Erinnern - Anna Donig - E-Book

Erinnern E-Book

Anna Donig

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Beschreibung

Fantastisch, spannend und romantisch - der zweite Teil der Saga der Mondlilie Gerade hat Neila ihren achtzehnten Geburtstag hinter sich, da beginnt auch schon das neue Schuljahr. Neben ihrem normalen Unterricht soll sie lernen, ihre magischen Fähigkeiten zu kontrollieren. Gleichzeitig muss sie jedoch das Geheimnis ihrer Familie wahren, die eine Macht besitzt, um derentwillen jeder ihrer Feinde sie töten würde. Immer wieder überkommt Neila das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Bis sie plötzlich erkennt, dass sie die Erinnerung an den Menschen verloren hat, der ihr alles bedeutet – Raphael! Und dass er dringend ihre Hilfe braucht … Von Anna Donig sind bei Forever by Ullstein erschienen: Erwachen (Saga der Mondlilie 1) Erinnern (Saga der Mondlilie 2)

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Seitenzahl: 588

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Die AutorinAnna Donig, geboren 1992 in Moosburg a. d. Isar, ist im Landkreis Erding aufgewachsen. Vor vielen Jahren kam die Studentin durch eine Freundin zum Schreiben, der sie von ihren verrückten Träumen erzählte. Was zunächst nur ein Zeitvertreib war, wurde mehr und mehr zur Leidenschaft und wandelte sich in den Wunsch, Menschen mit den eigenen Geschichten zu unterhalten und mitzureißen. Mittlerweile ist sie fast nicht mehr ohne Laptop anzutreffen. Sie schreibt, wo und wann sie nur kann. Ihre Familie und Freunde hat sie bereits als Fans gewonnen. Größter Fan und zugleich schärfster Kritiker ist ihr Bruder, der aus ihren Ideen immer noch mehr herausholt. Jetzt hofft sie, dass viele Menschen Spaß daran haben, ihre Geschichten zu lesen und Lust auf mehr bekommen.

Das Buch

Gerade hat Neila ihren achtzehnten Geburtstag hinter sich, da beginnt auch schon das neue Schuljahr. Neben ihrem normalen Unterricht soll sie lernen, ihre magischen Fähigkeiten zu kontrollieren. Gleichzeitig muss sie jedoch das Geheimnis ihrer Familie wahren, die eine Macht besitzt, um derentwillen jeder ihrer Feinde sie töten würde. Immer wieder überkommt Neila das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Bis sie plötzlich erkennt, dass sie die Erinnerung an den Menschen verloren hat, der ihr alles bedeutet – Raphael! Und dass er dringend ihre Hilfe braucht …

Anna Donig

Erinnern

Saga der Mondlilie

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin September 2017 (2)  © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat  ISBN 978-3-95818-128-0  Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Was bisher geschah …

Ein paar Monate vor ihrem siebzehnten Geburtstag stirbt Neilas Mutter und lässt sie allein mit ihrem fünfjährigen Bruder Elion zurück. Ihr älterer Bruder Daniel kann ihr nicht helfen, da er im Gefängnis eine längere Haftstrafe absitzen muss. Michael von Schwarzbach, der Cousin ihres Vaters, übernimmt die Vormundschaft für beide.

Der gutaussehende Anwalt bringt Neila und Elion in eine ganz andere Welt. Eine Welt, die nicht nur aus einem herrschaftlichen Schloss, Adelstiteln und einer Kreditkarte ohne Limit besteht, sondern auch aus Engeln, Göttersteinen und Magie.

Neila erwacht an ihrem siebzehnten Geburtstag als Engel. Sie erfährt, dass sie in der Lage sein wird, die Magie der Göttersteine zu kontrollieren, durch die sie Gegenstände fliegen lassen kann und viele weitere übernatürliche Fähigkeiten erhält.

Durch einen Brief ihrer Mutter wird Neila außerdem in ein zweitausend Jahre altes Geheimnis eingeweiht, das die Familie ihrer Mutter vor der restlichen Engelswelt geheim hält: Neila ist ein Klangengel. Sie ist in der Lage, alle Göttersteine in Form von Melodien zu hören, mit ihnen zu kommunizieren und sie zu kontrollieren, egal welcher Engel sie gerade trägt. Diese Eigenschaft nutzten ihre Vorfahren vor über zweitausend Jahren, um die Engelswelt zu unterwerfen, bis sie unter anderem von Neilas Ahnen väterlicherseits gestürzt wurden. Seitdem gelten Klangengel als ausgestorben.

Neilas Familie hat auch die drei mächtigsten Göttersteine versteckt. Diese drei Steine haben die Fähigkeit, über Leben und Tod zu bestimmen. Sie gehen eine lebenslange Bindung zu einem Engel ein, die erst mit dessen Tod endet. Neila ist diese Bindung bereits mit acht Jahren eingegangen.

Allerdings findet Neila nur zwei der violetten Steine. Der Todesstein, mit dem ihre Mutter verbunden war, ist mit deren Tod spurlos verschwunden.

An Neilas siebzehntem Geburtstag wird auch ihr Herz vollkommen auf den Kopf gestellt. Raphael von Schwarzbach, ihr Cousin und Besitzer eines schwarzen Steins, ist charmant, freundlich und mit seinen großen Augen in der Farbe von Zartbitterschokolade lässt er ihre Gefühle Achterbahn fahren. Er gehört, so wie ihr Onkel Michael, zu den Wächtern, deren Aufgabe es ist, die Existenz der Engel vor den Menschen zu verbergen. Dabei helfen ihnen die schwarzen und weißen Steine, die die Fähigkeiten besitzen, in das Bewusstsein einzudringen und Erinnerungen zu verändern oder vollständig zu löschen. Das Oberhaupt der schwarzen Wächter, Graf Gabriel von Schwarzbach, Michaels Vater und der Schlossherr, will Neila aus einem unbekannten Grund keinen seiner Steine anvertrauen. Ihr anderer Großonkel, Baron Billius von Hohenfels, bietet ihr deshalb einen der Steine seiner Sippe an. Zusammen mit Raphael besucht sie ihn und wird von einem aquamarinfarbenen Götterstein erwählt. Ein Phänomen, wie es bisher nur fünfmal im letzten Jahrhundert vorgekommen ist. Durch die Erwählung kann Neila sich von Anfang an mit dem Stein namens Migina in ihren Gedanken unterhalten. Wie sich herausstellt, ist Neila der Engel der Heilung und trägt fortan den Namen Sarakiel. Damit ist sie einer der dreizehn Engel, die alle tausend Jahre erwachen, um die Welt zu retten.

Raphael weiß in dem Moment, in dem der Name »Sarakiel« fällt, dass er keine Wahl hat. Er trifft eine folgenschwere Entscheidung.

Prolog

Daniel,

offenbar scheint es dir im Gefängnis ja gut zu gefallen, immerhin tust du seit über einem Dreivierteljahr nichts anderes, als schön dafür zu sorgen drinzubleiben. Mir ist es ehrlich gesagt egal, ob du dich von einer Kontaktsperre zur nächsten prügelst, aber Elion nicht. Du weißt doch noch, wer das ist, oder? Dein kleiner Bruder?

Der kleine Bruder, der mich seit fast einem Jahr immer wieder fragt, wann er dich anrufen oder dich besuchen kann und dann jedes Mal den Kopf hängen lässt, wenn ich ihm sagen muss, dass es nicht geht. Ich hab mir immer wieder Ausreden einfallen lassen, aber die sind mir jetzt – wie du dir vielleicht vorstellen kannst – ausgegangen.

Elion glaubt, dass du nichts mehr mit ihm zu tun haben willst. Dass du nicht mehr mit ihm Fußball spielen willst. Dass du ihn nicht mehr liebhast.

Ich weiß, dass das nicht so ist. Also, verdammte Scheiße, kannst du nicht mal für ein paar Wochen die Füße oder eher die Fäuste stillhalten, damit man dir erlaubt, ihn anzurufen?! Ein verdammter Anruf, Daniel! Ansonsten verlierst du ihn.

Eins verspreche ich dir: Wenn wir uns das nächste Mal sehen, bekommst du eine in die Fresse, dafür dass du Elion zum Weinen gebracht hast. Und wenn du ihn nicht bald anrufst, fahre ich härtere Geschütze auf. Ich kann inzwischen auch ganz anders!

Michael meinte, deine Sperre geht noch bis Ende August. Da ich in der Zeit in England bin, kannst du Elion nur über ihn erreichen. Er ist das Einzige, was du noch an Familie hast, Daniel, und du hast genauso Verantwortung für ihn wie ich. Also bitte: Ruf Elion an!

Neila

P.S. Das Geschenk ist von Melina (unserer Cousine). Sie dachte, es würde dir vielleicht helfen, dich zusammenzureißen.

Ein leises Lachen übertönte die Stille der schmalen Gefängniszelle.

»… eine in die Fresse …«

Kopfschüttelnd lachte Daniel Johnson in sich hinein. Für ihn war es gefühlt das erste Mal seit Jahren, dass er wirklich lachte. Und dabei war es gar nicht zum Lachen. Eine leere Drohung waren diese Worte vor ihm jedenfalls nicht. Er hatte es also tatsächlich geschafft, seine kleine Schwester noch wütender zu machen, als es sowieso schon der Fall war, so dass sie ihm jetzt eine reinhauen wollte. Sollte sie das tatsächlich bei ihrem nächsten Treffen tun, würde er es einstecken, denn sie hatte allen Grund, wütend zu sein.

