In fernen Gefilden - Joanna Russ - E-Book

In fernen Gefilden E-Book

Joanna Russ

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Beschreibung

Mit der wagemutigen, widerborstigen Abenteurerin Alyx schuf Joanna Russ ein Gegenbild zu den dominanten Heldenfiguren ihrer Zeit: In den vorliegenden fünf Erzählungen und dem Kurzroman »Picknick auf Paradies« kämpft eine Frau für ein selbstbestimmtes Dasein, ohne sich männlichem Rollenverhalten anzudienen. Alyx verschlägt es in antike Städte und auf ferne Planeten, aber eines bleibt stets gleich: Sie muss sich den Zumutungen entgegenstellen, mit denen voreingenommene Menschen und autoritäre Gesellschaftsformen sie konfrontieren. Band 1 der Werkausgabe enthält weiterhin eine repräsentative Auswahl von Essays und Rezensionen aus der ersten Schaffensphase von Joanna Russ. – Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Jeanne Cortiel, Professorin für Amerikanistik an der Universität Bayreuth und Autorin der Monografie »Demand My Writing: Joanna Russ, Feminism, Science Fiction«.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 544

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Aus dem

amerikanischen Englisch

übersetzt von

Hannes Riffel, Erik Simon & Thomas Ziegler

Impressum

Originalausgabe

Herausgegeben von Jeanne Cortiel

© 1976, 1983, 2007 by Joanna Russ

© der einzelnen Übersetzungen 2024 bei den Übersetzern

© dieser Ausgabe 2024 by Carcosa Verlag, Wittenberge

Alle Rechte vorbehalten

Published in agreement with Winifred Emily Eads c/o Diana Finch Literary Agency // Wir danken der Agentur Fritz + Fritz in Zürich für die freundliche Vermittlung // Die Übersetzungen folgen den Bänden Alyx (Boston: Gregg Press, 1976), The Zanzibar Cat (Sauk City: Arkham House, 1983) und The Country You Have Never Seen (Liverpool: Liverpool University Press, 2007) // Die Druckfahnen wurden abgeglichen mit Novels & Stories (New York: Library of America, 2023) // Wir verweisen auf das Quellenverzeichnis am Ende des Bandes

Carcosa Verlag ist ein verschwistertes Imprint von

Memoranda Verlag | Hardy Kettlitz | Ilsenhof 12 | 12553 Berlin

www.carcosa-verlag.de | www.memoranda.eu

Lektorat: Lisa Kuppler, Sünje Redies & Hannes Riffel

Korrektorat: Tabea Hecht & Ralf Neukirchen

Umschlaggestaltung: s.BENeš [www.benswerk.com]

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

ISBN: 978-3-910914-18-6 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-910914-19-3 (E-Book)

Inhalt

Die Alyx-Erzählungen

Blaustrumpf

Ich dachte, sie hätte Angst, bis sie mir über den Bart strich

Die Barbarin

Picknick auf Paradies

Die zweite Inquisition

Eine Vlet-Partie

Rezensionen

Bücher: FANTASY AND SF (September 1969)

Bücher: FANTASY AND SF (Juli 1970)

Bücher: FANTASY AND SF (November 1971)

Bücher: COLLEGE ENGLISH (Dezember 1971)

Essays

Tagtraumliteratur und Science Fiction

Das Frauenbild in der Science Fiction

Nachwort von Jeanne Cortiel

Verzeichnis der Quellen und Copyrights

Die Alyx-Erzählungen

Blaustrumpf

Dies ist die Geschichte einer Reise, die nur insofern von Interesse ist, als sie von den Taten einer kleinen, grauäugigen Frau handelt. Kleine Frauen gibt es zur Genüge – und solche mit grauen Augen auch –, aber diese Frau zählte zu den weisesten eines Geschlechtes, das überdurchschnittlich weise ist. Das ist nicht weiter überraschend (oder sollte es jedenfalls nicht sein), denn es gehört zum Allgemeinwissen, dass die Frau eine ganze Viertelstunde vor dem Mann erschaffen wurde und sich diesen Vorteil bis heute bewahrt hat. Die Legende erzählt sogar, dass Leh, der erste Mann, aus dem sechsten Finger von Loh, der ersten Frau, gefertigt wurde, und deshalb haben Frauen an der linken Hand nur fünf Finger. Die Dame, mit der wir uns in dieser Geschichte beschäftigen, hatte alle ihre sechs Finger, und darüber hinaus waren diese alle funktionsfähig.

Im siebten Jahr vor der Zeit, von der wir sprechen, war diese Frau, eine gepflegte, gelassen dreinblickende gouvernantenhafte Person namens Alyx, in die Stadt Ourdh gekommen, und zwar als Angehörige einer religiösen Delegation aus den Bergen, deren Absicht es war, die sittenlosen Bürger zu tugendhaften Gebräuchen zu bekehren und zu dem einen wahren Gott, einem Bang-Baum von fürchterlicher Erhabenheit. Aber Alyx, eine junge Frau mit intellektuellen Neigungen, war noch keine zwei Monate in Ourdh, als sie zu der Feststellung gelangte, dass die Religion von Yp (wie der Gott aus den Bergen genannt wurde) schrecklicher Blödsinn war. Eine Frau in einer Angelegenheit von solcher Tragweite zu täuschen war derart gedankenlos, dass es einiger Wochen konzentrierten Nachdenkens bedürfen würde, um sich eine angemessene Vergeltung auszudenken. Zu gegebener Zeit jagte die Polizei Alyx’ Glaubensgenossen die »Straße von Himmel und Erde« hinunter und zum Sumpftor hinaus, wo sie von den Moskitos gebissen wurden, die im Schilf auf der Lauer lagen. Alyx zuckte verächtlich mit den Schultern und versuchte sich künftig in aller Bescheidenheit als Einbrecherin, ein Beruf, der ihren Feinsinn befriedigte. Damit verdiente sie sich ihren Lebensunterhalt und fand dank ihres Geschicks gesellschaftlichen Anschluss. Sehr viel von dem Reichtum der wohlhabendsten und widerwärtigsten aller Städte blieb an ihren Fingern kleben, aber das meiste fiel wieder davon ab, denn weltliche Dinge beeindruckten sie nicht weiter. Während die Bürger von Ourdh in diesem siebten Jahr nach Alyx’ Ankunft ihren legalen wie illegalen Geschäften nachgingen, sahen sie nur eine Frau mit kurzem schwarzen Haar und einem Hauch von Sommersprossen auf der milchweißen Nase; Alyx hatte jedoch den Ehrgeiz, ein Schicksal zu werden. Sie war dreißig (für Männer wie Frauen gleichermaßen eine gefährliche Zeit), als diese Geschichte beginnt. Yps Wege waren unergründlich, und Alyx trat in den Dienst von Lady Edarra. Ourdh sah keine von beiden wieder – eine Zeit lang.

Alyx schlenderte eines schwülen Sommermorgens zusammen mit einem Freund die »Straße der augenfälligen Zurschaustellung« entlang, als sie wahrnahm, dass eine junge Frau, die wie die Auslage eines Juweliers gekleidet war und einen imposanten Kranz roten Haars auf dem Kopf trug, ihr vom Tisch einer Gartenterrasse aus zuwinkte.

»Wundersam sind die Wege von Yp«, bemerkte sie, denn obwohl sie der Gottheit keinen Respekt mehr entgegenbrachte, sprach sie aus reiner Gewohnheit weiter von ihr. »Dort sitzt eine rothaarige Frau von nicht mehr als siebzehn Jahren und mit einer Haut, die nicht schöner sein könnte, und doch pudert sie sich das Gesicht.«

»Wirklich wundersam«, sagte ihr Freund. Dann hob er einen Finger und ging seiner Wege, ein diskretes Verhalten, das in Ourdh sehr bewundert wurde. Die junge Dame, die mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte getrommelt und wie eine Furie die Stirn gerunzelt hatte, winkte erneut und stampfte mit dem Fuß.

»Ich möchte mit Ihnen sprechen«, sagte sie mit schneidender Stimme. »Können Sie mich nicht hören?«

»Ich habe sechs Ohren«, sagte Alyx, in einer solchen Situation die höfliche Antwort. Sie setzte sich, und der Kellner reichte ihr die Speisekarte.

»Sie hören mir nicht zu«, sagte die Dame.

»Ich höre nicht mit den Augen«, sagte Alyx.

»Wer nicht mit den Augen und den Ohren zuhört«, sagte die Dame mit schneidender Stimme, »wird das möglicherweise bald bereuen.«

»Wer«, sagte Alyx, »an einem wunderschönen Sommermorgen andere Leute in irgendeiner Weise bedroht, stört die Ruhe des Tages und den Frieden des Yp«, sagte sie, »der allmächtig ist.«

»Sie sind unmöglich!«, rief die Dame aus. »Unmöglich!« Und sie hüpfte vor Wut auf ihrem Stuhl auf und ab, den zornigen Blick aus ihren braunen Augen auf Alyx gerichtet. »Tod!«, rief sie. »Tod und Knochen!« Und das war, um elf Uhr morgens an der reichsten und luxuriösesten Straße von Ourdh, wirklich eine lächerliche Äußerung, denn eine solche Straße ist einer der angenehmsten Orte auf der Welt, jedenfalls für jene, die nicht auf die Bettler achten. Die Dame sprang, unempfänglich für all diesen Überfluss, auf und starrte die kleine Einbrecherin wütend an; dann, nachdem sie sich mühsam wieder gefasst hatte (sie ballte beide Hände und knirschte mit den Zähnen, als litte sie unter Sumpffieber), sagte sie ruhig: »Ich möchte Ourdh verlassen.«

»Wie so viele«, erwiderte Alyx höflich.

