Erwachen - Anna Donig - E-Book

Erwachen E-Book

Anna Donig

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Beschreibung

Wenn die Nacht sich senkt, ist dein Geheimnis in Gefahr Als Neila, gerade zur Vollwaise geworden, an ihrem siebzehnten Geburtstag erfährt, dass sie ein Engel ist, beginnt für sie ein neues Leben. Nicht nur, dass sie nun besondere Fähigkeiten hat, sie wird auch in ein uraltes Geheimnis eingeweiht, von dem keiner erfahren darf. Selbst Raphael nicht, obwohl auch er ein Engel ist. Die beiden fühlen sich stark zueinander hingezogen und werden immer wieder in Versuchung geführt. Neila hat kaum Zeit, sich an all das zu gewöhnen, bis sie erkennen muss, dass sie neue Gegner hat, die größer sind als alles, was sie bisher kannte. Von Anna Donig sind bei Forever by Ullstein erschienen: Erwachen (Saga der Mondlilie 1) Erinnern (Saga der Mondlilie 2)

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Die AutorinAnna Donig wurde 1992 in Moosburg a. d. Isar geboren und ist im Landkreis Erding aufgewachsen. Vor zehn Jahren kam die Studentin durch eine Freundin zum Schreiben, der sie von ihren verrückten Träumen erzählte. Was zunächst ein Zeitvertreib war, wurde mehr und mehr zur Leidenschaft und wandelte sich in den Wunsch, Menschen mit den eigenen Geschichten zu unterhalten und mitzureißen. Mittlerweile ist die 23-jährige fast nicht mehr ohne Laptop anzutreffen. Sie schreibt, wo und wann sie nur kann. Ihre Familie und Freunde hat sie bereits als Fans gewonnen. Größter Fan und zugleich schärfster Kritiker ist ihr Bruder, der aus ihren Ideen immer noch mehr herausholt. Jetzt hofft sie, dass viele Menschen Spaß daran haben, ihre Geschichten zu lesen und Lust auf mehr bekommen.

Das BuchAls Neila, gerade zur Vollwaise geworden, an ihrem siebzehnten Geburtstag erfährt, dass sie ein Engel ist, beginnt für sie ein neues Leben. Nicht nur, dass sie nun besondere Fähigkeiten hat, sie wird auch in ein uraltes Geheimnis eingeweiht, von dem keiner erfahren darf. Selbst Raphael nicht, obwohl auch er ein Engel ist. Die beiden fühlen sich stark zueinander hingezogen und werden immer wieder in Versuchung geführt. Neila hat kaum Zeit, sich an all das zu gewöhnen, als sie erkennen muss, dass sie neue Gegner hat, die größer sind als alles, was sie bisher kannte.

Anna Donig

Erwachen

Saga der Mondlilie

Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

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Originalausgabe bei Forever.Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAugust 2015 (1)© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015Umschlaggestaltung:ZERO Werbeagentur, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privat

ISBN 978-3-95818-049-9

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Für den Kleinen und Alex, den Großen, ohne die ich es nie geschafft hätte.

Prolog

»Johnson!«

Langsam sah er von seinem Buch auf, überrascht darüber, um diese Zeit gestört zu werden. Essenszeit war doch gerade erst. Polner sah ihn düster an und machte eine Kopfbewegung auf den Gang.

»Dein Anwalt.«

Er zögerte, doch dann stand er schließlich seufzend auf.

»Du willst wohl wirklich noch ein paar Jahre kriegen, oder?«, meinte der Wärter und packte ihn am Oberarm, während sein Kollege, dessen Name ihm immer wieder entfiel, hinter ihm seine Zellentür wieder verschließen konnte.

Er schwieg beharrlich weiter. Darin war er inzwischen wirklich gut geworden. Schweigen. Reden brachte einem an diesem Ort meist sowieso nur Schwierigkeiten.

»Ich geb dir einen gut gemeinten Rat. Rede wenigstens diesmal mit deinem Anwalt, ansonsten kommt Leopold mit der Klage noch durch, und du sitzt weitere drei Jahre.«

Er schwieg weiterhin, während sie durch den Trakt der JVA gingen, dann hinaus und über einen eingezäunten Weg zu einem separaten Gebäude hinüber, in dem sich der Besuchertrakt befand. Besuch. Etwas, was er nun wohl nicht mehr bekommen würde. Seine einzige Besucherin war tot, auch wenn er das noch immer nicht so richtig begreifen konnte. Hier drin hatte man das Gefühl, als wäre die Welt stehen geblieben.

Ehe er es sich aber versah, liefen sie durch den Gang, dessen Wände aus Glas bestanden, wodurch die Wärter perfekte Sicht auf die Gefangenen und ihre Besucher hatten. Sie ließen die großen Besucherräume hinter sich und bogen in den Gang mit den kleinen, privateren Räumen für vertrauliche Gespräche ein, deren Türen lediglich aus Glas bestanden.

Vor einer blieben sie stehen. Leicht genervt betrat er den Raum und setzte sich, ohne nach links oder rechts zu schauen, auf einen der beiden Stühle an den einfachen Tisch. Hinter ihm aus der Ecke erklangen Schritte. Aus dem Augenwinkel konnte er eine Hand sehen, die in einer schwarzen Anzughose steckte. Und eine Armbanduhr. Schlagartig war er hellwach. Sein Körper stand mit einem Mal unter Hochspannung. Noch bevor er das Gesicht des Mannes sah, der definitiv nicht sein Anwalt war, wusste er, wer sich ihm da gleich gegenübersetzen würde.

»Hallo, Daniel.«

Seine Hände ballten sich reflexartig zu Fäusten. Er sah noch genauso wie in seinen Erinnerungen aus. Markante Gesichtszüge, glatt rasiert, tiefe, dunkelblaue und unergründliche Augen. Selbst die gleiche Frisur hatte er noch. Und er trug immer noch Anzüge.

»Was willst du?«, brachte er irgendwie zwischen seinen Zähnen hervor. Reflexartig griff er sich mit der linken Hand um seine Rechte. Verbarg das kühle Metall um seinen Daumen.

»Dir mitteilen, dass die Anklage von Herrn Leopold fallen gelassen wurde.«

»Was willst du hier? Wie hast du mich überhaupt gefunden?«

Siebzehn Jahre. Siebzehn Jahre umsonst. Sein Vater würde sich im Grab umdrehen, wenn er das sehen würde.

»Ich bekam letzte Woche ein Schreiben vom ansässigen Jugendamt.«

»Nein …«, zischte er und richtete sich auf. Sein Gegenüber hob missbilligend die Augenbrauen.

»Du würdest es lieber sehen, wenn deine Geschwister getrennt werden, als dass ich sie zu mir nehme?«

Er erstarrte zur Salzsäule.

