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Mein ursprünglicher Anlass für diese „Erinnerungen“ war, die vielen alten Bilder, die in Kartons und Alben aufbewahrt wurden, zu scannen und mit erklärenden Worten zusammenzufassen. Dazu kam eine große Menge an neueren Kleinbild- und 6x6-Negativen/Diapositiven, ferner Briefe, Dokumente, Tagebuchnotizen, Zeitungsausschnitte und anderes für mich Erinnernswertes. Doch welchen Wert würden diese Dinge haben, wenn ich diese Welt verlasse, und meine Frau und mein Sohn und Enkel dann mit diesem ungeordneten, vielfältigen „Kram“ belastet werden? Also beschloss ich, den gesamten Nachlass zu scannen und zu allem etwas zu schreiben. So entstanden diese „Erinnerungen“, die enden, als mein Sohn 11 Jahre als wurde, weil er von diesem Zeitpunkt an seine eigenen Erinnerungen hat.
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Seitenzahl: 330
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Mein ursprünglicher Anlass für diese „Erinnerungen“ war, die vielen, zum Teil recht alten Bilder, die in Kartons und verschiedenen Arten von Alben aufbewahrt wurden, mit erklärenden Worten zusammenzufassen. Es gab neben den Bilder-Kartons Alben meiner Tante, meiner Mutter, manche waren chronologisch ungeordnet; es gab eigene Sylt-Alben, ein paar hundert Kleinbild- und 6x6-Negative und -Diapositive. Dazu kam eine große Menge an Briefen, Dokumente, Tagebuchnotizen, Zeitungsausschnitte und anderes für mich Erinnernswertes an Papieren. Doch welchen Wert würden diese Dinge haben, wenn ich diese Welt verlasse, und meine Frau und mein Sohn dann mit diesem Nachlass belastet werden?
Bereits beim Ordnen der alten Bilder und Unterlagen merkte ich, dass ein bloßes chronologisches Zusammenfassen und Erklären der Bilder und der anderen Erinnerungsstücke zu dürftig war. War es nicht auch interessant zu erfahren, was sich hinter den Bildern, etwa denen der prächtigen Hochzeit der Großeltern und der Fabrik in Schwedt verbarg? War es nicht für den einzigen Nachkommen der Familie Hahn, meinen Sohn Lars, wichtig zu wissen, woher seine Eltern stammen, wie sich seine Eltern kennen gelernt haben, wie seine Kindheit verlaufen ist, warum sich seine Eltern getrennt haben, wie unsere Uschi, neue Ehefrau und Mutter zu uns fand?
Hinzu kam für mich, nun nach der Pensionierung endlich die alten Dinge, die zum Teil jahrzehntelang bei jedem Umzug unbesehen mitgeschleppt wurden, noch einmal zu sichten, für diese „Erinnerungen“ zu verwerten und damit mit dem jugendlichen Peter, der nun – sei ich ehrlich – ein alter Mann ist, endlich abzuschließen, und dann alles wegzuwerfen.
Diese selbst auferlegte Pflicht hat sich zwei Jahre hingezogen, vor allem wegen rein technischer Arbeiten wie Scannen, Bildkorrekturen und Rechnerprobleme. Als ich Ende August 2000 die dritte CD-ROM gefüllt hatte, stand ich vor der Frage: Wo soll ich enden? Bis in die Gegenwart konnte ich nicht gehen, denn ab September 1979 wurden die Probleme, die durch Uschis Trennung von ihrer Familie entstanden, ungemein kompliziert und die Menge an Bildern immer größer. Somit entschied ich, diese „Erinnerungen“ mit Uschis Einzug bei uns im Märkischen Viertel enden zu lassen. Ab hier hat auch mein Sohn recht gute Erinnerungen, so dass es nun genug sein mochte.
Die in diesen „Erinnerungen“ abgebildeten oder genannten Personen und die um sie rankenden Ereignisse und Geschichten sind nicht frei erfunden, sondern nach bestmöglicher Erinnerung – natürlich unvermeidlich subjektiv gefärbt – wiedergegeben.
Zur Größe der hier abgebildeten Photos: Die meisten Bilder sind gescannte Photos unterschiedlicher Qualität, was Farben und vor allem Schärfe betrifft. Damit ist die Größe der Abbildung auf natürliche Weise begrenzt, selbst wenn ein Bild von seiner Darstellung her eine große Wiedergabe verdient hätte. Lediglich bei gescannten Negativen, der überwiegende Teil davon Kleinbildmaterial, der Rest 6x6-Negative oder -Diapositive war eine hinreichend große Darstellung möglich, wenn es denn subjektiv gerechtfertigt war. Somit ist hier vielfach die Größe eines Bildes durch seine vorliegende Qualität und nicht durch seine Bedeutung begrenzt.
Als die Erinnerungen die dritte CD gefüllt hatten und die ursprünglich vorgenommene Arbeit beendet war, hatte ich einen Traum: Ich wollte den Erinnerungen dadurch mehr Leben einhauchen, dass ich Tondokumente, die ich seit 1957 auf Tonbändern mehr oder minder zufällig gesammelt hatte, den Bildern und Texten zufüge. Ich dachte da vor allem an die Stimmen meiner Eltern, meiner Freunde und Freundinnen, und an mit dem Mikrophon festgehaltenen Ereignisse, wie Feiern, Musizieren, Aufnahmen von längst vergessenen Radiosendungen. Dazu mussten knapp 60 alte Tonbänder auf Spulen von 7,5cm bis 18cm Durchmesser hervorgekramt, durchgehört, das Wesentliche daraus in so genannte WAV-Dateien umgewandelt und zunächst im Rechner gespeichert werden. Dabei stellte sich heraus, dass die Aufnahmen, die ich mit meinem alten Grundig-Tonbandgegerät TK8-3D gemacht hatte, nun um etwa 3% zu schnell abliefen. Was vor allem bei den Stimmen nicht hingenommen werden konnte, denn da ist das menschliche Ohr sehr empfindlich: die Stimme klingt verfälscht. Nun kann man mit einem Rechner die Tonhöhe ohne weiteres korrigieren. Gesagt – getan, doch die Fülle an anhörenswertem Tonmaterial war enorm groß, sie betrug etwa 10 Hörstunden. Schweren Herzens wählte ich nur das aller Interessanteste aus und beließ es zum Teil bei Hörproben. Dennoch wurde die gesamte bisherige Datenmenge von etwa 1.8 Giga-Byte verdoppelt, so dass es am Ende 6 CD mit 3,75 Giga-Byte entstanden, mit mehr als 6 Stunden Tondokumenten.
