Erwachende Welten - Joanna Russ - E-Book

Erwachende Welten E-Book

Joanna Russ

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Beschreibung

Jeannine lebt in New York City – aber nicht in einer Welt, wie wir sie kennen: Hier hat die Weltwirtschaftskrise nie aufgehört und der Zweite Weltkrieg nie stattgefunden. Auch eine feministische Bewegung ist kaum vorstellbar. Da taucht plötzlich, mitten auf der Straße, eine geheimnisvolle Frau auf: Janet Everson hat es von dem futuristischen Planeten Whileaway, wo alle Männer vor 800 Jahren von einer Seuche dahingerafft wurden, hierher verschlagen. Janet entführt Jeannine auf eine Reise durch Raum und Zeit, auf Welten, wo sich die Beziehungen zwischen den Geschlechtern grundlegend von allem unterscheiden, was Jeannine je zu träumen wagte. Der zweite Band der Werkausgabe von Joanna Russ enthält ihr avantgardistisches Meisterwerk ›Der weibliche Mann‹, einen Essay, in dem sie sich mit dem Science-Fiction-Genre auseinandersetzt, sowie eine Auswahl ihrer Rezensionen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 516

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Aus dem

amerikanischen Englisch

übersetzt von

Werner Fuchs & Hiltrud Bontrop,

Charlotte Krafft und Hannes Riffel

Impressum

Originalausgabe

Herausgegeben von Jeanne Cortiel

© 1975, 2007 by Joanna Russ

© der einzelnen Übersetzungen 2024 bei den Übersetzer:innen

© der Überarbeitung von Der weibliche Mann 2024 bei Hannes Riffel

© dieser Ausgabe 2024 bei Carcosa Verlag, Wittenberge

Alle Rechte vorbehalten

Published in agreement with Winifred Emily Eads c/o Diana Finch Literary Agency // Wir danken der Agentur Fritz + Fritz in Zürich für die freundliche Vermittlung // Wir verweisen auf das Quellenverzeichnis am Ende des Bandes

Carcosa Verlag ist ein verschwistertes Imprint von

Memoranda Verlag | Hardy Kettlitz | Ilsenhof 12 | 12053 Berlin

www.carcosa-verlag.de | www.memoranda.eu

Lektorat: Tabea Hecht & Hannes Riffel

Korrektorat: Anne-Marie Wachs

Umschlaggestaltung: s.BENeš [www.benswerk.com]

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

ISBN: 978-3-910914-24-7 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-910914-25-4 (E-Book)

Inhalt

Der weibliche Mann

Erzählungen

Als alles anders wurde

Ein paar Dinge, die ich über Whileaway weiß

Rezensionen

Mystifizierungen der (schluck) Ehe [VILLAGE VOICE, 16. Juni 1973]

Bücher [FANTASY AND SF, Juli 1973]

Bücher [FANTASY AND SF, März 1975]

Bücher [FANTASY AND SF, November 1976]

Essay

Wie sich die Substanz von Genres abnutzt

Nachwort von Jeanne Cortiel

Quellenverzeichnis

Der weibliche Mann

Dieses Buch ist Anne, Mary und den anderen

Wenn Jack etwas vergessen kann, nützt ihm das wenig, solange Jill ihn immer wieder daran erinnert. Er muss sie dazu bringen, das zu unterlassen. Am sichersten wäre es, wenn er sie nicht nur zum Schweigen bringt, sondern auch dazu, es zu vergessen.

Jack kann in mancherlei Hinsicht auf Jill einwirken. Er kann Schuldgefühle in ihr wecken, weil sie immer wieder »davon anfängt«. Er kann ihre Erfahrung für gegenstandslos erklären, und zwar mehr oder weniger radikal. Er kann andeuten, etwas sei unwichtig und trivial, während es für sie wichtig und signifikant ist. Darüber hinaus kann er die Modalität ihrer Erfahrung von der Erinnerung zur Vorstellung verschieben: »Das bildest du dir alles nur ein.« Weiter kann er den Gehalt abstreiten: »Das ist niemals so passiert.« Und schließlich kann er nicht nur Signifikanz, Modalität, Gehalt, sondern ihr Erinnerungsvermögen überhaupt für gegenstandslos erklären und obendrein noch Schuldgefühle in ihr wecken.

Das ist nichts Ungewöhnliches. Die Menschen tun sich andauernd solche Dinge an. Damit so eine überpersönliche Außerkraftsetzung wirken kann, ist es jedoch ratsam, sie mit einer dicken Patina aus Mystifikation zu belegen – z. B. indem man leugnet, dass man so etwas tut, indem man jede Wahrnehmung, dass so etwas überhaupt passiert, weiter für gegenstandslos erklärt, indem man erklärt: »Wie kannst du nur so etwas denken?« – »Du musst paranoid sein.« Und so weiter.

Ronald D. Laing, The Politics of Experience (London: Penguin, 1967), S. 31/32 [Dt. Phänomenologie der Erfahrung; hier neu übersetzt]

Erster Teil

1

Ich wurde auf einer Farm auf Whileaway geboren. Als ich fünf war, wurde ich (wie alle anderen auch) auf eine Schule auf dem Südkontinent geschickt, und als ich zwölf wurde, kehrte ich zu meiner Familie zurück. Der Name meiner Mutter war Eva, der Name meiner anderen Mutter Alicia; ich bin Janet Evason. Mit dreizehn ging ich auf die Pirsch und tötete, ganz allein, einen Wolf, und zwar auf dem Nordkontinent, oberhalb des achtundvierzigsten Breitengrades, nur mit einem Gewehr bewaffnet. Für Kopf und Pfoten fertigte ich eine Schlepptrage, ließ den Kopf irgendwann liegen und kam schließlich mit einer Pfote zu Hause an – Beweis genug (dachte ich). Ich habe in den Bergwerken gearbeitet, bei einem Radiosender, auf einem Milchhof, auf einer Gemüsefarm und, nachdem ich mir das Bein gebrochen hatte, sechs Wochen als Bibliothekarin. Mit dreißig brachte ich Yuriko Janetson zur Welt; als sie fünf Jahre später in eine Schule fortgebracht wurde (nie habe ich ein Kind so wütend protestieren gesehen), beschloss ich, mir freizunehmen und nach dem alten Haus meiner Familie zu suchen – nachdem ich geheiratet hatte, waren sie weggezogen und hatten sich auf dem Südkontinent in der Nähe von Mine City niedergelassen. Der Ort war jedoch nicht wiederzuerkennen; unsere ländlichen Regionen verändern sich ständig. Außer den Dreifüßen der computergesteuerten Leuchtsignale, einer seltsamen Getreideart auf den Feldern, die ich noch nie gesehen hatte, und einem Haufen umherziehender Kinder konnte ich nichts finden. Sie waren nach Norden unterwegs, um die Polarstation zu besuchen, und boten mir einen Schlafsack an, aber ich lehnte ab und übernachtete bei der Familie, die jetzt dort wohnte; am nächsten Morgen machte ich mich wieder auf den Weg nach Hause. Seitdem arbeite ich als Sicherheitsoffizierin in unserem Bezirk, das heißt für S&F (Sicherheit und Frieden), ein Posten, den ich nun seit sechs Jahren innehabe. Mein korrigierter Stanford-Binet-Wert (wie Sie es nennen würden) beträgt 187, der meiner Frau 205, der meiner Tochter 193. Bei mündlichen Prüfungen übertrifft Yuki alle Erwartungen. Ich habe die Aufsicht beim Ausheben von Feuerschneisen geführt, Kindern auf die Welt geholfen, Maschinen repariert und mehr Muhkühe gemolken, als es in meinen wildesten Träumen geben sollte. Aber Yuki ist ganz verrückt nach Eiscreme. Ich liebe meine Tochter. Ich liebe meine Familie (insgesamt sind wir neunzehn). Ich liebe meine Frau (Vittoria). Ich habe vier Duelle ausgefochten. Ich habe viermal getötet.

2

Jeannine Dadier (DEYD-jer) arbeitete drei Tage die Woche in New York City als Bibliothekarin für den W. P. A. Sie arbeitete in der Filiale am Tompkins Square in der Abteilung für Jugendliteratur. Manchmal fragte sie sich, ob es wirklich ein Glücksfall gewesen war, dass Herr Shicklgruber 1936 starb (die Bibliothek besaß Bücher darüber). Am dritten Montag im März 1969 sah sie die ersten Schlagzeilen über Janet Evason, schenkte ihnen jedoch keine Beachtung; sie verbrachte den Tag damit, Ausgangsstempel in die Jugendbücher zu drücken und die Falten um ihre Augen im Taschenspiegel zu betrachten. (Ich bin erst neunundzwanzig!) Zweimal musste sie ihren Rock über die Knie hochziehen und die Leiter zu den Büchern weiter oben hinaufsteigen; einmal musste sie die Leiter zu Mrs. Allison und dem neuen Assistenten hinüberschieben, die unter ihr standen und gelassen die Möglichkeit eines Krieges mit Japan diskutierten. In der Saturday Evening Post stand ein Artikel darüber.

»Das glaube ich nicht«, wiederholte Jeannine Nancy Dadier leise. Mrs. Allison war eine Farbige. Der Tag war ungewöhnlich warm und diesig, und im Park zeigte sich ein wenig Grün: imaginäres Grün vielleicht, als hätte die Welt eine seltsame Abzweigung genommen und den Frühling irgendeine düstere Seitenstraße hinabkugeln lassen, wo die Bäume von imaginären Wolken umgeben waren.

»Das glaube ich nicht«, wiederholte Jeannine Dadier, ohne zu wissen, worüber sie sprachen. »Sie sollten es aber glauben!«, sagte Mrs. Allison in scharfem Tonfall. Jeannine balancierte auf einem Fuß. (Anständige Mädchen tun so was nicht.) Sie stieg mit den Büchern die Leiter hinab und legte sie auf den Tisch mit den Vorbestellungen. Mrs. Allison mochte W. P. A.-Mädchen nicht. Wieder sah Jeannine die Schlagzeile, die auf der Zeitung von Mrs. Allison prangte.

