer schweren Stunde entgegensah, von Haus und Hof. Dies brachte die Ärmste gleichfalls um den Verstand, und sie lief eines Nachts von Rosenheim fort und kam bis nach Ebersberg. Dort brachte sie in einem Schuppen das Kind, ein Mädchen, zur Welt. Sie hatte nichts, worein sie es wickeln konnte, und so zog sie ihren Rock aus, bettete das Würmlein hinein und band es mit ihren Strümpfen zusammen. In der Nacht machte sie sich wieder auf den Weg und lief, nun barfuß und nur halb bekleidet, bei bitterer Kälte, denn es war im Januar, fort bis in unser Dorf. Vor dem Haus des Bürgermeisters brach sie tot zusammen, und man brachte das Kindlein meiner Großmutter, die das erstarrte, halbtote Wesen wieder zum Leben brachte und aufzog.

Auch das Kind eines katholischen Priesters hatten wir einmal in der Kost. Es war von einem schönen Mädchen, einer Müllerstochter, die von dem Unhold betört und in großes Elend versetzt worden war. Sie ertränkte sich, während der Geistliche seine Pfarrei verlassen und mehrere Jahre lang einen Strafposten bekleiden mußte. Zum Glück starb das Büblein bald; es hatte den ganzen Kopf voll großer Blutgeschwüre gehabt.

Von den zwölf Kostkindern, die die Großmutter um diese Zeit aufzog, wuchsen zusammen mit mir die Urschl, der Balthasar, genannt Hausei, der Bapistei und die Zwillinge auf. Sie schliefen alle mit mir bei den Großeltern in der gemeinsamen großen Schlafkammer, die vier Fenster hatte. Mein Bett war auf der Seite, wo der Großvater schlief, während bei der Großmutter drüben das der Zwillinge stand. Nahe an ihrem Bett hatte die Großmutter die alte, buntbemalte Bauernwiege stehen. Daran war ein Ring und an diesem hing ein langes Band, das die Großmutter beim Schlafengehen um die Hand wickelte. An dem Bande zog sie nun leise, wenn das Kind unruhig war, und oft hörte ich, wenn ich nicht schlafen konnte, die ganze Nacht hindurch das leichte Knarren der Dielen. In die Wiege kam das Kleinste, außer es war ein anderes krank, das dann hineingebettet wurde. Darum lag die meiste Zeit der Bapistei darin; denn er war ein recht schwächliches, streitiges Kind. Mitunter nahm der Großvater der Großmutter das Bandl aus der Hand: „Geh, Muatta, laß mi hutschen; tua jetz a bißl schlafa!“

Aber er konnte es nicht so leise, wie sie, und da schrie denn der Bapistei so lang, bis die Großmutter wieder das Bandl nahm.

Das Kostgeld für jedes Kind war von der Gemeinde auf monatlich vier bis fünf Mark festgesetzt; trotzdem sorgte die alte Frau für sie wie für eigene. Sie war auch in der Krankenpflege sehr erfahren und hatte viele Hausmittel und wußte Krankheiten zu beschwören, was beim Landvolk unter dem Namen Abbeten bekannt ist.

Als unser Bapistei durch das viele Schreien einen Nabelbruch bekommen hatte, heilte ihn die Großmutter auf folgende Weise: Sie suchte beim wachsenden Mond drei kleine Kieselsteine unter der Dachrinne und drückte jeden Abend beim Mondaufgang einen davon dem Kinde auf den Nabel, drehte ihn mit dem Daumen und sprach dazu:

„Bruch, ich drucke dich zu,

Geh du mit der Sonne zur Ruh;

Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit,

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen.“

Dann band sie das Steinlein mit einer Binde fest und gab dem Kinde einen heilkräftigen Tee. Nach einigen Tagen wurde der Bapistei wirklich gesund.

Eine meiner schönsten Erinnerungen aus dieser Zeit sind die Sonntagnachmittage im Winter. Da hat die Großmutter mir vorgelesen aus uralten, heiligen Büchern und mir erzählt von gottseligen Leuten und deren wunderbarem Tod; hat mir Beispiele von der Hilfe unserer lieben Frau von Frauenbründl und Birkenstein erzählt und wundersame Gebete mir vorgebetet und mich gelehrt. Wenn sie dann beim Lesen eingenickt war und ich zu ihren Füßen auf dem Schemel saß, geschah es manchmal, daß ihr die alte Hornbrille von der Nase und in den Schoß fiel. Beim Erwachen wollte sie weiterlesen; da sie aber ohne Glas nichts sehen konnte, rückte sie das Buch immer näher an die Augen und griff endlich nach der Stelle, wo die Brille gesessen, um sie zurechtzurücken. Da merkte sie erst, daß sie ihr entfallen war.

Oft geschah es auch, daß sie in der Eile die Brille auf die Stirn schob, wenn sie mit jemandem sprach. Wollte sie dann später etwas lesen, so suchte sie überall: „Habt’s es denn nindascht g’sehgn? Woaß neam’d, wo i s’ hing’legt hab? I find s’ scho wieda net!“

„Ja, was suachst denn, Muatta; was findst denn scho wieda net?“ fragte dann der Großvater.

„Ah, was wer i denn suacha! ’s Augnglas!“

„Jessas, Jessas! Hast es ja a so drobn am Hirn; bist da du dumm, Muatta!“

Mit diesen Worten schob er ihr die Brille wieder auf die Nase.