Nun kann man – sofern man die Erinnerungen als CD vorliegen hat – die auf vielen Seiten am Rande befindlichen Tonfelder, die etwa wie dieses hier aussehen, mit der Maus anklicken und man hört die gespeicherten Töne über die am Rechner angeschlossenen Lautsprecher.
Stimme meines Vaters
Berlin-Steglitz, am 9. Dezember 2001
Peter von Sichart erkrankt auf Sylt
Weiterhin Rosi
„Uns Uwe“ ist wieder bei uns
Bernhard Ringer
Post von Urlauberinnen
Uwe Lödige geht auf Wanderschaft
Mit Rosi in der Tankstelle als Taxifahrer
Ende des Sylt-Sommers
Wieder in Berlin
Studentenwohnheim Hardenbergstraße
Studienwechsel zur Mathematik
Briefe, Briefe
Und Sybille
Jahresende 1959 in Hamburg, Hans Haider
Mit Hans bei Plüschi in Lübeck
Wieder in Berlin
Feste
Zu Besuch in Goslar bei Barbara
Wieder Sybille
Familie Hahn
Brief von Bärbel
Neues von Sybille
Zweite Fahrt nach Goslar
Aus Goslar zurück in Berlin
Feiern bei Oma Hedda
Am Groß-Glienicker See
Wieder als Bademeister auf Sylt
Brieflicher Kontakt mit Berlin
Ein Bruch, jedoch kein Beinbruch
Plüschi ist wieder da
Kurz in Berlin
Zurück auf Sylt
Alte und neue Freunde
Barbara wieder auf Sylt
Sybille lässt wieder von sich hören
Sybille will nach Sylt kommen
Fröhliche Tage
Karin Brandt
Und wieder Sybille
Karin Brandts Einladung
Das Wenningstedter Leben geht weiter
In Düsseldorf bei Brandts
Wieder Sybille
Blinddarmoperation
Barbara
Winter 60/61
Frühjahr 1961
1. Mai 1961
Ein Auto für Sybille
August 1961, Mauerbau
Sommer 1961
Hans Haider wird Rettungsschwimmer
Heimfahrt nach Berlin
Wieder Aufregung an der Mauer
Fernsehgesellschaft der Berliner Tageszeitungen
Die wilde Eva
Ampex im LKW
Kurzfilme
Was macht Sybille?
Was macht mein Studium?
Eva-Maria Grohmann
Eine Katastrophe
Heiraten?
Ich werde 27
Familienbesuch
Versuch einer Reise zu vier Meeren
Peter Koop heiratet
Sommer 1962
Brief aus Berlin
Maren Huper
Diesmal ist Regina die Königin meines Herzens
Maren - Regina
Etwas Kultur
Ansonsten?
Der Flurwagen
Uwe Rehse
Barbara antwortet
Wieder viele Briefe
Familie Hahn
Besuch
Wohnen bei Sybille in der Nestorstraße
Zur Untermiete in der Olympischen Straße 10
Vespa
Kennedy in Berlin
Wieder Rettungsschwimmer
Rippenfellentzündung?
Astrid
Spaß mit der Vespa auf Sylt
Saison 1963
Wind und Strand
Wasserski am Ellenbogen
Warum springt Jens immer wieder ins Wasser?
Uwe, Joe und ich besuchen die Insel Rømø
Leben auf dem Ellenbogen 1963
Astrid verlässt Sylt
Abschied
Hamburg – Astrid – mein Vater
Uhlandstraße 188
Ölofen und Kachelofen
Astrid
Arbeiten beim Kaufhof
Attentat auf Kennedy
Tagung der Coca-Cola -Verkaufsfahrer
Meine Mutter verunglückt
Die Arbeit beim Kaufhof bringt Freude
Studium?
Sylt?
Arbeiten beim Film, Jeans-Mode
Eine Dame von den Fidji-Inseln
Peter von Sichart verlebte 1959 fast den gesamten Sommer auf Sylt, weil meine Mutter und er nicht mehr gut miteinander auskommen. Er wohnte im Haus Karl Otto neben Lödiges, das damals am Rande Wenningstedts lag, in Richtung Westerland gesehen. Peter zog es vor, am Kampener-FKK-Strand zu baden, weil er dort Freunde gefunden hatte. Peter berichtete von seinem Schnorcheln, erzählte auch die Geschichte von Wolfgang Neuß, der mit dem schnorchelnden, einarmig kraulenden Peter im Wasser zusammenstieß, sich offenbar erschrecken ließ und etwas albern rief: „Huch, ein Seeungeheuer!“
Peter war unnatürlich braun, schon fast schwarz gebrannt, die Haut an seinen Schultern sah ledern aus. Er traf in Kampen die eigenartigsten Leute und ernährte sich nicht richtig. Er trank gerne Wein, was meine Mutter aber immer in Grenzen halten konnte. Hier ohne Kontrolle trank Peter mehr als ihm gut tat und aß viel zu wenig.