»Was?«

»Was, glaubst du, passiert mit Vollwaisen, die keine bekannten nächsten Verwandten haben oder sonst nirgends unterkommen können? Das Jugendamt übernimmt die Vormundschaft. Elion war deshalb in den letzten Wochen bei einer Pflegefamilie. Deine Schwester sollte demnächst in ein betreutes Wohnen aufgenommen werden, wenn eure Nachbarin nicht beim Aufräumen das Testament eurer Mutter gefunden hätte.«

»Sie hat doch nicht …«

»Sie hat mich zum Vormund bestimmt. Ob es dir passt oder nicht.«

Sein Vater würde sich nicht nur im Grab umdrehen, sondern vor Wut von den Toten wiederauferstehen. Der Mann, den er so sehr gehasst hatte, dass er alles dafür getan hatte, nicht von ihm gefunden werden zu können, sollte jetzt die Verantwortung für seine Kinder haben? Andererseits musste Daniel zugeben, dass diese Lösung viel besser war, als dass seine Geschwister getrennt würden. Er seufzte und schloss für einen Moment die Augen. Im Grunde hatte er jedes Recht verloren, sich darüber aufzuregen. Immerhin würden seine Geschwister nicht vor diesem Problem stehen, wenn er nicht hier drin wäre. Gott, er hatte jedes Recht verloren, zu bestimmen, was gut für sie war und was nicht.

»Es ist wohl besser so«, gab er zähneknirschend zu.

»Ich werd ihnen helfen, mit den letzten Jahren fertig zu werden. Besonders deiner Schwester. Wie man hört, hat sie nicht nur eure Mutter gefunden, sondern war auch bei dem Raubüberfall dabei.«

Er nickte kaum merklich. Unterdrückte diese Welle an tiefer Scham und Schuldgefühlen, die jedes Mal aufstiegen, wenn er an seine kleine Schwester denken musste. Wie gern würde er die Zeit zurückdrehen. Allerdings, hätte er es dann nicht wieder genauso gemacht?

»Ich würde auch dir gerne helfen, Daniel.«

»Mir kannst du nicht helfen«, erwiderte er schroff und ohne den Blick von ihm zu nehmen. »Vergeude deine Zeit nicht, sondern hilf lieber Neila. Hast du sie schon kennengelernt?«

Er schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Ich hab erst gestern von allem erfahren. Aber ich treff mich in zwei Stunden mit ihr und den Vertretern des Jugendamts, um alles Weitere zu klären. Die Frau vom Amt meinte, Neila hat noch nie von mir gehört.«

»Dein Name und der der anderen waren verboten. Dad ist eine Zeit lang jedes Mal an die Decke gegangen, wenn einer davon gefallen ist. Da haben Mom und ich uns gehütet. Für ihn wart ihr tot.«

Sein Gegenüber nickte langsam.

»Ich würde gerne dein Mandat übernehmen, Daniel.«

Er stieß ein leises Seufzen aus und zuckte mit den Schultern. »Von mir aus, aber auch du wirst mich nicht zum Reden bringen. Allerdings kann ich mir dich eigentlich auch gar nicht leisten, Herr Staranwalt.«

»Auch wenn du das nicht so siehst. Du gehörst zur Familie und bist im Übrigen mein Patenkind. Da ist das selbstverständlich.«

Er konnte nicht anders. Über diese Behauptung musste er einfach lachen.

»Was ist aus …?«, keuchte er und wurde sofort wieder ernst. »Der Bastard wird nie ein Teil dieser Familie sein?«

Die Gesichtszüge seines Gegenübers blieben gleich.

»Mom und ich waren nie Teil eurer Familie. Ihr wolltet uns nicht! Da soll ich dir abnehmen, dass du und der Rest deiner Familie eine Hundertachtzig-Grad-Wendung gemacht habt? Aber sicher doch.«

Daniel lehnte sich nach vorne und legte all seine Verachtung für diesen Mann in seine Mimik.

»Ich weiß genau, weshalb du hier bist. Aber du kriegst ihn nicht. Nur über meine Leiche!«

Eine Weile lang starrten sie sich an. Doch auch diesmal blieb der Ausdruck seines Gegenübers ausdruckslos, wie die perfekte Maske. Daniel war es egal.

»Verstanden.« Urplötzlich zog er etwas aus seiner Jackettasche hervor. »Lies ihn dir in Ruhe durch. Ich hab Zeit.« Mit diesen Worten legte er ihm, ohne die Miene zu verziehen, einen Vertrag vor.

Er starrte ihn eine Weile an. Dann begann er jedes noch so kleine Detail zu lesen, ehe er seine Unterschrift daruntersetzte, nachdem er keine Schlupflöcher oder sonstiges Kleingedrucktes gefunden hatte, das ihm seltsam vorgekommen wäre.

»Du willst mir wirklich nicht ein paar Fragen zu dem Vorfall beantworten?«

»Nein!«, erwiderte er bestimmt. »Da gibt’s nichts zu beantworten.«

Sein Gegenüber legte den Kopf schief und stand schließlich auf. »Das wird sich noch zeigen.«

Er zuckte gleichgültig mit den Achseln. Es gab Dinge, die selbst der Staranwalt Michael von Schwarzbach nicht ändern konnte, weil sie nun mal so waren, wie sie waren.

Dafür hatte Daniel gesorgt.

1

Nach sechs langen Wochen voller Hilflosigkeit, Angst, Verzweiflung und Ungewissheit war Neila Johnson mit ihren Nerven endgültig am Ende. Äußerlich ausgezehrt, erschöpft von zu wenig Schlaf und innerlich vollkommen ausgebrannt von der schonungslosen Achterbahnfahrt ihrer Gefühle.

Jetzt, wo sicher war, dass sie und ihr kleiner Bruder nicht getrennt werden würden und außerdem aus diesem kleinen Ort rauskamen, fühlte Neila nur noch dieses riesige, schmerzende Loch in ihrem Herzen und die Sehnsucht nach ihrer Mom. Das kleine Einfamilienhaus am Rande einer Siedlung war von einer Sekunde auf die andere zu ihrer privaten Hölle geworden.

Die Hölle kannte Neila bereits sehr gut. Zu gut für ihren Geschmack. Sie hatte immer gefleht, dass ihr so etwas wie vor drei Jahren nicht mehr passieren würde. Wer hatte auch so viel Pech, dabei zusehen zu müssen, wie erst der eigene Vater vor seinen Augen bei einem Raubüberfall auf ein Juweliergeschäft erschossen wird, und drei Jahre später seine Mutter im Garten in ihrem eigenen Blut und mit leeren Augen vorzufinden?

Neila hatte bereits vor drei Jahren die Erfahrung gemacht, dass sich nach dem »Warum passiert das ausgerechnet mir?« zu fragen, überhaupt nichts brachte. Wer konnte ihr das schon beantworten?

Nein, sie wusste nur eins. Raus und weg! Wenn sie erst hier weg war, würde es besser werden, sodass sie für ihren kleinen Bruder stark sein konnte.

Elion war erst fünf. An ihren Dad hatte er keine Erinnerungen, dafür aber umso mehr an ihre Mom. Ihr kleiner Sonnenschein, der in den letzten Jahren ihr und auch ihrer Mom mit seinen Grübchen über den Tod ihres Dads hinweggeholfen hatte, weinte seit Wochen fast ununterbrochen. Die Pflegefamilie hatte einige Schwierigkeiten gehabt, ihn zum Essen zu bewegen oder ihn ins Bett zu bringen, sodass Neila einige Male zu ihnen hatte kommen müssen, um ihn wieder zu beruhigen.