So langsam verging ihm das Lächeln, während er sich den Brief in seiner Hand immer wieder durchlas. Schließlich faltete er ihn zusammen, stand auf, ging zum Fenster, stützte die Hände gegen die Fensterbank und starrte die Gitterstäbe hinter dem Glas an. Ehe ihn die Gedanken an seine Geschwister und seine Schuldgefühle überrollen konnten, schaltete sich wie so oft eine tiefe ruhige Stimme in seinem Kopf ein.

»Du hast deine Gründe, Samuel, vergiss das nicht. Konzentriere dich darauf, was passieren wird, wenn …«

»Ich weiß«, flüsterte Daniel in die Stille hinein. »Ich weiß …« Bei seinem nächsten Gedanken entspannten sich seine Gesichtszüge, und wieder musste er lächeln. »Sie klingt irgendwie anders. Erwachsener. Wie sie sich wohl so macht? Sag nichts. Sie ist Sarakiel. Sie ist stark und wahrscheinlich ein Naturtalent.« Er seufzte.

Die fast fünf Jahre, die er hier bereits abgesessen hatte, fühlten sich wie ein ganzes Leben an. Eigentlich sollte dieses Leben in einem halben Jahr für ihn enden, aber er hatte seine Fäuste einfach nicht stillhalten können. Es hatte sich einfach alles geändert. Er hatte sich verändert.

Nun stieß er sich vom Fenstersims ab, um zurück zum Schreibtisch zu gehen. Noch bevor er das Päckchen geöffnet hatte, das mit dem Brief gekommen war, wusste er, dass er es bereuen würde. Der scharfe Stich in seiner Brust, als er das Buch herausholte, war der Beweis. Scheiße …

Sein Herz zog sich zusammen und er schluckte hart. Vom Buchdeckel lächelten ihn seine Geschwister auf einem Foto an, wobei ihn der Anblick seiner Schwester mehr traf als der seines fünfjährigen Bruders, der sich seit seinem letzten Besuch vor einem Dreivierteljahr kaum verändert hatte. Nein, er war ja bereits sechs. Der Kleine würde bald in die Schule kommen. Daniels Magen drehte sich bei dieser Erkenntnis, da er sofort an seine Mom und seinen Dad denken musste. Schnell schüttelte er den Kopf. Sein Blick wanderte über das rundliche Gesicht seines Bruders mit den großen Kulleraugen und dem fröhlichen Lächeln, hin zu dem seiner kleinen Schwester, das er kaum wiedererkannt hätte.

Die Phase mit den bunten Strähnen hatte sie wohl hinter sich gelassen. Ihre Haare waren wieder lang und rabenschwarz. Das Gesicht wirkte schmaler und ihr Lächeln anders. Das fröhliche Mädchen im rosa Tutu, das kaum hatte stillsitzen können, ständig durch die Gegend gehüpft war und einen Disney-Song nach dem anderen geträllert hatte, gab es wohl nicht mehr. Die größte Veränderung allerdings waren ihre katzenförmigen Augen. Früher weiß-blau, waren sie jetzt viel dunkler und das Blau intensiver. Eine Veränderung, die bei ihren Genen absolut normal war und die auch ihr kleiner Bruder durchmachen würde, wenn er siebzehn Jahre alt werden würde.

»Vier Jahre …«, dachte er und hielt den Blick auf seine kleine Schwester gerichtet, die auf dem Foto ihren Kopf gegen den von Elion lehnte. Dann stieß Daniel ein leises Lachen aus. »Nein, sie ist echt kein kleines Mädchen mehr.«

»Du solltest dich in Acht nehmen, Samuel«, warnte die ruhige Stimme in seinem Kopf mit einem scherzhaften Unterton, der ihm gleich wieder ein Lachen entlockte. Das Gefühl, als würde etwas Schweres gegen seine Brust drücken und ihm allmählich die Luft abschnüren, wurde jedoch nur stärker. Ein Gefühl, von dem er wusste, dass es unerträglich werden würde, wenn er dieses Buch öffnete, das offenbar voll mit Fotos von seinen Geschwistern war. Ein Gefühl, das er sich nicht leisten konnte.

Daniel schluckte, schloss für einen Augenblick die Augen und verstaute dann das Fotobuch so unter den Büchern, die sich auf seinem Schreibtisch stapelten, dass er es nicht mehr sehen konnte. Trotzdem starrte er die Stelle einige lange Minuten finster an und rang mit sich und seiner gottverdammten Neugier.

Zum Glück hörte er kurz darauf, wie ein Schlüssel hinter ihm in das Schloss seiner Zellentür geschoben wurde. Augenblicklich legte sich ein Schalter in ihm um. Daniel wurde ruhig. Die düstere Grimasse verschwand von seinem Gesicht und es wurde zu einer gleichgültigen Maske.

Einen Augenblick war es mucksmäuschenstill. Dann wurde die Zellentür mit einem Ruck geöffnet. Sofort fuhr Daniel innerlich zusammen. Äußerlich ließ er sich nichts anmerken. Jeder seiner Muskeln war zum Zerreißen gespannt. Betont langsam drehte er sich um und stand auf.

»Abendessen, Johnson!« Mertens, einer der angenehmeren Wärter, warf ihm einen kurzen Blick zu, sah sich in der Zelle um und trat dann beiseite, damit ein anderer Häftling das Tablett mit dem Essen hereinbringen konnte. Ein Häftling, den Daniel noch nicht kannte. Er sagte nichts, sondern nahm sein Abendessen nur mit einem kurzen Nicken an. Sein Gegenüber schenkte ihm ein fettes Grinsen, dessen Bedeutung Daniel nicht verstand. Der gelbe Götterstein, den der Kerl an seinem Augenbrauen-Piercing trug, war hingegen informativer. Durch ihn wusste Daniel, dass der Typ nicht bloß neu war.

»Er ist wegen dir hier, Samuel«, säuselte der Stein in seinem Kopf mit unverkennbarem Hohn in der Stimme. »Und er hat dir ein Geschenk mitgebracht. Es heißt, sie sei sehr schön. Ich hoffe, ich darf sie …«

Die Zellentür schlug zu und die Stimme verschwand sofort aus seinem Kopf. Daniel wartete einige tiefe Atemzüge lang, dann widmete er sich seinem Tablett. Da er seit fast einem Jahr »Geschenke« bekam, wusste er, wo er suchen musste. Er hob das Tablett hoch und riss den Umschlag ab. Ohne groß zu zögern und wissend, was er zu sehen bekommen würde, öffnete er ihn.

Sein erstes Geschenk vor gut einem Jahr hatte ihn geschockt und vollkommen aus der Fassung gebracht. Jetzt war er – nun ja – gelangweilt, was aber nicht bedeutete, dass er die Fotos beziehungsweise die Message dahinter nicht ernst nahm. Ganz im Gegenteil. Er war ihnen sogar ein bisschen dankbar, dass sie ihn daran erinnerten, weshalb er das alles hier machte.

Die Tatsache, dass sie die einzigen Menschen, die ihm nach dem Tod seiner Eltern noch geblieben waren, ins Visier genommen hatten, um ihn an ihren Deal zu erinnern, war eine gute Motivation, um sein Ding tatsächlich durchzuziehen. Allerdings machte sich Daniel nicht allzu große Sorgen. Auch dieses Mal war kein Foto der beiden dabei, das aus nächster Nähe gemacht worden wäre. Was für ihn bedeutete, dass sie Schwierigkeiten hatten, an sie heranzukommen. Ein Risiko würde er aber trotzdem nicht eingehen. Ihn beschäftigte etwas anderes. »Die Abstände werden kürzer. Und jetzt … ein neuer Bote …«

Eins nach dem andern zerriss Daniel die Fotos, während sich in seinem Kopf eine Theorie breitmachte. Sowie ein Plan, der ihm helfen würde herauszufinden, ob er damit richtig lag. Beim letzten Foto, auf dem seine kleine Schwester mit einem Koffer zu sehen war, wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Rasch drehte Daniel das Foto um. In krakeliger roter Schrift stand dort: Happy Birthday, meine Hübsche.

#1 D a s Foto

Eine Wolke zog weiter und brachte den Mond zum Vorschein. Augenblicklich erhellte violettes Licht die Wiese.

Er ging in die Hocke und sah dabei zu, wie die glockenförmigen Blumen sich langsam aufrichteten und ihre Blütenblätter entfalteten. Es war, als wäre die Wiese plötzlich von leuchtenden violetten Sternen übersät. Er sah auf. Sie lachte auf ihn hinab und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. So schön die Landschaft um ihn herum war, sie stellte alles in den Schatten. Einen Augenblick schien die Welt zu erstarren. Ganz so, als wollte jemand, dass er genügend Zeit hatte, sich diesen Moment haarklein einzuprägen.

Er stand auf. Sie reichte ihm ihre Hand. Er ergriff sie, trat an sie heran und vergrub die Nase in ihrem Haar. Sie roch genauso wie die Blumen um sie herum. Ein Duft, den er nie beschreiben würde können. Obwohl er ihn in diesem Moment an etwas erinnerte. Er schnupperte. Doch, er kannte diesen Duft. Es roch nach … nach Bacon.

Rumps!