FRAU ERSCHEINT AUS DEM NICHTS AUF DEM BROADWAY

POLIZIST LÖST SICH IN LUFT AUF

»Das glaube …« (Ich habe meinen Kater, ich habe mein Zimmer, ich habe mein warmes Essen und mein Fenster und den Götterbaum.)

Aus den Augenwinkeln sah sie Cal draußen auf der Straße; er ging mit federndem Schritt, den Hut ein wenig ins Gesicht geschoben; bestimmt würde er wieder irgendwelches albernes Zeug erzählen, wie es ist, Reporter zu sein, ein kleines blondes Raubvogelgesicht und ernste blaue Augen. »Eines Tages komm ich ganz groß raus, Schätzchen.« Jeannine schlüpfte zwischen die Bücherstapel und versteckte sich hinter Mrs. Allisons Abendzeitung: Frau erscheint aus dem Nichts auf dem Broadway, Polizist löst sich in Luft auf. Sie erging sich in Tagträumen darüber, wie sie auf dem Freimarkt Obst kaufen würde, obwohl sie immer so feuchte Hände bekam, wenn sie nicht im Regierungsladen einkaufte und keine Sonderangebote finden konnte. Sie würde Katzenfutter besorgen und als Erstes Mr. Frosty füttern, wenn sie in ihr Zimmer zurückkehrte; er fraß von einer alten Porzellanuntertasse. Jeannine stellte sich vor, wie Mr. Frosty ihr um die Beine strich, sein Schwanz hoch erhoben. Mr. Frosty war ganz und gar schwarz-weiß gescheckt. Mit geschlossenen Augen sah Jeannine ihn auf den Kaminsims springen und zwischen ihren Sachen hindurchstolzieren: ihren Muscheln und Miniaturen. »Nein, nein, nein!«, sagte sie. Der Kater sprang herunter und stieß dabei eine ihrer japanischen Figurinen um. Nach dem Abendessen ging Jeannine mit ihm nach draußen; dann erledigte sie den Abwasch und versuchte ein paar ihrer älteren Kleider auszubessern. Sie würde die Bezugsscheinhefte durchgehen. Bei Einbruch der Dunkelheit würde sie sich im Radio das Abendprogramm anhören oder lesen, vielleicht auch vom Drugstore aus telefonieren und sich nach der Pension in New Jersey erkundigen. Sie könnte ihren Bruder anrufen. Und mit Sicherheit würde sie die Orangenkerne einsäen und gießen. Sie stellte sich vor, wie Mr. Frosty zwischen den winzigen Orangenbäumchen dem Gürtelende eines Bademantels nachschleichen würde; er würde wie ein Tiger aussehen. Falls sie im Regierungsladen leere Konservendosen bekommen konnte.

»Hey, Schätzchen?« Sie erschrak ganz furchtbar. Es war Cal.

»Nein«, sagte Jeannine hastig. »Ich habe keine Zeit.«

»Schätzchen …« Er zog sie am Arm. Komm doch auf einen Kaffee mit. Aber sie konnte nicht. Sie musste Griechisch lernen (das Buch lag im Reserveschreibtisch). Es gab zu viel zu tun. Er runzelte die Stirn und sah sie flehend an. Sie konnte bereits das Kissen unter ihrem Rücken spüren, und Mr. Frosty blickte sie mit seinen seltsamen blauen Augen an, während er entgegen dem Uhrzeigersinn um die Liebenden herumstolzierte. Er war halb Siamkatze. Cal nannte ihn »den fleckigen dürren Kater«. Cal wollte immer Experimente mit ihm anstellen, ihn von der Stuhllehne schubsen, ihm irgendwelche Sachen in den Weg legen, sich vor ihm verstecken. Mr. Frosty ignorierte ihn mittlerweile voller Verachtung.

»Später«, sagte Jeannine verzweifelt. Cal beugte sich über sie und flüsterte ihr ins Ohr; am liebsten hätte sie geheult. Er wippte auf den Absätzen vor und zurück. »Ich werde warten«, sagte er dann. Er setzte sich auf Jeannines Magazinstuhl, nahm die Zeitung und fügte hinzu:

»Die verschwindende Frau. Das bist du.« Sie schloss die Augen und tagträumte von Mr. Frosty, wie er zusammengerollt und friedlich schlafend auf dem Kaminsims lag, ganz katzenhaft zusammengerollt. So ein verwöhnter Kater!

»Schätzchen?«, sagte Cal.

»Ach, na gut«, sagte Jeannine und fügte sich in ihr Schicksal, »na gut.«

Ich werde den Götterbaum betrachten.

3

Janet Evason erschien um zwei Uhr nachmittags in Unterwäsche auf dem Broadway. Sie verlor nicht den Kopf. Obwohl ihre Nerven weitermachen wollten wie bisher, ging sie sofort nach ihrer Ankunft in Abwehrstellung (gut für sie). Ihr blondes, schmutziges Haar bauschte sich, ihre khakifarbenen Shorts und ihr Hemd waren mit Schweißflecken übersät. Als ein Polizist sie am Arm zu fassen versuchte, drohte sie ihm mit la savate, doch er verschwand. Sie schien die Menschenmassen, die sie umgaben, mit ausgeprägtem Entsetzen zu betrachten. Der Polizist tauchte eine Stunde später wieder an derselben Stelle auf, ohne sich an die Zeit dazwischen zu erinnern, aber Janet Evason war nur wenige Augenblicke nach ihrer Ankunft zu ihrem Schlafsack im New Forest zurückgekehrt. Ein paar Worte auf Pan-Russisch, und sie war verschwunden. Das letzte davon weckte ihre Bettgenossin im New Forest.

»Schlaf doch endlich«, sagte die anonyme Freundin-für-die-Nacht, eine Nase, eine Stirn und eine Locke schwarzen Haars in den Sprenkeln des Mondlichts.

»Wer hat bloß diesen Unsinn mit meinem Kopf angestellt?«, sagte Janet Evason.

4

Als Janet Evason in den New Forest zurückkehrte und die Versuchsleiterinnen in der Polstation sich fast kaputtlachten (denn es war kein Traum), saß ich bei einer Cocktailparty mitten in Manhattan. Ich hatte mich gerade in einen Mann verwandelt, ich, Joanna. Ich meine natürlich einen weiblichen Mann; mein Körper und meine Seele waren noch genau die gleichen.

Ich gehöre also auch dazu.

5

Der erste Mann, der einen Fuß auf Whileaway setzte, tauchte auf dem Nordkontinent auf einem Rübenfeld auf. Er trug einen blauen Anzug wie ein Wanderer und eine blaue Mütze. Die Bäuerinnen waren unterrichtet worden. Eine sah das Blinken auf dem Infrarotsucher des Traktors und fuhr zu ihm; der Mann in Blau sah eine Flugmaschine ohne Flügel, die auf einer Wolke aus Staub und Luft schwebte. Die bezirkseigene Reparaturhalle für Landmaschinen befand sich in jener Woche ganz in der Nähe, also brachte die Traktorfahrerin ihn dorthin; nichts von dem, was er sagte, war verständlich. Er sah eine durchsichtige Kuppel, deren Oberfläche leicht waberte. In eine Seite war ein Abluftventilator eingelassen. Unter der Kuppel erstreckte sich eine Wildnis aus Maschinen: tot, auf der Seite liegend, das Innerste nach außen gekehrt, die Eingeweide überall im Gras verstreut. An einem mächtigen Träger unter dem Dach baumelten Hände so groß wie drei Menschen. Eine davon ergriff ein Auto und ließ es wieder fallen. Die Seitenteile des Wagens lösten sich davon. Kleinere Hände reckten sich aus dem Gras hervor.

»Hey, hey!«, sagte die Traktorfahrerin und klopfte auf ein massives Teil in der Wand. »Es ist umgefallen, es hat das Bewusstsein verloren.«

»Schickt es zurück«, sagte eine Technikerin und kroch unter ihrem Induktionshelm am anderen Ende der Halle hervor. Vier andere kamen hinzu und umringten den Mann im blauen Anzug.

»Ist er bei klarem Verstand?«, fragte eine.

»Wissen wir nicht.«

»Ist er krank?«

»Hypnotisiert ihn und schickt ihn zurück.«

Wenn der Mann in Blau sie gesehen hätte, hätte er sie für äußerst seltsam gehalten: mit glattem Gesicht, glatter Haut, zu klein und zu rundlich, ihre Overalls am Hintern zu ausladend. Sie trugen Overalls, weil nicht alles mit den mechanischen Händen zu reparieren war; manchmal mussten sie schon selbst ran. Eine war alt und hatte weißes Haar; eine war sehr jung; eine trug das Haar lang, wie es die Jugend auf Whileaway manchmal bevorzugte, auf Whileaway – »wo wir uns die Zeit vertreiben«. Sechs neugierige Augenpaare musterten den Mann im blauen Anzug eingehend.