Seit gestern Nachmittag war er jetzt wieder bei ihr, und heute würden sie beide zusammen dieser Hölle entkommen. Nicht mal mehr zwei Stunden, dann würde ihr Vormund, ein Verwandter ihres Dads, kommen und sie abholen.

Vorher musste Neila jedoch noch etwas erledigen. Ihr Blick glitt von der einfachen weißen Haustür vor ihr zurück zu dem Schlüsselbund in ihrer Hand, den ihr der Anwalt, der das Testament ihrer Mom geprüft hatte, gestern bei der Verlesung überreicht hatte. Neila hatte ihn sofort wiedererkannt und gewusst, wofür zumindest einer der Schlüssel war. Er passte zu einer alten hölzernen Truhe, die der Großmutter ihrer Mom gehört hatte und die einige persönliche Erinnerungsstücke beherbergte, die ihrer Mom sehr am Herzen gelegen hatten, da sie selbst im Alter von dreizehn ihre Eltern und ihren Bruder bei einem Brand verloren hatte und danach bei ihrer Großmutter aufgewachsen war. Sie hatte es Neila vor einiger Zeit gezeigt und ihren »Schatz an Erinnerungen« genannt.

Das Problem war nur, dass dieser Schatz in ihrem Keller stand. In ihrem Haus. In ihrer privaten Hölle. Schon die letzten Male hatte es sie einiges an Überwindung gekostet, einen Fuß über diese Türschwelle zu setzen und die Erinnerungen an ebendiesen Tag zu unterdrücken. Ihre ältere Nachbarin hatte ihr in den letzten Wochen dabei zur Seite gestanden.

Jetzt war sie allein, und ein großer Teil in ihr flehte sie aus Leibeskräften an, sofort auf dem Absatz kehrtzumachen und sich irgendwo zu verkriechen. Neila holte trotzdem den Haustürschlüssel aus ihrer Hosentasche hervor, drehte ihn im Schloss herum und betrat den schmalen Flur. Sofort hatte sie wieder das Bild der Verwüstung vor Augen, das sie vor sechs Wochen und zwei Tagen vorgefunden hatte. Sie unterdrückte die aufkommenden Erinnerungen, hastete an den Kartons vorbei zur Treppe und schnell hinunter in den Keller, wo sie noch einen leeren Umzugskarton fand. Ihr pochendes Herz entspannte sich allerdings erst, als sie hinter sich die Tür der Waschküche geschlossen hatte und sich voll und ganz auf das konzentrierte, was sich in der kleinen Nische hinter der Tür unter einer verstaubten schwarzen Decke befand. Sie glaubte sich zwar daran zu erinnern, dass ihr neuer Vormund etwas davon gesagt hatte, dass sie so viel mitnehmen konnten, wie sie brauchten und wollten, wusste aber nicht, ob er auch Platz für diese Truhe haben würde. Vielleicht konnte man sie in der Zwischenzeit irgendwo lagern, bis Neila achtzehn war und eine eigene Bleibe hatte. Aber ihren Inhalt wollte sie so lange gut aufgehoben wissen. Das war sie ihrer Mom schuldig. Deshalb baute sie rasch den Karton zusammen, zog die Decke von der Truhe und öffnete sie schließlich mithilfe des größten und rostigsten der drei Schlüssel.

Der Deckel war schwer, doch sie schaffte es nach ein paar Anläufen, ihn anzuheben. Wie schon beim ersten Mal, als ihre Mom sie ihr gezeigt hatte, war sie sofort von der Schnitzerei auf dessen ebener Innenseite fasziniert. Es war die unglaublich detailgenaue Darstellung eines Engels, der seine Federflügel über die gesamte Seite des Deckels ausgebreitet hatte. Um ihn herum war ein Geflecht aus Ranken, doch anstatt der Blüten trugen sie Sterne. Auf der Innenseite der Truhe wurde dieses Rankenmuster fortgeführt, das nun aber von kleinen Schachteln und allerlei anderen Dingen verdeckt wurde. Neben einem Karton mit alten Bildern, die nicht nur ihre Mom als Kind zeigten, sondern auch ihre gesamte Familie mütterlicherseits – wobei auf manche eine Jahreszahl gekritzelt war, die Neila verriet, dass sie ihre Vorfahren von 1878 vor sich sah –, gab es auch ein paar in Folie verpackte kleine Landschaftsgemälde, die ihre Urgroßmutter gemalt hatte. Ebenso ein paar von ihren Notizbüchern, die voll waren mit Kochrezepten. Dann kamen die Sachen, die Neila wie beim letzten Mal einen Stich versetzten und um die es ihr wirklich ging.

Der Stapel auf der linken Seite der Truhe war nicht besonders groß. Er bestand aus einem kleinen Fotoalbum mit Fotos von ihren Eltern, drei flachen Schmuckschachteln und einem großen weißen Karton, von dem Neila wusste, dass er das Hochzeitskleid ihrer Mom beherbergte. Es war mit einer lila Schleife zusammengebunden und das Einzige, was Neila sich nicht zu öffnen traute. Sie ließ es so schön verpackt in den Umzugskarton gleiten, in dem bereits das Fotoalbum war, sodass er nun voll war.

Neila fiel in dem Moment, in dem sie die hohe Schmuckschatulle öffnete, ein Stein vom Herzen, von dem sie gar nicht gewusst hatte, dass er dort gewesen war. Zum Vorschein kamen die beiden goldenen Eheringe ihrer Eltern, die an einer langen Goldkette aufgefädelt waren. Sie hatte befürchtet, dass sie mit all dem anderen Schmuck gestohlen worden waren und ebenso das Collier, das ihre Mom auf ihrem Hochzeitsfoto trug und das nun in dem breiteren Schmuckkästchen zum Vorschein kam. Ob die kleinen Steine oder das Silber echt waren, wusste sie nicht. Nur, dass ihre Mom sehr daran gehangen hatte, weil es wiederum ihre Mutter bei ihrer Hochzeit getragen hatte.

Bei der dritten, einer länglichen und noch neu wirkenden Schatulle gefror ihr das kleine Lächeln. Klappernd fiel es zu Boden und der Zettel, der im Deckel gesteckt hatte, heraus. Er blieb genau so liegen, dass Neila ihn ohne Probleme lesen konnte.

»Mein herzlichstes und aufrichtigstes Beileid. Mir war es ein sehr wichtiges Anliegen, Ihnen das Geschenk, das Ihr Mann bei uns erstanden hat, zukommen zu lassen. Sollten Sie oder Ihre Familie je Hilfe brauchen, zögern Sie nicht, mich darum zu bitten. Hochachtungsvoll K. Huber.«

Das einfache silberne Armkettchen, das scheinbar unberührt in dem dunkelblauen Futter lag, kannte sie. Sie hatte es immerhin ausgesucht. Nur die Gravur hatte ihr Dad bestimmt. Sie hob mit zitternden Fingern das schmale Plättchen empor, um die schrägen Worte besser zu lesen. Er hatte es ihr nicht verraten wollen und sie dem Verkäufer einfach aufgeschrieben.