Ende Juli machte Peter einen geistig verwirrten Eindruck. Meine Freunde und ich, die Peter inzwischen recht gut kannten, hatten Schwierigkeiten, ihn zu verstehen. Er schien verfolgt zu werden. Peter erklärte uns, dass er sich durch irgendein törichtes Verhalten und ein paar dumme Worte die Schwulen am Kampener FKK-Strand zum Feind gemacht habe, und die ihn nun daraufhin verfolgen würden. Das schien uns durchaus plausibel. Peter hielt sich darum zu seinem Schutz nun öfter in der Nähe unseres Schwimmerwagens auf. Er zeigte uns Leute, die ihm etwas antun wollten. Und wenn sie nähr kamen, sprang er furchtsam in unseren Wagen. So von uns beobachtet blickten die Leute auch zu uns, und wir glaubten, sie suchten nach Peter. Wenn wir nicht um ihn herum waren, fasste sich Peter auch den Mut – vielleicht den der Verzweiflung – und sprach die vermeintlichen Bösewichte an. In der Folge beschwerten sich Kurgäste in der Kurverwaltung, sie seien von einem Spinner belästigt worden. Wir wussten nicht, was wir davon halten sollten. Wenn wir abends in der Kurhausstrandhalle feierten, miteinander klönten und mit unseren Mädchen tanzten, dann kam Peter gerne dazu, weil er dann wegen seiner Verfolger, die er auch in der Strandhalle zu entdecken glaubte, gerne von uns nach Hause gebracht werden wollte. So marschierten wir dann nach der Veranstaltung zu viert oder noch mit noch mehreren von uns mit Peter in der Mitte, heute würde man sagen: wie Bodyguards, zu seiner Bleibe, Haus Karl-Otto.
Eines Tages weist Peter am Strand furchtsam auf einen Mann, der humpelnd sich auf einen knorrigen Stock stützend aus Richtung Kampen kommt. „Wenn dieser Mann seinen Stock vor dem Schwimmerwagen in den Sand stellt,“ erklärt uns Peter, „dann ist das das Zeichen, dass die Entscheidung über mein Schicksal noch offen ist.“ Wir warten gespannt, was der Mann tun wird. Er kommt auf den Wagen zu – Peter hatte sich wieder in unseren Wagen geflüchtet – und stellt den Stock genau vor unseren Wagen in den Sand. „Aha!“ denken wir, „die Entscheidung ist also noch offen.“ Nur welche Entscheidung? Etwas später ist der Stock dann weg. Als der Mann an einem anderen Tag wieder mit seinen Stock kommt und ihn auch wieder und vor uns, und damit auch vor Peter abstellt, da beobachten wir den Mann genauer. Er geht humpelnd zum Wasser und badet dort unter unserer Aufsicht. Wenig später kommt der Mann aus dem Wasser heraus, nimmt sich seinen Stock und geht weg. Als wir die Sache dann in Peters Abwesenheit nochmals durchsprechen, haben wir Zweifel, ob dieser Stock wirklich ein Signal sein sollte. Denn was sollte ein Behinderter anderes tun, als zur Sicherheit bei uns baden, und wo lässt man dann seinen Stock stehen, damit er nicht abhanden kommt? Man stellt ihn in den Sand, am besten dort, wo die Leute ohnehin aufpassen, also vor unseren Wagen. Und als dann ein Paar Tage später Peter uns erklärt, die gelbe Badekappen auf den Köpfen der Frauen in unserem bewachten Abschnitt seien auch ein Zeichen für irgendetwas, was man ihm mitteilen wolle, da wird uns langsam endlich klar, dass Peter verwirrt ist und Unsinn redet, denn zu jener Zeit trugen viele weibliche Wesen im Wasser Badekappen und unter 20 oder 30 weiblichen Badekappen sind immer auch gelbe. Das konnte also nicht wahr sein.
Hans Haider und Peter von Sichart
Jens Jacobsen, selbst Rettungsschwimmer an der Nordseeklinik vor Westerland, und Uwe erzählen uns, dass sie eines späten Abends, als sie in der Heide hinter Uwes Haus mit Hilfe von Autoscheinwerfern Hasen jagen wollten, plötzlich von Peter nahezu überfallen wurden. Peter, dessen Unterkunft, Haus Karl Otto, neben Uwes Elternhaus lag, hatte die Scheinwerfer in sein Fenster leuchten sehen und geglaubt, seine Verfolger kämen nun. Er hatte sich eine seiner großen schwarzen Schwimmflossen gegriffen, war hinaus auf die Heide gerannt und wollte Jens und Uwe damit erschlagen. Für die beiden war das natürlich eine äußerst komische Situation, denn die Schwimmflossen waren bestimmt kein taugliches Mittel, um jemanden zu bedrohen oder gar zu verletzen. Sie lachten nur, als sie ihn sahen.
Peter litt sichtlich unter seinen Wahnvorstellungen. Er tat mir sehr leid. Alle meine Freunde bemühten sich um Peter. Aber was konnten wir anderes tun, als ihn davon zu überzeugen, dass es keine Verfolger gibt? Einmal bat er mich weinend, ich möchte doch die Filme herausgeben, die ich am Strand verknipst hatte, denn die Verfolger seien auf den Bildern. Ein anderes Mal wollte er „den Leuten“ gelbe Nelken kaufen, damit er sie versöhne.
Am Ende fährt Peter Hals über Kopf, ohne mir oder meinen Freunden ein Wort zu sagen, und ohne dass wir es bemerken, mit dem Zug nach Hamburg, kommt ohne Jackett und ohne Gepäck bei meiner Mutter an und redete völlig verwirrtes Zeug. Meine Mutter war äußerst verzweifelt. Aber davon erfahre ich erst später, als mir meine Mutter einen Hilferuf-Brief schreibt, und ich sie am gleichen Abend anrufe.
Lieber Peter
ich weiß nicht mehr ein noch aus! Peter kam vollkommen zerstört von Wenningstedt hier an. Er redete so furchtbar und so grauenhaft und benahm sich so schlimm, dass ich in der Nacht einen Arzt kommen lassen musste. – Er hat Verfolgungswahn und der Arzt ordnete Langehorn-Nervenklinik an. Jetzt will er nicht gehen. Er raucht nur und isst kaum und schläft so gut wie nicht.
Was war oben mit ihm los?
Bitte Peter schreibe sofort, oder rufe mich an. Morgens bis 800 und abends nach 800. Am besten aber schreibst Du per Eilboten Frau Renate Peters, Hbg. 13, Brahmsallee 19, ich hole mir dann den Brief.