»Ich benötige eine Gefährtin.«

»Eine Kammerzofe?«, regte Alyx an. Die Dame sprang erneut in die Höhe, als müsse ihr Zorn irgendwohin entweichen; dann ballte sie die Hände und knirschte mit doppeltem Nachdruck mit den Zähnen.

»Ich brauche Schutz«, fauchte sie.

»Ah?«

»Ich zahle gut!« (Das war fast schon ein Schrei.)

»Wie das?«, sagte Alyx, die ihre Zweifel hatte.

»Das geht Sie nichts an«, sagte die Dame.

»Wenn ich in Ihre Dienste treten soll, geht mich alles etwas an. Raus mit der Sprache – wie viel?«

Widerwillig nannte die Dame eine Zahl.

»Das reicht nicht«, sagte Alyx. »Vor allem, wenn ich nicht weiß, wie. Oder warum. Und warum brauchen Sie Schutz? Vor wem? Wann?« Die Dame sprang auf die Beine. »Über Wasser?«, fuhr Alyx unerschütterlich fort. »Über Land? Zu Fuß? Wie weit? Sie müssen verstehen, meine Kleine –«

»Meine Kleine!«, schrie die Dame und sperrte den Mund auf. »Meine Kleine!«

»Wenn Sie und ich ins Geschäft kommen sollen –«

»Ich werde Sie verprügeln lassen …«, keuchte die Dame atemlos. »Ich werde Sie so –«

»Damit alle Welt von Ihren Plänen erfährt?«, fragte Alyx und beugte sich vor, eine Hand unter dem Kinn. Die Dame starrte sie an, biss sich auf die Lippen und machte ein paar Schritte rückwärts. Dann ergriff sie hastig ihre Röcke, als wären sie Kartoffelsäcke, und rannte davon; Bänder flatterten ihr nach. Weinfarbene Bänder, dachte Alyx, zu rotem Haar. Wie pfiffig. Sie bestellte Brandy und füllte ihr Glas, wobei sie neugierig hineinblickte – die heiße Vormittagssonne von Ourdh verlieh dem Getränk einen weinartigen Schimmer, umgab ihn mit einem funkelnden, zitternden, schlierigen Kranz freischwebender Helligkeit. Auf (sagte sie mit kolossaler Gutmütigkeit zu sich selbst) das Wohl aller jungen Damen der Welt. »Und«, fügte sie leise hinzu, »auf gewaltige Mengen von Geld.«

Nachts ist Ourdh ein Vorhof jener Grube oder jenes dunstigen, schlammigen Ufers, wo ewiglich die Götter knien und Menschen erschaffen; wenngleich die Lichter der Stadt niemals heller leuchten. Nachts erwachen die Reichen, während die Armen in einen bekümmerten Schlaf versinken, und begeben sich auf die flachen, weiß getünchten Dächer. Im Licht goldener Lampen betreiben die Reichen Konversation, gleiten schmeichelnd, aber niemals vulgär aneinander vorbei; nachts steigen die Kurtisane Ya mit den goldenen Brüsten (ein Genuss für den übersättigten Geschmack) und der rotbärtige Pirat Garh mit seiner sorgsam kultivierten gebeugten Haltung und viele, viele andere die breiten weißen Stufen zu einem der Dächer hinauf. Auf jeder Stufe steht eine Lampe, jede Lampe wirft ihr verschwommenes Leuchten auf ein Tablett, und jedes Tablett ist übervoll mit Klebrigem, Eingelegtem, Salzigem, Süßem … Alyx stieg hinauf und träumte von Schnee. Sie war geschäftlich hier. Tatsächlich war der Himmel in jener Nacht bedeckt, aber ein Regenguss würde die Gäste nicht ins Haus treiben; eine gestreifte Markise mit Goldsaum würde dann über ihren Köpfen entrollt, und während der Saum dunkel und nass werden und Wasser sich in den darunter liegenden Garten ergießen würde, würden Damen ihre Hände (oder den Kopf – aber das bedurfte einer »mutigen« Dame, wegen der Frisur) unter der Markise hervorstrecken und kreischen, während der warme, milde, gleichgültige Regen von Ourdh sie durchnässte. Donner war allerdings eine andere Sache. Alyx erinnerte sich an Gewitter in den Bergen, als Schotter das Flussbett hinunterrauschte und die Pfade sich in kalten Morast verwandelten.

Schließlich fand sie die Witwe, die in diesem Haus das Heft in der Hand hatte, und die schwerfällige Dame sagte: »Hier ist sie.«

Es war Edarra, schmollende Siebzehn und damit beschäftigt, ein Seidentuch zu einem nassen Bausch zusammenzuknüllen. Sie trug ein funkelndes blaugrünes Brusttuch.

»Diese Halskette meine ich«, sagte die Witwe. »Lassen Sie sie nicht aus den Augen.«

»Ich verstehe«, sagte Alyx und strich sich mit der Hand über die Stirn.

Als sie allein waren, richtete Edarra ihren zornigen Blick auf Alyx und zischte: »Verräterin!«

»Warum das?«, fragte Alyx.

»Verräterin! Verräterin! Verräterin!«, schrie das Mädchen. Die Gäste, die ihnen am nächsten waren, drehten sich neugierig um und wandten sich gelangweilt wieder ab.

»Niemand interessiert sich für Sie«, sagte Alyx und lehnte sich leicht gegen die Brüstung, um die Gesellschaft zu beobachten. Hinter ihr regte sich etwas, und sie hörte ein aufgebrachtes Rascheln. Dann sagte das Mädchen (zwischen den Zähnen hindurch) mit leiser Stimme: »Heute Nacht wird jemand diese Halskette stehlen.«

Alyx sagte nichts. Ya schwebte mit im Lampenschein schimmernden Metallbrüsten vorbei; hinter ihr der Juwelier Peng.

»Dafür bekomme ich siebenhundert Unzen Gold!«

»Tatsächlich?«, sagte Alyx.

»Und Sie haben es mir vermasselt«, fauchte das Mädchen. Gemeinsam beobachteten sie die Gäste, rot und grün, Seide auf Seide wie Öl auf Wasser, die Hüte mit den hohen Kronen und die schillernden Ohrringe, die wie ein Schwarm Unterwasserfische funkelnden Armbänder. Herauf kam die Witwe in Begleitung eines Grundherrn von der reichsten und umfänglichsten Sorte, ein vornehmer Bräutigam, der bereits drei Frauen begraben hatte und jetzt das Privileg haben sollte, Lady Edarra zu begraben. Wenn man allerdings dem Glauben schenkte, was er erzählte, hatte sich die erste zu Tode gefressen, die zweite zu Tode getrunken, und die dritte war einem selbstgebrauten Hautreinigungsmittel erlegen. Was sollte daran schon zweifelhaft sein? Er lächelte und nahm Edarras Oberarm zwischen Daumen und Zeigefinger. Er sagte: »Na, Kleines?« Sie starrte ihn nur an. »Sei nicht trotzig«, sagte er. »Du wirst reich sein.« Die Witwe fuhr auf. »Noch reicher, meine ich«, sagte er mit einem Lächeln. Die Mutter und der Bräutigam unterhielten sich eine Weile über Geschäftliches und schenkten dem Mädchen keine Beachtung; dann wandten sie sich unvermittelt um und verschwanden in der wogenden Menge der Gäste, von denen sich einige über die Brüstung beugten und lauthals mit jenen im Garten plauderten, während andere ausrutschten und sich unfreiwillig in fünfunddreißig Pfund Kirschen niederließen, die gerade versehentlich auf den Boden gekippt worden waren.

»Deshalb wollen Sie also weglaufen«, sagte Alyx. Lady Edarra starrte stur geradeaus, und große Tränen liefen ihr lautlos über die Wangen. »Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten«, sagte sie.

»Kümmern Sie sich um Ihre«, sagte Alyx leise, »und beleidigen Sie mich nicht, denn sonst werde ich äußerst fuchsig.« Sie lachte und strich über die Halskette, die ziemlich protzig war und aus daumengroßen Steinen bestand. »Was würden Sie machen«, sagte sie, »wenn ich einwillige?«

»Sie sind unmöglich!«, sagte Edarra und blickte schluchzend auf.

»So sei denn Yp gelobt, dass es mich gibt«, sagte Alyx, »denn ich möchte fragen, ob Ihr Angebot noch steht. Jetzt, da ich die Halskette deutlicher sehe, neige ich dazu anzunehmen – wen auch immer Sie engagiert haben, hat Sie im Übrigen hereingelegt; dafür bekommen Sie das Doppelte – wenngleich der Herr, den wir gerade gesehen haben, etwas mit meiner Entscheidung zu tun hat.« Sie hielt inne. »Und?«

Edarra sagte nichts, sperrte nur den Mund auf.

»Also, was jetzt?«

»Nein«, sagte Edarra.

»Wohlgemerkt«, sagte Alyx mit einem schiefen Lächeln, »Sie müssen immer noch jemanden finden, der Sie begleitet, und dem Mann, den Sie – wahrscheinlich – engagiert haben, würde ich keine fünf Minuten vertrauen, nicht in einem Zimmer mit zwanzig anderen Leuten. Entscheiden Sie sich. Ich begleite Sie, so lange und so weit Sie wollen, und zwar überallhin.«

»Na schön«, sagte Edarra. »Ja.«

»Gut«, sagte Alyx. »Ich nehme zwei Drittel.«

»Nein«, rief Edarra empört.

»Zwei Drittel«, sagte Alyx und schüttelte den Kopf. »Schließlich muss es sich für mich lohnen. Sowohl der Herr, den Sie engagiert haben, um die Halskette zu stehlen – als auch Ihre Mutter – und Ihr künftiger Gatte – und weiß der Himmel wer noch – werden hinter uns her sein, bevor der Abend vorbei ist. Vielleicht. Ich möchte jedenfalls in Sicherheit sein, wenn ich zurückkehre.«

»Wird das Geld …?«, sagte Edarra.