»Liebe meines Lebens«, las sie mit erstickter Stimme in die Stille hinein vor.

Ihr Blick verschwamm, und Tränen liefen ihr über die Wangen. Einen Augenblick war sie wie erstarrt. Doch schon riss sie sich zusammen. Sie hatte keine Zeit und außerdem schon viel zu viel geweint. Krampfhaft den dicken Kloß in ihrem Hals hinunterschluckend, wischte sie sich mit einer energischen Bewegung über die Augen und schloss das Schmuckkästchen wieder. Zusammen mit den anderen beiden legte sie es beiseite. Diese Dinge würde sie in ihrem Koffer transportieren und irgendwo in ihrer Nähe sicher deponieren.

Neila stand schließlich auf und machte den Umzugskarton zu. Als sie jedoch die Truhe ebenfalls schließen wollte, wurde ihre Aufmerksamkeit auf etwas an der rechten Ecke im Inneren der Truhe gelenkt. Dort fehlte ein kleines Dreieck von der ebenen Bodenplatte. Gerade so, dass eine Fingerkuppe Platz hatte. Schnell wurde Neila klar, dass diese dünne Platte nicht der eigentliche Boden der Truhe war. Mit gespannter Erwartung hob sie sie an. Dann verschlug es ihr den Atem.

Die Schnitzerei auf der Innenseite des Deckels war allein schon beeindruckend, doch der Boden übertraf sie noch um Längen. Neila wusste nicht, was für ein Material es war. Die glatte und ebene Oberfläche war definitiv kein Holz. Noch dazu erstrahlte das Motiv in leuchtenden Farben. Wieder war jedes noch so kleine Detail der Federflügel zu erkennen. Es waren jedoch nur Flügel ohne einen Körper, die dort zu sehen waren. Das Ganze wirkte wie eine Art Wappen. Die geknickten weißen Flügel bildeten dabei den Rahmen. Die schwarzen Linien, die sie umgaben, erinnerten an ein lang gezogenes »M«. Kleine Federn in allen Farben flogen vereinzelt darüber, als würden sich die Flügel gerade um das Gebilde schließen und dabei diese Federn aufwirbeln. Drei große, leuchtende, sechseckige goldene Sterne waren schließlich in eine gleichseitiges Dreieck gemalt worden, in dem die Ranken endeten, wodurch der Eindruck erweckt wurde, das »M« entstünde aus diesen drei Sternen.

Neila konnte nicht widerstehen und ließ ihre Finger über die glatte Oberfläche fahren. Als sie den obersten Stern berührte, stutzte sie jedoch. Langsam fuhr sie die kaum spürbaren Einkerbungen in dessen Mitte nach. Die Form eines Schlüssellochs. Ohne zu zögern, zog sie den Schlüssel aus dem Schloss der Truhe und drückte den etwas kleineren keine zwei Sekunden später vorsichtig an die Stelle, die sofort nachgab. Gespannt drehte Neila den Schlüssel herum und wartete. Sie glaubte ein leises Klicken zu hören, dann sah sie, wie die beiden anderen Sterne sich ein paar Millimeter aus dem Boden herausdrückten. Neila probierte eine Zeit lang an dem rechten herum, bis sie ihn schließlich noch ein Stück weiter herauszog. Sie stieß einen leisen, überraschten Laut aus, als plötzlich etwas gegen ihre Stirn knallte.

»Au!« Sie wich reflexartig zurück. Der Schmerz war sofort vergessen. Im Deckel hatte sich ein kleines rechteckiges Stück gelöst und war nach unten geklappt. Anstatt des Engelskörpers sah sie nun eine lila Wand vor sich. Als sie die Hand danach ausstreckte, wusste sie jedoch schnell, dass es keine Wand war. Es war lediglich etwas, das mit lila Geschenkpapier eingewickelt war. Es war so groß, dass es gerade so durch die Öffnung passte. Und es war schwer.

Darauf klebte ein quadratischer Briefumschlag, der eine ihr vertraute Handschrift trug und Neilas Herz sich noch mal zusammenziehen ließ, sie aber gleichzeitig zum Lächeln brachte.

»Für Neila«, stand dort in der feinen Schrift ihrer Mutter. »Herzlichen Glückwunsch zu deinem 17. Geburtstag. Bitte erst am 30. August 2012 um 23:55 Uhr öffnen!«

Das war typisch ihre Mom. Sie liebte solche kleinen Spielereien zu ihren Geburtstagen. Hatte es geliebt. Allerdings – Neila wurde mulmig im Bauch – hieß das, dass sie ihr Geburtstagsgeschenk bereits drei Monaten vorher gehabt haben musste. Das war dann doch etwas seltsam. Und es wurde noch schräger.

»Für Elion. Herzlichen Glückwunsch zu deinem 17. Geburtstag. Bitte erst am 3. März 2024 um 10:09 Uhr öffnen!«, stand auf einem weiteren Umschlag, den sie aus dem Fach herauszog.

Das war nicht seltsam oder schräg, sondern fast schon gruselig. Fast so als hätte ihre Mom Vorkehrungen für sie getroffen oder damit gerechnet, dass sie sterben würde. Neila verbannte diese Gedanken schnell wieder. Sie hatte schon vor Jahren gelernt, dass es nur schmerzhaft war, sich Verschwörungstheorien auszudenken. Obwohl ihr in diesem Moment eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf zuflüsterte, dass da noch diese Sache mit ihrer Familie war, von der sie keine Ahnung gehabt hatte. Oder die Tatsache, dass sie, seit sie denken konnte, beinahe alle zwei Jahre umgezogen waren.

Neila schüttelte den Kopf, um diese innere Stimme zum Verstummen zu bringen. Was auch immer dahintersteckte, das alles würde ihr ihre Mom auch nicht wiederbringen. Sie und Elion waren jetzt auf sich gestellt, und vor allem ihrem kleinen Bruder zuliebe musste sie nach vorne schauen. Musste stark sein und für ihn da sein.

Sie sah von Elions Umschlag in der einen Hand zu dem Päckchen in der anderen. Einen Moment juckte es ihr in den Finger, ihr Geschenk und den Umschlag sofort aufzureißen, doch sie hielt sich zurück. Zum einen hatte sich ihre Mom bestimmt etwas dabei gedacht, zum anderen wusste sie nicht, ob sie schon bereit dazu war, etwas zu lesen, was ihre Mom geschrieben hatte. Schon allein diese wenigen Worte obendrauf verursachten einen tiefen Schmerz in ihrer Brust.