»Das, mes enfants«, sagte die Traktorfahrerin schließlich, »ist ein Mann.«

»Das ist ein echter Erdenmann.«

6

Manchmal bückst du dich, um dir den Schuh zu binden, und dann bindest du ihn entweder, oder du lässt es bleiben. Danach richtest du dich sofort wieder auf, oder auch nicht. Jede Entscheidung bringt mindestens zwei Welten voller Möglichkeiten hervor, will sagen eine, in der du es tust, und eine andere, in der du es sein lässt; oder wahrscheinlich noch viel mehr: eine, in der du es schnell tust, eine, in der du es langsam tust, eine, in der du es nicht tust, aber zögerst, eine, in der du zögerst und die Stirn runzelst, eine, in der du zögerst und niest, und so weiter. Folgst du weiter dieser Argumentationskette, dann kommst du zu dem Schluss, dass es eine unendliche Zahl möglicher Universen geben muss (so ist das eben mit der Fruchtbarkeit Gottes), denn es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Natur dem Menschen besonders zugetan ist. Jede Verlagerung eines jeden Moleküls, jede Veränderung in der Umlaufbahn eines jeden Elektrons, jedes Lichtquant, das hier und nicht dort auftrifft – all das muss irgendwo seine Alternative haben. Allerdings ist es auch möglich, dass es so etwas wie eine klare Linie oder eine Abfolge von Wahrscheinlichkeiten gar nicht gibt und dass wir auf so etwas wie einer gedrehten Kordel leben und, ohne es zu wissen, von einer Windung zur anderen taumeln, solange wir uns innerhalb der Grenzen bestimmter Variationen bewegen, was für uns jedoch keine Rolle spielt. Auf diese Weise hört das Zeitreiseparadox auf zu existieren, denn die Vergangenheit, die du besuchst, ist dann nicht mehr deine Vergangenheit, sondern immer die eines anderen Menschen; oder vielmehr: Wenn du in die Vergangenheit reist, entsteht augenblicklich eine andere Gegenwart (eine Gegenwart, in der diese Reise bereits stattgefunden hat), und was du dann besuchst, ist die Vergangenheit jener Gegenwart – die sich grundlegend von deiner Vergangenheit unterscheidet. Und mit jeder Entscheidung, die du triffst (dort, in der Vergangenheit), verzweigt sich das neue wahrscheinliche Universum und bringt gleichzeitig eine neue Vergangenheit und eine neue Gegenwart hervor oder, rundheraus gesagt, ein neues Universum. Und wenn du in deine eigene Gegenwart zurückkehrst, dann weißt nur du allein, wie es in der anderen Vergangenheit ausgesehen hat und was du dort getan hast.

Also ist es wahrscheinlich, dass Whileaway – ein Name für die Erde in zehn Jahrhunderten, aber nicht unsere Erde, wenn Sie mir folgen können – keineswegs von diesem Ausflug in die Vergangenheit eines anderen Menschen beeinflusst wurde. Und umgekehrt, natürlich. Die beiden Welten könnten genauso gut völlig unabhängig voneinander existieren.

Whileaway liegt, wie Sie mitbekommen haben, in der Zukunft.

Aber nicht in unserer Zukunft.

7

Bald darauf traf ich Jeannine in einer Cocktailbar, in die ich mich begeben hatte, um Janet Evason im Fernsehen zu sehen (ich habe keinen Apparat). Jeannine wirkte ausgesprochen deplatziert. Ich setzte mich neben sie, und sie vertraute mir an: »Ich gehöre nicht hierher.«

Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie sie dorthin gekommen war, höchstens rein zufällig. Sie sah aus, als wäre sie für einen Kostümfilm ausstaffiert, wie sie da mit ihrem Haarnetz und ihren Keilabsätzen im Halbdunkel saß, ein feingliedriges, unerfahrenes Mädchen in Kleidern, die ihr ein wenig zu klein waren. Die Mode (so scheint es) erholt sich nur sehr gemächlich von der Großen Depression. Nicht hier und jetzt natürlich. »Ich gehöre nicht hierher!«, flüsterte Jeannine Dadier noch einmal beklommen. Sie war sehr zappelig. »Orte wie diesen mag ich einfach nicht«, sagte sie. Und bohrte mit dem Finger eine Mulde in das rote Kunstleder ihres Sessels.

»Was?«, sagte ich.

»In meinem letzten Urlaub war ich wandern«, sagte sie mit großen Augen. »So etwas mag ich. Es ist gesund.«

Ich weiß, dass es als tugendhaft gilt, gesund durch Blumenwiesen zu rennen, aber ich ziehe nun mal Bars, Hotels, Klimaanlagen, gute Restaurants und Düsenjets vor, und das sagte ich ihr auch.

»Jets?«, fragte sie verwundert.

Janet Evason erschien auf dem Bildschirm. Es war nur ein Standbild. Dann folgten die Nachrichten aus Kambodscha, Laos, Michigan, dem Canandaigua Lake (Umweltverschmutzung) und die sich drehende Weltkugel in voller Farbenpracht, samt ihrer siebzehn künstlichen Satelliten, die sie umkreisten. Die Farbe war scheußlich. Vor langer Zeit war ich einmal in einem Fernsehstudio: Entlang der Seitenwände des Schuppens verläuft eine Galerie, und jeder Quadratzentimeter des Daches ist mit Scheinwerfern behängt, sodass darunter die kleine Kindfrau mit der piepsigen Stimme ungestört über einem Herd oder einer Spüle schmollen kann. Dann erschien Janet Evason mit jenem formlosen Aussehen, das die Leute auf der Mattscheibe haben. Sie bewegte sich vorsichtig und betrachtete alles mit großem Interesse. Sie war adrett gekleidet (sie trug einen Anzug). Dann schüttelte der Gastgeber oder Showmaster oder wie auch immer Sie ihn nennen ihr die Hand, und danach schüttelten alle allen die Hand, wie bei einer französischen Hochzeit oder in einem frühen Stummfilm. Er trug einen Anzug. Jemand führte sie zu ihrem Platz, und sie lächelte und nickte übertrieben, wie man nickt, wenn man nicht weiß, wie man sich verhalten soll. Sie sah sich um, wobei sie ihre Augen beschirmte. Dann sprach sie.

(Der erste Satz, den der zweite männliche Besucher auf Whileaway von sich gab, lautete: »Wo sind die ganzen Männer?« Als Janet Evason im Pentagon erschien, breitbeinig, die Hände in den Hosentaschen, sagte sie: »Wo zum Kuckuck sind die ganzen Frauen?«)

Im Fernsehen gab es eine kurze Tonstörung, und dann war Jeannine Dadier fort; sie verschwand nicht, sie war einfach nicht mehr da. Janet Evason stand auf, schüttelte wieder Hände, sah sich um, fragte mit den Augen, mimte Verständnis, nickte und trat aus dem Gesichtsfeld der Kameras. Die Wachleute der Regierung wurden uns nie gezeigt.

Ich hörte später davon, und es lief folgendermaßen ab:

SHOWMASTER: Wie gefällt es Ihnen hier, Miss Evason?

JE (sieht sich verwirrt im Studio um): Es ist zu heiß.

SM: Ich meine, wie gefällt es Ihnen hier auf … nun … auf der Erde?

JE: Aber ich lebe doch auf der Erde. (An dieser Stelle wirkt sie ein wenig überfordert.)

SM: Vielleicht sollten Sie uns erklären, was Sie damit meinen … ich denke dabei an die Existenz verschiedener Wahrscheinlichkeiten und so weiter … Sie sprachen vorhin schon davon.

JE: Das steht alles in der Zeitung.

SM: Aber Miss Evason, haben Sie doch die Freundlichkeit und erklären Sie es den Zuschauern an den Fernsehgeräten.

JE: Sollen sie es doch lesen. Können sie nicht lesen?

(Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Dann wieder der Showmaster.)

SM: Unsere Sozialwissenschaftler wie auch unsere Physiker haben erklärt, dass im Lichte der Informationen, die unsere reizende Besucherin von einer anderen Welt mitgebracht hat, eine ganze Reihe von Theorien revidiert werden müssen. Auf Whileaway hat es seit acht Jahrhunderten keine Männer mehr gegeben, und diese Gesellschaft, die einzig und allein aus Frauen besteht, hat natürlich großes Aufsehen erregt, seit vergangene Woche ihre Abgesandte, ihre erste Botschafterin, die Dame hier zu meiner Linken, erschien. Janet Evason, können Sie uns schildern, wie Ihre Gesellschaft auf Whileaway auf das Wiedererscheinen von Männern von der Erde – ich meine natürlich Männer von unserer jetzigen Erde – Ihrer Meinung nach reagieren wird, nachdem sie achthundert Jahre lang völlig isoliert war?

JE (Darauf ging sie ein, wahrscheinlich, weil es die erste Frage war, die sie verstand): Neunhundert Jahre. Was für Männer?

SM: Was für Männer? Sie erwarten doch sicher, dass Männer aus unserer Gesellschaft Whileaway besuchen.

JE: Warum?

SM: Um sich zu informieren, um Handel zu treiben … äh … um kulturellen Umgang zu pflegen, natürlich (lacht). Ich fürchte, Sie machen es mir sehr schwer, Miss Evason. Als die … äh … Seuche, von der Sie sprachen, die Männer auf Whileaway dahinraffte – wurden sie da nicht vermisst? Brachen da nicht Familien auseinander? Änderten sich da nicht sämtliche Lebensweisen?

JE (langsam): Ich denke mal, die Leute vermissen immer das, woran sie gewöhnt sind. Ja, sie wurden vermisst. Ganze Wortfamilien wie »er«, »Mann« und was damit zu tun hat, wurden verboten. Die zweite Generation gebraucht sie wieder, unter sich, um möglichst verwegen zu erscheinen, die dritte Generation ist höflich und nimmt solche Worte nicht in den Mund, und die vierte, wen interessiert das noch? Wer erinnert sich daran?

SM: Aber sicherlich … ist das …

JE: Entschuldigen Sie, vielleicht habe ich missverstanden, worauf Sie hinauswollten. Die Sprache, in der wir uns unterhalten, ist nur eines meiner Hobbys, und ich spreche sie nicht so fließend, wie ich wünschte. Wir sprechen ein Pan-Russisch, das nicht einmal die Russen verstehen würden. Auf Ihre Sprache bezogen wäre das wie Mittelenglisch, nur umgekehrt.

SM: Ich verstehe. Aber kehren wir zu der Frage zurück …

JE: Ja.