Viele Grüße auch an Papi.
Deine traurige
verzweifelte
Mutti
P.S.
Ich schließe mich immer im Schlafzimmer ein. Ich habe Angst.
Wenn Papi hier wäre, er wüsste einen Rat.
Ich bin sehr besorgt um meine Mutter. Hier auf Sylt war Peters zwar verwirrt und er litt offensichtlich unter Verfolgungswahn. Jedoch hatten wir seinen Zustand nicht als bedrohlich angesehen, eher als einen Spleen, der sich schon mit der Zeit geben würde, wenn er wieder mehr Ruhe habe, weswegen wir alle auch immer wieder auf ihn einredeten, sich nur noch bei uns am Strand aufzuhalten und sich nicht mehr in Kampen bei den Leuten, mit denen er sich aus welchen Gründen auch immer angelegt hatte, blicken zu lassen. Ich hatte somit nicht geglaubt, dass Peters seelischer Zustand so schlecht ist. Ich rufe sie noch am selben Abend an und erzähle ihr, was wir mit Peter erlebt haben. Sie ist auch am Telephon noch sehr verzweifelt. Aber wie kann ich ihr helfen? Ich verspreche Ihr, meinem Vater alles zu erzählen und ihn zu bitten, zu ihr nach Hamburg zu fahren. Das tue ich auch noch am selben Abend und mein Vater erklärt sich von selbst bereit, am nächsten Morgen zu den beiden zu fahren, um zu helfen. Es war für ihn eine Selbstverständlichkeit, seiner ehemaligen Frau und meiner Mutter, die er immer noch liebte, beizustehen.
Mein Vater kommt nach ein paar Tagen aus Hamburg zurück und berichtet von Mutti und Peter. Es scheint nun festzustehen, dass Peter unter Schizophrenie leidet und der Verfolgungswahn eins der Symptome dieser Krankheit bei ihm ist. Obgleich die Ärzte meiner Mutter raten, Peter in eine Nervenheilanstalt einweisen zu lassen, zögert sie noch, weil sie befürchtet, dass er dort nicht mehr herauskomme. Sie schöpft stets wieder Mut, wenn Peter sich in seiner normalen Phase befindet, in der er sogar über den anderen, den verfolgten Peter, reden kann. Aber am Ende wird sein Zustand nicht besser, und sie ist nervlich so am Ende, dass sie Peter schließlich doch in eine Heilanstalt bringen lässt. Peter erhält einen Vormund, der meiner Mutter das Geld zuteilt, und mit dem sie sich in der Folgezeit ständig streitet. Nach etwa einem halben Jahr kehrt Peter nach Hause zurück. Man hat in zwar nicht heilen können, aber die akute Schizophrenie, ist zurückgedrängt. Man glaubt, er könne wieder bei seiner Ehefrau leben. Entmündigt bleibt er noch einige Jahre.
Für meine Mutter war die psychische Krankheit Peters ein nahezu unerträglicher Zustand: Der trotz allem immer noch geliebte Partner ist unzurechnungsfähig, kein Gesprächspartner mehr. Sie veränderte sich zusehends. Sie wurde reizbar, hatte Probleme mit ihrem Magen, und sie stritt sich anscheinend grundlos auch mit mir.
Eine der Folgen der Krankheit und ihrer veränderten Beziehung zueinander war, dass Peter und Mutti nun überhaupt keinen gemeinsamen Urlaub mehr miteinander verbringen. Peter fuhr in den nächsten Jahren öfter nach Italien. Er hat in Resina, bei Neapel dreimal gezeltet. Peter wollte gerne im warmen Meer schwimmen und interessierte sich für alte italienische Geschichte, die er dort in und um Neapel gut studieren konnte. Er verbesserte seine Italienischkenntnisse, die er auf den Reisen mit meiner Mutter Anfang der fünfziger Jahre in Finale Ligure hatte erwerben können. Später hat er sich sehr intensiv mit der Sprache der Etrusker beschäftigt, die bis heute nicht völlig entschlüsselt ist. Er war sich später sogar sicher, einige Wörter übersetzt zu haben.
Meine Mutter begann, Urlaub mit wechselnden Freunden in Jugoslawien und anderswo zu machen. Sie kaufte sich dazu einen VW-Käfer, mit dem sie beinahe in ein Erdbeben bei Skopie geriet und später bei einem Totalschaden in einem holländischen Krankenhaus um ihr Leben rang.
Der Selbstmord meiner Mutter, vielleicht durch den Streit mit mir unmittelbar ausgelöst, war letztlich die Folge des langen Zusammenlebens mit einem seelisch kranken Mann.
Ende September sind Rosi und ich immer noch – äußerst harmlos, nicht einmal geküsst haben wir uns bisher – befreundet. Dennoch ist es eine innige Freundschaft, die man kaum beschreiben kann. Zusammen mit ihrer Freundin Heike Baggendorf und Bernhard fahren wir nach Westerland ins Kino. Wir sehen uns in der Kurbel in der Strandstraße „Manche mögen’s heiß“ an. Ein bekanntlich sehr lustiger Film, so dass wir alle viel lachen müssen. Heike jedoch lacht so laut und so ulkig, dass wir und viele Kinobesucher nun unsererseits wieder über Heike lachen müssen. Uns schmerzt der Bauch, als wir das Kino verlassen. Wir müssen zu Fuß nach Hause, da Rosi ihren Wagen ihrem Bruder Klaus geliehen hat. Nach dem längeren Fußweg in Wenningstedt angekommen sind wir durstig geworden, und Bernhard und ich erinnern uns, dass im Keller der Kurverwaltung noch immer ein Rest vom Freibier von der 100- Jahr-Feier lagert. Wir schleichen uns in den weitläufigen Keller, verkriechen uns in die hinterste Ecke und trinken gewaltige Mengen an Bier und sind guter Dinge. Rosi – ordentlich und etwas spießig, wie sie ist – hört nicht auf, sich und uns Vorwürfe zu machen, dass sie mit uns in den Keller eingedrungen sei, weil das doch sicher verboten sei und sich nicht schicke. Wir haben Mühe, sie zu beruhigen. Heike kennt solche Skrupel nicht, sie trinkt ganz locker ein Bier nach dem anderen und lachte fortwährend.