»Geld macht vieles möglich«, sagte Alyx, »und ich wollte schon lange mit etwas in diese Stadt, dieses Paradies, diesen – Sumpf! – zurückkehren, das mächtig macht! Kommen Sie«, und sie sprang auf die Brüstung und von dort in den Garten, wobei sie mit den Füßen zuerst in der Lehmerde landete und ein Erdbeerbeet umgrub. Edarra fiel neben ihr herab und blieb keuchend liegen.

»Töte einen, töte alle, töte den Teufel!«, rief Alyx vergnügt. Edarra griff nach ihrem Arm. Alyx nahm die Dame am Ellbogen und rannte los, während hinter ihnen die elegante Fröhlichkeit von Ourdh (die Gäste gossen einander Wein den Rücken hinunter) leiser und leiser wurde und schließlich ganz erstarb.

Sie verkauften die Halskette in einer Bretterbude am Hafen, in der es nach Teer und Abwässern stank (Edarra wurde übel, und sie musste draußen warten), und von dem Geld kaufte Alyx zwei Kurzschwerter, einen Dolch, eine Decke und einen runden Käse. Sie schlenderte den Hafen entlang, schnitt mit dem Dolch Stücke aus dem Käse und aß sie von der Spitze. Auf der Höhe eines Fischerboots, eines schmuddeligen Tramps mit einem Rahsegel, blieb sie stehen und deutete gleichzeitig mit Käse und Dolch hinüber.

»Das ist unseres«, sagte sie. (Denn auf den Hafenstraßen war es sehr ruhig.)

»O nein!«

»Ja«, sagte Alyx, »dieses Fiasko«, und von den glitschigen Balken des Kais sprang sie auf das Deck. »Es ist leer«, sagte sie.

»Nein«, sagte Edarra, »nicht mit mir«, und von der landwärtigen Seite der Stadt grollte Donner herüber, und ein paar Regentropfen, warm wie der Wind, fielen in der Finsternis.

»Es wird regnen«, sagte Alyx. »Kommen Sie an Bord.«

»Nein«, sagte das Mädchen. Alyx’ Gesicht tauchte am Bug des Bootes auf, ein weißer Fleck, der kaum vom Himmel unterscheidbar war; sie stand am Bug, während das Boot von der Strömung hin und her geschaukelt wurde. Ein Licht auf der anderen Straßenseite, im Fenster eines Hafencafés, erlosch.

»Oh!«, keuchte Edarra voller Angst, »geben Sie mir mein Geld!« Ein Lederbeutel fiel zu ihren Füßen in den Staub. »Ich gehe zurück«, sagte sie. »Da hinein setze ich nie und nimmer einen Fuß. Es ist widerlich. Es ist nicht damenhaft.«

»Nein«, sagte Alyx.

»Es ist schmutzig!«, rief Edarra. Alyx verschwand wortlos in der Dunkelheit. Über ihnen, wo die in den Sümpfen ausgebrüteten Wolken den Himmel bedeckten, verdichtete sich die Finsternis, und das Trommeln des Regens auf den Dächern der Stadt kam stetig näher, war drei Straßen entfernt, zwei – eine scharfe Windbö wirbelte Papierfetzen und den undefinierbaren Abfall des Kais in einer Spirale ungesehen empor. Draußen auf dem Meer konnte Edarra das allen Menschen vertraute Geräusch von Regen auf Wasser hören, als würden getrocknete Erbsen in einem Blatt Papier geschüttelt, nur leiser und undeutlicher, während die weite Oberfläche des Meeres sich mit zahllosen kleinen Pockennarben überzog …

»Ich dachte mir, dass Sie kommen würden«, sagte Alyx. »Sollen wir aufbrechen?«

Ourdh erstreckt sich mehrere Meilen südwärts entlang der Meeresküste, bis es schließlich zu einer Reihe kleiner Ortschaften verkümmert. In einer von diesen legten sie an und versorgten sich mit dem Nötigsten – einem Essensvorrat, einem Erstehilfekasten mit Drachenzähnen; und mit Schlangenwurz, denn wer weiß schon, was auf einer Seereise geschieht. Außerdem kauften sie Pech; Edarra sah sich gezwungen, das Schiff zu kalfatern, wollte sie nicht zimperlich und faul genannt werden, und sie tat es, allerdings ohne etwas zu sagen. Sie sagte überhaupt nichts. Sie kochte den Fisch über einem Feuer, das in einem Feuerkasten aus Messing brannte, fächelte der Glut Luft zu und erstickte fast, aber sie sagte niemals ein Wort. Schweigend tat sie, was ihr aufgetragen wurde. Mit jedem Tag wurde sie verbitterter, trat gegen den Herd und schrubbte den Boden; ihre Fingernägel brachen, und ihr Rock wetzte sich durch; im Stillen fluchte sie, aber ohne ein Wort, und als sie Alyx eines Nachts einen Tritt versetzte, war das ein Ereignis.

»Wohin fahren wir?«, sagte Edarra im Dunklen, fast außer sich vor Ungeduld. Über diese Frage grübelte sie schon seit mehreren Wochen nach, und in ihrer Stimme lag ein erstaunliches Maß an Konzentration; sie stupste Alyx mit dem großen Zeh an und wiederholte: »Ich will wissen, wohin wir fahren!«

»Morgen«, sagte Alyx. Sie schlief, denn es war mitten in der Nacht; die beiden Frauen hielten abwechselnd Wache an Deck. »Morgen früh«, sagte sie. Zum einen schlief sie, zum anderen war sie entmutigt; sie mochte zurückhaltend sein, aber sie war auch freundlich, und Edarra zerrüttete ihre Nerven.

»Oh!«, rief die Dame mit zusammengebissenen Zähnen aus, und Alyx drehte sich im Schlaf auf die andere Seite. »Wann kaufen wir endlich etwas Anständiges zu essen?«, verlangte die Dame mit Nachdruck zu wissen. »Wann? Wann?«

Alyx setzte sich kerzengerade auf. »Gehen Sie schlafen!«, schrie sie, weil sie wähnte, dass sie es war, die wach war und arbeitete. Inzwischen träumte sie von nichts anderem mehr als von der Arbeit. Edarra stapfte in der Dunkelheit auf und ab. »Um Himmels willen!«, rief sie, »wachen Sie endlich auf!«

»Was wollen Sie?«, fragte Alyx.

»Wohin fahren wir?«, sagte Edarra. »Doch nicht etwa zu irgend einem elenden kleinen Fischerdorf? Hab ich recht? Na, hab ich recht?«

»Ja«, sagte Alyx.

»Warum?«, verlangte die Dame zu wissen.

»Weil es Ihrem Charakter entspricht.«

Mit einem wütenden Schrei stürzte sich Lady Edarra auf ihre Retterin, und ein paar Minuten rangen sie miteinander, aber der Kampf, wenngleich heftig, fand zur Gänze im Dunkeln statt, und sie verhedderten sich fast vollständig in ihren Betten, die aus nichts als Decken auf bloßen Planken bestanden und nicht der einzige Grund waren, warum die braunen Augen der Dame endgültig ein unheilvolles Schwarz annahmen.

»Lassen Sie mich hoch, Sie erwürgen mich!«, rief die Dame, und als es Alyx gelang, eine Lampe anzuzünden, wobei sie sich wiederholt das Schienbein an irgendwelchen Möbelstücken stieß, wurde Edarra sichtbar, wie sie mit einer Decke rang, die sie daraufhin durch die Kajüte schleuderte. Die Kajüte maß keine zwei Meter.

»Wenn Sie das noch einmal machen, Madame«, sagte Alyx, »schlag ich Ihren Kopf auf den Boden!«

Die Dame wischte sich wie eine Prinzessin das Haar aus der Stirn. Sie zitterte. »Huh!«, sagte sie mit der Stimme einer Frau, die so zornig ist, dass sie sich nichts zu sagen traut. »Wirklich«, sagte sie, den Tränen nahe.

»Ja, wirklich«, sagte Alyx, »wirklich« (das Wort verschaffte ihr eine gewisse Befriedigung), »wirklich, gehen Sie nach oben. Wir treiben ab.« Die Dame saß mit bleichem Gesicht in der Ecke und krampfte die Hände umeinander, als hielte sie darin einen brennenden Splitter aus dem Herd. »Nein«, sagte sie.

»Bitte, Madame?«, sagte Alyx.

»Ich werde nichts tun«, sagte Edarra unsicher. Ihre Augen funkelten. »Sie können alles tun. Das wollen Sie doch sowieso.«

»Jetzt hören Sie mal …«, sagte Alyx grimmig und näherte sich dem Mädchen, aber ob sie es sich anders überlegte oder ob sie etwas hörte oder roch (denn nach Wochen auf dem Wasser entwickeln Seeleute – dem Vernehmen nach – ein gewisses Gespür für so etwas), jedenfalls warf sie sich nur ihre Decke über die Schulter und sagte: »Wie Sie wollen.« Dann ging sie hinauf. Ihre Miene war unnatürlich gefasst.

»Der Himmel sei Zeuge meiner Selbstbeherrschung«, sagte sie, ohne die Stimme zu erheben, sondern in einem Plauderton, der ihren Gesichtsausdruck einigermaßen Lügen strafte. »Vergesst es nicht. Belohnt mich. Möge der Bote von Yp – an den ich nicht glaube – auf das Pergamentblatt, das alles verzeichnet, was auf der Welt geschieht, niederschreiben, dass ich, über alles menschliche Maß provoziert, gepeinigt, getreten mitten im Schlaf, behandelt wie der Abschaum einer schmutzigen, billigen Sauerbierbrauerei …«

Da sah sie das Seeungeheuer.