SM (hat keinen leichten Stand zwischen den Fernsehgewaltigen und dieser seltsamen Person, die wie der Häuptling eines wilden Stammes in Ignoranz gehüllt ist – ausdruckslos, zuvorkommend, möglicherweise zivilisiert, ohne einen blassen Schimmer. Schließlich sagte er): Möchten Sie nicht, dass die Männer nach Whileaway zurückkehren, Miss Evason?

JE: Warum?

SM: Ein Geschlecht ist nur die halbe Spezies, Miss Evason. Ich zitiere (und er zitierte einen berühmten Anthropologen). Wollen Sie jeglichen Sex von Whileaway verbannen?

JE (mit großer Würde und völlig natürlich): Wie bitte?

SM: Ich sagte: Wollen Sie jeglichen Sex von Whileaway verbannen? Sex, Familie, Liebe, erotische Anziehungskraft – nennen Sie es, wie Sie wollen –‚ wir alle wissen, dass Ihr Volk aus tüchtigen und intelligenten Individuen besteht, aber glauben Sie, dass das genügt? Sie kennen doch sicher die biologischen Eigenheiten anderer Spezies, also müssten Sie doch wissen, wovon ich rede.

JE: Ich bin verheiratet. Ich habe zwei Kinder. Worauf, zum Teufel, wollen Sie hinaus?

SM: Ich … Miss Evason … wir … nun, wir wissen, dass Sie Verbindungen eingehen, die Sie Ehe nennen, Miss Evason. Wir wissen, dass die Abstammung Ihrer Kinder jeweils zwei Partnern zugesprochen wird, dass Sie sogar ›Stämme‹ haben – ich nenne sie mal so, wie Sir –––– sie nennt. Ich weiß, die Übersetzung trifft es nicht immer, und wir wissen, dass diese Ehen oder Stämme sinnvolle Einrichtungen sind, die den ökonomischen Unterhalt der Kinder und eine genetische Durchmischung gewährleisten, wenn ich auch zugeben muss, dass Sie uns in den biologischen Wissenschaften weit voraus sind. Ich rede jedoch nicht von ökonomischen oder auf Zuneigung basierenden Einrichtungen, Miss Evason. Natürlich lieben die Mütter auf Whileaway ihre Kinder, das bezweifelt niemand. Und natürlich haben sie Gefühle füreinander, auch daran zweifelt niemand. Aber es gibt doch noch mehr, viel, viel mehr – und damit meine ich die geschlechtliche Liebe.

JE (geht ein Licht auf): Ach! Sie meinen den Koitus.

SM: Ja.

JE: Und Sie behaupten, so etwas gäbe es bei uns nicht?

SM: Ja.

JE: Wie töricht von Ihnen. Natürlich gibt es das bei uns.

SM: Ach? (Eigentlich möchte er sagen: »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«)

JE: Ja, untereinander. Wenn ich Ihnen das näher erklären darf …

Ein Werbespot, der in poetischen Worten die Vorzüge ungeschnittenen Brotes pries, unterbrach sie augenblicklich. Sie konnten nur mit den Achseln zucken (was die Kameras nicht aufnahmen). Es wäre nicht einmal so weit gekommen, wenn Janet sich nicht strikt geweigert hätte, in aufgezeichneten Sendungen aufzutreten. Es handelte sich um eine Liveübertragung, mit einer Verzögerung von vier Sekunden. Ich mag sie allmählich immer mehr. Sie sagte: »Wenn Sie von mir erwarten, dass ich Ihre Tabus beachte, dann müssen Sie mir schon genauer sagen, was Ihre Tabus sind.« Auf Jeannine Dadiers Welt wurde (würde) sie von einer Kommentatorin gefragt:

Wie richten die Frauen auf Whileaway ihr Haar?

JE: Sie hacken es sich mit Muschelschalen ab.

8

»Menschlichkeit ist unnatürlich!«, verkündete die Philosophin Dunyasha Bernadetteson (344–426 n. K.), die ihr ganzes Leben lang unter dem Fehlgriff einer Genchirurgin litt, die ihr den Kiefer der einen Mutter und die Zähne der anderen gegeben hatte – auf Whileaway ist Kieferorthopädie äußerst selten notwendig. Die Zähne ihrer Tochter dagegen waren makellos. Die Seuche brach im Jahre 17 v. K. (vor der Katastrophe) über Whileaway herein und endete 3 n. K., nachdem die Hälfte der Bevölkerung gestorben war. Sie hatte so langsam begonnen, dass niemand sie bemerkte, bis es zu spät war. Nur Männer wurden von ihr befallen. Während des Goldenen Zeitalters (300 bis ca. 180 v. K.) war die Erde vollständig umgestaltet worden, und so boten die natürlichen Lebensbedingungen erheblich weniger Schwierigkeiten, als es bei einer Katastrophe tausend Jahre früher der Fall gewesen wäre. Zur Zeit der Verzweiflung (wie sie im Volksmund genannt wurde) besaß Whileaway zwei Kontinente, der Einfachheit halber Nord- und Südkontinent genannt, und eine Vielzahl vollendeter Buchten und Ankerplätze entlang der Küste. Unterhalb 72° südlicher und 68° nördlicher Breite kam es nie zu Unwettern. Auf dem Wasser verkehrten zur Zeit der Katastrophe fast ausschließlich Frachttransporte, der Personenverkehr spielte sich auf den flexiblen Routen der kleineren Hovercrafts ab. Die Häuser waren dank tragbarer Energiequellen zu autonomen Einheiten geworden, Alkoholverbrennungsmotoren oder Solarzellen hatten die früheren Zentralheizungen abgelöst. Die spätere Erfindung der praktischen Materie/Antimaterie-Reaktoren (K. Ansky, 239 n. K.) sorgte ein Jahrzehnt lang für großen Optimismus, aber diese Geräte erwiesen sich für den Privatgebrauch als zu unhandlich. Katharina Lucyson Ansky (201–282 n. K.) war auch für die Grundlagenforschung verantwortlich, die schließlich die Genchirurgie ermöglichte. (Die Verschmelzung von Eizellen wurde damals bereits seit einhundertfünfzig Jahren praktiziert.) Vor dem Goldenen Zeitalter war das Tierreich derart dezimiert worden, dass Enthusiastinnen während der Ansky-Periode viele Arten wieder neu erschufen. 280 n. K. gab es auf Newland (einer der Landesenge des Nordkontinents vorgelagerten Insel) eine Kaninchenplage, eine Pandemie, die nicht ohne geschichtliche Vorläufer ist. Dank der brillanten Aufklärungsarbeit der großen Betty Bettinason Murano (453–502 n. K.) wurden die terranischen Kolonien auf dem Mars, Ganymed und im Asteroidengürtel wieder neu besiedelt, wobei ihr die Mondliga gemäß dem Abkommen vom Mare Tenebrum (240 n. K.) zur Seite stand. Als sie gefragt wurde, was sie im Weltraum zu finden hoffte, antwortete Betty Murano mit dem unsterblichen Scherz: »Nichts.« Im dritten Jahrhundert n. K. war Intelligenz ein kontrollierbarer, vererbbarer Faktor, obgleich die Chirurginnen Begabung und Neigungen nicht in den Griff bekamen und auch die Intelligenz nur in groben Zügen gesteigert werden konnte. Im fünften Jahrhundert hatte die gesellschaftliche Organisation in Klans ihren gegenwärtigen komplexen Stand erreicht, und das Recycling von Phosphor gelang beinahe problemlos; im siebten Jahrhundert ermöglichte der Bergbau auf Jupiter die Umstellung der Glas- und Keramiktechnologie auf einige Metalle (die ebenfalls wieder aufbereitet wurden), und zum dritten Mal in vierhundert Jahren (auch Modeerscheinungen kehren manchmal zyklisch wieder) wurden Duelle zu einem ernsten gesellschaftlichen Problem. Einige örtliche Gildenräte forderten, dass eine siegreiche Duellantin sich der für Totschlag üblichen Bestrafung unterziehen und ein Kind gebären müsse, um das verlorene Leben zu ersetzen. Diese Lösung war jedoch zu einfältig, um sich durchzusetzen. Da musste zum Beispiel das Alter der Kontrahentinnen bedacht werden. Anfang des neunten Jahrhunderts n. K. war der Induktionshelm zu einer vielversprechenden Möglichkeit geworden, die Industrie veränderte sich auf drastische Weise, und der Mondliga war es schließlich gelungen, den Südkontinent hinsichtlich der Menge produzierten Proteins pro Kopf und Jahr zu übertreffen. Im Jahr 913 n. K. verknüpfte eine unbekannte und unzufriedene Nachfahrin Katy Anskys verschiedene Elemente mathematischen Wissens und entdeckte – oder erfand – so die Wahrscheinlichkeitsmechanik.

Zu Zeiten Jesus von Nazareths, liebe Lesenden, gab es keine Automobile. Trotzdem gehe auch ich gelegentlich noch zu Fuß.