Als ich Rosi dann allein nach Hause bringe, erzählt sie mir – durch den reichlichen Alkoholgenuss nur etwas lockerer geworden – nach meinem bohrenden Fragen, dass sie nicht wie ein Apfel erst angebissen und dann weggeworfen werden möchte. Das sei ihr dieses Jahr auf ihrem Geburtstag widerfahren. Dadurch sei sie so verletzt worden, dass sie jetzt lieber übervorsichtig sei. Ich verspreche ihr daraufhin, immer ehrlich zu ihr zu sein, und ihr rechtzeitig zu sagen, wenn ich nicht mehr genug für sie empfinde.
Mit Rosi habe ich ein gutes Gefühl. Sie ist zwar sehr spröde, was körperliche Berührungen betrifft, aber sie ist ein zuverlässiger, treuer Mensch, mit dem man – wie man so sagt – Pferde stehlen kann. Und in Wenningstedt gab es zu dieser Zeit noch Pferde. Mir fällt dabei Plüschi ein: wie stehe ich zu ihr, was mache ich nur mit ihr?
Die Saison neigt sich langsam dem Ende zu. Die Zahl der Gäste am Strand ist deutlich kleiner geworden. Das schöne Wetter, das so viele Wochen hindurch anhielt, ist vorbei. Wir müssen wieder richtig arbeiten. Bis heute ist es Dank der relativ ruhigen See noch zu keinem Einsatz gekommen, ich möchte auch nicht, dass Badegäste und damit wir noch in diesem Sommer in Gefahr kommen.
Auf der morgendlichen Promenade vor der Kurhaus-Strandhalle warten die Strandkörbe auf ihren Abtransport, rechts das Haus des Friseurs Thorwald Wüstefeld
Meine Leibschmerzen, die mich schon seit Wochen mal mehr, mal weniger plagen, könnten vom Blinddarm herrühren sagt Dr. Ahlborn, den ich deswegen befrage. Ich muss befürchten, meinen Sommerjob abbrechen zu müssen. Am Strand versuche ich, mich ruhig zu verhalten. Aber da ich zugleich noch den Strandkorbwärter Bruno vertreten muss, komme ich nicht umhin, auch Körbe nach oben tragen zu müssen, was besonders beschwerlich ist. Die morgendlichen Überstunden mit Strandkorbwaschen, die ich mir wie im Vorjahr auch noch aufgehalst hatte, lasse ich allerdings ausfallen.
Uwe Rehse schreibt aus Berlin, er unterschreibt mit Guilhermo, seinem 2. Namen.
Da Werner Kroll in der Wenningstedter Baufirma Holst einen festen Arbeitsplatz hat, und nur für begrenzte Zeit an die Kurverwaltung „ausgeliehen“ worden war, verlässt uns Werner mitten in der Saison. Und da nun einmal keiner Uwe auf längere Zeit böse sein kann, und wir uns alle für Uwes Wiedereinsetzung als Rettungsschwimmer stark machen, kehrt nun Uwe zu uns, zum Schwimmerwagen 1 an den Hauptstrand zurück. Bernhard und Uwe kennen sich bereits, da Uwe sich in der Zwischenzeit öfter bei uns hat sehen lassen. Sie kommen gut miteinander aus. Uns sogleich geht es mit dem Spaß wieder los. Bina Neß, die auch wieder mit ihren Brüdern in Wenningstedt Urlaub macht, wird auch Ulk gerettet und in eine Plane aus Strandkorbstoff eingepackt.
Werner Kroll, Uwe und befreundeter Gast
Jetzt muss ich als der ältere allerdings öfter die Rolle einnehmen, die im vorigen Jahr Hans Jamke bei uns gespielt hat. Ich muss die Freunde ab und zu zur Ordnung ermahnen. Beide trinken gerne, und zwar mehr als verantwortlich ist, und unter den vielen weiblichen Ablenkungen leidet gelegentlich ihre Aufmerksamkeit für die Badenden.
Bina Neß von mir, Bernhard und Uwe getragen
Bernhard, Onkel Balli, war zwar keine Konkurrenz für mich in Bezug auf Frauen, aber dennoch sehr erfolgreich bei seinen Eroberungen. Es waren durchweg Frauen, die mich nicht sonderlich interessierten. Aber die Art und Weise, wie Bernhard sie einfing, war schon beeindruckend. Ein Beispiel ist mir besonders im Gedächtnis hängen geblieben: Es herrscht kühles Wetter, leichter Regen fällt, kaum ein Gast am Strand. Bernhard und ich sitzen im Wagen. Es kommen zwei weibliche Wesen in Regenkleidung am Wasser entlang gelaufen. Bernhard drückt ein paar Mal kurz auf die Hupe, und als die Freuen zu uns herblicken, zeigt er auf mich. Das machte er eigentlich ziemlich oft, mir war es immer recht peinlich. Die Frauen kommen zum Wagen, weil wie wissen wollen, was ich von ihnen wolle. Bernhard öffnet das Fenster an der Leeseite und spricht die beiden Frauen an. Sie sind Mitte zwanzig, sehen aber nach erfahrenen Frauen aus und sind nicht mein Typ. Ein Wort gibt das andere, Bernhard spendiert einen Schnaps, der bei uns seit Hans Jamke nicht mehr bei uns wacht, immer reichlich vorhanden ist. Die Frauen stehen draußen, wo es ungemütlich zieht und harren bei Bernhard aus. Er redet noch eine Weile mit ihnen, dann verabredet er sich mit ihnen für den Abend. – Und am nächsten Tag berichtet er, dass er mit der einen nachts auf seiner Bude zusammen gewesen ist. Und ich bin mir sicher, dass Bernhard nicht geschwindelt hat. Wir hatten das uns gegenüber nicht nötig. Erstaunlich, von welchen Männern manche Frauen sich bestricken lassen. Mir schien Bernhard immer wie ein Kater auszusehen, insbesondere wenn er im Fenster des Schwimmerwagens saß.