Zwischen Ourdh und den umliegenden Hügeln gehen die Meinungen über Seeungeheuer auseinander; die Städter behaupten, die Ungeheuer seien die Seelen frevelhafter Verstorbener, welche die unbarmherzige Ödnis des Ozeans durchstreifen, um den Lebenden aufzulauern und sie in ein wässriges Grab hinabzureißen, und die Bewohner der Hügel verschmähen diese blasphemische Anschauung und entgegen, Seeungeheuer seien rechtmäßige Schöpfungen des großen Gottes Yp, der sie ausschickt, um Reisende zu morden, und zwar zur Veranschaulichung von Würde, Macht und Unberechenbarkeit der unerklärlichsten aller Gottheiten. Das Endergebnis ist allerdings weitgehend das Gleiche. Alyx hatte das knollenförmige Gesicht und die struppigen Barthaare der Kreatur auf einer Zeichnung gesehen, die im »Silbernen Aal« am Hafen von Ourdh hing (das – ausgestopfte – Original war, dem Gastwirt zufolge, in prähistorischer Zeit gestohlen worden), und ein Schauder war ihr über den Rücken gelaufen. Sie hatte gedacht: Vielleicht ist es nur ein Tier, aber angenehm war es trotzdem nicht gewesen. Jetzt, im Mondschein, der den Ozean in ein Spiel aus Silber und Schwarz verwandelte, in dem das winzige Schiff auf und ab hüpfte, weit entfernt von irgendjemandem oder irgendetwas, sah sie das Ungeheuer sich aus dem Wasser erheben; funkelnde Tropfen regneten herab, und das gewaltige, boshaft verzerrte Gesicht der Kreatur, demjenigen eines Menschen gleichzeitig so ähnlich und unähnlich, zeichnete sich wie ein Schattendämon vor dem dunkel glänzenden Wasser ab. Es hielt sein Junges an die Brust gedrückt, ein Zerrbild menschlichen Wesens. Sie hörte, wie Edarra hinter ihr röchelnd um Atem rang, denn die Dame war ihr an Deck gefolgt. Alyx mühte sich zur Reling, beugte sich darüber und streckte eine zitternde Hand aus. Sie rief:

»Bei dem Tetragramm des Schreckens,

Bei den sieben Namen Gottes.

Hinfort mit dir, lass uns in Frieden!«

Was äußerst tapfer von ihr war, denn sie glaubte nicht an Zaubersprüche. Dieser jedoch musste dem Ungeheuer direkt ins Gesicht gesagt werden, und das hatte sie getan.

Das Ungeheuer bellte wie ein Hund.

Edarra schrie. Mit einem Arm, der plötzlich wie Stahl geworden war, ergriff die Diebin einen Fischspeer, der im Heck hing, und stemmte ein Knie gegen die Reling; sie beugte sich bis in das Maul der Kreatur hinein und warf ihre Harpune. Diese verschwand unterhalb der rosafarbenen Hasenscharte, und Blut spritzte heraus, während die Bestie trompetend um sich schlug; das Blut breitete sich, im Mondschein schwarz, auf dem Wasser aus, und die Erscheinung verschwand in der Tiefe. Wellen liefen auseinander und brachten das Boot ins Schwanken, ebbten schließlich ab. Alyx sank kraftlos auf die Planken.

Eine Weile herrschte Stille. Dann sagte sie: »Es ist nur ein Tier«, und sie machte das Zeichen des Yp auf ihrer Stirn, um Reue zu zeigen, dass sie etwas getötet hatte, ohne dass es unbedingt nötig gewesen wäre. Diese Geste hatte sie schon seit Jahren nicht mehr gemacht. Edarra, die am Fuß des Mastes kauerte, regte sich. »Es ist fort«, sagte Alyx.

Sie rappelte sich auf und umfasste das Steuerruder, ein langer Stock, der am Heck hin und her pendelte. Das Mädchen regte sich erneut und fröstelte.

»Es war ein Tier«, sagte Alyx mit Nachdruck, »weiter nichts.«

Am nächsten Morgen holte Alyx die beiden Kurzschwerter hervor und erklärte Edarra, sie müsse lernen, damit umzugehen.

»Nein«, sagte Edarra.

»Ja«, sagte Alyx. Solange Flaute herrschte, fochten sie deckauf und deckab. Edarra wehrte sich erbittert. Alyx bedrängte sie hart und versicherte ihr, dass sie das jeden Tag würde tun müssen.

»Außerdem müssen Ihre Haare ab«, fügte sie ohne besonderen Grund hinzu.

»Niemals!«, keuchte Edarra und wich aus.

»Das werden wir ja sehen!«, und sie packte den roten Zopf und riss daran; die Klinge blitze auf …

Es mochte an der Seeluft liegen – oder am Verlust ihrer roten Locken – oder an dem Zusammenprall mit einem Charakter, der sich grundlegend von dem unterschied, was sie gewohnt war; jedenfalls wurde von jenem Morgen an klar, dass etwas einen heilsamen Einfluss auf die junge Frau ausübte. Sie war ruhiger, sogar (gelegentlich) verträumt; sie widmete sich ohne zu murren ihrer Arbeit, und nachdem sie einmal mit gutem Grund ins Meer getaucht worden war und sich ihr kurzes Haar daraufhin gewellt hatte, gewöhnte sie sich an, sich über die Reling zu beugen und sich mit versonnener Freude im Wasser zu betrachten. Ihre Haut, von der Diebin einmal als wundervoll bezeichnet, wurde im Laufe der Zeit noch schöner, und sie nahm eine zarte Elfenbeinfarbe an, was Alyx nicht entging. Aber es gefiel ihr keineswegs. Oft sagte sie während der Nachtwache laut: »Schön und gut, ich bin dreißig …« (Solcherart führte sie Selbstgespräche.) »Aber was, o Yp, ist schon dreißig? Dreimal zehn. Zweimal fünfzehn. Frauen heiraten mit vierzig. In zehn Jahren werde ich vierzig sein …«

Und so weiter. Nach dieser Selbstbeschau fühlte sie sich stets unwohl, hässlich und alt. Von ihrem schlechten Gewissen ganz zu schweigen. Denn ein Gewissen hatte sie durchaus, wenn es auch nicht den gängigen Wegen folgte. Eines Morgens – Alyx hatte während der Nacht wieder mit sich gerungen – fand sie das Mädchen über die Reling des Bootes gebeugt; das Haar hing ihr ins Gesicht, und sie betrachtete die Fische im Wasser und ihr eigenes Spiegelbild. Hin und wieder gähnte sie, öffnete dabei den rosafarbenen Mund und schloss die Augen; all das beobachtete Alyx verstohlen. Ihr war unwohl. Schon den ganzen Morgen herrschte starke Hitze, und am Horizont tanzten Luftspiegelungen von Schiffen, Möwen und nicht erkennbaren Dingen, zerfielen schließlich zu Seetang und dahintreibenden Holzstücken.

»Soll ich einen Fisch fangen?«, fragte Edarra, die inzwischen manchmal sprach.

»Ja … nein …«, erwiderte Alyx, die das Ruder hielt.

»Nun, soll ich oder soll ich nicht?«, sagte Edarra geduldig.

»Ja«, sagte Alyx, »wenn du …«, und drehte jäh das Ruder. Den ganzen Morgen über hatte sie schwarze, sich windende Gebilde beobachtet, die sich jedes Mal wieder verflüchtigt hatten; jetzt glaubte sie, über das funkelnde Wasser hinweg etwas zu erkennen. Eine Sache ist uns beiden gewiss, dachte sie. Wir werden den Rest unseres Lebens die Augen zusammenkneifen. Das Gebilde kam näher, nahm die Gestalt mehrerer vertikaler und einer horizontalen Linie an; es tanzte und schillerte unerträglich. Alyx schirmte ihre Augen gegen die Sonne ab.

»Edarra«, sagte sie ruhig, »hol die Schwerter. Bring mir eins, und den Dolch.«

»Was?«, sagte Edarra und ließ eine Angelschnur fallen, nach der sie gegriffen hatte.

»Drei Männer in einer Schaluppe«, sagte Alyx. »Geh mit der Klinge hinter dem Rücken zum Mast hinüber.«

»Aber vielleicht wollen sie gar nicht …«, sagte Edarra unerwartet munter.

»Oder vielleicht doch«, sagte Alyx grimmig. »Wer weiß das schon.«

In Ourdh gibt es eine weit verbreitete Redewendung, dass du, wenn es dir an Kraft fehlt, drei Dinge gut gebrauchen kannst: Hinterlist, Schnelligkeit und ein Überraschungsmoment. Das sind die natürlichen Waffen der Frauen. Als die drei Halunken – und es waren Halunken, oder der Augenschein trog – das Boot erreichten, war also das Rahsegel eingerollt, und die beiden Frauen saßen wie Schiffbrüchige an den Mast gelehnt, während das Boot auf der öligen Dünung tanzte. Damit war das Ruder nutzlos, und das Schiff würde, wenn der Wind die Richtung wechselte, nicht plötzlich herumschwenken. Alyx sah erfreut, dass zwei der drei Kerle fett waren und alle schmutzig; zu eitel, dachte sie, um sich in Form zu halten oder Vorkehrungen zu treffen. Mit der rechten Hand umfasste sie die Fäden des Fischernetzes, das unauffällig auf dem Deck ausgebreitet war.

»Wer macht denn eure Wäsche?«, fragte sie und erhob sich langsam. Unreinlichkeit war ihr zuwider. Edarra stand neben ihr ebenfalls auf.