Das heißt, kluge Ökologen lassen die Dinge sich möglichst genau so entwickeln, wie sie es von allein tun würden, aber sie sorgen dafür, dass in der Scheune eine Petroleumlampe bereitsteht, nur für den Fall. Normalerweise führt eine Meinungsverschiedenheit über die Frage, ob es sich lohnt, ein Pferd zu halten, zu der Entscheidung, dass der Aufwand zu groß ist; aber die Naturschutzenklave in La Jolla hält Pferde. Wir würden sie nicht als solche erkennen. Der Induktionshelm verleiht einer einzelnen Arbeiterin nicht nur große Kraft, sondern auch die Flexibilität und die Verfügungsgewalt von Tausenden; die Industrie von Whileaway wird völlig auf den Kopf gestellt. Auf Whileaway gehen die meisten Menschen zu Fuß (natürlich sind ihre Füße mustergültig). Manchmal drückt sich ihre Hast auf seltsame Weise aus. In früheren Zeiten genügte es, nur am Leben zu bleiben und Kinder in die Welt zu setzen. Jetzt sagen sie: »Wenn die Re-Industrialisierung abgeschlossen ist« – und gehen noch immer zu Fuß. Vielleicht gefällt es ihnen. Die Wahrscheinlichkeitsmechanik bietet – auf dem Umweg durch ein (sorgfältig ausgewähltes) anderes Kontinuum – die Möglichkeit der Teleportation. Chilia Ysayeson Belin lebt in italienischen Ruinen (ich glaube, es handelt sich um einen Teil des Viktor-Emanuel-Denkmals, obwohl ich nicht weiß, wie es nach Newland gelangt ist), zu denen sie ein sentimentales Verhältnis hat. Wie kann jemand dort auf diskrete Weise eine Innentoilette installieren, ohne einen Riesenaufwand zu betreiben? Ihre Mutter, Ysaye, lebt in einer Höhle (ebenjene Ysaye, die die Theorie der Wahrscheinlichkeitsmechanik aufgestellt hat). Fertighäuser sind innerhalb von zwei Tagen lieferbar und in null Komma nichts aufgebaut. Es gibt achtzehn Belins und dreiundzwanzig Moujkis (Ysayes Familie, ich war schon bei beiden zu Gast). Auf Whileaway gibt es keine richtigen Städte. Und natürlich schleift der Schwanz der Kultur mehrere Jahrhunderte hinter ihrem Kopf her. Whileaway ist so idyllisch, dass wir uns manchmal fragen, ob der höchste Entwicklungsgrad uns nicht vielleicht alle in eine Art präpaläolithische Morgendämmerung zurückversetzt, in einen Garten ohne Werkzeuge außer jenen, die wir Wunder nennen würden. Eine Moujki erfand 904 n. K. in ihrer Freizeit wiederverwendbare Behältnisse für Lebensmittel, weil sie von dieser Idee so fasziniert war; Leute sind schon aus nichtigeren Gründen umgebracht worden.

Mittlerweile ist der ökologische Haushalt riesig geworden.

9

JE: Ich habe mein Kind mit dreißig zur Welt gebracht, das haben wir alle. Dafür bekommen wir Urlaub. Fast fünf Jahre lang. Die Säuglingszimmer sind voll mit Leuten, die lesen, malen, singen, so viel sie können, für die Kinder, mit den Kindern, über die Kinder … wie bei dem alten chinesischen Brauch der dreijährigen Trauer, eine Pause genau zur richtigen Zeit. Davor gab es überhaupt keine Freizeit, und danach wird es nur wenig geben – für alles, was ich mache, verstehen Sie, ich meine, was ich wirklich mache, muss ich die Grundlagen in diesen fünf Jahren legen. Jeder arbeitet mit fieberhafter Hast … mit sechzig bekomme ich eine sitzende Tätigkeit zugewiesen, dann werde ich wieder etwas Zeit für mich haben.

Kommentator: Und das hält man auf Whileaway für ausreichend?

JE: Großer Gott, nein.

10

Jeannine trödelt herum. Sie hasst es aufzustehen. Am liebsten würde sie auf der Seite liegen und den Götterbaum betrachten, bis ihr der Rücken wehtäte. Dann würde sie sich umdrehen, verborgen hinter den Schleiern des Laubes, und einschlafen. Die letzten Bilder ihrer Träume, bis sie wie eine Pfütze im Bett liegt und der Kater auf ihr herumklettert. An Werktagen stand Jeannine früh auf, bewegte sich durch eine Art wachen Albraum – dann fühlte sie sich abscheulich, stolperte noch immer in Schlaf gehüllt durch den Korridor ins Badezimmer. Vom Kaffee wurde ihr übel. Sie konnte sich nicht in den Sessel setzen oder die Hausschuhe abstreifen oder sich bücken oder anlehnen oder hinlegen. Mr. Frosty spazierte auf dem Fenstersims herum, schritt vor dem Götterbaum auf und ab: ein Tiger auf dem Palmzweig. Das Museum. Der Zoo. Der Bus nach Chinatown. Anmutig wie eine Meerjungfrau sank Jeannine in den Baum. Sie trug einen Teewärmer bei sich, den sie dem jungen Mann geben wollte, über dessen Kragen, an der Stelle, wo sein Gesicht hätte sein sollen, ein riesiger Muffin zitterte. Vor Erregung zitterte.

Der Kater sprach.

Sie schreckte hoch. Ich werde dir etwas zu fressen geben, Mr. Frosty.

Mrrrr.

Cal konnte es sich eigentlich nicht leisten, mit ihr auszugehen. Sie fuhr schon so lange mit dem Bus, dass sie alle Strecken kannte. Sie gähnte schrecklich, goss Wasser über Mr. Frostys Katzenfutter und stellte die Untertasse auf den Fußboden. Er fraß würdevoll, und sie erinnerte sich daran, wie sie ihn einmal zu ihrem Bruder mitgenommen hatte. Dort hatten sie ihm einen frischen, rohen Fisch gegeben, den einer der Jungen gerade erst im Teich gefangen hatte. Mr. Frosty hatte sich daraufgestürzt und ihn verschlungen, war ganz verrückt danach gewesen. Fisch mögen sie wirklich. Jetzt spielte er mit seiner Untertasse und stupste sie mit den Pfoten hin und her, obwohl er ausgewachsen war. Katzen wären wirklich viel glücklicher, wenn man sie … wenn man sie … (sie gähnte). Oh, heute fand das chinesische Fest statt.

Wenn ich das Geld hätte, wenn ich mir die Haare richten lassen könnte … Er kommt in die Bibliothek, er ist Collegeprofessor; nein, er ist ein Lebemann. »Wer ist dieses Mädchen?« Spricht mit Mrs. Allison, schmeichelt sich hinterrücks bei ihr ein. »Das ist Jeannine.« Sie schlägt, von weiblicher Macht erfüllt, die Augen nieder. Habe mir heute die Nägel lackiert. Und das sind gute Kleider, geschmackvoll, sie unterstreichen meine Individualität, meine Schönheit. »Sie hat das gewisse Etwas«, sagt er. »Gehen Sie mit mir aus?« Später auf dem Dachgarten, beim Champagner: »Jeannine, wirst du …«

Mr. Frosty, unbefriedigt und eifersüchtig, schlägt seine Krallen in ihre Wade. »Schon gut!«, sagt sie mit erstickter Stimme. Zieh dich an, schnell.

Ich (dachte Jeannine und musterte sich in dem teuren mannshohen Spiegel, den der Vormieter unerklärlicherweise innen an der Schranktür zurückgelassen hat) ich sehe fast aus wie … wenn ich mein Gesicht etwas zur Seite drehe. Oh! Cal wird SO WÜTEND sein … Sie huscht zurück zum Bett, streift den Pyjama ab und schlüpft in die Unterwäsche, die sie am Abend zuvor auf die Kommode gelegt hat. Jeannine, die Wassernymphe. Ich träumte von einem jungen Mann, irgendwo … So ganz glaubt sie nicht ans Kartenlegen oder an Wahrsagerei – das ist doch völlig idiotisch –, aber manchmal kichert sie und denkt, dass es nett wäre. Ich habe große Augen. Sie werden einem hochgewachsenen, dunkelhaarigen …

Resolut setzt sie Mr. Frosty aufs Bett, zieht Pullover und Rock an, bürstet ihr Haar, während sie die Bürstenstriche leise mitzählt. Ihr Mantel ist furchtbar alt. Nur ein kleines bisschen Make-up, Lipgloss und Puder. (Sie passte schon wieder nicht auf und bekam Puder auf den Mantel.) Wenn sie früh losging, würde sie Cal nicht in ihrem Zimmer treffen müssen. Ansonsten würde er mit dem Kater spielen (auf Händen und Knien) und sie danach lieben wollen, nein; so war es besser. Der Bus nach Chinatown. In ihrer Hast stolperte sie die Treppe hinunter und griff nach dem Geländer. Die kleine Miss Spry, die alte Dame im Erdgeschoss, öffnete gerade in dem Augenblick ihre Wohnungstür, als Miss Dadier fliegenden Schrittes durch den Flur eilte. Jeannine sah ein kleines, runzeliges, besorgtes altes Gesicht, schütteres weißes Haar und einen Leib wie ein Mehlsack, zusammengehalten von einem formlosen schwarzen Kleid. Eine fleckige, mit hervortretenden Venen bedeckte Hand umklammerte den Türrahmen. »Wie geht’s, Jeannine? Gehen Sie aus?«

In einem Anfall von Hysterie verdoppelte Miss Dadier ihr Tempo und entfloh. Ooh! So auszusehen!

Da war Cal. Er ging gerade an der Bushaltestelle vorbei.

11

Etsuko Belin lag kreuzförmig ausgestreckt auf einem Gleiter. Sie verlagerte ihr Gewicht und setzte zu einer sanften Drehung an. Fünfhundert Meter unter ihr sah sie, wie sich die aufgehende Sonne Whileaways in den Gletscherseen des Mount Strom spiegelte. Sie vollführte eine halbe Rolle und segelte auf dem Rücken an einem Falken vorbei.

12

Vor sechs Monaten, beim Chinesischen Neujahrsfest, hatte Jeannine in der Kälte gestanden und sich die Fäustlinge auf die Ohren gepresst, um den schrecklichen Lärm der Feuerwerkskörper nicht hören zu müssen. Cal, der neben ihr stand, schaute dem Drachen zu, wie er durch die Straße tanzte.

13

Ich traf Janet Evason auf dem Broadway, am Rand einer Parade (stehend), die ihr zu Ehren gegeben wurde. Sie beugte sich aus der Limousine und bat mich einzusteigen. Umringt von Geheimagenten. »Die da«, sagte sie.

Nach und nach werden wir alle zusammenkommen.