„Kater“ Bernhard im Fenster des Schwimmerwagens
Wie gut unsere Beziehung zueinander war, lässt sich an einem anderen kleinen, witzigen Ereignis zeigen. Bernhard verabredet sich vormittags am Strand mit einem recht attraktiven Mädchen zum Abend auf der Promenade. Als das Mädchen mittags Bernhard zulächelnd am Wagen vorbeigeht, erzählt er uns davon. Ich sehe mir das Mädchen an. Es gefällt mir gut, und ich könnte sie mir durchaus als meine Freundin vorstellen. Ich frage Bernhard, ob er etwas dagegen habe, dass auch ich versuche, mich mit diesem Mädchen zum Abend zu verabreden. Nein, das sei OK, wollen doch mal, sehen, wie sie sich verhält. Experimente interessieren ihn.
So gehe ich am Nachmittag zu ihr in die Burg, rede eine Weile mit ihr und frage sie letztlich, ob sie nicht Lust habe, mit mir am Abend etwas zu unternehmen. Sie sagt ja, und wir vereinbaren, uns auf der Promenade zu treffen. Ich merke, dass ihr die Promenade als Treffpunkt nicht ganz recht ist, tue aber so, als ob ich das nicht spüre.
Ich berichte Bernhard von dem Gespräch. Bernhard und ich beschließen, dieses Verhalten des Mädchens, ein Rendezvous mit einem Mann für einen anderen, der ihr besser gefällt, einfach sausen zu lassen, zu bestrafen.
Als die vereinbarte Treffzeit herangekommen ist, geht Bernhard zu unserem auf der Promenade wartenden Mädchen und will mit ihr losziehen. Sie windet sich wie ein Aal und fragt Bernhard: „Habe ich nicht (zu unserem Treffen) vielleicht gesagt?“ Bernhard sagt: „OK, wenn Du nicht willst, dann ist es auch gut.“ Und er geht. Er kommt zu mir, der ich insgeheim das Treffen beobachtet habe und berichtet mir, was sie gesagt hat. Nun schlendere ich zu ihr. Sie freut sich, mich zu sehen, aber ich tue so, als ob ich gar nicht mit ihr verabredet wäre. Auf ihre Erinnerungen an unsere Gespräch am Nachmittag in der Burg antworte ich nur: „Habe ich nicht vielleicht gesagt?“ Ich sehe mir noch das verblüffte Gesicht an, drehe mich um, gehe und lasse sie stehen.
So haben wir uns stets kameradschaftlich verhalten. Kameradschaft und unbedingte Zuverlässigkeit waren für unseren Job am Strand äußerst wichtig. Allzuleicht konnte man in eine Lage kommen, wo man auf Gedeih und Verderb auf den anderen angewiesen ist. Und da zeigt sich dann, was eine Freundschaft wert ist. Übrigens gab es auch hier natürlich Unterschiede. Am zuverlässigsten war mir immer mein Freund Uwe Lödige.
Da mir dieses Mädchen nach unserem Streich doch etwas Leid tat und obendrein durchaus mein Typ war, freunde ich mich dann doch noch mit ihr an. Sie heißt Anke Schuster und arbeitet halbtags im Haus Meeresblick, wo sie auch in einem kleinen Anbau mit eigenem Eingang wohnt. Dort besuche ich sie ein paar Mal nachts. Aber näher als an ihrem schönen Busen lässt sie mich nicht an sich heran.
Anke ist etwas älter als meine bisherigen Freundinnen. Bei ihr glaubte ich daher eher, dass ich mit ihr schlafen könne, zumal sie Studentin war. Und die sind doch im Allgemeinen schon „etwas weiter“ als meine kleinen Schülerinnen. Ein paar Monate später gibt Anke in einem Brief ein paar Erläuterungen dazu.
Unser Job kann auch für uns recht beträchtliche negative Folgen haben, wenn man uns bei einem Badeunfall Fehler im Dienst nachweisen kann. Nach jedem Badeunfall mit tödlichem Ausgang irgendwo am Wenningstedter Strand trifft die Wasserschutzpolizei ein und führt eine mehr oder minder aufwendige Untersuchung durch. Dabei wird unser Verhalten äußerst genau geprüft und Zeugen befragt. Meines Wissens hat man zu meiner Zeit nie etwas an unserem Verhalten beanstanden können.
Um das übermäßige Trinken von Alkohol zu verhindern, hatte ich, wie gesagt, bei meinem beiden Partnern, Uwe und Onkel Balli, meine liebe Not. Beliebtes Getränk, warum auch immer, war in diesen Sommern der ostfriesische Doornkaat, von dem wir immer mindestens eine Flasche im Wagen hatten. Kam nun bei nicht so gutem Wetter mit nur schwachem Badebetrieb ein Bekannter vorbei, dann verstanden Uwe oder Bernhard es ganz hervorragend, denjenigen zu einem Schnaps einzuladen, wobei sie natürlich mittranken. Oft genug veranlasste das den Eingeladenen zuzusichern, spätestens zum Abschied uns ein Flasche zu spendieren. Die wenigstens hielten ihr Versprechen, aber es reichte dennoch, um immer mindestens eine Flasche vorrätig zu haben. Bei jeder neu eintreffenden Flasche – keine war je gekauft – machte Uwe an der Holzdecke im Wagen einen Strich. Am Ende der Saison 1959 kamen 85 ½ Flaschen Doornkaat zusammen.
Ein Spezialgetränk, das Uwe bei uns einführte – ob er es erfunden hat, weiß ich nicht, zuzutrauen wäre es ihm –, war das von Uwe so benannte „Sylter Feuer“. Für seine Zubereitung legte Uwe ein Stück Würfelzucker in ein Schnapsglas, tränkte es satt mit Tabasco (essigsaure, scharfe Chilisauce) und füllte dann das Glas mit 80prozentigem österreichischem Strohrum auf. Solche „Sylter Feuer“ bot er dann den großsprecherischen Männern an, die gerne einen bei uns trinken wollten. Die Wirkung kann man sich leicht ausmalen; bei Unverständnis, sollte man es ausprobieren. Uwe kannte auch eine gemäßigtere Form: An Stelle des tabasco-getränktem Zuckers nahm er zwei Kaffeebohnen.