»Ihr«, sagte der mittlere Mann. Alle drei lächelten breit. Als der Erste einen Fuß auf das Netz setzte, riss Alyx es jäh nach oben, sodass er in einem Gewirr von Schnüren auf das Deck fiel; im selben Moment warf sie mit der linken Hand – und die linke Hand dieser Tochter Lohs hatte alle sechs Finger – den Dolch (der bisher nur zum Ausnehmen von Fischen verwendet worden war) und traf den zweiten Eindringling mitten in den Bauch. Schwer krachte er auf die Planken; er würde ihnen keine Schwierigkeiten mehr bereiten. Der Erste hatte sich wieder aufgerappelt und wurde mit ihr handgemein. Laut hallte das Klirren von Stahl über das winzige Deck; genau neunzig Sekunden lang drängte er sie bis zur Reling zurück; dann schlingerte das Schiff, sie tauchte unter seiner Deckung hindurch, schlitzte ihm das Handgelenk auf und entwaffnete ihn. Doch sie hatte ihren Streich mit zu viel Schwung geführt und stürzte; er umfasste sein blutendes Handgelenk und warf sich auf sie. Alyx stemmte beide Knie gegen seine Brust und beförderte ihn ins Meer. Dabei riss er ein Stück des Hecks mit sich. Es hörte sich so an, als könne er nicht schwimmen. Sie beugte sich über die Reling und hielt ihre Waffe bereit, bis er das letzte Mal untergegangen war. Lange dauerte es nicht. Dann nahm sie wahr, dass Edarra über dem dritten Mann stand, das Schwert erhoben und mit selbstgefälliger Miene. Bedauerlicherweise birgt Blut für ein Kind Ourdhs keinen Schrecken.

»Schau mal, was ich getan habe!«, sagte die kleine Dame.

»Musst du deswegen so zufrieden aussehen?«, erwiderte Alyx schroff. Heute Morgen hatten sie an der gegenüberliegenden Reling Wäsche aufgehängt. See und Himmel waren so ruhig gewesen, dass sie kein Stück verrutscht war. Der Herr mit dem Dolch saß davor und starrte blind geradeaus.

»Wenn du so abgehärtet bist«, sagte Alyx, »dann zieh das raus.«

»Muss ich?«, fragte das kleine Mädchen ängstlich.

»Nicht unbedingt«, sagte Alyx, setzte dem Toten einen Fuß auf die Brust und packte mit abgewandtem Blick das Messer; Messer und Mann trennten sich voneinander, und er ging in einer fließenden Bewegung über Bord. Edarra wurde ein wenig rot; sie ließ den Kopf hängen und bemerkte: »Du bist famos.«

»Du bist eine Wilde«, sagte Alyx.

»Warum das?«, rief Edarra entrüstet. »Ich habe doch nur –«

»Wasch dich«, sagte Alyx, »und schaff den anderen weg; der gehört dir.«

»Ich habe gesagt, dass du famos bist, und ich sehe nicht ein, warum das –«

»Und setz das Segel«, fügte die Einbrecherin mit den sechs Fingern hinzu. Sie legte sich nieder, schloss die Augen und schlief ein.

Jetzt war es Alyx, die nicht sprach, und Edarra redete; sie sagte: »Guten Morgen«, sie sagte: »Warum haben Fische Schuppen?«, sie sagte: »Ich mag Garnelen, die sehen lustig aus«, und sie sagte (einmal): »Ich mag dich«, in nüchternem Tonfall, als hätte sie über die Frage nachgedacht und sie gerade beantwortet.

Eines Nachmittags aßen sie in der Kajüte Fisch – »Fisch« ist ein kaltes, unangenehmes, schleimiges Wort, aber in Lehm gebackene Meerforelle mit Zwiebeln, Garnelen und Weißwein ist etwas ganz anderes –, und da sagte Edarra: »Wie war das, als du in den Bergen gelebt hast?« Sie sagte es aus heiterem Himmel, einfach so.

»Was?«, sagte Alyx.

»Warst du da glücklich?«, sagte Edarra.

»Darüber möchte ich lieber nicht sprechen.«

»Na schön, Madame«, und das Mädchen rauschte mit ihrem Teller und ihrem Glas davon. Es ist nicht leicht, mit einem (auf einem Teller schwankenden) Glas in der Hand eine Strickleiter hinaufzuklettern, aber sie tat es, ohne nachzudenken, was zeigte, wie sehr sie sich an das Schiff gewöhnt hatte und wie weit diese Geschichte bereits fortgeschritten ist. Alyx blieb sitzen und stocherte mürrisch in ihrem Essen (das sich, in ihren Augen, wieder in Schleim zurückverwandelt hatte), als sie etwas Verbranntes roch und daraufhin mit einem schmiedeeisernen Besen beiläufig in dem Feuerkasten neben sich herumstocherte. Dieser uralte Feuerkasten diente ihnen als Herd. Tja, und es mochte am Alter gelegen haben oder an der Achtlosigkeit des Vorbesitzers oder einfach am boshaften Hass lebloser Gegenstände auf die Menschheit (Yps Religion hebt dies mit großer Inbrunst hervor), jedenfalls ließ sich nicht leugnen, dass die Rückseite des Feuerkastens allmählich aus den Fugen ging, weshalb ein paar lodernde Späne auf den Holzboden der Kajüte gefallen waren. Während Alyx in der Kohle herumstocherte – die Klappe stand offen –, gab das linke Vorderbein der Kreatur nach, und der Kasten kippte nach vorn, worauf die Kohle darin gefährlich abrutschte. Alyx stieß einen Schrei aus und schloss hastig die Klappe. Sie blickte sich, auf der Suche nach der Stange, mit der sie die Klappe sichern konnte, in der Kajüte um, sodass sie das Unheil, das auf der Rückseite seinen Lauf nahm, erst bemerkte, als sie sich wieder umwandte und aufstand. Der Boden qualmte, zum Ruhme von Yp, an einem halben Dutzend Stellen. Alyx machte vorsichtig einige Schritte, griff nach dem Eimer mit Meerwasser, der in einer Ecke bereitstand, und schüttete seinen Inhalt auf den schwelenden Boden. In diesem Augenblick jedoch – so teuflisch sind die Seelen der Maschinen – folgte das zweite Vorderbein des Kastens dem Beispiel des ersten, und die Messingklappe öffnete sich krachend und spie brennende Kohle durch die ganze Kajüte. Normalerweise konnte nicht einmal schwerer Seegang das Feuer zerstreuen, denn die Klappe befand sich ein ganzes Stück über dem Rost, auf dem das Holz ruhte, und die Beine des Ungeheuers waren auf dem Boden festgeschraubt. Doch jetzt fingen die Planken nicht nur an einem halben Dutzend Stellen Feuer, sondern an einem halben Hundert. Alyx rief laut nach Wasser und schnappte sich ein Handtuch, während ein Stapel zusammengelegter Decken an der Wand sich einrollte und schwarz wurde; in der Kajüte roch es nach brennenden Haaren. Alyx schlug auf die Decken ein, und das Feuer fand daneben einen Schrank, kroch unter der Tür hindurch und geriet in einen Sack keimender Kartoffeln, die nicht brennen wollten. Direkt daneben lagerte Mehl. »Edarra!«, schrie Alyx. Sie warf ein Weinregal um, zertrümmerte es auf dem Boden, ohne die Scherben weiter zu beachten; das hielt, während sie auf den Schrank einschlug, die Flammen zurück; worauf das Feuer die Richtung wechselte und die gegenüberliegende Wand emporzüngelte. Es erfasste eine Strohmatte, die an der Wand hing, kroch an ihr hoch, fraß sich gleichzeitig durch die Planken in den Boden, spürte Ritzen unter der Schranktür auf, ringsherum. Die Kartoffeln begannen, von der Hitze ausgetrocknet, mürrisch einzuschrumpfen; der Segeltuchsack, in dem sie steckten, zerfiel zu Asche. Edarra kam mit vor Entsetzen geweiteten Augen in die Kajüte gestolpert, während Alyx an dem Rauch des Segeltuchs und der grünen Keime zu ersticken drohte – da erreichte das Feuer die Mehlvorräte. Ein alles erschütterndes Brüllen ertönte, und ein Luftstoß erfasste Alyx und schleuderte sie gegen den Herd; weiße Flammen wogten aus der Ecke, in der sich der Schrank befunden hatte. Alyx verbrannte sich die Haut vom Knie bis zum Knöchel, krachte gegen die Wand und schlug lang hin.

Als sie wieder zu sich kam, lag sie halb in schmutzigem Meerwasser, und das Feuer war fort. Auf der anderen Seite der Kajüte setzte sich Edarra gegen einen Wasserdämon zur Wehr, stopfte halb verbrannte Decken und Kleider und Kartoffelsäcke in eine Öffnung, wurde jedoch von einer ungestümen Fontäne herumgeschleudert, die stoßweise aus dem Kajütenboden hervorbrach und das Wasser aufwühlte, das träge von einer Seite der Kajüte auf die andere schwappte, je nachdem, in welche Richtung das Schiff schlingerte.

»Hilf mir!«, rief sie. Alyx stand auf. Mit wackligen Schritten durchquerte sie die Kajüte, und gemeinsam warfen sie sich mit ihrem ganzen Gewicht auf den wirren Haufen, der in das Loch gestopft war.