»Verfickte Scheiße!« Raphael von Schwarzbach fluchte, rappelte sich auf und hielt sich seinen Hinterkopf. Erst warf er der Couch, auf der er gerade noch geschlafen hatte, einen finsteren Blick zu, dann dem Stapel Medizinwälzer, auf dem sein Kopf gelandet war. Das würde mit Sicherheit eine verdammte Beule geben. Eins stand für ihn schon mal fest: Dieser Tag würde beschissen werden.

Just in diesem Moment meldete sich allerdings sein Magen lautstark zu Wort. Raphael wandte sich zur Tür, durch die ein schwacher, aber deutlicher Duft nach frisch gebratenem Bacon hereinwehte.

Mit ein paar weiteren Flüchen zog Raphael sich an der Couch auf die Beine und stieg über die Stapel Bücher, durch die er sich in den letzten Tagen gekämpft hatte. Mittlerweile bestand sein Zimmer zum Großteil nur aus Büchern. Das kleine Regal, der Schreibtisch sowie die Kommode und der Wandschrank waren bereits überlastet, so dass der Boden hatte herhalten müssen.

Murrend riss Raphael die Tür auf und kniff – wieder fluchend – die Augen zusammen. Nach dem Halbdunkel seiner »Höhle«, wie sein Onkel/Mitbewohner sein Zimmer bezeichnete, war der Flur mal wieder viel zu hell.

Das ganze Licht wurde von einem schmalen Gang über der Galerie geschluckt, über die man in den Wohnraum blicken konnte, dessen Stirnseite aus einer Fensterfront bestand. Die Treppe endete direkt im Wohnzimmer, das wie der Rest des Lofts minimalistisch in Schwarz, Grau und Weiß eingerichtet war. Raphael gefiel es. Er nahm die letzten beiden Stufen nach unten und schlurfte am Billardtisch vorbei Richtung Küche, die um die Ecke an den Essbereich grenzte. Eine freistehende Theke trennte die Bereiche voneinander.

Raphael hatte nur Augen für den Kaffeeautomaten. Erst als die Tasse sich endlich mit der lebensrettenden schwarzen Brühe gefüllt hatte – er hatte mal wieder das Gefühl, dass die Maschine heute extra langsam war, um ihn zu ärgern –, wurde ihm bewusst, dass er beobachtet wurde. Immer noch leicht verschlafen drehte er sich mit der Tasse an den Lippen um. Er brauchte einige Schlucke, ehe sein Gehirn das Bild vor ihm verarbeiten konnte. Langsam hoben sich seine Brauen und er senkte die Tasse.

Am Tisch saß nicht nur sein Mitbewohner formerly known as Onkel Charly, sondern auch eine hochgewachsene Gestalt, die er zuletzt vor gut zwölf Jahren getroffen hatte. Raphael erkannte ihn nur dank der vielen Facebook-Fotos. Einen Augenblick war es noch still, dann brachen die beiden Männer am Tisch in schallendes Gelächter aus. Raphael verzog bei der Lautstärke das Gesicht, setzte sich aber in Richtung Tisch in Bewegung. Um seinem Gehirn noch etwas auf die Sprünge zu helfen, nahm Raphael unterwegs noch ein paar kräftige Schlucke Kaffee.

Sein Onkel erholte sich als Erster von seinem Lachkrampf. Immerhin hatte er Raphael schon öfter morgens erlebt. Im Gegensatz zu Raphael war Onkel Charly ein absoluter Morgenmensch. Einer von der schlimmsten Sorte. Die, die schon beim Aufstehen gute Laune hatten, noch vor dem ersten Kaffee pfiffen und an manchen Tagen sogar lautstark – und falsch – sangen. Es war der einzige Makel, den sein Onkel in Raphaels Augen hatte. Ansonsten war Onkel Charly, seines Zeichens FBI-Agent einer Einheit, von deren Existenz die Menschen nichts wussten, schlichtweg cool.

Mit seinem üblichen breiten Grinsen hob Charly die Pfanne, die in der Mitte des Tisches platziert war, hoch und fragte in seinem typischen Yankee-Englisch: »Bacon gefällig?«

Raphael blieb einen Meter vor dem Tisch stehen und legte den Kopf schief. Er kniff die Augen zusammen. »Hast du meine Tür aufgemacht, damit ich vom Bacongeruch wach werde?«, fragte er.

Anfangs war es ihm besonders morgens schwergefallen, Englisch zu sprechen, mittlerweile machte er das allerdings, ohne groß darüber nachzudenken. Immerhin lebte er jetzt schon seit einem Jahr in Washington DC.

»Anders hab ich dich nicht wach bekommen. Frischer Bacon holt sie eben alle aus dem Tiefschlaf«, antwortete Charly grinsend und hielt ihm weiter die Pfanne unter die Nase.

Raphaels Magen verkrampfte sich und das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Er murrte, wandte sich dann aber zunächst an ihren Besuch. Sein Cousin Eric war einer von insgesamt sechs auf väterlicher Seite. Und einer derjenigen, mit denen er am wenigsten zu tun gehabt hatte, weil Eric mit seiner Familie an der Westküste lebte und Raphael meistens nur zu Besuch in Boston oder New York bei ihren gemeinsamen Großeltern gewesen war. D.C. und L.A. waren auch nicht gerade Nachbarn, und bisher hatte Raphael einfach keine Zeit gefunden, um die andere Küste der Staaten zu erkunden.

»Hey Eric. Ist lange her«, sagte er und bemühte sich zu lächeln.

Sein Cousin stand grinsend auf und nickte. »Ja, stimmt, Mann!«, meinte er und hielt ihm die Hand zum Einschlagen hin.

Raphaels jüngere Schwester Melina hatte während ihrer drei Jahre in den Staaten Kontakt zu Eric und seinen drei Brüdern gehabt, und ihn immer als »langen Lulatsch« bezeichnet. Jetzt erkannte Raphael an, dass es keine bessere Beschreibung für seinen Cousin gab. Er selbst war mit seinen 1,86 Metern nicht gerade klein, aber neben Eric fühlte er sich so. Sein Cousin war fast einen Kopf größer und schlaksig. Wie viele aus ihrer Familie hatte er kantige Gesichtszüge, dunkle Augen und Haare. Letztere waren bei Eric allerdings auf einer Seite auf wenige Zentimeter abrasiert und auf der anderen lang.

»Du bist ja fast so ein schlimmer Morgenmuffel wie meine Mom. Zum Glück sind die Gene an mir vorübergegangen«, stellte Eric fest.

Nun grinste auch Raphael seinen Cousin an. Die Krankheit »Morgenmuffel« kam in der Familie seines Vaters häufiger vor.

»Fast so schlimm?«, hakte Raphael nach und ließ sich auf den Platz neben seinem Cousin fallen.

»Na, du hast noch nichts nach mir geworfen. Bei ihr geht man lieber in Deckung.«

Raphael lachte leise. Er erinnerte sich vage an ein paar Geschichten von der älteren Schwester seines Vaters. Allerdings interessierten ihn jetzt erst einmal zwei andere Dinge: der Bacon und »Was treibt dich denn nach D.C., Eric?« Während er sich den restlichen Bacon auftat und nach den Brötchen griff, warf er seinem Cousin, der sich ebenfalls wieder hingesetzt hatte, einen kurzen Blick zu. Er hielt in seiner Bewegung inne, als er sah, wie sich dessen Gesicht verdunkelte.

Anstelle von Eric antwortete Onkel Charly: »Eric hat es auf das Fashion Institute of Design hier in D.C. geschafft. Dieses Semester fängt er an, und ich habe ihm angeboten, hier zu wohnen und sich die Miete zu sparen. Das Arbeitszimmer benutze ich ohnehin nie.«

»Falls das für dich in Ordnung geht«, warf Eric an Raphael gewandt ein.

Raphael sah von Onkel Charly zu ihm. Er war sprachlos. Fashion Institute of Design?

»Du willst Modedesign studieren?«, brachte er schließlich vollkommen perplex hervor, ohne den Einwurf zu beachten.

Eric nickte ernst. »Allerdings«, antwortete er mit entschlossenem Blick.

Und in dem Moment begriff Raphael, was hier los war. »Dein Dad ist nicht begeistert davon, oder?«

Die Grimasse, die Eric schnitt, reichte als Antwort.

Erics Vater war ein knallharter Unternehmer, der – wie Raphaels eigener Vater – nur auf Geld und Gewinne fixiert war. Dass einer seiner Söhne etwas anderes machen würde als er, schien für viele undenkbar. So war es auch bei Raphael selbst gewesen. Er erinnerte sich noch genau, was passiert war, als er seinem Vater erzählt hatte, er wolle Arzt werden. Mehr als ein striktes »Nein, wirst du nicht!« hatte er darauf nicht bekommen. Würde sein Vater noch leben, hätte Raphael jetzt wahrscheinlich BWL studiert oder würde in der Bank seiner Familie arbeiten.

»Er ist ausgerastet. Hat mir die Kohle gestrichen.« Eric zuckte mit den Schultern. »Aber das ist mir ziemlich schnuppe. Hab in den letzten Jahren viel nebenbei gejobbt und das werde ich auch hier machen.«

Raphael erwiderte das Lächeln seines Cousins und nickte anerkennend. »Ich hab nichts dagegen, dass du hier einziehst. Ich bin ohnehin eher selten da.«

»Hab ich gehört«, erwiderte Eric. »Du sollst ganz besessen von deinem Studium sein und noch nicht mal zu Weihnachten und zum Geburtstag deiner Großtante nach Hause geflogen sein.«

Raphael zuckte nur mit den Schultern und ging nicht weiter darauf ein. Er wollte lieber nicht daran denken, denn seine Laune hatte sich gerade zu bessern begonnen.