Bernhard, ein Kollege und zwei Badegäste am Rettungsboot, rechts Ingrid Gudde, die Akrobatin von Seite 465
Nun hatten wir, wobei ich mich einschließen muss, die Angewohnheit, aus Bequemlichkeit, unsere leeren Flaschen – Bier-, Doornkaat- und sonstige Getränkeflaschen – in das neben unserem Schwimmerwagen stehende Rettungsboot zu legen, das mit einer Plane abgedeckt war. Dies war insofern kein großes dienstliches Vergehen, weil das Rettungsboot für einen Einsatz so gut wie nie gebraucht wurde. Die Unfälle geschahen immer in Strandnähe, fast nur bei höherem Seegang und in der Brandung, und dort konnte man das Boot nicht benutzen. Obendrein konnte man es mit drei Mann gerade so ins Wasser ziehen, so dass es für einen Einsatz außerhalb unseres Abschnittes ohnehin nicht infrage kam. Man wäre auch immer zu spät dort angekommen. Gelegentlich mussten wir das von Flaschen überquellende Boot leer räumen und konnten es dann auch 'mal zum Vergnügen benutzen, etwa, wenn die See ganz ruhig war, und wir mit dem Boot vom Wasser aus die Badenden beobachten wollten.
Manchmal fuhr Uwe auch bei einigem Seegang mit dem Boot hinaus und hatte dann Freude daran, das Boot mit Wriggen so in Fahrt zu bringen, dass ihn eine oder mehrere Wellen über eine große Strecke sicher an Land schoben. Das war deswegen möglich, weil das Holzboot hinten einen breiten Spiegel für einen Außenbordmotor hatte, den es jedoch nicht gab. Diese Kunststücke mit dem Boot konnte nur Uwe Dank seiner Geschicklichkeit, seiner Kraft und seiner guten Kenntnis der See vollführen.
Kollege bringt während des Dienstes das Leergut nach oben
Zu diesem Boot und Uwe ist mir eine Geschichte in Erinnerung geblieben, die wieder einmal kennzeichnend für Uwe ist. Bei stark ablandigem Wind beobachten wir ein paar hundert Meter weit vom Land entfernt und nördlich unseres Abschnitts einen Mann auf einer Luftmatratze, der offenbar nicht wieder an Land kommen kann. Um voranzukommen, rudert er heftig mit den Armen, aber das relativ dicke Kopfteil der Matratze wird vom Wind immer wieder hoch gedrückt und bietet dem Wind somit zu viel Angriffsfläche, so dass die Matratze mit dem Mann trotz seiner Mühen langsam ins Meer hinausgetrieben wird. Wir müssen dem Mann offensichtlich zur Hilfe kommen. Also beschließen wir, dass Uwe hinausrudert. Nachdem wir das Boot mit Hilfe von Gästen leicht ins Wasser bekommen hatten (es waren zufälligerweise nur wenige Flaschen im Boot), war Uwe in relativ kurzer Zeit bei dem Mann auf der Luftmatratze angelangt. Er holte ihn ins Boot und wollte nun zurückrudern. Aber der Wind wurde stärker, er wurde so stark, dass der relativ hohe Bug des Holzbootes vom Wind immer wieder zu Seite weggedrückt wurde. Uwe war ein sehr guter Ruderer, aber er brauchte eine gute Stunde äußerst angestrengten Ruderns, um wieder bei uns an Land zu kommen. Als er dann endlich auf hundert Meter herangekommen war, rief er uns am Strand Wartenden zu: „Sagt Muttern, ‘s is’ Uwe!“, frei nach dem bekannten Gedicht „Nis Randers" von Otto Ernst. (Im Gedicht ruft Nis, der gegen den Willen seiner Mutter zu einem havarierten Schiff in die tosende See hinausfährt, weil dort noch ein Mann im Mast hängt, den an Land wartenden Menschen zu: „Sagt Muttern, ‘s is’ Uwe.“ Uwe, der Bruder von Nis galt seit drei Jahren als auf See verschollen.) Als Uwe erschöpft aus dem Boot kletterte, konnten wir sehen, dass seine Hände blutig waren. Das war bei Uwe, der durch seine Arbeit als Zimmermann und seine private Ruderei, um Makrelen zu angeln, immer dicke Schwielen an den Händen hatte, schon etwas Besonderes. Aber aufgeben war eben nicht seine Sache. Wir hätten ohne weiteres das Seenotrettungsboot aus List anfordern könne, um Uwe bergen zu lassen, wenn er uns das signalisiert hätte. Von nun wurde Uwe seinen Spitznamen „uns Uwe“ nicht mehr los.
Abbildung aus einem Wenningstedter Prospekt
Künftig hören wir öfter von Uwe die Bemerkung: „Immer diese Abtreiberei!“
Die Uwe berichtet uns am nächsten Morgen, dass sie die beiden im Schlauchboot bald erreicht haben. Sie haben sie zu sich hereingeholt und das Schlauchboot hinten an das Segelboot angebunden und sind in Richtung Land zurückgesegelt. Aber das hatte so seine Tücken. Der ablandige Wind nahm zu, und das mitgeschleppte Boot behinderte das kleine Segelboot so, dass sie fast die ganze Nacht ständig kreuzend brauchten, um am frühen Morgen ziemlich erschöpft in Westerland anzukommen. Die beiden im Schlauchboot waren die Ehefrau und Sohn des Juweliers Wempe aus Hamburg. Ihr Motor hatte da draußen versagt und war nicht wieder angesprungen. Zur Belohnung bekamen Uwe und Jens von Wempes jeder eine vergoldete Armbanduhr geschenkt. Popelig, wie ich fand. Denn hätte Uwe die beiden am frühen Abend nicht zufällig am Horizont entdeckt, wer weiß, was mit ihnen geschehen wäre.