Daher legte sie das Päckchen und die Briefe zu den Schmuckschatullen, bevor sie sich wieder der Truhe zuwandte, wo sie sehen wollte, ob es noch mehr Geheimfächer gab. Auch der zweite Stern ließ sich noch ein Stück weiter herausziehen und ein leises Klickgeräusch ertönen. Aber es passierte nichts. Neila probierte eine ganze Weile im Inneren der Truhe herum. Untersuchte die Seiten, den Boden und noch einmal den Deckel, doch nirgendwo konnte sie ein weiteres Geheimfach entdeckten. Irgendwann gab sie schließlich auf. Der Wunsch, aus diesem Haus herauszukommen, wurde von Minute zu Minute immer größer. Sie würde sich wann anders mit dieser Truhe genauer beschäftigen. Wichtig war nur, dass sie die Erinnerungsstücke ihrer Mom sicher verstaut hatte und nun zu den wenigen anderen Kartons in den Eingangsflur stellte, die sie mitnehmen wollten. Der Rest in diesem Haus interessierte sie nicht.

Mit den Schmuckschatullen sowie den Geburtstagsgeschenken für sie und Elion in den Armen, kehrte sie schließlich diesem Haus endgültig den Rücken zu. Einen Blick zurück warf sie nicht. Jetzt, wo sie alles erledigt hatte, was ihr wichtig war, hatte sie nur noch einen Gedanken: weg.

Ihr Wunsch wurde sogar noch früher als gedacht erfüllt. Ihr neuer Vormund kam eine gute halbe Stunde zu früh. Da Neila in ihrer Aufbruchsstimmung dafür gesorgt hatte, dass Elion bereits wach, gewaschen und angezogen war sowie eine Kleinigkeit gegessen hatte und ihre Koffer bereitstanden, konnten sie auch sofort aufbrechen. Neila war in ihrem Kopf so damit beschäftigt, endlich mit Elion hier abzuhauen, dass sie den anderen Details ihrer Umgebung keine größere Beachtung schenkte. Nachdem sie sich bei ihrer Nachbarin noch einmal ausgiebig für deren Hilfe bedankt und sich von ihr verabschiedet hatte, konnte sie eines jedoch nicht übersehen.

Da war noch ein Mann. Ein Mann, der sich darangemacht hatte ihren und Elions Koffer im Kofferraum zu verstauen. Wäre er nicht gewesen, wäre ihr wahrscheinlich nicht aufgefallen, dass das außerdem nicht irgendein Auto war. Es war ein schwarzer Mercedes, eine kleine Limousine, wie man sie aus Filmen kannte.

Neilas Füße trugen sie, während sie den anderen Mann am Kofferraum beäugte, automatisch über den gepflasterten Weg zum Auto. An ihren Arm geklammert ging ihr kleiner Bruder. Hinter ihr konnte sie die bestimmten Schritte ihres Vormunds hören, der sie auf den letzten Metern überholte und ihr die Autotür aufhielt. Der Kindersitz passte nicht ganz zu diesem Auto. Er machte dieses Bild irgendwie kaputt. Neila half Elion hinein und ging dann um das Auto herum, wo ihr dieser kleinere Mann mit einem freundlichen Lächeln die Tür aufhielt, ehe er sich vor sie ans Steuer setzte.

Neilas Blick glitt von seinem Hinterkopf zu dem ihres Vormunds, der auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte. Er hatte also ein Erste-Klasse-Auto samt Chauffeur.

Sie beschlich ein seltsames Gefühl, das im Laufe der folgenden zwei Stunden größer wurde und einen bitteren Beigeschmack hinterließ. Nach einer guten halben Stunde Fahrt kamen sie am Flughafen Hamburg an. Neila hatte kaum groß Zeit, sich darüber zu wundern, dass sie nicht etwa mit dem Auto weiterfuhren, sondern tatsächlich flogen, da wurde ihre gesamte Aufmerksamkeit von diesem Bildschirm über dem Check-in-Schalter in Beschlag genommen. »First Class« verstärkte dieses seltsame, beklommene Gefühl und ihre Vermutung, dass ihr Vormund wohl nicht gerade wenig verdiente.

Endgültig befangen und vollkommen fehl am Platz fühlte sie sich, als sie sich eine Viertelstunde später in der First Class Lounge niederließen, die sie bis auf zwei weitere Herren in Anzügen ganz für sich hatten.

In ihrer ausgewaschenen alten Jeans, den abgelaufenen Sandalen und dem zerknitterten T-Shirt gehörte sie ganz sicher nicht in diese elegante, vornehme Umgebung. Ihr Vormund umso mehr in seinem perfekt sitzenden Anzug, mit dunkelblauem Hemd und passender Krawatte. Alles an seinem Äußeren war perfekt. Vom Scheitel bis hin zu den polierten Schuhen. Gestern hatte sie keinen Kopf dafür gehabt, ihn sich genauer anzusehen. Jetzt, wo sie ihm direkt gegenübersaß und nichts anderes zu tun hatte, holte sie es nach. Er war ein durchaus gut aussehender Mann. Groß, schlank, mit einem kantigen Kinn, großen nachtblauen Augen und rabenschwarzen Haaren. Alles in allem machte er auf den ersten Blick einen sehr strengen und harten Eindruck, doch für Neila war er das ganz und gar nicht. Immerhin hatte er, ohne zu zögern, die Vormundschaft für sie und Elion übernommen, war gleich hergekommen und hatte ihnen die Wahl überlassen, wie es jetzt weitergehen sollte. Er war auf sie eingegangen und hatte sofort alles für sie geregelt, um sie so schnell wie möglich von hier wegzuholen. Für Neila war er allein deswegen ein guter Mensch. Mehr, musste sie sich eingestehen, wusste sie jedoch nicht über ihn.

Nachdem er für sie ein kleines Frühstück und Getränke bestellt hatte, beschloss sie, das ganz schnell zu ändern. Sie überlegte kurz, wie sie am besten anfangen sollte, dann sagte sie leicht beschämt:

»Es tut mir leid. Ich hab gestern irgendwie deinen Namen nicht mitbekommen oder vergessen.«

Die dunkelblauen Augen richteten sich mit einem unergründlichen Blick auf sie.

»Das muss dir nicht leidtun, Neila«, erwiderte er mit dieser ruhigen, tiefen Stimme. »Nenn mich einfach Michael oder Onkel Michael. Wie du willst.«

Neila sah, wie sein Blick für einen Moment zu Elion huschte, der sich weiterhin an sie klammerte und nun still den Kopf an ihrer Brust vergraben hatte.

Er schien zu überlegen, ob er zu Elion auch etwas sagen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen und sah wieder zu Neila.

»Er ist nicht so.«

Michael nickte langsam. »Er wird einfach Zeit brauchen. So wie du. Ich hab dich vom restlichen Schuljahr befreien lassen, das heißt bis Mitte September hast du und auch Elion erst einmal Ferien. Allerdings wirst du die zehnte Klasse wiederholen müssen. Deine Noten und die Fehltage …«

Mehr brauchte er nicht zu sagen. Neila nickte rasch zum Zeichen, dass sie verstanden hatte, und er verstummte. An die Schule hatte sie schon lange nicht mehr denken können. Eines jedoch ließ sie stutzen.

»Mitte September?«, fragte sie nach, um sicherzugehen, dass sie sich nicht verhört hatte. »Die Sommerferien enden doch immer im August.«

»In Niedersachsen. In Bayern erst Mitte September.«

Bayern. In dem Moment ging ihr auf, dass sie außerdem gar nicht wusste, wo sie von nun an leben würde. Es war ihr egal gewesen. Hauptsache weg. Michael schien ihr das anzusehen und fügte hinzu: »Wir leben in der Nähe von Traunstein. Etwa hundert Kilometer von München.«

Neila nickte erneut. Die Vorstellung, am anderen Ende von Deutschland zu leben, gefiel ihr. Je größer der Abstand zu hier, desto besser.