14

Jeannine legt sich, völlig fehl am Platz, die Hände auf die Ohren und schließt die Augen. Sie sitzt auf einer Farm auf Whileaway an einem Tapeziertisch unter Bäumen, wo alle anderen essen. Ich bin nicht hier. Ich bin nicht hier. Chilia Ysayesons Jüngste hat Gefallen an der Neuen gefunden; Jeannine sieht große Augen, große Brüste, breite Schultern, dicke Lippen, all diese Feistigkeit. Mr. Frosty wird von achtzehn Belins verwöhnt, gestreichelt und gefüttert. Ich bin nicht hier.

15

JE: Evason bedeutet nicht ›Sohn‹, sondern ›Tochter‹. Das ist Ihre Übersetzung.

16

Und hier sind wir.

Zweiter Teil

1

Wer bin ich?

Ich weiß, wer ich bin, aber wie lautet mein Markenname?

Ich, mit einem neuen Gesicht, einer aufgedunsenen Maske. In Plastikstreifen über die alte gelegt, ein blonder Halloween-Ghul über der SS-Uniform. Darunter war ich dürr wie eine Bohnenstange, mit Ausnahme der Hände, die auf ähnliche Weise behandelt worden waren, und diesem wahrhaft eindrucksvollen Gesicht. Ich habe das im Rahmen meiner Geschäfte, auf die ich noch ausführlicher eingehen werde, nur einmal gemacht, und den idealistischen Kindern, die einen Stock tiefer wohnen, einen Riesenschrecken eingejagt. Ihre zarte Haut wurde rot vor Angst und Abscheu. Ihre hellen jungen Stimmen erhoben sich zu einem Lied (um drei Uhr morgens). Ich bin nicht Jeannine. Ich bin nicht Janet. Ich bin nicht Joanna.

Ich mache das nicht oft (behaupte ich, der Ghul), aber es ist eine tolle Sache, im Aufzug jemandem den Zeigefinger ins Genick zu drücken, während du am vierten Stock vorbeifährst und weißt, dass er nie herausfinden wird, dass du gar nicht ganz da bist.

(Tut mir leid, aber geben Sie acht.)

Sie werden mir später begegnen.

2

Wie ich schon sagte, hatte ich (nicht das Ich von oben, bitte) am siebten Februar neunzehnhundertneunundsechzig ein Erlebnis.

Ich wurde zu einem Mann.

Ich war schon vorher ein Mann gewesen, aber nur kurz und inmitten einer Menschenmenge.

Sie hätten es nicht bemerkt, wenn Sie dabei gewesen wären.

Männlichkeit, Kinder, erreicht ihr nicht durch Mut oder kurzes Haar oder Gefühllosigkeit oder indem ihr euch (wie ich) in Chicagos einzigem Wolkenkratzerhotel aufhaltet, während draußen ein Schneesturm tobt. Ich befand mich, umgeben von geschmacklosen Barockmöbeln, auf einer Cocktailparty in Los Angeles und hatte mich in einen Mann verwandelt. Ich sah mich zwischen den schmutzigweißen Schnörkeln der Spiegeleinfassung, und das Ergebnis stand außer Frage: Ich war ein Mann. Aber was ist dann Männlichkeit?

Männlichkeit, Kinder … ist Männlichkeit.

3

Janet bat mich in die Limousine, und ich stieg ein. Die Straße war sehr dunkel. Als sie die Wagentür öffnete, sah ich unter der Leuchte über dem Vordersitz ihr berühmtes Gesicht. Im Scheinwerferlicht wucherten Bäume elektrisch grün aus der Dunkelheit. Auf diese Weise bin ich ihr wirklich begenet. Jeannine Dadier war eine verschwommene Silhouette auf dem Rücksitz.

»Sei gegrüßt«, sagte Janet Evason. »Hallo. Bonsoir. Das ist Jeannine. Und wer bist du?«

Ich sagte es ihr. Jeannine begann zu erzählen, was ihr Kater für schlaue Dinge angestellt hatte. Vor uns wogten und bogen sich die Bäume.

»In mondhellen Nächten«, sagte Janet, »fahre ich oft ohne Licht«, bremste den Wagen auf Schrittgeschwindigkeit ab und schaltete die Scheinwerfer aus; ich meine, ich habe sie verschwinden sehen – die Landschaft hob sich nebelig und bleich wie ein schlecht ausgestellter Watteau vom Horizont ab. Im Mondlicht habe ich immer das Gefühl, meine Augen wären schlechter geworden. Der Wagen – etwas Teures, obwohl es zu dunkel war, um die Marke zu erkennen – seufzte lautlos. Jeannine war beinahe verschwunden.

»Ich bin ihnen, wie es so schön heißt« (sagte Janet mit ihrer überraschend lauten, normalen Stimme) »entwischt«, und sie schaltete die Scheinwerfer wieder ein. »Und ich muss sagen, dass sich das nicht gehört«, fügte sie hinzu.

»Es gehört sich wirklich nicht«, sagte Jeannine auf dem Rücksitz. In einer Straßensenke kamen wir an einem Motelschild vorbei, und hinter den Bäumen blitzte ein beleuchtetes Etwas auf.

»Das tut mir sehr leid«, sagte Janet. Der Wagen? »Gestohlen«, sagte sie. Sie starrte für einen Moment durch das Seitenfenster, wandte den Kopf – und ihre Aufmerksamkeit – von der Straße ab. Jeannine keuchte entrüstet. Nur die Fahrerin kann erkennen, was im Rückspiegel wirklich vor sich geht, aber hinter uns war ein Auto. Wir bogen auf einen Feldweg ab – das heißt, sie bog ab – und fuhren mit abgeschalteten Scheinwerfern in den Wald hinein – und auf eine andere Straße, an deren Ende sich ein einzelnes, unbeleuchtetes Wohnhaus befand, so sauber und ordentlich, wie du es dir nur wünschen kannst. »Auf Wiedersehen, entschuldigt mich«, sagte Janet leutselig und schlüpfte aus dem Wagen. »Fahrt bitte weiter«, und sie verschwand im Haus. Sie trug ihren Fernsehanzug. Ich saß völlig verdutzt da, während Jeannine ihre Hände um die Lehne meines Sitzes krallte (wie Kinder das machen). Der andere Wagen kam hinter uns zum Stehen. Sie stiegen aus und kreisten mich ein (du bist echt im Nachteil, wenn du dasitzt und die Lampen dir in den Augen wehtun). Brutal kurzer Haarschnitt und irgendwie unangenehme Kleidung: streng, breitschultrig, sauber und doch nicht robust. Können Sie sich vorstellen, wie ein Polizist in Zivil sich die Haare rauft? Natürlich nicht. Jeannine hatte sich zusammengekauert, war außer Sichtweite oder irgendwie verschwunden. Kurz bevor Janet Evason in Begleitung einer strahlenden Familie – Vater, Mutter, Teenagertochter und ein Hund (alle überglücklich, berühmt zu sein) – auf der Veranda des Hauses auftauchte‚ verriet ich mich idiotischerweise, indem ich hitzig ausrief:

»Nach wem suchen Sie? Hier ist niemand. Ich bin ganz allein.«

4

Versuchte sie wegzulaufen? Oder nur willkürlich Leute auszuwählen?

5

Warum haben sie mich entsandt? Weil sie mich entbehren können. Etsuko Belin schnallte mich fest. »Ah, Janet!«, sagte sie. (Selber ah.) In einem nackten, kahlen Raum. Der Käfig, in dem ich lag, gleitet vierzigtausendmal pro Sekunde aus dem Dasein hinaus und wieder hinein; also folgte er mir nicht. Kein letzter Kuss von Vittoria; niemand kam an mich heran. Entgegen Ihren Erwartungen wurde mir weder übel noch kalt, noch hatte ich das Gefühl, durch ein endloses Was-auch-immer zu fallen. Das Problem ist, dass dein Gehirn weiterhin auf die gewohnten Stimuli reagiert, während es bereits die neuen empfängt; ich versuchte, die neue Wand in die alte zu verwandeln. Wo das Käfiggitter gewesen war, befand sich nun ein menschliches Gesicht.

Spasibo.

Tut mir leid.

Lassen Sie mich erklären.

Ich war so verunsichert, dass mir anfangs gar nicht bewusst wurde, dass ich mitten auf ihrem – Schreibtisch, wie ich später herausfand – lag. Und es kam noch schlimmer. Ich lag quer darüber, einfach so (während mich fünf Leute anstarrten). Wir hatten mit anderen Entfernungen experimentiert; jetzt holten sie mich zurück, nur um sicherzugehen, dann schickten sie mich wieder los, und ich lag wieder auf ihrem Schreibtisch.

Was für eine seltsame Frau; dick und dünn, ausgetrocknet, mit kräftigem Kreuz und einem großmütterlichen Schnurrbart, einem kleinen. Wie ein Leben unaufhörlicher Plackerei dir doch zusetzen kann!

Aha! Ein Mann.

Soll ich sagen, dass es mir kalt über den Rücken lief? Schlecht für die Eitelkeit, aber so war es. Das muss ein Mann sein. Ich stieg von seinem Schreibtisch herunter. Vielleicht wollte es sich gerade auf den Weg zur Arbeit machen, denn wir waren ähnlich angezogen; nur dass es codierte Farbstreifen über seine Taschen genäht hatte, eine gut durchdachte Erkennungsmarke für eine Maschine oder so was. In perfektem Englisch sagte ich:

»Wie geht es Ihnen? Ich muss mein plötzliches Erscheinen erklären. Ich komme aus einer anderen Zeit.« (Wir hatten Wahrscheinlichkeit/Kontinuum als zu unverständlich verworfen.) Keiner rührte sich.

»Wie geht es Ihnen? Ich muss mein plötzliches Erscheinen erklären. Ich komme aus einer anderen Zeit.«

Was sollte ich tun, ihnen Schimpfwörter an den Kopf werfen? Sie rührten sich nicht. Ich setzte mich auf den Schreibtisch, und einer von ihnen schlug ein Stück der Wand zu; also haben sie Türen, genau wie wir. Das Wichtigste in einer neuen Situation ist, nicht die Nerven zu verlieren, und in meiner Tasche befand sich genau das Richtige für einen solchen Notfall. Ich holte ein Stück Schnur hervor und begann das Fadenspiel zu spielen.