Sein Cousin schien das zu merken und fragte stattdessen: »Wie lange bleibst du jetzt noch in den Staaten?«

»Definitiv noch dieses Semester. Es gibt da einen speziellen Kurs, den ich unbedingt machen will. Außerdem hab ich ein Praktikum beim besten Kinderchirurgen in Washington bekommen. Das ist eine tolle Chance!«

»Also für mich wäre das nichts: Menschen aufschneiden und dann auch noch Kinder. Nein, danke.« Aus dem Augenwinkel sah Raphael, wie sein Cousin den Kopf schüttelte.

»Wenn man ihnen dadurch helfen kann …«

Raphael verschlang das letzte Stück Bacon und wandte sich dann dem Brötchen zu, während Onkel Charly und Eric ein Gespräch über das Studium anfingen. Raphael hörte nur mit einem Ohr und schließlich gar nicht mehr zu, als sein Blick zum Fenster streifte und seine Gedanken abdrifteten.

Washington war eine tolle Stadt. Mal abgesehen von der Uni und ihrem Angebot. Doch so langsam wurde es immer schwerer, sich etwas vorzumachen. So sehr er die Stadt auch mochte, Washington war nicht sein Zuhause. Neue Professoren, neue Stadt, neues Land, Zusammenleben mit dem coolsten Onkel, den es gab – das hatte eine Zeit wirklich Spaß gemacht und ihn von so Manchem abgelenkt, aber inzwischen ertappte er sich immer öfter dabei, wie er sich wünschte, wieder nach Hause zu fahren.

Ehe er vollkommen in seinen Gedanken versinken konnte, riss ihn Eric mit einem sachten Stoß in die Seite aus den Grübeleien und fragte: »Hey! Das Foto schon gesehen?«

Froh über ein Thema, das nichts mit Zuhause oder seiner Familie zu tun hatte, schüttelte Raphael den Kopf. »Foto?«

Erics Augen wurden groß und er holte sofort sein Smartphone heraus. »Ich dachte eigentlich, deine Sis würde es dir als Erstes schicken.«

Nichts mit Zuhause oder seiner Familie zu tun? Raphael wurde seltsam flau im Magen, als ihn eine düstere Ahnung beschlich.

»Inzwischen dürfte es schon um die halbe Welt gegangen sein«, meinte Eric, während er mit schnellen Fingern ein Bild aufrief und es Raphael hinhielt.

Raphaels Mund war sofort strohtrocken, während sich seine Brust quälend langsam zusammenzog. Automatisch griff er nach dem Handy, ohne den Blick vom Display zu nehmen.

Auf dem Bild waren noch andere Personen zu sehen, aber er hatte nur Augen für sie. Sie hatte pechschwarze Haare, ein Lächeln, als wüsste sie Dinge, die niemand sonst wusste, und katzenförmige Augen in einem unglaublichen Saphirblau. Ihre Augen zogen ihn in ihren Bann. Und das nachdem sie sich ein Jahr nicht mehr gesehen hatten.

Es dauerte eine Weile, ehe Raphael kapierte, warum es das Foto war. Sofort entwich ihm ein leises Lachen. Das Foto zeigte alle bisher erwachten Heiligen, wie auch sie eine war. Anlässlich der Verlobung des Ältesten von ihnen waren sie alle von der weißen Wächterfamilie, den DeWhites, nach England eingeladen worden. Seine Mutter hatte etwas in der Art bei ihrem letzten Anruf erwähnt und sich über die Absichten der DeWhites ausgelassen, alle Heiligen in ihre Klauen zu bekommen. Wie man auf dem Bild sehen konnte, hatte sie sich offensichtlich gegen diese Klauen gewehrt. Während alle anderen Personen auf dem Foto weiß gekleidet waren, trug sie schwarz.

»Angeblich hat man auch ihr ein weißes Abendkleid gegeben und gebeten, es anzuziehen. Sie hat sich geweigert«, meinte Eric grinsend.

Raphael hätte sich auch gewundert, wenn es anders gewesen wäre.

»Sag mal, was meinst du? Könnte ich Weihnachten mit dir nach Deutschland kommen? Ich hab schon so viel von ihr gehört. Ich muss sie einfach kennenlernen.« Eric redete noch weiter, doch Raphael hörte ihm nicht mehr zu. Er wollte nur noch weg. Er gab seinem Cousin mit einem gezwungenen Lächeln sein Handy zurück. Vielleicht sollte er sich das mit dem Besuch Zuhause noch mal überlegen. Immerhin lebte es sich in D.C. doch auch nicht schlecht.

Wenn es da nur nicht seine Verpflichtungen als schwarzer Wächter geben würde. Mit diesem weiteren Semester hatte er die Grenzen ohnehin bereits ausgereizt. Noch länger würde der Graf ihn bei aller Liebe nicht bleiben lassen, denn im Gegensatz zu den Staaten gab es in Europa kaum schwarze Wächter. Instinktiv griff Raphael nach seinem Lederarmband und dem eingefassten schwarzen Stein. Er unterdrückte einen Seufzer und merkte, dass Onkel Charly und Eric ihn erwartungsvoll ansahen.

»Sorry, was?«

»Ich hab gefragt«, meinte Eric, »ob du Melina schon angerufen hast.«

Raphael runzelte die Stirn. Sein Blick blieb an seinem Onkel hängen, der ihn scharf musterte. Wie so oft hatte Raphael das Gefühl, durchleuchtet zu werden. »Warum sollte ich Melina anrufen?«, fragte er und sah schnell zu Eric hinüber.

Der schaute ihn einen Moment verblüfft an, dann gluckste er. »Hat da jemand den Geburtstag seiner kleinen Schwester vergessen? Schäm dich, Bro!«

Raphael fiel aus allen Wolken. »Fuck!« Er sprang auf. Jetzt hatte er die perfekte Ausrede, um so schnell wie möglich zu verschwinden und ganz besonders seinem Onkel aus dem Weg zu gehen, der ihn noch immer mit diesem durchdringenden Blick beobachtete.

Raphael ließ Eric und seinen Onkel zurück, wobei er dessen Blick noch am Treppenabsatz auf sich spüren konnte. Er wusste, dass Onkel Charly langsam anfing, sich Sorgen zu machen. Er kaufte es Raphael nicht mehr ab, dass er es in Washington so toll fand, dass er deshalb noch länger hierbleiben wollte. Schon als er verschiedene Gelegenheiten nicht genutzt hatte, um nach Hause zu fliegen, hatte sein Onkel ihn so angesehen. Aber bisher hatte er nichts gesagt, sondern Raphael in Ruhe gelassen.

Im Gegensatz zu seiner Mutter. Sie hatte bereits Weihnachten gewittert, dass er nicht nur wegen der guten Uni, den Forschungsprogrammen und Praktika von zu Hause fernblieb, sondern es einen anderen Grund gab.

Raphael ließ seine Zimmertür hinter sich ins Schloss fallen und begann unter den verstreuten Unisachen, die um die Couch von seiner Lernnacht verteilt lagen, nach seinem Handy zu suchen. Als er es schließlich unter einem der Collegeblöcke hervorgezogen hatte, fand er darauf eine Nachricht seiner kleinen Schwester, die ihm das Foto geschickt hatte. Raphael fackelte nicht lange und löschte es.

Fotos von ihr waren nicht gerade hilfreich, um sie zu vergessen. Ob er ihr überhaupt jemals wieder unter die Augen treten könnte nach dem, was er getan hatte? Die Scham saß tief. Nicht zuletzt, weil er sich schon lange nicht mehr sicher war, ob sein Handeln nicht zu krass gewesen war und es nicht ausgereicht hätte, einfach nur nach Amerika zu gehen. Das machte dieses tiefverwurzelte Gefühl in seiner Brust selbst nach einem Jahr umso erdrückender.

Und dann war da ja auch noch der Schwur, den er vor fünf Jahren abgelegt und fast auf den Tag genau vor einem Jahr gebrochen hatte: »Ich schwöre, niemals in das Bewusstsein eines Menschen oder Engels in eigener Sache einzudringen, seine Erinnerungen zu erfassen, zu verändern oder zu löschen. Ich schwöre, diese Fähigkeiten nur einzusetzen, wenn die Existenz unserer Welt bedroht wird.«

#2 Home Sweet Home

»Nicht dein Ernst!«

Neila von Schwarzbach seufzte und zuckte leicht mit den Schultern, während ihre freie Hand durch ihr Haar strich. Mit der anderen hielt sie ihr iPhone ein Stück von sich weg, von dessen Display sie ihre entsetzt und zerknirscht wirkende Cousine anstarrte. Melina war nur eine Sekunde lang sprachlos, dann legte sie los und stieß einen wüsten Fluch nach dem anderen aus.

Neila war froh, dass die Umstehenden, die mit ihr am Coffeeshop am Flughafen anstanden, Melina dank der Ohrstöpsel nicht hören konnten.

»Hey, hey, zur Party bin ich ja da!«, beschwichtigte Neila ihre Cousine, als diese kurz Luft holte, um zur nächsten Schimpftirade anzusetzen.