»Und wie ist das jetzt genau?«, fuhr sie nach einer kurzen Pause mit ihren Fragen fort. »Du meintest, ich soll dich Onkel nennen, aber du bist nicht mein richtiger Onkel, oder?«

»Nicht genetisch gesehen. Euer Vater und ich sind nur Cousins, aber wie Brüder zusammen aufgewachsen.«

»Und warum hab ich dann noch nie von dir gehören?«

Zum ersten Mal veränderte sich die Miene ihres Gegenübers. Von entspannt und ruhig zu einem leicht gequälten Ausdruck, der jedoch ganz schnell wieder verschwand.

»Eure Eltern haben jeden Kontakt zu uns abgebrochen, als du noch nicht geboren warst. Es sind damals ein paar unschöne Dinge passiert. Ich kann es ihnen nicht verübeln, dass sie nicht über uns gesprochen und uns aus ihrem Leben gestrichen haben.«

Neila wartete, aber da kam nicht mehr. So wie er sich verhielt und sie mit dieser vagen Antwort abspeiste, war das eindeutig ein heikles Thema für ihn, über das er offensichtlich nicht reden wollte. Neila überlegte kurz, unterdrückte ihre Neugier jedoch. Etwas anderes hatte ihre Aufmerksamkeit erregt.

»Uns? Wen gibt es denn noch, den ich kennen sollte?«

»Zum Beispiel eure Tante. Die ältere Schwester eures Vaters. Cecilia. Mein Vater hat sie und euren Vater zu sich genommen, als deren Eltern bei einem Unfall ums Leben kamen. Cecilia hat zwei Kinder. Raphael ist zwanzig, und Melina ist nur ein paar Tage jünger als du. Sie kommt in einer Woche aus Amerika zurück und wird mit dir zusammen die Schule fertig machen. Raphael und sie können euch bestimmt in nächster Zeit ein bisschen die Gegend zeigen und euch helfen, euch einzuleben.«

»Das klingt so, als würdest du nicht …« Ehe sie fertig war, unterbrach Michael sie bereits mit einem kurzen Nicken.

»Ich muss arbeiten und werde einige Zeit hauptsächlich in München sein. Aber ich glaube ohnehin, dass ihr bei der jüngeren Generation besser aufgehoben seid als bei mir.«

»Kein Problem. Du tust sowieso schon genug für uns. Das sollte kein Vorwurf oder so sein.«

»So habe ich das auch nicht aufgefasst, Neila.«

Sie entspannte sich ein wenig, als er ihr zum ersten Mal ein kleines Lächeln schenkte.

»Was arbeitest du denn?«

»Ich bin Anwalt.«

Wenn er sich First Class leisten konnte, musste er demnach auch sehr gut darin sein.

»Und meine, äh, Tante? Und dein Vater?«

»Bankdirektor, und Cecilia leitet eine Eventagentur.«

Neila konnte nur nicken. Das klang nach einer erfolgreichen und reichen Familie, in die sie da hineinplatzte.

»Wissen sie denn von uns?«

Michael schüttelte den Kopf.

»Cecilia noch nicht. Sie ist gerade wegen eines wichtigen Auftrags in New York. Da wollte ich sie nicht ablenken. Außerdem wollte ich ihr nicht am Telefon vom Tod eures Vaters erzählen. Bisher wissen es nur meine Eltern.«

Bildete Neila sich das nur ein, oder verfinsterte sich Michaels Miene kurz, als er von seinen Eltern sprach. Doch schon im nächsten Moment war da wieder der gleiche ruhige und harte Gesichtsausdruck wie zuvor. Neila traute sich nicht nachzufragen und ging, nachdem Michael ihr darauf eröffnet hatte, dass sie seine Eltern noch am Abend kennenlernen würden, auf die Toilette. Elion im Schlepptau.

Sie musste auf jeden Fall das nächste Jahr mit dieser Familie klarkommen, also würde sie das Beste daraus machen. Ein guter erster Eindruck würde da nicht schaden. Als sie jedoch in den Spiegel sah, sank ihre Hoffnung darauf sofort. Sie sah noch schlimmer aus, als sie gedacht hatte. Ihr Haare waren stumpf und ein einziges, struppiges Chaos und ihr Gesicht blass und von dicken Augenringen gekennzeichnet. Da konnte sie machen, was sie wollte. Den guten ersten Eindruck konnte sie sich abschminken. Trotzdem versuchte sie ihre Haare ein wenig unter Kontrolle zu bekommen. Bei Elion hatte sie zum Glück am Morgen darauf geachtet, dass er einigermaßen ordentlich aussah, wobei seine hellblonden Haare längst einen Friseurbesuch nötig hatten. Besser ging es eben nicht.

Neila fand sich damit ab und verschwendete keinen Gedanken mehr an die Tatsache, dass sie in diese vornehme Umgebung nicht reinpasste. Sie hätte am liebsten ihren Onkel noch mehr über sein Leben und das der anderen ausgefragt, doch als sie kurz darauf in das Flugzeug einstiegen und er vor ihr und Elion Platz nahm, ging es nicht mehr. Zudem beanspruchte Elion sie ab diesem Zeitpunkt, da er beim Start Angst bekam, aber dann mit leuchtenden Augen am Fenster klebte. Es war das erste Mal seit Wochen, dass sie ihren kleinen Bruder lachen und diese großen grünen Kulleraugen vor Freude aufleuchten sah. Ein Anblick, der ihr etwas von der Angst nahm, dass Elion nie über den Tod ihrer Mom hinwegkommen und wieder lachen können würde. Sie würde ihm auf jeden Fall dabei helfen. Was mit ihr geschah, war ihr egal. Elion kam vor allen anderem.

Nach dem einstündigen Flug ging es am Flughafen München in einem glänzenden schwarzen BMW direkt auf die Autobahn. Diesmal hieß ihr Chauffeur jedoch Michael. Woran das lag, wusste sie nicht, sie wollte auch nicht fragen, sondern schloss die Augen und döste vor sich hin. Sie musste eingeschlafen sein, denn als sie die Augen wieder aufschlug, hatten sie die Autobahn bereits verlassen. Das, was sie geweckt hatte, war die aufgeregte Stimme ihres Bruders.

»ILA, ILA!«

Blinzelnd setzte sie sich auf und sah in Elions geweitete, leuchtende Augen.

»Hast du das gehört, Ila?«, fragte er hibbelig. Neila warf einen Blick nach vorne zu Michael, dann schüttelte sie den Kopf.

»Nein, was denn?«

»Michael hat Eulen und ganz, ganz viele andere große Vögel, die ich mir ansehen darf.«

»Große Vögel?«

»Einer unserer Pächter ist Falkner. Er züchtet Greifvögel.«

»Pächter? Plural?«

Was zum Teufel war das für eine Familie?