»Es ist nicht groß«, keuchte das Mädchen. »Ich hab es mit meinem Schwert gemacht. Direkt unterhalb der Wasserlinie.«

»Bleib hier«, sagte Alyx, stützte sich mit einer Hand an der Wand ab und taumelte zu dem kalten Feuerkasten hinüber. Zwei Schrauben hielten ihn am Boden fest. »Das taugt nichts«, sagte sie. Mit der gleichen unerträglichen Langsamkeit schleppte sie sich die Leiter hinauf und blieb mit zweifelnder Miene an Deck stehen. Schließlich holte sie das Segel herab, wobei sie sich in die Finger schnitt, schleifte es zum Heck und beschwerte es mit allen möglichen Ausrüstungsgegenständen. Dann sprang sie wieder durch die Luke und zerrte Taurollen und Essensvorräte nach achtern. Zu guter Letzt schraubte sie mit viel Geduld den Feuerkasten vom Boden los. Die Fontäne war kleiner geworden. Nachdem Alyx den Metallkasten wie ein schweres rechteckiges Rad an die gegenüberliegende Kajütenwand gerollt hatte, schien der Wasserdämon sich allmählich zu beruhigen, denn er sank immer weiter in sich zusammen. Edarra atmete hörbar aus und erhob sich von dem Haufen, der sich über dem Loch auftürmte: Decken, Säcke, Schuhe, Kartoffeln – alles rutschte nach achtern. Die Fontäne versiegte ganz. Alyx nahm jetzt zum ersten Mal wahr, dass ihre linke Wade schmerzte und dass ihr Nadeln in die Hand stachen, wo sie sich verbrannt hatte, als sie den Herd losgeschraubt hatte. Zu erschöpft, um sich zu bewegen, sank sie gegen die Wand. Die Kajüte sah sie wie durch milchigen Nebel. Über ihr hing Edarras Gesicht, schwoll an und ab; es war von Asche und schleimigen Wasserrückständen bedeckt.

Das Mädchen sagte: »Was soll ich jetzt tun?«

»Nagel Bretter darüber«, sagte Alyx langsam.

»Ja, und dann?«, drängte das Mädchen.

»Pech«, sagte Alyx. »Du musst schöpfen.«

»Du meinst, wir haben Pech gehabt?«, sagte Edarra und runzelte verwirrt die Stirn. Alyx schüttelte den Kopf und hob eine Hand aus dem Wasser, um nach oben zu deuten, wo an Deck alles Notwendige bereitlag, aber die Luft trieb ihr die Nadeln tiefer in die Finger und lenkte sie ab. Sie sagte: »Richte …«, und lehnte sich gegen die Wand, doch da sie bereits an ihr saß, führte die Bewegung lediglich dazu, dass sie sich, mit langsamer, unbefangener Leichtigkeit, zur Seite hin drehte und bewusstlos in das schmutzige Wasser glitt, das in der verkohlten, säuerlich stinkenden, von Abfällen übersäten Kajüte in diese und jene Richtung schwappte.

Alyx stöhnte. Hinter ihren Augenlidern durchlebte sie noch einmal eines der kleineren Missgeschicke ihres Lebens; krank und schwer verletzt in einem Zimmer zu liegen, während draußen die Sonne aufging, dem Tod entgegenzublicken und dabei Vogelgesang zu lauschen. Sie öffnete die Augen. Die Sonne schien, die Wellen sangen, und das kleine Mädchen sah sie an. Die Sonne befand sich auf derselben Höhe wie das Meer, und der erste Abendhauch stahl sich über das Deck.

»Was ist passiert?«, versuchte Alyx zu fragen, brachte jedoch nur ein Krächzen zustande. Edarra setzte sich, ein einziges Plumpsen.

»Du redest ja!«, rief sie aus, sichtlich erleichtert. Alyx schaute sich um, versuchte aufzustehen und überlegte es sich anders. Ihre Hand und ihr Bein waren mit dicken Bandagen umwickelt; kraftlos zupfte sie mit der freien Hand daran, denn sie schienen ihr irgendwie überflüssig. Dann hörte sie damit auf.

»Ich lebe«, sagte sie heiser. »Offenbar glaubt Yp, dass ich seiner Fürsorge wert bin, der Schweinehund.«

»Davon weiß ich nichts«, sagte Edarra und lachte. »Meine Güte!« Sie kniete auf den Planken, und ihre Haare flatterten im Wind, als wäre eine Galionsfigur zum Leben erwacht. »Ich habe alles gerichtet«, sagte sie. »Ich hab dich hier hoch gezerrt. Ich hab das Boot geflickt, obwohl ich dafür kopfüber an der Reling hängen musste. Ich hab es kalfatert.« Sie hob die Arme, die bis zu den Ellbogen beschmiert waren. »Schau doch«, sagte sie. Und fügte mit stockender Stimme hinzu: »Ich dachte, du stirbst.«

»Kann noch kommen«, sagte Alyx. Die Sonne tauchte ins Meer ein. »Langbeiniges Ding«, sagte sie, ein heiseres Flüstern, »bring mir was zu essen.«

»Hier.« Edarra kramte einen Moment und hielt ihr dann ein Stück Brot hin, ein Teil des Sammelsuriums, das sich während der kürzlichen Katastrophe über das Deck ergossen hatte. Die Einbrecherin sank auf das Kissen und aß. Die Sonne tanzte vor ihren Augen auf und ab, erhob sich über die Reling, verschwand wieder darunter, erhob sich wieder …

»Geschöpf«, sagte Alyx, »ich hatte eine Tochter.«

»Wo ist sie?«, sagte Edarra.

Schweigen.

»Sie betet«, sagte Alyx schließlich. »Und verflucht mich.«

»Das tut mir leid«, sagte Edarra.

»Aber du«, sagte Alyx, »bist …«, und hielt verblüfft inne. Sie sagte: »Du …«

»Ich was?«, sagte Edarra.

»Bist hier«, sagte Alyx, und mit einem Gähnen, bei dem Knochen knackten, fiel ihr die Kruste aus der Hand, und sie schlief ein.

Schließlich war es so weit (alles geht einmal vorbei, und von Alyx’ Verbrennungen waren nur noch kaum sichtbare Narben geblieben – wer sie näher in Augenschein nahm, mochte auf ihrer Haut zahlreiche solche Male erkennen, auf ihrem Rücken, ihren Armen, ihrer Taille, die gewaltsamen Spuren der letzten, eher schwierigen sieben Jahre): Während Alyx die Frühstücksreste über Bord kippte, stieß sie einen Schrei aus, der so laut und triumphierend war, dass ihr der Kübel entglitt und ins Meer fiel.

»Was ist?«, rief Edarra erschrocken. Ihre Freundin umklammerte die Reling mit beiden Händen und starrte mit einem Blick aufs Meer hinaus, den Edarra nicht im Mindesten verstand, denn Alyx hatte sich bei der Erziehung des Mädchens in mancher Hinsicht zurückgehalten.

»Ich denke nach«, sagte Alyx.

»Oh!«, kreischte Edarra, »Land! Land!«, und sie tollte über das Deck, wirbelte herum und klatschte in die Hände. »Ich kann ein anderes Kleid anziehen!«, rief sie. »Denk doch nur! Wir bekommen etwas Frisches zu essen! Denk doch nur!«

»Daran«, sagte Alyx, »habe ich nicht gedacht.« Edarra lief zu ihr und blickte ihr neugierig in die Augen, die so tief und grau geworden waren wie das Meer an einem grauen Tag; sie sagte: »Und über was denkst du nach?«

»Etwas, das nicht für deine Ohren geeignet ist«, sagte Alyx. Die Augen des kleinen Mädchens wurden schmal. »Oh«, hauchte sie vielsagend. Alyx schlüpfte an ihr vorbei zur Luke, aber Edarra eilte ihr voraus und stellte sich mit ausgebreiteten Armen darüber.

»Ich möchte es hören«, sagte sie.

»Das ist eine törichte Haltung«, sagte Alyx. »Du verlierst noch das Gleichgewicht.«

»Erzähl schon!«

»Geh da weg.«

Das Mädchen sprang wie eine rothaarige Furie vorwärts und packte ihre Freundin mit beiden Händen an den Haaren. »Wenn es nicht für meine Ohren geeignet ist, möchte ich es hören!«, rief sie.

Alyx riss sich los und sprang nach unten, um ihre strengen, korrekten schwarzen Kleider zu holen, die sich für geschäftliche Anlässe eigneten. Als sie wieder auftauchte und ihre Kleider auf das Deck warf, hatte Edarra ein Kurzschwert in der rechten Hand und bewachte mit Inbrunst die Luke.

»Sei keine Närrin«, sagte Alyx verärgert.

»Ich bring dich um, wenn du es mir nicht sagst«, erwiderte Edarra.

»Kleines«, sagte Alyx, »Ideale hinterlassen auf der Einbildungskraft auch dann noch Flecken, wenn sie selbst längst entschwunden sind. Deshalb werde ich dir gar nichts sagen.«

»Raahh!«, stieß Edarra hervor, ein kehliger Aufschrei.

»Das gehört sich einfach nicht«, fügte Alyx sittsam hinzu. »Wenn du nichts davon weißt, umso besser«, und sie wandte sich um und ordnete ihre Kleider. Edarra durchbohrte einen vornehmen schwarzen Schuh.

»Lass das!«, fauchte Alyx.

»Niemals!«, rief das Mädchen mit wild funkelnden Augen. Sie machte einen Ausfallschritt und fintierte, und ihre Freundin wob (mit dem beschädigten Stiefel), ohne sich von der Stelle zu bewegen, ein Verteidigungsnetz, das ebenso unsichtbar war wie der Mantel des Boten Aule. Edarra, deren Brust sich hob und senkte, keuchte: »Ich bin müde.«

»Dann hör auf«, sagte Alyx.

Edarra hörte auf. »Erinnere ich dich an deine kleine Tochter?«, fragte sie.

Alyx schwieg.

»Ich bin kein kleines Mädchen«, sagte Edarra. »Ich bin jetzt achtzehn, und ich weiß mehr, als du denkst. Habe ich dir jemals von meinem ersten Verehrer erzählt und von der Köchin und der Katze?«

»Nein«, sagte Alyx und wandte sich wieder ihren Kleidern zu.