»Das will ich auch hoffen. Trotzdem … ohne dich wird das nur halb so viel Spaß machen.«

»Sowieso! Ohne mich seid ihr doch aufgeschmissen. Aber hey …«, Neila warf ihr ein gespielt arrogantes Grinsen zu, »… da müsst ihr jetzt eben durch.« Sie lachte, als Melina mit den Augen rollte und fügte hinzu: »Mal abgesehen davon, dass ich überhaupt keinen Spa-Besuch brauche. Du hingegen … tolle Frisur!« Neila zog ironisch eine Augenbraue nach oben.

»Haha!« Melina schnitt ihr eine Grimasse, konnte es aber nicht lassen, sich durch die verstrubbelten Haare zu fahren – sie war quasi gerade aus dem Bett gefallen – und sie sich im Nacken zusammenzubinden.

Vor Neila kam Bewegung in die Schlange und sie rückte endlich auf. »Ich bin gleich dran. Lass dir dadurch ja nicht deine Laune verderben. Mach dir mit Maya und Preya einen schönen Tag und entspann dich. Wir holen das irgendwann nach. Deine Mom findet eh immer einen Grund, warum wir mal wieder in ein Spa müssen.«

Das brachte Melina endlich zum Lachen. »Stimmt. Spätestens zu Weihnachten ist es wieder so weit. Wenn sie die Abflugzeit noch weiter nach hinten schieben, dann mach denen Feuer unterm Hintern, verstanden?«

»Ach, ich weiß nicht. Feuer ist nicht so mein Ding.«

»Dann lass sie baumeln!«, erwiderte Melina mit einem schurkischen Grinsen, das Neila mit einem Lachen quittierte.

»Geht klar. Ach und Mel?« Der kahlköpfige Herr im Nadelstreifenanzug vor ihr trat an die Theke, und Neila rückte wieder ein Stück auf. »Happy Birthday!«

Neila beendete den Videoanruf und steckte das iPhone zurück in ihre Hosentaschen. Einige Augenblicke später war sie an der Reihe und bestellte.

Mit zwei Cappuccinos, einem Schwarztee und einem Chai Latte machte sie sich schließlich auf den Weg zurück zu ihren Reisegefährten.

Neila fand es nicht gerade prickelnd, einen entspannten Nachmittag mit ihren Freundinnen in einem Spa zu verpassen, aber es war auch kein Weltuntergang. Das würde es erst sein, wenn sie die Party verpasste.

Denn wie ihre liebe Cousine immer so schön sagte: »Man hat nur einen Achtzehnten und den muss man einfach feiern!« Und sie würden es zusammen krachen lassen!

18! Seit exakt sieben Tagen war sie jetzt volljährig und fühlte sich – nicht anders als vorher auch. Ganz im Gegensatz zu ihrem siebzehnten Geburtstag. Seitdem war sie wortwörtlich ein anderer Mensch. Eine weiterentwickelte Form des Homo Sapiens genauer gesagt, die sich äußerlich nicht von ihren Artgenossen unterschied, dafür aber robuster war und so einige coole Dinge anstellen konnte.

Aber da »weiterentwickelte Art des Homo Sapiens« nicht besonders schön klang, war man bei dem Namen geblieben, den sich ihre Vorfahren vor über zweitausend Jahren gegeben hatten: Engel.

Aus heiterem Himmel zu erfahren, dass man ein Engel war, hatte es ja schon irgendwie in sich, aber für Neila war es nicht bei dieser einen Neuigkeit geblieben. Nein, sie hatte auch noch zwei Familiengeheimnisse anvertraut bekommen, über die sie zu allem Überfluss mit niemandem reden durfte. Außerdem war sie von einem Götterstein – dem Hilfswerkzeug der Engel, durch welches sie diese coolen Dinge anstellen konnten – erwählt worden, was bis auf ihr nur fünf Personen in den letzten zweihundert Jahren passiert war. Und dann war sie zu guter Letzt mit ein paar Bösewichten zusammengestoßen, denen sie einen Krankenhausaufenthalt verdankte.

Ach ja, und dann hatte man ihr den Stempel »Heilige« aufgedrückt; samt Weltrettungsmission.

Innerhalb einer Woche hatte man ihr Leben auf den Kopf gestellt und es noch einmal ordentlich durchgeschüttelt. So hatte es sich jedenfalls für sie angefühlt.

All das hatte sie ein klein wenig – okay total – überfordert, was sie sich natürlich nicht hatte anmerken lassen. Insgeheim jedoch hatte sie sich in den Wochen und auch noch Monaten nach ihrem Siebzehnten mehrfach gewünscht, einfach nur in ihr altes Leben zurückkehren zu können.

Dank einiger großartiger Menschen hatte sie sich dann aber immer wieder zusammengerissen und durchgehalten. Dank ihrer Unterstützung fand Neila ihr Leben inzwischen einfach nur noch cool, und die Tatsache, dass das einzig Normale an ihr war, dass nichts normal war, ziemlich witzig.

Neila von Schwarzbach war ein Engel, große Schwester eines kleinen Sechsjährigen, Mitglied einer alten und steinreichen Grafenfamilie, Bewohnerin eines Schlosses, stolze Besitzerin eines Göttersteins, der zu den mächtigsten Heilsteinen gehörte, und in ein paar Tagen Elftklässlerin an einer abgefahrenen Schule. Und das, was dahinter im Geheimen lag, machte ihr Leben noch spannender.

Auch wenn die Woche nach ihrem Siebzehnten ungeschlagen an Überraschungen, Entdeckungen, Aufregungen und Action war, war die Woche nach ihrem Achtzehnten nicht minder langweilig gewesen.

In der ersten Woche der Sommerferien war bei ihr eine Einladung zu einer Verlobung eingetrudelt, die sie aus mehreren Gründen angenommen hatte.

Erstens, um mal wieder in ihre alte Heimat zu kommen.

Zweitens, um die anderen armen Teufel kennenzulernen, denen man ebenfalls den »Heiligen«-Stempel aufgedrückt hatte.

Und drittens, um sich ein Bild von der Familie zu machen, die quasi das Pendant zu den Schwarzbachs war und über die so einige Gerüchte kursierten: den DeWhites.

Nach außen hin waren die DeWhites und die Schwarzbachs Partner, die seit zweitausend Jahren dafür sorgten, dass die Menschen nichts von der Existenz der Engel erfuhren, und immer an einem Strang zogen. Die Wahrheit? Sie konnten sich, auf Teufel komm raus, nicht ausstehen und fanden immer wieder eine Möglichkeit, sich in die Haare zu kriegen.

Neila konnte den Großteil der DeWhites, insbesondere die beiden Oberhäupter der weißen Wächter, nicht ausstehen. Sie hatte es versucht, aber es ging nicht.

Die Art und Weise wie die beiden Oberhäupter in der letzten Woche unterschwellig über ihre Familie hergezogen hatten, hatte an ihrem Stolz gekratzt. Genauso wie die plumpen Bestechungs- und Lockversuche. Lady Esmeralda und Lord Matthew DeWhite, Geschwister in den Achtzigern, hatten Neila England schmackhaft machen wollen, genauer gesagt die dortige Akademie, die unter der Leitung der DeWhites stand.

Neila war unter einiger Anstrengung höflich geblieben, hatte das Angebot immer wieder dankend abgelehnt und keines der »kleinen« Geschenke, die sie abends in ihrem Zimmer gefunden hatte, angerührt.

Auch wenn sich die Gerüchte über die DeWhites für Neila zum Großteil bestätigt hatten, gab es da doch die eine oder andere Ausnahme, mit der sie sehr gut auskam. Und das sogar seit gut einem Jahr.

Offiziell hatte Lord Matthew zwei seiner achtundzwanzig Enkel – der Typ war inzwischen bei Ehefrau Nummer acht – nach Deutschland geschickt, damit sie ihr Deutsch verbesserten und ihren Abschluss an der Akademie in Traunstein machten. Inoffiziell ging es bei diesem Arrangement um zusätzlichen Schutz, sowohl für Melina, als Besitzerin eines Wächtersteins, mit dem sie gerade umzugehen lernte, als auch für Neila. Nicht etwa, weil sie Mädchen waren, sondern weil es immer wieder Engel gab, die versuchten, einem jungen Wächter seinen Stein abzunehmen oder durch einen Angriff auf eine bekannte Persönlichkeit ein Statement abzugeben. Auch der Rest ihrer Familie hatte in der Zeit ihrer Ausbildung als Engel Begleitschutz gehabt. Neila und Melina aber waren die ersten, deren »Bodyguards« den Nachnamen DeWhite trugen.

Es war seltsam gewesen, aber Neila war inzwischen froh darüber, dass Thomas und Marcus DeWhite in ihr Leben getreten waren. Nach den vier Jahren, in denen sie sich vollkommen zurückgezogen hatte, hatte sie beinahe vergessen, wie es war, Freunde zu haben. Im Laufe des letzten Jahres hatte sie mehrere davon gewonnen. Allen voran diese beiden, die jetzt, da die Ferien vorbei waren, mit ihr zurück nach Deutschland flogen.