»Unserer Familie gehört ein bisschen Land, das von ein paar Bauern bestellt wird. Die meisten arbeiten seit über fünf Generationen für uns. Es gibt auch einen Reiterhof.«

Warum sah er sie denn jetzt bei diesem Satz so an? Bei Neila fiel der Groschen etwas verzögert, und sie rollte mit den Augen.

»Nicht alle Mädchen sind Pferdenarren«, entgegnete sie leicht belustigt.

»Und was magst du dann, wenn es keine Pferde sind?«

Neila wich augenblicklich seinem Blick aus und sah aus dem Fenster. »Musik hören, lesen, nichts Besonderes.«

»Ila und ich pflanzen gerne Blumen. Ich hab immer geholfen, die Erde locker zu machen, damit die Pflanzen gut wachsen können. Stimmt’s Ila?«

Neila zwang sich zu einem Lächeln, als sie sich wieder zu Elion drehte. Von ihrem kleinen Garten, den sie zu gestalten angefangen hatte, war jetzt nichts mehr übrig. Elion wusste das nicht. Und dabei sollte es auch bleiben.

»Stimmt, kleiner Bär. Du warst mir eine große Hilfe. Ohne dich hätte ich das nicht geschafft.«

Elions Lächeln wurde sofort breiter und seine Grübchen noch deutlicher. Der Stolz war ihm ins Gesicht geschrieben, dass Neila tatsächlich ein ehrliches leises Lachen entwich. Manchmal, wenn Elion sie so ansah, konnte sie einfach alles vergessen und sich von diesem kindlichen, unbeschwerten Lächeln anstecken lassen.

»Wenn ihr wollt, könnt ihr meiner Mutter im Garten zur Hand gehen.«

»Kein Gärtner?«, rutschte es Neila unvermittelt heraus. Als ihr sofort klar war, wie verächtlich das klang, ruderte sie rasch zurück: »Entschuldige! Das sollte nicht so klingen. Ich meinte nur, wegen dem Chauffeur und der First Class.«

Sie verstummte, als sie einen sichtlich amüsierten Blick von Michael durch den Rückspiegel auffing.

»Macht nichts. Und wir haben einen Gärtner. Fünf sogar. Die brauchen wir auch, weil es mehr ein kleiner Park als ein üblicher Garten ist.«

Sofort war dieses unbehagliche Gefühl zurück. Chauffeur, Mercedes, erste Klasse war ja alles schön und gut, aber wer hatte denn bitte schön so viel Land, dass es von mehreren Bauern bestellt wurde, beziehungsweise eine eigene Falknerei? Und das mit dem kleinen Park klang nicht nur nach reich, sondern schwerreich.

»Aber meine Mutter …«, fuhr Michael ungehindert fort, »… lässt die anderen nicht in die Nähe ihres Obst- und Gemüsegartens. Geschweige denn ins Gewächshaus. Das ist ihr Reich.«

»Warte.« Neila war gerade etwas aufgefallen. Sie beugte sich ein wenig nach vorne. »Hast du gesagt, wir haben einen Gärtner? Wohnst du noch bei deinen Eltern?«

Wieder dieser amüsierte Blick durch den Rückspiegel.

»Nicht nur ich. Auch Cecilia, Raphael und Melina. Wir wohnen alle zusammen.«

Okay, damit hatte sie jetzt irgendwie so überhaupt nicht gerechnet. Michael machte auf sie irgendwie nicht den Eindruck eines Familienmenschen, eben mehr der selbstbewusste Geschäftsmann, dessen einzige Liebe sein Beruf ist. Doch seine nächsten Worte zeigten ihr, dass sie in dem Punkt nicht falschlag.

»Aber ich arbeite hauptsächlich in München, weshalb ich die meiste Zeit dort bin. Und Cecilia ist auch ständig auf Reisen, und Raphael studiert in München. Eigentlich leben nur meine Eltern das ganze Jahr hier. Und jetzt ihr beide und Melina.«

»Wer ist Melina? Ist sie nett?«, fragte Elion.

Ehe Neila den Mund aufmachen konnte, um ihm zu erklären, wer diese Melina war, tat es auch schon Michael und erklärte ihm auf eine einfache, verständliche Art, wie sie mit ihr verwandt waren.

»Daddy hatte also auch eine Schwester. So wie ich?«

Beim diesem Wort zuckte Neila unwillkürlich zusammen. Elion nannte ihren Dad so, weil sie ihn so genannt hatte. Er selbst war noch zu klein gewesen, als er gestorben war, weshalb er immer wieder Fragen über ihn stellte. So wie jetzt. Nur war ihre Mom nicht hier, um sie davor zu retten, darüber zu reden. Doch dieses Mal gingen seine Fragen auch gar nicht an sie, sondern an Michael.

»Kanntest du meinen Daddy?«

Neila sah, wie Michael bei dieser Frage leicht zusammenzuckte. »Er war wie ein Bruder für mich.«

»Bruder? Ich hab auch einen Bruder. Kennst du Dani?«

Neilas dumpfer Schmerz in der Brust, verwandelte sich bei diesem Namen augenblicklich in brodelnde Wut. Sie wand den Kopf ab und versuchte nicht länger hinzuhören, als sie über ihr verhasstes Arschloch von Bruder zu reden begannen, den Michael offenbar schon im Knast besucht hatte. Was sie anging, so hatte sie sich schon vor zwei Jahren bei seiner Verurteilung geschworen, nie wieder ein Wort über ihn oder mit ihm zu reden. Daniel hatte sie nach dem Tod ihres Dads im Stich gelassen. Wegen ihm hatte ihre Mom einen Nervenzusammenbruch gehabt, und er hatte noch nicht einmal Anstalten gemacht, sich zu verteidigen oder zu erzählen, was wirklich passiert war. Er hatte sich einfach schweigend zu fünf Jahren Haft verurteilen lassen und bisher nichts gegen diese Strafe unternommen, sodass er seiner Familie vielleicht hätte helfen oder gar die Vormundschaft für sie beide übernehmen hätte können.

Neila war es zuwider, an ihren älteren Bruder auch nur noch einen Gedanken zu verschwenden, also zwang sie ihre Aufmerksamkeit auf die Landschaft vor dem Fenster. Geradewegs auf eine reine idyllische Naturlandschaft aus Feldern und kleineren Wäldern, die hin und wieder von kleinen Ansammlungen von Häusern unterbrochen wurden. Dahinter am Horizont ragten die Alpen in den Himmel. Dazu strahlend, blauer Himmel und von der Hitze flirrende Luft. Es gefiel ihr.

Auch die kleinen Ortschaften, an denen sie vorbeikamen, hatten etwas durch und durch Friedliches und Harmonisches, sodass sich Neila sofort wohlfühlte. Sie hatte in ihrem Leben schon viele Orte sehen dürfen. Jeder hatte etwas für sich gehabt. Hier gefiel ihr es auf Anhieb sehr gut. Doch als sie nach zehn Minuten die Landstraße verließen und eine kurvige Straße entlangfuhren, die schließlich in das Dickicht eines Waldes hineinführte, kehrte das unbehagliche Gefühl zurück, sobald sie an einem gelben Schild mit der Aufschrift »Privatgrund. Unbefugtes Betreten verboten« vorbeikamen. In was für einem Haus lebte wohl eine Familie, die erster Klasse flog, teure Autos fuhr, sich Chauffeure und Gärtner leistete, Land besaß, das von Pächtern unterhalten wurde, und deren Garten mehr einem Park glich? Bestimmt nicht in einer kleinen Waldhütte. Das klang mehr nach einem großen Landhaus oder einer Villa.