»Wer sind Sie?«, fragte einer von ihnen. Sie alle hatten diese kleinen Streifen auf den Taschen.

»Ich stamme aus einer anderen Zeit, aus der Zukunft«, antwortete ich und hielt das Fadengebilde vor mich hin. Es stellte nicht nur das universelle Friedenssymbol dar, sondern war auch ein ganz netter Zeitvertreib. Allerdings hatte ich die einfachste Figur gebildet. Einer lachte; ein anderer schlug sich die Hände vor die Augen; der, auf dessen Schreibtisch ich saß, wich zurück; ein Vierter meinte: »Soll das ein Witz sein?«

»Ich komme aus der Zukunft.« Du musst nur lange genug sitzen bleiben, dann wird die Wahrheit schon durchdringen.

»Was?«, sagte Nummer Eins.

»Wie, meinen Sie, bin ich sonst aus dem Nichts aufgetaucht?«, sagte ich. »Menschen können ja wohl kaum durch Wände gehen, oder?«

Als Antwort darauf holte Nummer Drei einen kleinen Revolver hervor, und das überraschte mich; wo doch allgemein bekannt ist, dass Wut und Ärger jenen gegenüber am stärksten sind, die man kennt: Es sind die Liebenden und die Nachbarn, die sich gegenseitig umbringen. Schließlich ergibt es keinen Sinn, sich einer völlig fremden Person gegenüber so zu verhalten; wo ist da die Befriedigung? Keine Liebe, kein Verlangen; kein Verlangen, keine Frustration; keine Frustration, kein Hass, richtig? Es muss Furcht gewesen sein. In diesem Moment öffnete sich die Tür, und eine junge Frau kam herein, die etwa dreißig Jahre alt war, sorgfältig geschminkt und gekleidet. Ich weiß, ich hätte nichts mutmaßen sollen, aber du musst mit dem arbeiten, was du hast. Ich mutmaßte, dass ihr Kleid sie als Mutter auswies. Das heißt, eine Frau auf Urlaub, eine mit Freizeit, die dicht am Informationsnetzwerk dran ist und von intellektueller Neugier erfüllt. Wenn es eine Oberschicht gibt (sagte ich mir), dann ist es das. Ich wollte niemanden von wichtiger körperlicher Arbeit abhalten. Und ich dachte, machst du doch einen kleinen Scherz. Ich sagte zu ihr:

»Bringen Sie mich zu ihrer Anführerin.«

6

… eine hoch gewachsene, blonde Frau im blauen Pyjama, die aufrecht stehend auf Colonel Q––––s Schreibtisch erschien, als käme sie aus dem Nichts. Sie holte etwas hervor, das wie eine Waffe aussah. … Keine Antwort auf unsere Fragen. Seit den Unruhen im letzten Sommer bewahrt der Colonel in der obersten Schublade seines Schreibtisches einen kleinen Revolver auf. Er nahm ihn heraus. Sie wollte unsere Fragen einfach nicht beantworten. Ich glaube, in diesem Augenblick kam Miss X–––– herein, die Sekretärin des Colonels. Sie hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging. Zum Glück behielten Y––––‚ Z––––‚ Q––––, R---- und ich selbst einen kühlen Kopf. Dann sagte sie: »Ich komme aus der Zukunft.«

FRAGESTELLER: Miss X–––– sagte das?

ANTWORT: Nein, nicht Miss X––––. Die … die Fremde.

FRAGESTELLER: Sind Sie sicher, dass sie aufrecht stehend auf Colonel Q––––s Schreibtisch erschien?

ANTWORT: Nein, ganz sicher bin ich nicht. Warten Sie. Jetzt hab ich’s. Sie saß darauf.

7

INTERVIEWER: Es kommt uns allen seltsam vor, Miss Evason, dass Sie sich in ein … nun, auf ein völlig unbekanntes Gebiet vorgewagt haben … angeblich ohne eine Waffe außer einem Stück Schnur. Erwarteten Sie von uns, dass wir uns friedlich verhalten?

JE: Nein. Das ist niemand, jedenfalls nicht restlos.

INTERVIEWER: Dann hätten Sie sich bewaffnen sollen.

JE: Niemals.

INTERVIEWER: Aber Miss Evason, jemand Bewaffnetes ist doch viel beeindruckender als jemand Hilfloses. Jemand Bewaffnetes verbreitet viel schneller Angst.

JE: Eben.

8

Diese Frau lebte einen Monat lang mit mir zusammen. Was nicht heißen soll, dass sie in meinem Haus wohnte. Janet Evason war im Radio, in den Talkshows, den Zeitungen, den Wochenschauen, den Magazinen, sogar in der Werbung. Eines Nachts erschien sie mit jemandem, mit Miss Dadier nehme ich an, in meinem Schlafzimmer.

»Ich habe mich verirrt.« Sie meinte: Auf welcher Welt bin ich?

»Um Himmels willen, gehen Sie bitte auf den Gang raus!«

Stattdessen schwand sie durch den chinesischen Druck an der Wand dahin, vermutlich hinaus auf den um drei Uhr morgens leeren, mit Teppich belegten Korridor. Manche Leute bleiben nie lange da. In meinem Traum wollte jemand wissen, wo Miss Dadier war. Gegen vier wachte ich auf und ging ins Badezimmer, um mir ein Glas Wasser zu holen. Da stand sie, auf der anderen Seite des Badezimmerspiegels, und redete in Zeichensprache wild auf mich ein. Sie riss die Augen weit auf und spähte verzweifelt zu mir herüber, beide Fäuste gegen das Spiegelglas gepresst.

»Er ist nicht hier«, sagte ich. »Verschwinden Sie.«

Ihre Lippen formten etwas Unverständliches. Der Raum sang:

Du hast die Gefangenschaft

ge-fan-gen

ge-nom-men!

Du hast die Gefangenschaft

ge-fan-gen

ge-nom-men!

Ich machte einen Waschlappen nass und wischte den Spiegel damit ab. Sie verzog das Gesicht. Mach das Licht aus, sagten mir meine feineren Instinkte, also schaltete ich das Licht aus. Sie blieb hell erleuchtet. Ich tat das Ganze als eine Verirrung der Welt ab, nicht als meine, und ging wieder ins Bett.

»Janet?«, sagte sie.

9

Janet schleppte Jeannine beim Chinesischen Neufest ab. Miss Dadier erlaubte nie jemandem, sie abzuschleppen, aber eine Frau war etwas anderes, eine Frau war nicht das Gleiche. Janet trug einen hellbraunen Regenmantel. Cal war gerade um die Ecke verschwunden, um in einem chinesischen Schnellimbiss ein paar gedämpfte Reiskuchen zu holen, als Miss Evason nach der Bedeutung eines Banners fragte, das durch die Straße getragen wurde.

»Unbeschwerte Beharrlichkeit, Madam Tschiang«, sagte Jeannine.

Dann plauderten sie über das Wetter.

»Ach, das kann ich doch nicht«, sagte Jeannine plötzlich. (Sie presste sich die Hände auf die Ohren und schnitt eine Grimasse.) »Aber das ist etwas anderes«, sagte sie.

Janet Evason machte einen weiteren Vorschlag. Jeannine wirkte interessiert und schien bereitwillig zuzuhören, wenn auch ein wenig verdutzt.

»Cal ist da drin«, sagte Jeannine überheblich. »Ich könnte da nicht reingehen.« Sie spreizte die Finger vor sich wie zwei Fächer. Sie war hübscher als Miss Evason und froh darüber; Miss Evason ähnelte einem großen Pfadfinder mit wehendem Haar.

»Sind Sie Französin?«

»Ah!«, sagte Miss Evason und nickte.

»Ich war noch nie in Frankreich«, sagte Jeannine gelangweilt; »ich habe schon oft gedacht, ich sollte … nun, ich war einfach noch nie dort.« Glotz mich nicht so an. Sie ließ sich nach hinten sinken und kniff die Augen zusammen. Sie wollte eine Hand heben und geziert ihre Augen vor der Sonne schützen; sie wollte ausrufen: »Schauen Sie! Dort ist mein Freund Cal!«; aber er war nirgends zu sehen, und wenn sie sich zum Schaufenster umdrehen würde, wäre es voller Fischinnereien und Streifen getrockneten Fischs; das wusste sie.

Davon … würde … ihr … übel … werden! (Sie starrte einen Karpfen an, dem die Eingeweide herausquollen.) Ich zittere am ganzen Leib. »Wer hat Ihnen das Haar gemacht?«, fragte sie Miss Evason, und als Miss Evason das nicht verstand:

»Wer hat Ihr Haar so wundervoll gesträhnt?«

»Die Zeit«, und Miss Evason lachte, und Miss Dadier lachte. Miss Dadier lachte allerliebst, atemberaubend, warf den Kopf in den Nacken; alle bewunderten die sanfte Wölbung von Miss Dadiers Hals. Blicke wandten sich ihr zu. Eine wunderschöne Figur und ein überwältigendes Charisma. »Ich kann Sie unmöglich begleiten«, sagte Miss Dadier mit bezaubernder Stimme, während ihr Pelzmantel sie umwogte. »Da ist Cal, da ist New York, da ist meine Arbeit, New York im Frühling, ich kann nicht einfach weggehen, das ist mein Leben«, und der Frühlingswind spielte mit ihrem Haar.

Die verrückte Jeannine nickte starr vor Angst.

»Gut«, sagte Janet Evason. »Wir werden dafür sorgen, dass Sie beurlaubt werden.« Sie pfiff, und zwei Zivilbullen in hellbraunen Regenmänteln kamen um die Ecke gewetzt: massige, entschlossene Männer mit Hängebacken und Stiernacken, die – in rasantem Tempo – durch den Rest dieser Geschichte hetzen werden. Doch wir schenken ihnen keine Aufmerksamkeit. Jeannine schaute verwundert von ihren Regenmänteln auf Miss Evasons Regenmantel. Sie konnte das ganz und gar nicht gutheißen.