»Man, das wurde aber auch Zeit!«

Marcus richtete sich auf und zog sich die Kopfhörer von den Ohren. Ohne dieses Accessoire war der Blondschopf, der ein Jahr älter war als sie, selten anzutreffen. Marcus sah nicht schlecht aus, und der neue Haarschnitt, seitlich kurz geschoren, oberhalb länger und nach hinten gekämmt, stand ihm wirklich gut. Er war in etwa so groß wie Neila, Leichtathlet, was man seinem Körper ansehen konnte, und er legte viel Wert auf sein Äußeres. Marcus liebte es, im Mittelpunkt zu stehen und dabei alle zu unterhalten. Ob mit seinen Sprüchen, seinen schrägen Tanz-Moves oder als DJ. Eigentlich war es mit ihm immer entspannt und lustig, aber auch er hatte mal einen schlechten Tag. Und heute schien er definitiv mit dem falschen Fuß aufgestanden zu sein. Wie auch schon in den vergangenen Tagen.

»Die nächste Runde kannst ja du holen«, erwiderte Neila gelassen und ließ sich von seinem leicht gereizten Unterton nicht beeindrucken. Mit einem Nicken bedeutete sie ihm, einen der vorderen Becher aus der Halterung zu nehmen, dann wandte sie sich nach rechts zu Marcus’ gleichaltrigem Cousin Thomas und meinte: »Ihr Tee, Sir.«

Von Thomas bekam sie ein breites Grinsen und ein betont britisches »Thank you, darling«.

Thomas DeWhite war äußerlich der eher unscheinbare Typ. Er war einen halben Kopf größer als Neila, hatte einen normalen Körperbau, halblange braune Haare, die ihm in die Stirn fielen, stahlblaue Augen hinter rechteckigen Brillengläsern und einen gepflegten Dreitagebart.

Hinter dieser unscheinbaren Oberfläche verbarg sich ein einfühlsamer Charakter mit einer scharfen Beobachtungsgabe. Er war bodenständig und ruhiger als Marcus. Mit ihm konnte man einfach dasitzen und schweigen, ohne dass es irgendwie seltsam war.

Was Thomas anging, so hatte Neila sich mit ihm auf Anhieb gut verstanden, während sie mit Marcus erst hatte warm werden müssen. Sie hatte im letzten Jahre selbst mit ein paar Dingen zu kämpfen gehabt und Marcus’ laute »Mann, sei doch kein Spaßverderber«-Art hatte sie nur genervt. Inzwischen trat Neila einfach den Rückzug an, wenn Marcus ihr mal wieder zu viel wurde, und er ließ es ohne Kommentar zu.

Neila machte schließlich noch eine halbe Drehung nach rechts und hielt der Dritten im Bunde den anderen Cappuccino hin.

Lucy Keller war eine Frau Anfang dreißig. Sie hatte langes, dunkelblondes Haar, das sie meistens in einem straffen Pferdeschwanz trug, ein herzförmiges Gesicht und braune Rehaugen. Kurz: Sie war eine schöne, schlanke Blondine, die allerdings keineswegs so harmlos war, wie sie aussah.

Lucy war eine der insgesamt zwölf Sicherheitsangestellten ihrer Familie und für diese Reise Neilas Bodyguard. Im Gegensatz zu einigen der anderen Sicherheitsangestellten war sie hin und wieder für ein bisschen Small Talk zu haben. Sie lächelte auch mal, hielt aber ansonsten professionell Abstand zu Neila. Zum Beispiel weigerte sie sich strikt, Neila zu duzen. Zu einem Cappuccino ließ sie sich allerdings dann doch mal einladen.

»Danke!« Lucy nahm den Becher entgegen und schenkte Neila ein Lächeln, ehe sie den Blick wieder durch die Menge schweifen ließ.

Neila setzte sich wieder auf ihren Platz zwischen Thomas und Marcus, seufzte leise und nahm noch einen Schluck von ihrem Chai Latte.

»Schon gesehen?« Thomas hielt ihr sein Handy entgegen.

Sie warf einen Blick auf das Display und musste sofort grinsen.

»Das sieht doch gar nicht mal so schlecht aus«, meinte sie und nahm ihm sein Smartphone aus der Hand, um sich das Foto genauer anzusehen.

Außer ihr waren bisher fünf der insgesamt dreizehn Heiligen erwacht, die dazu bestimmt waren, sich eines Tages für das Wohl der Engelswelt zu opfern. Was diesen Teil ihres neuen Lebens anging, so hielt Neila ihn inzwischen für – um ihren Vormund, den Cousin ihres Dads zu zitieren –Altweibergeschichten.

Das Einzige, was man sicher wusste, war, dass etwa alle Jahrtausende dreizehn Engel innerhalb eines Jahrzehnts geboren wurden, die etwas Besonderes waren und eine Aufgabe zu erfüllen hatten. Man kannte ihre Namen, die Reihenfolge, in der sie erwachten, und wusste, dass sich irgendjemand im neunzehnten Jahrhundert diese Beinamen wie »Engel der Heilung« ausgedacht hatte, um sie noch wichtiger klingen zu lassen. Faktisch und historisch konnte man mehr nicht belegen, da kaum noch Aufzeichnungen existierten.

Neila hatte sich dazu entschieden, sich darüber nicht allzu viel den Kopf zu zerbrechen. Wenn sie den Geschichten glauben konnte, dann würde ohnehin nichts passieren, ehe die Heiligen vollständig erwacht waren. Und das würde noch etwa vier Jahre dauern.

Was ihre Einstellung anging, waren die bereits erwachten Heiligen gespalten. Eigentlich gab es nur einen, der wie Neila nicht viel auf die Sache mit den Heiligen und ihrer Weltrettungsmission gab.

Simon, der zwei Monate nach ihr erwacht war, stand auf dem Foto neben ihr. Der braungebrannte Surferboy aus Australien hatte wie üblich die Hände tief in den Hosentaschen vergraben und sah so aus, als würde ihn die ganze Sache nur langweilen. Ihn sowie den kleinen Japaner Kenshin, den Jüngsten unter ihnen, hatten die DeWhites versucht dazu zu bringen, nach England zu ziehen. Aber zu guter Letzt hatten ihre Bestechungsversuche auch bei den beiden nicht gezogen. Kenshin überlegte zwar, ob er später nicht in London studieren wollte, wollte sich das aber selbst erarbeiten und dabei keine Hilfe annehmen.

Die genauen Absichten der DeWhites kannte Neila nicht, aber dahinter steckte definitiv kein selbstloses Motiv. Das hatte sie mehr als deutlich in Lady Esmeraldas und Lord Matthews Gesichtern ablesen können, als Neila auf dem gestrigen Verlobungsball nicht in dem weiß-goldenen Abendkleid erschienen war, das man sie gebeten hatte anzuziehen, sondern in dem nachtschwarzen, das sie mit ihrer Tante ein paar Wochen vorher ausgesucht hatte. Damals hatte Neila sich für das Kleid entschieden, weil es ihr am besten gestanden hatte, doch getragen hatte sie es, um ein klares Statement abzugeben. Sie gehörte zu den Schwarzen. Schwarz und verdammt stolz darauf!

Und so vermittelte das erste Gruppenfoto der Heiligen eine ganz andere Botschaft, als es die weißen Oberhäupter beabsichtigt hatten. Ja, es war nur ein Kleid, ein schwarzes Kleid inmitten weiß gekleideter Menschen, aber es zeigte auch, dass die DeWhites nicht alle Heiligen hinter sich hatten.

»Sie wird dir das ewig nachtragen«, meinte Thomas, wobei er ihr einen warnenden, aber auch leicht belustigten Blick zuwarf. Neila sah ihn nur an und zuckte gleichgültig mit den Schultern, was ihm ein leises Lachen entlockte.

Irgendeiner da oben hatte schließlich Erbarmen mit ihnen. Ihr Flugzeug war dann doch früher als erwartet startklar, so dass sie gegen vier Uhr nachmittags am Flughafen in München landeten. Den zweistündigen Flug verschlief Neila komplett. Sie wachte erst auf, als das Fahrwerk auf der Landebahn aufsetzte. Noch leicht verschlafen und immer wieder gähnend hakte sie sich bei Thomas unter und folgte Marcus und Lucy, die es beide sehr eilig zu haben schienen. Aber erst nach einem kurzen Abstecher auf die Toilette wurde Neila richtig wach. Als sie mit Lucy an den Gepäckbändern zu den Jungs stieß, drehten dort bereits die ersten Koffer ihre Runden.

Ihr Begrüßungskomitee wartete auch schon in der Ankunftshalle auf sie.

»Miss Neila, willkommen zurück. Mr Thomas, Mr Marcus, ich hoffe Sie hatten angenehme Ferien«, begrüßte sie der Muskelprotz in Anzug, der auf den Namen John hörte. Lucys Kollege fackelte nicht lange, übernahm die Kontrolle über einen der Gepäckwagen und ging ihnen voraus zum Parkplatz.

Es gab Dinge, an die sich Neila bisher nicht hatte gewöhnen können. Wenn es um die Muskelprotze ging, die außerhalb ihres Zuhauses in ihrer Nähe waren, war das allerdings anders. Klar, es war seltsam, aber eben auch beruhigend. Und da ihre Aufpasser nicht wie ein Bienenschwarm um ihre Königin herumschwirrten, sondern sie aus der Ferne beobachteten oder mittels GPS im Auge behielten, bemerkte man sie meistens kaum.

Neila vertraute auf ihre Muskelprotze und vor allem auf ihre neu erlernten Fähigkeiten in einer speziellen Nahkampftechnik, in der sie Lucy trainierte. Vor einem Jahr war Neila bei einem Angriff kinderleicht außer Gefecht gesetzt worden. Noch einmal würde ihr das nicht passieren.