Einerseits war Neila gespannt, andererseits verhalten, weil sie nicht wusste, wie sie mit alldem umgehen sollte. Als es schließlich einige Minuten bergauf ging und sich der Wald schließlich lichtete, verstärkte sich dieses unbehagliche Gefühl in ihrem Magen noch mehr und ließ sie unruhig auf ihrem Platz hin und her rutschen. Sie steuerten doch tatsächlich auf ein drei Meter hohes Eisentor zu, von dem hohe Steinmauern rechts und links in den Wald hineinliefen. Die ganze Szenerie vor ihr hatte etwas Verwunschenes, Düsteres und Magisches an sich, das sie sofort in ihren Bann zog und ihre Haare zu Berge stehen ließ.

Im Wagen war es nun vollkommen still. Auch Elion betrachtete die Umgebung mit großen, staunenden Augen. Erst als sie direkt vor dem Tor hielten, fragte er: »Ist das da eine Eule?«, und deutete nach vorne auf die Mitte des Eisentores.

Es war eindeutig das Abbild einer Eule, die ihre Flügel weit gespreizt hatte und nun in der Mitte geteilt wurde, als das Tor wie von selbst nach innen aufging.

»Die Eule ist unser Wappentier. Genau genommen die Schleiereule.«

»Wappen? So wie bei den Rittern?«

»Ganz genau«, erwiderte Michael. Er fuhr einen nun gepflasterten Weg bergauf, der rechts und links von einer etwas niedrigeren, mit Efeu bewachsenen Mauer gesäumt war. Neila und auch Elion reckten beide neugierig die Hälse, als die Straße ebener und Michael wieder langsamer wurde. Sie staunten nicht schlecht, als es um eine Biegung direkt auf eine breite, überdachte Brücke aus großen grauen Steinen und runden Säulenbögen ging und sie auf zwei hohe, runde Türme zuhielten, zwischen denen es unter einem Bogendach aus schwarzem Eisen hindurchging, an dem sich weiße Rosen entlangwanden.

Neila war sich sofort klar, dass sie sich geirrt hatte. Türme gehörten nicht zu einer Villa oder einem Landhaus. Noch dazu schienen sie dort schon seit Jahrhunderten zu stehen.

»Willkommen auf Schloss Schwarzbach.«

Neila war sprachlos. Sie hatte schon einige Schlösser, Burgen und Paläste gesehen, doch dieses hier hatte etwas Einzigartiges und irgendwie Geheimnisvolles an sich. Es war schlicht wie ein verwunschenes oder verzaubertes Schloss aus einem Märchenbuch. Inmitten eines Waldes, abgeschieden und in vollkommener Ruhe. Mit einem traumhaft schönen, hellen Innenhof, der rechts und links von länglichen zweistöckigen Gebäuden eingegrenzt wurde, die jeweils einen Bogendurchgang vom Hof weg aufwiesen. Wie sollte es auch anders sein, plätscherte in der Mitte Wasser in einem Brunnen aus tiefschwarzem Gestein fröhlich vor sich hin. Aber es war nicht das, was ihren Blick augenblicklich dort festhielt.

Es waren die tiefvioletten Blumen, die um ihn herum in einem Beet angelegt waren. Sie hatten glockenförmige Blüten, deren spitz zulaufende Blätter einen Stern zu bilden schienen. Ihr Farbton war so kräftig, dass er im Licht der Sonne zu leuchten schien. Irgendwie verliehen sie dem gesamten weitläufigen Innenhof mit seinem hellbeigen Pflaster, das perfekt zu der Steinfassade aus hell- und dunkelgrauen sowie beigen Steinen bestand, einen romantischen, aber auch geheimnisvollen Touch.

Neilas Blick blieb unentwegt auf den Blumen, als der Wagen stehen blieb und die Türen geöffnet wurden. Sie stieg automatisch aus und machte sofort einige Schritte auf diese Blütenpracht zu, ehe Elions Stimme sie aus dieser seltsamen Trance holte. Sie wandte sich um und sah über das Autodach hinweg zum fünfstöckigen Hauptgebäude empor, das an die beiden Seitengebäude stieß und so die Stirnseite des Innenhofs bildete.

Der Eingang, der wohl eher als Portal bezeichnet werden musste, befand sich im ersten Stock am Absatz zweier aufeinander zulaufender Treppen, die nach unten breiter wurden. Ein hellraues Steingeländer zog sich an ihren Seiten empor, bis zu der breiten Flügeltür, die wie die hohen Rundbogenfenster aus einem schwarzen Material gemacht worden war. Darüber prangte ein großes, rundes Wappen mit einer silbernen Eule mit ausgebreiteten Flügeln auf einem runden schwarzen Schild. So romantisch, verwunschen und magisch dieses Schloss auch wirkte, als Neila bewusst wurde, dass sie von nun an hier leben würde, war es auf einmal regelrecht einschüchternd. Das hier war eine vollkommen andere Welt als ihre. Zum einen war sie sich nicht sicher, ob sie hierher passte, zum anderen, ob sie das eigentlich wollte.

Sie half Elion aus seinem Kindersitz und ging dann mit ihm an der Hand zu Michael, der mit drei Männern am Fuß der Treppe auf sie wartete. Die beiden etwas jüngeren Männer, etwa Mitte oder Ende zwanzig, trugen beide das Gleiche. Schwarze Hosen und schwarze Poloshirts. Der schon etwas ältere Herr in ihrer Mitte hingegen trug statt eines Poloshirts ein weißes Hemd mit einer mattschwarzen Weste darüber. Ihn stellte Michael ihr als den Schlossverwalter vor.

»Nennt mich einfach Ferdinand, Miss Neila, Master Elion. Im Namen des Personals von Schloss Schwarzbach darf ich Sie herzlich willkommen heißen. Wenn Sie irgendetwas brauchen, zögern Sie nicht zu fragen. Marco und Phillip werden sich um Ihr Gepäck kümmern.« Seiner Aussprache und der sehr steifen und höflichen Art nach war er zweifelsohne aus England. Er erinnerte Neila an einen Butler aus alten Zeiten mit der geraden Haltung, den ordentlichen grauen Haaren und der Brille mit schmalen Gläsern, aber auch an ihre Kindheit, die sie, bis sie zehn gewesen war, in Großbritannien verbracht hatte.

»Der Graf …«, wandte sich Ferdinand an Michael, während die beiden anderen mit einem freundlichen Lächeln zu Neila zum Wagen gingen. »… erwartet Sie im privaten Salon. Zusammen mit Ihrer Mutter.«

»Danke, Ferdinand. Neila? Elion?«