»Also deshalb passt er Ihnen nicht«, sagte sie. Janet sah zu den Polizisten hinüber und deutete auf Jeannine.

»Jungs, ich hab eine.«

10

Das Chinesische Neufest wurde ersonnen, um die Rückeroberung Hongkongs von den Japanern zu feiern. Tschiang Kai-Tschek starb 1951 an einer Herzkrankheit, und Madam Tschiang ist Premierministerin des Neuen China. Japan kontrolliert das Festland und verhält sich relativ ruhig, da es – zum Beispiel – nicht auf die Unterstützung eines wiedererstarkten Deutschlands zählen kann. Wenn es je wieder zum Krieg kommen sollte, dann zwischen der Göttlichen Japanischen Kaiserlichkeit und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (davon gibt es zwölf). Die Amerikaner machen sich keine großen Sorgen. Deutschland zankt sich gelegentlich mit Italien oder England. Frankreich (durch den misslungenen Putsch von ’42 gedemütigt) bekommt allmählich Schwierigkeiten mit seinen Kolonien. Britannien gestattete – weit klüger – 1966 Indien die provisorische Selbstverwaltung.

Die Wirtschaftskrise herrscht noch immer weltweit.

(Aber stellen Sie sich vor – stellen Sie sich nur vor! –‚ was hätte geschehen können, wenn die Welt nicht so glücklich abgebremst worden, wenn es wirklich zum großen Krieg gekommen wäre, denn große Kriege sind Treibhäuser der Wissenschaft, Wirtschaft, Politik; stellen Sie sich vor, was geschehen wäre und was nicht geschehen wäre. Die Welt hat Glück gehabt. Jeannine hat das Glück, in ihr zu leben.

Sie selbst ist anderer Meinung.)

11

(Cal, der gerade rechtzeitig aus dem chinesischen Schnellimbiss trat, um zu sehen, wie sein Mädchen mit drei anderen Leuten davonging, warf nicht etwa in einem Anfall verzweifelter Wut das Päckchen mit den Reiskuchen auf den Boden und trampelte darauf herum. Irgendein ruheloser polnischer Vorfahre starrte ihm aus den Augen. Er war so dünn und schmächtig, dass seine Ambitionen aus ihm hervorschienen: Eines Tages schaffe ich es, Schätzchen. Ich werde der Größte sein. Er setzte sich auf einen Hydranten und begann die Reiskuchen zu essen.

Sie wird zurückkommen müssen, um ihren Kater zu füttern.)

Dritter Teil

1

Im Folgenden eine Belehrung. Falls Sie dergleichen nicht mögen, können Sie ja zum nächsten Kapitel weiterblättern. Bevor Janet

auf diesem Planeten ankam,

fühlte ich mich nicht wohl in meiner Haut, ich war launisch, unglücklich und wenig umgänglich. Mein Frühstück schmeckte mir nicht. Ich verbrachte den ganzen Tag damit, mir das Haar zu kämmen und mich zu schminken. Andere Mädchen übten sich im Kugelstoßen oder verglichen ihre Ergebnisse beim Bogenschießen, ich aber – Wurfspeer und Armbrust waren mir gleichgültig, Gartenbau und Eishockey widerten mich an – ich

zog mich an für die Kerle

lächelte für die Kerle

unterhielt mich geistreich mit den Kerlen

hatte Mitleid mit den Kerlen

schmeichelte den Kerlen

zeigte Verständnis für die Kerle

fügte mich den Kerlen

riss Witze für die Kerle

kümmerte mich um die Kerle

lebte für die Kerle.

Dann trat ein neues Interesse in mein Leben. Nachdem ich Janet angerufen hatte – einfach nur so – oder sie mich angerufen hatte (bitte lesen Sie nicht zwischen den Zeilen, da steht nichts), begann ich zuzunehmen, mein Appetit wurde besser, Freunde lobten meine wiedererwachte Lebensfreude, und eine schmerzhafte Knöchelverkrümmung, die mich seit Jahren gequält hatte, verschwand einfach über Nacht. Ich erinnere mich nicht einmal mehr an das letzte Mal, als ich ins Aquarium gehen und mein Schluchzen unterdrücken musste, indem ich den Haien zusah. Ich fuhr in dunklen Limousinen mit Janet zu Fernsehauftritten, ganz so wie jener, den Sie im letzten Kapitel gesehen haben; ich beantwortete ihre Fragen; ich kaufte ihr ein Taschenwörterbuch; ich nahm sie mit in den Zoo; ich zeigte ihr nachts die Skyline von New York, als gehörte sie mir.

Oh, ich habe diese Frau zurechtgemacht, das können Sie mir glauben!

In dem Operndrehbuch, das unser Leben regiert, wäre Janet auf eine Party gegangen, und auf dieser Party hätte sie einen Mann kennengelernt, und dieser Mann wäre etwas ganz Besonderes gewesen; etwas ganz anderes als alle Männer, denen sie je begegnet ist. Später hätte er ihr Komplimente über ihre Augen gemacht, und sie wäre vor Freude errötet; sie hätte das Gefühl gehabt, dieses Kompliment sei irgendwie anders als alle Komplimente, die sie je erhalten hatte, weil es von diesem Mann kam; sie hätte diesem Mann gerne gefallen, und gleichzeitig spürte sie, wie ihr das Kompliment durch Mark und Bein ging; sie wäre losgezogen und hätte sich Mascara für die Augen gekauft, die dem Mann so gefallen hatten. Und noch später wären sie zusammen spazieren gegangen, und danach wären sie essen gegangen; und diese kleinen Tête-a-tètes mit diesem Mann wären anders gewesen als alle anderen Abende, die Janet je erlebt hatte; und bei Kaffee und Weinbrand hätte er ihre Hand genommen; und später wäre Janet auf der schwarzen Ledercouch in seinem Apartment dahingeschmolzen, ihren Arm über den Couchtisch (aus elegantem Teakholz) ausgestreckt, hätte ihr Glas mit teurem Scotch abgesetzt und wäre in Verzückung geraten. Sie wäre einfach in Verzückung geraten. Sie hätte gesagt: Ich Liebe Diesen Mann. Das Ist Der Sinn Meines Lebens. Und dann natürlich, Sie wissen schon, was dann passiert wäre.

Ich habe sie zurechtgemacht. Ich tat alles, nur eine typische Familie fand ich nicht für sie; die fand sie selbst, wie Sie sich bestimmt erinnern. Aber ich brachte ihr bei, wozu eine Badewanne gut war, und ich korrigierte ihr Englisch (ruhig, langsam, den Hauch eines Flüsterns im ›s‹, zurückhaltend ironisch). Ich zog ihr den Arbeiterinnenanzug aus und murmelte (während ich ihr Haar einseifte) Satzfragmente, die ich irgendwie nie beenden konnte: »Janet, du musst … Janet, wir dürfen nicht … aber das ist immer …«

Das ist etwas anderes, sagte ich, das ist etwas anderes.

Ich könnte das nicht, sagte ich, oh, ich könnte das nicht.

Was ich sagen will – ich habe es drauf; ich bin ein braves Mädchen; ich mache es, wenn du es mir zeigst.

Aber was willst du machen, wenn diese Frau mit der Faust die Wand durchschlägt? (Die stuckverzierte Trennwand zwischen Kochnische und Wohnzimmer, um genau zu sein.)

Janet, setz dich.

Janet, lass das.

Janet, tritt nicht nach Jeannine.

Janet!

Janet, nicht!

Ich stelle sie mir vor: höflich, reserviert, undurchschaubar förmlich. Monatelang befleißigte sie sich der Manieren, die sie von der Arbeit gewohnt war. Dann gelangte sie, glaube ich, zu der Feststellung, dass sie auch ohne Manieren ungestraft davonkommen konnte; oder vielmehr dass wir ihre Manieren zu würdigen wussten, warum also nicht? Für jemanden aus Whileaway muss es etwas Neues gewesen sein, die offizielle Toleranz allem gegenüber, was sie tat oder zu tun versuchte, der Müßiggang, die Aufmerksamkeit, die an Bewunderung grenzte. Ich habe das Gefühl, dass sie alle so aufblühen können (was für ein Glück, dass sie es nicht tun, nicht wahr?), Jahrhunderte entfernt vom nachgiebigen Netz ihrer Familie, umgeben von Barbaren, monatelang keusch und einer Kultur und Sprache ausgeliefert, die ihr, wie ich vermute, im Grunde ihres Herzens zuwider gewesen sein muss.

Ich wohnte sechseinhalb Monate lang mit ihr zusammen in einer Hotelsuite, die normalerweise ausländischen Diplomaten vorbehalten war. Ich habe dieser Frau die Schuhe angezogen. Ich hatte mir einen meiner Träume erfüllt – einer Ausländerin Manhattan zu zeigen –, und ich wartete darauf, dass Janet auf eine Party gehen und jenem Mann begegnen würde; ich wartete und wartete. In der Suite lief sie nackt herum. Sie hatte einen furchtbar dicken Hintern. Auf dem weißen Wohnzimmerteppich machte sie ihre Yogaübungen, wobei sich die Schwielen an ihren Füßen in seinem weichen Flaum verfingen, ob Sie es glauben oder nicht. Wenn ich bei Janet Lippenstift auftrug, war dieser zehn Minuten später verschwunden; ich zog sie an, und sie zog sich wieder aus, wie eine Dreijährige: zuvorkommend, nett, untadelig höflich; vor ihren abscheulichen Späßen schreckte ich zurück, aber das stachelte sie nur noch mehr an.

So viel ich weiß, nahm sie nie Verbindung mit ihrer Heimat auf.

Sie wollte einen Mann nackt sehen (wir besorgten Bilder).