Ehe Neila es sich versah, saß sie zwischen Thomas und Marcus auf der Rückbank eines schwarzen Mercedes-Van. Während sie den Flughafen hinter sich ließen und auf die Autobahn fuhren, schaltete Neila den Flugmodus ihres Handys aus und schickte die obligatorischen »Gelandet, sind auf dem Weg«-Nachrichten raus, ehe sie sich zurücklehnte und wieder Musik hörte. Sie hatte gerade mal fünf Minuten die Augen geschlossen, als die Musik in ihren Ohren von dem »Ping« einer eingehenden Nachricht unterbrochen wurde.

Ein langgezogenes und entzücktes »Oh« entwich ihr, als sie die Nachricht ihres Vormunds – jetzt ja Ex-Vormunds - öffnete und ein Bild ihres kleinen Bruders vor sich sah.

Elion war mit seinen großen Kulleraugen, den wuscheligen blonden Haaren und den Grübchen allein schon zum Niederknien süß, doch mit einem kleinen Kaninchen auf dem Arm war der Kreischalarm vorprogrammiert.

Selbst den härtesten Kerlen würde dieses Bild ein Schmunzeln entlocken. Gerade beugte sich Thomas zu ihr herüber und lachte, als er sah, dass Neila schon dabei war, das Bild an ihre Mädels weiterzuleiten.

»Ich kann sie bis hier kreischen hören. Die armen Leute, die dann in unmittelbarer Nähe sind. Hoffentlich haben sie einen guten Ohrenarzt.«

Neila lachte leise, sah ihn dann aber mit einer hochgezogenen Augenbraue an und erwiderte grinsend: »Die kreischen mit los. Glaub mir. Und wenn ihre Ohren klingeln, dann werden sie das mit einem breiten Lächeln hinnehmen. Wer kann diesen Grübchen schon böse sein?«

Thomas erwiderte ihr Grinsen und lehnte sich wieder in seinem Sitz zurück. Neilas Blick wanderte zu Marcus, der aus dem Fenster starrte und wieder Musik hörte. Sie stieß ihm den Ellbogen in die Seite.

»Was?« Er zog seine Kopfhörer zurück und sah sie mit dieser miesepetrigen Grimasse an, die er schon den ganzen Tag mit sich herumtrug. Wortlos hielt ihm Neila das Foto unter die Nase und lächelte wissend. Nur einen Bruchteil einer Sekunde später konnte sie mit ansehen, wie sich Marcus’ Züge entspannten und sich das erste Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete, das sie seit Tagen von ihm gesehen hatte.

Ja, Elion vertrieb noch die dunkelsten Grimassen. Ihr kleiner Bruder war spitze!

»Wo steckt der Kleine?«, fragte er. Wie Thomas und Neila hatte er inzwischen ins Deutsche gewechselt, was er im Gegensatz zu Thomas, der durch seine Mutter zweisprachig aufgewachsen war, mit leichtem Akzent sprach.

»Bei Jill auf dem Bauernhof. Er und Michael bleiben bis morgen und kommen dann mit ihr und ein paar der anderen Hohenfels’ her, um unseren Geburtstag nachzufeiern.«

Bei ihren letzten Worten schossen Marcus’ Augenbrauen in die Höhe. Neila lachte, weil sie ganz genau wusste, was jetzt in seinem Kopf vorging.

»Bis zum Abendessen wirst du deinen Kater schon halbwegs ausgeschlafen haben. Drücken gibt’s nicht. Wer Party machen kann, kann auch mit unserer tollen Familie zu Abend essen. Die meisten werden es dir eh nicht übelnehmen, wenn du nicht ganz so fit bist oder wieder auf den Tisch knallst wie nach Fasching.«

Das Bild wie Marcus am Tag nach der Faschingsfeier ihrer Schule beim Mittagessen eingeschlafen und dabei kopfüber in der Suppe gelandet war, würde wohl keiner in ihrer Familie so schnell vergessen.

Marcus hatte das Ganze mit Humor genommen und lachte auch jetzt wieder darüber.

Die Stimmung wurde lockerer, ganz so wie Marcus selbst. Als sie schließlich die Autobahn verließen und zwischen kleinen Ortschaften und Feldern auf ihr Endziel zusteuerten, war Marcus wieder ganz der Alte und die düstere Grimasse Geschichte.

Sie unterhielten sich ausgelassen über dies und das, hörten sich die neusten von Marcus’ Tracks an und zogen über den einen oder anderen vom gestrigen Ball her.

Als sie allerdings auf die Zufahrtsstraße zum Schloss einbogen und auf den Schwarzbachwald zufuhren, verstummte Marcus mitten im Satz. »Scheiße tut das gut, wieder hier zu sein«, hörte sie ihn nach einigen Augenblicken murmeln.

Neilas Blick heftete sich für einen Moment auf ihn und sie sah, wie sich sein Lächeln vertiefte und er mit einem fast erleichterten Blick den Hals reckte. Irgendetwas an diesem Gesichtsausdruck gefiel ihr nicht. Jedenfalls hatte sie ein ungutes Gefühl, als sie ihn so sah.

Dann allerdings konnte sie den Drang nicht mehr unterdrücken, wandte den Blick nach vorne und sah über die Frontscheibe hinaus auf die vertraute Umgebung. Sie war nur eine Woche weg gewesen, aber es hatte gereicht, um das hier alles zu vermissen. Jetzt mit der dichten Wolkendecke, dem Wind und dem Regen wirkte es wie die Gegenden, in denen Disney-Bösewichte zu Hause waren. Der ganzen Szenerie fehlten eigentlich nur die Blitze, die bedrohlich über dem Himmel zuckten.

Eine Zeit lang fuhr der Van zwischen den Kiefern, Buchen und Eichen entlang, bis sie an ein hohes Tor aus schwarzen Eisenstäben kamen, das von einer grauen Steinmauer eingefasst war. Das große Abbild einer Eule, die ihre Flügel in den Himmel reckte, teilte sich in der Mitte, als es aufschwang und sie einließ.

Der Weg wurde steiler und kurviger, bis sie schließlich auf einen gepflasterten Pfad einbogen, der von sauber angelegten Beeten aus Sträuchern gesäumt war. Sie erreichten die beiden runden Türme, die den Eingang zu Schloss Schwarzbach flankierten. Zwischen ihnen spannte sich ein gewölbtes Eisengitter, an dem sich weiße Rosen entlangschlängelten. Vom Tor aus gelangte man direkt auf den Innenhof des Schlosses, der mit hellbeigen Pflastersteinen ausgelegt war und vom Gebäude vollständig eingerahmt wurde. Die Flügelgebäude rechts und links wiesen jeweils einen tunnelartigen Durchgang auf, der vom Hof in die umliegende Parkanlage führte.

In diesen beiden Gebäuden befanden sich allen voran die Apartments der Angestellten und die Garagen für jede Menge Autos. Wie auch das fünfstöckige Hauptgebäude an der Stirnseite bestand die Fassade aus hell- und dunkelgrauen sowie beigen Backsteinen.

Das gedämpfte Geräusch von knallenden Autotüren und Stimmengewirr erregte Neilas Aufmerksamkeit. Ein großer und zwei kleinere Lieferwagen mit dem Logo von der Eventagentur ihrer Tante parkten am Hauptgebäude und wurden gerade um ihre Ladungen erleichtert.

»Hatte deine Tante euch nicht versprochen, es nicht zu übertreiben?«, fragte Marcus mit einem hörbaren Grinsen in der Stimme. Er lachte, als Neila ihm einen bösen Blick zuwarf.

»Das sieht nicht nach ›kleiner gemütlicher Party ohne viel Drumherum‹ aus.«

»Das geht ja hier noch schlimmer zu als damals, als sie den Osterball und die Gartenparty für Aurora geschmissen hat«, kommentierte nun auch Thomas das Gewusel vor ihnen. Genau in dem Moment fuhr John eine große Kurve und kam schließlich direkt vor den Treppen des Schlosses zum Stehen.

Thomas hatte recht. Neilas Magen verkrampfte sich und ihr entfuhr ein ellenlanger Seufzer. Das da draußen sah nach einer Menge Kohle aus, die ihre Tante für sie springen ließ.

Neila wusste, dass sie ein Teil dieser Familie war, aber das bedeutete für sie nicht, dass man wegen ihr so viel Geld ausgeben musste. Wenn es um ihre Ausbildung ging, konnte sie das noch nachvollziehen. Aber eine extravagante, bis ins kleinste Detail geplante Party mit Motto, DJ oder Liveband, Catering vom Feinsten, Showacts oder sonst einer ausgefallenen Idee – Tante C hatte tatsächlich vorgeschlagen, aus dem Ballsaal eine Rollschuhbahn zu machen –, das war Neila zu viel!

Um sie herum gingen die Türen auf und der Lärm von draußen drang herein.

»Komm schon!«, forderte Thomas, dem Neilas Miene nicht entgangen war. »So schlimm wird’s schon nicht.«

»Nein«, schaltete sich Marcus lachend ein. Er war bereits ausgestiegen und streckte nun den Kopf wieder zu ihnen rein, wobei er sich mit einer Hand am Türrahmen abstützte. »Wenn diese Party nur halb so cool wird wie der Osterball oder mein Geburtstag, dann haben wir heute einen mega Abend vor uns. Auf deine Tante ist einfach Verlass!«

Mit diesen Worten drückte er sich in Hochstimmung ab und verschwand aus ihrem Sichtfeld.