»Die Köchin ließ die Katze herein«, sagte Edarra, »obwohl sie das nicht sollte, und als ich auf dem Schoß meines Verehrers saß, hatte ich ihm eine Hand um den Hals gelegt und die andere auf die Armlehne. Da sagte er: »Liebling, wo ist deine andere kleine Hand?«

»Mm hm«, sagte Alyx.

»Dabei war es die Katze, die ihm über den Schoß lief! Aber er spürte nur eine meiner Hände, und da dachte er …«, doch als sie sah, dass Alyx nicht zuhörte, schrie Edarra ein Wort, das in Ourdh erstaunlich selten verwendet wird, und das aus gutem Grund. Alyx blickte überrascht auf. Zehn Fuß weit weg (mehr Platz war nicht) lag Edarra auf den Planken und schluchzte. Alyx schritt zu ihr hinüber und ging neben ihr in die Hocke. Über ihnen kreisten, zum ersten Mal auf dieser Reise, Meeresvögel und stießen ein heiseres, hungriges Maunzen aus wie eine Herde fliegender Katzen. Meeresvögel leben immer in Landnähe.

»Da kommt jemand«, sagte Alyx.

»Ist mir egal«, erwiderte Edarra mit gedämpfter Stimme; sie lag noch immer auf dem Deck. Alyx streckte die Hand aus und strich dem Mädchen über das zerzauste Haar, flocht einen Zopf, wobei sie sich das Haar um das Handgelenk wickelte und es immer wieder durch ihre Finger gleiten ließ.

»Da kommt jemand in einem Fischkutter auf uns zu«, sagte Alyx.

Edarra brach in Tränen aus.

»Na, na, na!«, sagte Alyx, »warum denn das? Komm!«, und sie versuchte, das Mädchen hochzuheben, aber Edarra klammerte sich hartnäckig an die Planken.

»Was ist denn los?«, fragte Alyx.

»Du!«, rief Edarra und setzte sich kerzengerade auf. »Du; du behandelst mich wie ein kleines Kind.«

»Du bist ein kleines Kind«, sagte Alyx.

»Wie soll sich das jemals ändern, wenn du mich so behandelst?«, brüllte das Mädchen. Alyx stand auf und tappte mit nachdenklicher Miene zu ihren neuen Kleidern hinüber. Sie schlüpfte in ein ärmelloses schwarzes Hemdkleid und schloss den Gürtel; es reichte ihr bis zu den Knien. Dann holte sie einen Kamm aus der Tasche und fuhr sich damit durch ihr glattes, seidiges schwarzes Haar. »Ich habe mich an etwas erinnert«, sagte sie.

»An was?«, fragte Edarra.

»So manches.«

»Mach dich nicht über mich lustig.«

Alyx hielt kurz inne, einen blaugrünen Ohrring am Ohr, den anderen in der Hand. Sie lächelte angesichts der Unschuld dieser rothaarigen Tochter der verruchtesten Stadt auf Erden; sie sah ihre eigene Jugend noch einmal (auch wenn sie fast von Geburt an unnatürlich wissend gewesen war), und lächelte überraschend nachsichtig.

»Ich sage es dir«, flüsterte sie verschwörerisch und ging neben Edarra auf ein Knie. »Ich habe mich an einen Mann erinnert.«

»Oh!«, sagte Edarra.

»Ich musste«, sagte Alyx, »an eine Frühlingswoche zurückdenken, als am Nachthimmel über Ourdh so viele Sterne leuchteten wie Edelsteine in den Vitrinen der Juweliere an der Straße der tausend Torheiten. Ah, was für ein Mann! Ein großer Kerl aus dem Norden, mit Haaren wie du und einem goldroten Bart – Himmel, was für ein Bart – Fafhir – nein, Fafh – na ja, irgend etwas Albernes. Aber er war alles andere als albern. Er war umwerfend.«

Edarra schwieg, völlig hingerissen.

»Er war stark«, sagte Alyx und lachte, »und behaart, so wunderbar behaart. Und eigensinnig! Ich sagte zu ihm: ›Kerl, wenn du in jedes Hurenhaus rennen musst, das du siehst …‹ Was haben wir uns gestritten! In einem Lokal, das Silberfisch hieß. Tische haben wir umgeworfen. Was für ein Theater! Und eine Woche später …« (sie zuckte reumütig mit den Achseln) »… war er fort. Da hast du’s. Ich kann mich nicht mal an seinen Namen erinnern.«

»Ist das traurig?«, fragte Edarra.

»Finde ich nicht«, sagte Alyx. »Immerhin erinnere ich mich noch an seinen Bart«, und sie lächelte spitzbübisch. »In dem Boot dort drüben ist ein Mann«, sagte sie, »und das Boot kommt aus einem Fischerdorf, in dem vielleicht zehn, vielleicht zwölf Familien leben. Das Symbol, das auf den Rumpf seines Bootes gemalt ist – ich kann es erkennen; du vielleicht nicht; das ist ein rotes Kreuz in einem blauen Kreis –, steht für einen unverheirateten Mann. Tja, und die Wahrscheinlichkeit, dass es in einem Dorf, das zwölf Familien beherbergt, zwei unverheiratete Männer im Alter zwischen achtzehn und vierzig gibt, ist nicht …«

»Ein Mann!«, rief Edarra. »Deswegen putzt du dich also wie eine Henne heraus. Darf ich was von dir anziehen? Meine sind voller Salz«, und sie vergrub sich in dem Kleiderhaufen, summte vor sich hin, zog eine Bürste hervor und begann ihre Haare zu bearbeiten. Sie lag flach auf dem Bauch, biss sich auf die Unterlippe und sagte in einem fort: »Oh-oh-oh …«

»Hör mal«, sagte Alyx, die wieder am Ruder stand, »bevor du dir zu viel herausnimmst – es gibt da ein paar Regeln.«

»Ich werde dieses weiße Teil da anziehen«, sagte Edarra geschäftig.

»Verheiratete Männer kommen nicht infrage. Das wäre zu viel des Guten. So wie ich dich kenne, möchtest du innerhalb von drei Wochen heiraten, aber du musst daran denken …«

»Meine Schuhe passen nicht!«, jammerte Edarra und hüpfte auf der Stelle, einen Schuh am Fuß, den anderen in der Hand.

»Wie grässlich«, sagte Alyx kurz.

»Meine Füße sind größer geworden«, sagte Edarra und ließ sich neben ihr niederplumpsen. »Meinst du, die Zehen gehen auseinander, wenn ich barfuß laufe? Meinst du, das ist damenhaft? Meinst du –«

»Um alles in der Welt, sei still!«, sagte Alyx. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf das gerichtet, was sich in einiger Entfernung auf dem Meer befand; sie stupste Edarra an, und das Mädchen saß reglos da, wobei sie stoßweise atmete, während sie versuchte, ihre Füße in ihre alten Schuhe zu zwängen. Schließlich gab sie auf und legte die Hände in den Schoß.

»Das ist nur ein einziger Mann«, sagte Alyx.

»Wahrscheinlich ist er zu jung für dich.« (Alyx Mundwinkel zuckten.) »Na?«, fügte Edarra in traurigem Tonfall hinzu.

»Na was?«

»Na«, sagte Edarra verlegen. »Ich hoffe, das macht dir nichts aus.«

»Ach, überhaupt nicht«, sagte Alyx.

»Wahrscheinlich«, sagte Edarra zuvorkommend, »wird das für dich echt langweilig, oder?«

»Ich kann mir ja einen alten Opa suchen«, sagte Alyx.

Edarra wurde rot.

»Und wenn nötig, kann ich kochen«, fügte die Einbrecherin hinzu.

»Du bist bestimmt eine tolle Köchin.«

»Das bin ich.«

»Wie nett! Das erinnert mich an eine Katze, die wir mal hatten, eine wirklich wilde schwarze Katze, die eine wirklich gute Mutter war.« (Etwas schnürte ihr die Kehle zu, und sie sprach hastig weiter.) »Sie konnte auch kämpfen wie nichts, und es war unmöglich, sie im Haus zu behalten, wenn sie – äh …«

»Ja?«, sagte Alyx.

»Raus wollte«, sagte Edarra kleinlaut. Sie kicherte. »Und wenn sie zurückkam, war sie jedes Mal trä… ich meine …«

»Ja?«

»Sie war eine äußerst beliebte Katze.«

»Ah«, sagte Alyx, »aber bestimmt auch alt.«

»Ja«, sagte Edarra unglücklich. »Hör mal«, fuhr sie rasch fort, »ich hoffe, du weißt, dass ich dich wirklich schätze, und ich will dich auch nicht ausstechen, aber ich bin nun mal jünger, und da kannst du nicht erwarten …«

Alyx hob eine Hand. Sie lachte. Das Haar umwehte ihr Gesicht wie ein Schleier aus schwarzer Seide. Ihre grauen Augen leuchteten.