Viele der jungen Damen, die uns die Arbeit am Strand mindestens durch ihre pure Anwesenheit versüßt haben, schreiben uns nach ihrer Heimreise. So Ingrid Gudde, die still leidende junge Dame aus Kiel mit ihren akrobatischen Fähigkeiten und Inken Samareier-Börnsen aus Hamburg-Bergedorf. Von der vielen Korrespondenz mit Plüschi will ich erst gar nicht reden.
Inkens erster Brief, dem sie ein Bild ihrer Freundin Claudia beilegt
Inken schreibt mir dann im Dezember einen weiteren Brief nach Berlin, der einiges über mich und auch sie aussagt. Sie scheint einige Zeit gebraucht zu haben, bis sie sich diesen Brief von der Seele schrieb.
10-12-59
Lieber Peter,
hättest Du nur ein wenig Zeit zuzuhören? – Ja –, wenn nicht…, ich weiß es ja nicht, kannst Du mit dem Brief machen was Du willst – ich will Dir auf keinen Fall mit meinem Schreiben auf die Nerven gehen und Dich vielleicht noch langweilen.
Heute ist Donnerstag, ich sitze in meinem Zimmer und kämpfe wie schon viele Tage mit meinen Launen, ja, weißt Du, Peter, mein Stimmungsbarometer hat den tiefsten Punkt erreicht. – Ich bin richtig etwas nervös, dabei gebe ich mir richtig etwas Mühe, es nicht zu sein. Aber die schlechte Stimmung soll und darf die bessere nicht übertrumpfen, nein; das will ich nicht! – Deshalb kam mir die Idee, Dir einen Brief zu schreiben, denn mit Dir verbinden mich Gedanken an das schöne Meer, die Sonne und den Strand. Am liebsten würde ich jetzt an die See fahren, vielleicht nach Wenningstedt. Du, erinnerst Du Dich eigentlich noch daran, wie Skuri und ich mit Dir in der Kurhalle saßen und Du fragtest: „Sag ‘mal, was hast Du denn auf dem Kopf – ‘nen Waschlappen?“ – Darüber kann ich momentan lachen. Wenn Du gewußt hättest, wie unsicher ich wurde. Von Dir muß ich aber auch sagen, daß es ziemlich taktlos war, mir diese Worte direkt in’s Gesicht zu sagen, aber Du mochtest mich ja schon immer gerne ärgern - was hattest Du eigentlich davon?
So wunderte es Dich, daß ich so tat, als kannte ich Dich gar nicht. Nebenbei liebe ich es eben nicht, so zu sein, wie vielleicht andere Mädchen sind, die sich um den Radkarren versammeln und warten, bis Ihr Gefallen an ihnen gefunden habt – nein, Peter, das gefällt mir nicht. Ich nahm mir vor, alles zu ignorieren, ich wollte mich wirklich erholen. –
Was hättest Du getan, Peter? Würde es Dich tatsächlich freuen, wenn ich im Sommer wieder nach Sylt kommen würde? –
Was machst Du denn so, Peter? Wie sieht Dein Alltag aus? –
Ich rede schon wieder so viel von mir und vergesse Dich ganz, aber wenn Du ‘mal schreiben würdest, dann würde ich Dir gerne sehr lange zuhören.
Nun haben wir bald Weihnachten. Peter, ich wünsche Dir ein besonders schönes Weihnachtsfest, laß’ Dir viel schenken und sei ganz herzlich gegrüßt von Deiner
Inken -„Sami“
P.S. Ich möchte diesen Brief nicht noch einmal durchlesen, denn ich weiß dann genau, daß ich von mir sagen würde - „Inken, den Brief zerreißt Du, den kannst Du auf keine Fall absenden“ (Ja – ich hätte so viel zu bemängeln – die Schrift… usw.)
So wie es jetzt ist, sollst Du ihn haben, denn sonst müßtest Du vielleicht noch lange Zeit auf einen Gruß von mir warten (oder ist es Dir egal, wie lange Du wartest?)
Dieser Brief ist so ein wenig wie sie: unsicher, leicht zerstreut. Sie provozierte mich auf Sylt irgendwie in ihrer Art eines ältlichen Mädchens. Ich wollte sie aus der Reserve locken, um zu erfahren, wie sie innerlich aussieht. Vielleicht erwartete ich auch eine Art Kapitulation meinem Charme und Angriff gegenüber. Sie hat Recht, sie war anders als die anderen jungen Damen.
Nachdem für Uwe der Bademeisterjob Ende September aufhört, beschließt er, seine Ausbildung als Zimmermann weiter zu verfolgen und will wieder auf Wanderschaft gehen, wie er es schon einmal getan hat.
Er lässt mich schon von unterwegs recht bald wissen, dass er nach Berlin kommen und dort eine Weile arbeiten will. Ich gratuliere ihm schriftlich zu seinem Geburtstag, und Uwe antwortet mit einen seiner wenigen Briefe an mich. Ich bin richtig stolz darauf und bin überrascht, wie gut er schreiben kann, wo er doch immer behauptet hat, er sei das „Lesens und Schreibens unkundig“. Und er schickt den Ausschnitt eines Karikatur mit, zu der er schreibt: „Das Leben an der Küste ist hart.“ Und „Sag ’s der Kurverwaltung, ‘s is’ Uwe.“
Die im Brief erwähnte Freundin Hanna hatte er auf Sylt kennen gelernt (Seiten 359, 387), und sie war wohl der Hauptgrund, warum er nach Berlin „wanderte“.
Obgleich Uwe vorher fast nie von Sylt heruntergekommen war, fand er sich in Berlin recht bald zurecht, pfiffig wie er war. Er sprach von der „Plumpe“, ein Berliner Ausdruck für den Berliner Stadtteil und Bahnhof Gesundbrunnen. Er passte nach Berlin, im Gegensatz zu seinem Vater. Der auch einmal Berlin besucht hat, aber sich dort überhaupt nicht wohl fühlte.