»Ich stell auch nicht in Frage, dass es eine mega Party wird. Das wird es sicher!«, murmelte Neila vor sich hin, während sie Thomas’ Beispiel folgte und ausstieg. Augenblicklich zog sie ihre Kapuze über den Kopf und vergrub ihre Hände in den Jackentaschen. Sie fröstelte, doch als sie den Blick hob, war es auch schon wieder egal. Die hektische Betriebsamkeit hinter ihr verblasste.

Lächelnd setzte sie sich in Bewegung und ging zum Brunnen in der Mitte des Platzes, um den sich mehrere violette glockenförmige Blumen im Wind neigten.

Instinktiv begann die elektrisierende Energie ihres Steins sich von ihrer rechten Hand aus im ganzen Körper auszubreiten. Von einer Sekunde auf die andere hörte sie das Flüstern in ihren Gedanken. Es waren nicht direkt Stimmen, auch keine Melodie, sondern eher Schwingungen.

Pflanzen hatten ihre ganz eigene Sprache beziehungsweise gewissermaßen Dialekte. Dank ihres aquamarinfarbenen Göttersteins und dem Training im letzten Jahr konnte Neila diese Sprache inzwischen wahrnehmen und mit den Pflanzen kommunizieren. Es war ein unglaublich belebendes Gefühl, die Wesen um sich herum zu spüren.

Ohne den Nieselregen und die Kälte groß zu beachten, ging Neila vor dem Brunnen in die Hocke. Die Blumen vor ihr sahen wie Mondlilien aus, waren aber streng genommen keine echten, sondern lediglich Ableger, Kopien. Sie hatten auf Engel dennoch eine ähnlich starke Anziehungskraft wie ein Original. Ihr Duft war das beste und wohl ungefährlichste Beruhigungsmittel, das es auf der Welt gab. Man musste nur einmal schnuppern und der ganze Körper entspannte sich. Tja, und wenn man den Stein besaß, der als Einziger die Fähigkeit hatte, eine echte Mondlilie zu erschaffen, wachsen zu lassen und ihre Heilkräfte zu aktivieren, konnte man diese Wirkung des Dufts ein klein wenig verstärken.

Wie genau sie es machte, konnte Neila nicht erklären. Eigentlich war keine besondere Bewegung notwendig, doch viele Engel nahmen die Hände zu Hilfe, um ihre Kräfte zu fokussieren. Im Grunde geschah jedoch alles im Kopf. Durch einen mentalen Befehl und die Konzentration auf die entsprechende Pflanze war Neila in der Lage, sie zu beeinflussen und – in der Theorie – alles machen zu lassen, was sie wollte. In der Praxis sah das etwas anders aus. Bei den Mondlilien war es für Neila allerdings ein Kinderspiel, das sie bereits beim ersten Versuch beherrscht hatte.

Binnen eines Wimpernschlags richtete sich jetzt die glockenförmige Blüte, die ihr am nächsten war, auf und spreizte ihre Blätter, in denen die feinen Fasern zu leuchten begannen. Im nächsten Moment traf Neila eine Duftwelle wie ein kurzer warmer Luftstoß. Sie nahm einen tiefen Atemzug und genoss es, wie sich jede Zelle ihres Körpers plötzlich federleicht anfühlte.

Kurz darauf breitete sich eine angenehme Ruhe in ihr aus. Würde in diesem Moment ein Klavier vom Himmel fallen und neben ihr einschlagen, sie hätte nicht mal mit der Wimper gezuckt, sondern sich nur gewundert, woher das Instrument so plötzlich kam. Würde die Welt um sie herum untergehen – gut, dann würde sie vielleicht nicht ganz so ruhig bleiben.

Zwei auf Hochglanz polierte Anzugsschuhe tauchten in ihrem Blickfeld auf und brachten sie dazu aufzusehen. Sie lächelte.

»Du lässt mich wohl nie ihm Regen stehen, was Ferdinand?«

»Niemals Miss Neila. Herzlich willkommen zu Hause!«

Förmlich, steif und mit tadellosem Auftreten stand Ferdinand mit einem Regenschirm neben ihr und blickte durch seine schmalen Brillengläser mit seinem höflichen Lächeln auf sie herab. Wie immer trug der Schlossverwalter eine schwarze Hose mit weißem Hemd und einer mattschwarzen Weste, aus deren Tasche die silberne Kette seiner Taschenuhr heraushing. Was hinter seiner hohen Stirn vor sich ging, war Neila wie immer ein Rätsel, trotzdem machte er einen leicht gestressten Eindruck.

»Willst du?«, fragte Neila, wartete seine Antwort, von der sie sowieso schon wusste, dass sie aus reiner Höflichkeit »Nein, danke« hieß, nicht ab und gab der Mondlilie einen mentalen Stoß. Die sternförmige Blüte drehte den Kopf und nur wenige Wimpernschläge später sog Ferdinand hörbar die Luft ein. Seine Augenlieder flatterten. Neila richtete sich lächelnd auf. Sie wusste, was jetzt kam.

»Miss Neila!«

Sie lachte auf, als der übliche tadelnde Tonfall samt vorwurfsvollem Blick postwendend folgte.

»Du bist meinetwegen gestresst, da ist es das Mindeste, was ich tun kann, um deine armen Nerven etwas zu beruhigen«, erwiderte sie, wobei ihr Blick wieder auf die Lastwagen fiel. Prompt war das leichte Grummeln in ihrem Magen zurück. Ihr Lächeln schwankte. »Wie sehr hat sie übertrieben, Ferdinand?«

Keine Antwort. Sie sah den Schlossverwalter an und seufzte. Er verriet mal wieder gar nichts. So typisch. Sie seufzte wieder.

»Wollen wir nicht reingehen, Miss Neila? Die Gräfin erwartet Sie schon.«

Neila nickte und setzte sich mit Ferdinand in Bewegung. Sie steuerten auf das Portal zu, das sich im ersten Stock am Absatz der aufeinander zulaufenden Treppen befand, die nach unten breiter wurden und von einem hellgrauen Steingeländer eingegrenzt waren. Hinter den Treppen verborgen befanden sich zwei weitere Eingangstüren, die hauptsächlich von den Angestellten und Lieferanten benutzt wurden.

Neila stieg mit Ferdinand die Treppen empor, ging durch die hohen abgerundeten Flügeltüren aus schwarzem Granit in das schmale Eingangsfoyer, in dem ein großer Wandteppich mit eingearbeitetem Familienwappen hing.

Vom kleinen Foyer ging es ein paar Stufen nach oben in das Herzstück des Schlosses. Manche nannten es Eingangshalle, manche – wie Melina – nur Riesen-Treppenhaus. Die Halle ging bis unters Dach, also bis in den fünften Stock, war mit spiegelnden schwarzen Fliesen ausgelegt und wurde zur Hälfte von einer breiten Treppe eingenommen, die sich auf halber Ebene teilte und in zwei Bögen in den ersten Stock führte. Vom ersten Absatz an zog sich ein großes Panoramafenster über die gesamte Stirnseite der Halle und bot einen überwältigenden Ausblick auf den Park, den umliegenden Wald und die dahinterliegenden Felder.

Bei schönem Wetter hatte man hier außerdem einen grandiosen Blick auf die Alpen. Das und der massive Kronleuchter aus schwarzem Eisen, an dem unzählige Kristalle hingen, verschlug jedem Besucher sofort die Sprache, wenn er die Halle betrat.

Neila wurde es nie müde, in der Eingangshalle kurz stehen zu bleiben, um das Lichtspiel des Kronleuchters und den Ausblick zu genießen.

Es sei denn natürlich, es stand da eine schlanke Gestalt vor der Treppe und breitete zur Begrüßung anmutig ihre Arme aus. Jede Bewegung von Aurora von Schwarzbach war anmutig. Daher passte der Titel »Gräfin« sehr gut zu ihr.

Wenn man sie so sah, konnte man eigentlich nicht glauben, dass diese Frau im nächsten Jahr ihren achtzigsten Geburtstag feiern würde. Sie machte einfach einen zu fitten Eindruck. Das lag unter anderem daran, dass Engel im Allgemeinen dank der Energie ihrer Göttersteine langsamer alterten.

»Kleine Lilie!«, sagte Aurora mit ihrer hohen, leicht kratzigen Stimme. »Willkommen zu Hause!« Sie schloss Neila in ihre Arme und der markante Duft von Chanel No.5 stieg ihr wie üblich in die Nase.

Neila erwiderte die Umarmung ihrer Großtante ebenso herzlich, wich dann zurück und sah in ihre froschgrünen Augen. Und stutzte. »Was?« Aurora hatte eine Braue leicht angehoben und musterte sie mit leicht gekräuselten Lippen.

»Die Wahl deines Abendkleids auf dem Verlobungsball ist in aller Munde. Stimmt es, was man sich erzählt?«

»Wenn du damit meinst, dass Lady Esmeralda wollte, dass ich ihr Geschenk trage, ich es allerdings ausgeschlagen habe, dann stimmte es, was man sich erzählt«, antwortete Neila grinsend, fügte aber etwas verunsichert hinzu: »Du hattest deswegen doch keinen Ärger, oder?«