»Erhaben sind die Wege von Yp«, sagte sie, »und manche Männer bevorzugen die Wege der Erfahrung. Wirklich sonderbar, ohne Zweifel, aber für manche von uns ein Glück. Ich habe gehört – aber lassen wir das. Die Urteilskraft betörter Männer ist getrübt. Außerdem, Mädchen, wenn du über das Wasser blickst, siehst du ein Schiff, das ein ganzes Stück näher gekommen ist, und an Bord des Schiffes ist ein junger Mann. So spielt das Leben. Aber wenn du genauer hinschaust und eine Hand über deine roten, roten Brauen legst, wirst du erkennen …« Sie stupste Edarra mit dem Zeh an. »… dass Überraschung und Erbarmen die Welt untereinander aufteilen. Yp ist großzügig.« Sie kniff Edarra in die Nase. »Gelobt sei Gott, Mädchen, es sind zwei.«

Also winkten sie, wobei sich Edarra kaum zurückhalten konnte, ins Meer zu springen und zu den Neuankömmlingen hinüberzuschwimmen, und Alyx mit den Armen weit ausholte, und so standen sie an jenem weit fortgeschrittenen Sommermorgen im Heck ihres gestohlenen Fischerboots, während die Fischer in dem anderen Boot staunten – ihren Augen misstrauten – und dann trauten – während sich hinter alldem in der Ferne das grüne Land erhob und der Himmel blauer war als blau. Vielleicht war es der Gedanke an die fünfzehnhundert Unzen Gold, die unter Deck verstaut waren, oder vielleicht ahnte sie etwas von der außergewöhnlichen Zukunft, oder vielleicht lag es nur an ihrem eigenartigen Wesen … aber im Sonnenlicht funkelten Alyx’ Augen merkwürdig, wie die von Loh, der ersten Frau, die im Augenblick der Schöpfung ihre Gedanken für sich behielt und sich nur mit unmittelbarer, angestrengter, schlangenhafter Neugier umschaut, während sie insgeheim Pläne schmiedet und zu ergründen sucht, wer welche unergründlichen Geheimnisse kennt …

(»Du alte Schurkin!«, flüsterte Edarra. »Wir haben es geschafft!«)

Aber das ist eine andere Geschichte.

Ich dachte, sie hätte Angst, bis sie mir über den Bart strich

Vor vielen Jahren, lange bevor die Welt in den Zustand geriet, in dem sie heute ist, wurde von jungen Frauen erwartet, dass sie ihren Ehemännern gehorchten. Doch niemand weiß, ob sie das taten oder nicht. In jenen Tagen trugen sie ihr Haar hoch aufgetürmt auf dem Kopf. Zusätzlich zu solchen Gewichten schleppten sie Wasser in zwei Eimern an den Enden einer langen Stange; dabei kannst du leicht ausrutschen. Eine rutschte aus, aber sie hielt den Mund. Sie stellte die Eimer auf dem Boden ab, und mit zwei Tritten seitwärts – wie zwei Tanzschritte, ein Tändeln mit dem linken Fuß, ein Tändeln mit dem rechten – leerte sie beide. Und schaute zu, wie das Wasser im Boden versickerte. Dann legte sie sich die Stange über die Schulter und trug die Eimer nach Hause. Sie war erst siebzehn. Ihr Ehemann hatte sie dazu gezwungen. Sie stieß mit der Schulter die Tür des Bauernhauses auf und sagte:

SIE: Hier ist dein verdammtes Wasser.

ER: Wo?

SIE: Das ist keine standesgemäße Tätigkeit für mich, und das weißt du.

ER: Du gehörst keinem Stand an. Nur ich gehöre einem an, weil ich ein Mann bin.

SIE: Ich würde das nicht mal machen, wenn du ein –

(Hier folgt etwas äußerst Unschönes.)

ER: Frau, geh mit deinen Eimern zurück. Heute Abend kommt Besuch.

SIE: Wer?

ER: Das geht dich nichts an.

SIE: Schmuggler.

ER: Scher dich fort!

SIE: Scher dich zum Teufel.

Vielleicht hatte er ein wenig Angst vor seiner kaltschnäuzigen, kleinen Frau. Sie stand auf der Treppe oder in der Tür und beobachtete ihn, immer mit dem gleichen Hass. Das kommt davon, wenn du ein Mädchen aus den Bergen heiratest, das nicht anständig erzogen wurde. Wenn er sie schlug, bekam sie schlechte Laune. Sie stapfte zum Wasser und wieder zurück, und dabei nahm sie ihn Schritt für Schritt auseinander, ein blondes Haar nach dem anderen, und sie brach ihm die langen Arme und Beine. Das bereitete ihr Vergnügen. Sie füllte die Wassertonne des Bauernhofs, zerrte die Dienstmagd aus dem Heu und gab ihr eine Ohrfeige; sie ging hinein, den Kopf voller Piraten. An jenem Tag spann sie ohne Unterlass, nähte, schälte, mahlte, wusch, staubte ab, fegte, machte immer wieder Feuer, und einmal war sie so sehr in Gedanken, dass sie einem Huhn, das schon tot war, mit Wucht den Hals umdrehte.

In der Nähe mancher Ortschaften bietet sich dir, wenn du nachts zum Strand hinuntergehst, ein äußerst merkwürdiger Anblick: Auf dem Wasser tanzen, Insekten gleich, einige Lichtpunkte, und an Land antworten ihnen ebensolche, und dann kommt etwas über die schwarzen Wellen geschaukelt und verschmilzt mit einem noch schwärzeren Wirrwarr, das sich unmittelbar am Saum des Sandes gebildet hat. Sie streiten sich um Geld. Die junge Frau schaute zu, wie ihr Ehemann in der Küche schwitzte. Es stimmte sie fröhlich, dass er so verzweifelt schacherte und doch den Kürzeren zog. Die Magd beschwerte sich, einer der Männer hätte ihr etwas Unanständiges antun wollen. Ihre Herrin beobachtete alles aus dem Halbdunkel neben dem großen Herd, und was sie sah, gefiel ihr immer besser. Als der letzte Mann fortgegangen war, schickte sie die Magd ins Bett, und während sie wie eine anständige Ehefrau die Gläser und Teller einsammelte und spülte, sagte sie:

»Sie haben dich über den Tisch gezogen, hab ich recht?«

»Halt den Mund«, sagte der Ehemann über die Schulter hinweg. Er bemühte sich, Ordnung in sein Rechnungsbuch zu bringen, trug Kreise und Kreuze ein und leckte sich, wenn er umblätterte, den Finger.

»Der Große«, sagte sie, »wie heißt der?«

»Was geht dich das an?«, sagte er in scharfem Tonfall.

Sie trocknete sich an einem Handtuch die Hände ab und sah ihn an. Dann zog sie Schürze und Jacke aus, streifte ihre Ringe ab; zog die Nadeln aus ihrem schwarzen Haar. Es fiel ihr bis über die Taille, und zum letzten Mal in dieser Geschichte stand sie unmittelbar in einer schwarzen Wolke.

Sie ließ eine Tasse fallen und lächelte ihn an, als diese zerbrach. Es heißt, Taten sprechen lauter. Er sprang auf, er brüllte: »Was machst du da?«, wieder und wieder in der stillen Küche, er schüttelte sie, bis ihre Zähne klapperten.

»Ich verlasse dich«, sagte sie.

Er schlug sie. Sie stand auf und hielt sich das Kinn. Sie sagte: »Du siehst gar nichts. Du weißt überhaupt nichts.«

»Geh nach oben«, sagte er.

»Du bist ein Tier«, rief sie, »du bist ein Narr«, und sie wand sich, als er sie am Handgelenk packte, und versuchte sich zu befreien. Sie lassen es sich nicht nehmen zu weinen, diese Frauen, sie stellen Forderungen, sie widersprechen allem. Sie kämpfen sich von einer Seite des Zimmers bis zur anderen. Sie biss ihm in die Hand, und er brüllte und schlug ihr damit gegen den Kopf. Er schimpfte sie eine kleine Hure. Er versperrte ihr den Weg zur Tür, starrte sie wütend an und hielt sich die Hand. Ihr war schwindlig. Sie lehnte sich gegen die Wand und hielt sich den Kopf mit beiden Händen. Dann sagte sie:

»Du willst mich also nicht gehen lassen.«

Er sagte nichts.

»Du kannst mich nicht zwingen hierzubleiben«, sagte sie und dann lachte sie. »Nein, nein, das kannst du nicht«, fügte sie kopfschüttelnd hinzu, »das kannst du einfach nicht.« Sie blickte zu Boden und lächelte geistesabwesend, wiederholte diese Tatsache in Gedanken, wieder und immer wieder.

Ihr Ehemann rieb sich die Knöchel.

»Was hast du denn vor?«, murmelte er.

»Wenn du mich einsperrst, kann ich nicht arbeiten«, sagte seine Ehefrau, und dann begann diese Frau mit dem Messer, mit dem sie das letzte halbe Jahr Gemüse geschält hatte, an ihrem langen Haar zu sägen. Sie nahm den ganzen Büschel in die Hand und säbelte daran herum. Ihr Ehemann wollte sich auf sie stürzen. Sie blieb wie angewurzelt stehen, ihre Hände mit ihren Haaren beschäftigt, und betrachtete ihn ernst, während er sich mit der Zungenspitze über die Zähne fuhr und, ohne den Blick von ihr abzuwenden, hinter der Tür nach etwas tastete – er wusste, eine Sache half immer. Seine Ehefrau wurde bleich. Haarsträhnen fielen zu Boden, und sie ließ die Arme sinken. Langsam trat sie beiseite, und als er das geflochtene Leder, mit dem er das Vieh zusammentrieb, hinter der Tür hervorholte, als er es in hohem Bogen durch die Luft schwang und es knallend dort herabsauste, wo sie – nicht dort, wo sie war, sondern dort, wo sie gewesen war –, da hatte diese außergewöhnliche junge Frau die Hälfte der Entfernung zwischen ihnen bereits mit einem Sprung überwunden und riss ihm den Peitschenstiel aus der Hand. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte; mit grimmiger Miene schlug sie ihm den Stiel kurz und fest auf den Kopf. Als sie über ihm stand, hatte sie alle ihre fünf Sinne beisammen.

Aber sie konnte es nicht fassen. Sie beugte sich vor, und das kurzgeschnittene schwarze Haar fiel ihr ins Gesicht; sie schalt ihn einen Lügner; sie erklärte ihm, dass er nicht blutete. Langsam richtete sie sich auf, voller Stolz, mit einer gewissen Ehrfurcht. Gütiger Himmel!