Ich hatte sie längst bemerkt; doch freute es mich, die Großmutter so ratlos zu sehen, und ich lief überall mit ihr herum und suchte. Kopfschüttelnd ging dann der Großvater in den Stall oder gegen Abend wohl auch auf den Heuboden, um für die Kühe das Gsott zu schneiden.

Ich aber schlich mich in die Künikammer oder Königskammer, die zu betreten mir verboten war. Es war das die beste Stube des Hauses, angefüllt mit den Schätzen, die von den Ureltern auf uns gekommen waren; auch die Möbel darin stammten aus alter Zeit. Da standen zwei Truhen, an denen gar seltsame Figuren und Zierate zu sehen waren und darinnen der Brautschatz der Urgroßmutter lag. Es war dies ein bald bläulich, bald wie Silber schimmerndes Seidenkleid, ein köstliches, bunt und goldgesticktes Mieder, dazu eine goldbrokatene Schürze, in die leuchtend rote Röslein gewirkt und die mit alten Blonden besetzt war. Dabei lag eine hohe Pelzhaube, wie sie vor hundert Jahren die Bräute als Kopfputz trugen, und zwei Riegelhauben, eine goldene und eine schwarze, mit Perlen besetzt. Daneben stand ein Kästlein aus schwarzem Holz und mit Perlmutter eingelegt; darin lag das schwere, silberne Geschnür mit uralten Talern und einer kostbaren silbernen, neunreihigen Halskette und Ohrgehänge und silberne Nadeln. Ganz versteckt in der untersten Ecke aber lag, sorglich in ein zerschlissenes, seidenes Tuch gewickelt, das Brautkrönlein der Ururgroßmutter. Es war das ein zierliches Kränzlein, dessen Blumen und Blätter aus Rauschgold und Edelsteinen gearbeitet und mit Perlen und Filigran eingefaßt waren. Nach Art der Riegelhauben aber war es steif gefüttert, und über der verblichenen Seide lag noch ein matter, rötlicher Schimmer.

Die andere Truhe war voll des feinsten, selbstgesponnenen Flachses und schöner, gestrickter Spitzen. In einem großen, buntbemalten Schrank lag handgewirktes Bauernleinen, darunter ein großes Tischtuch, in welches das heilige Abendmahl gewebt war.

Zwischen den beiden Fenstern, deren dichte Vorhänge keinen Sonnenstrahl hereinließen, stand das Kostbarste, ein Glaskasten, dessen Rückwand mit Spiegeln belegt war. Darin spiegelten sich zierliche Meißener Figuren, Teller und Tassen und bunte gläserne Krüge. Im Vordergrund auf einem Ehrenplatz aber stand die alte Hausapotheke. Sie war voller Geheimnisse und sah aus wie ein Bild, das die heilige Familie vor dem Hause zu Nazareth darstellte; nur waren die Figuren rund und in Silber getrieben. Rechts im Vordergrunde stand der heilige Joseph mit einer Axt und zimmerte an einem Balken, während ihm gegenüber Maria mit einer Spindel saß und spann. In der Mitte aber war das Jesuskindlein und hielt in der einen Hand eine Axt und in der andern ein Kreuzlein, das es selbst gezimmert hatte. Die Figuren konnte man abschrauben und fand dann im Innern ein Fläschlein mit Medikamenten. Schraubte man das Jesuskind ab, so lag darinnen ein kleiner Schlüssel; der sperrte das Schlüsselloch im Hintergrunde und öffnete das Haus von Nazareth. Da fanden sich im Innern Lanzetten, Scheren und silberne Büchslein für Pflaster und Salben. Umgeben war das Ganze von einem alten, silbernen Rahmen.

In der Kommode lag mein Taufzeug und das der Kinder, die die Großmutter in der Kost gehabt hatte, dazu eine Menge seidener Tücher für Hals und Mieder. Eine andere Schublade war voll von Büchern, deren Druck so alt war, daß ich kaum ein Wort zu lesen vermochte. Auf dem alten Sesselofen stand eine große Schüssel, darin die Eier unserer Hennen für den Verkauf gesammelt wurden; ferner ein großer Blechbehälter mit Schmalz, etliche Krüge voll Honig und in der Bratröhre das feine Eingekochte. Unter der Bettstatt, deren Bett kaum zu ersteigen war vor Höhe und Fülle des Flaums, stand eine große Holzschachtel, in der die Kränze und der Grabschmuck aufbewahrt wurden. An den Wänden hingen alte Bilder mit sonderbaren Gestalten und Gesichtern und ein großes Kruzifix, dessen Christusfigur so erschreckend zerfleischt aussah, daß ich sie immer mit geheimem Grauen betrachtete.

Gewöhnlich aber blickte ich nicht lange nach den Wänden, sondern hockte mich vor eine Truhe oder Lade, wühlte darin herum, zog alles heraus und besah dies oder probierte das. Dazwischen schaute ich des öftern in die Bratröhre, wo das Eingekochte stand. Diese Gläser voll Kirschen, Zwetschgen oder Himbeeren waren alle mit einem pergamentenen Deckel verschlossen — und meine Großmutter verwunderte sich häufig darüber, daß das Pergament schon wieder geplatzt war: „I woaß net, Vata, was dös is; bei dö Zweschbn is’s Papier scho wieda hi’!“

Der Großvater aber meinte mit einem Seitenblick auf mich: „Dö wer’n halt austriebn ham, Muatta; dö müaßn bald gessn wer’n.“