Erzählungen und Novellen - Marie von Ebner-Eschenbach - E-Book

Erzählungen und Novellen E-Book

Marie von Ebner-Eschenbach

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Beschreibung

Dieser Band beinhaltet eine große Sammlung der schönsten Erzählungen der Autorin von Weltruf, wie z.B. Die Freiherren von Gemperlein, Krambambuli, Der Kreisphysikus, Er laßt die Hand küssen, Maslans Frau und viele andere.

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Erzählungen und Novellen

Marie von Ebner-Eschenbach

Inhalt:

Marie von Ebner-Eschenbach – Biografie und Bibliografie

Die Freiherren von Gemperlein

1

2

3

4

5

6

Krambambuli

Der Kreisphysikus

1

2

3

4

5

Er laßt die Hand küssen

Mašlans Frau

Der Vorzugsschüler

Ein Spätgeborner

Nach dem Tode

Die Poesie des Unbewussten

Der gute Mond

Ihr Traum

Das Schädliche

Agave

Der Herr Hofrat

Ein kleiner Roman

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

Der Säger

Die Resel

Der Erstgeborene

Die Spitzin

Die Reisegefährten

Der Muff

Die Kapitalistinnen

Die Sünderin

Die Totenwacht

Oversberg

Unverbesserlich

Wieder die Alte

Jakob Szela

Komtesse Muschi

Komtesse Paula

Ob spät, ob früh

Die erste Beichte

Ohne Liebe

In letzter Stunde

Erste Trennung

Die eine Sekunde

Ein Lied

Vielleicht

Ein Original

Der Nebenbuhler

Das tägliche Leben

Erzählungen und Novellen, M. von Ebner-Eschenbach

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849611170

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Marie von Ebner-Eschenbach – Biografie und Bibliografie

Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach, geborene Gräfin Dubsky, Dichterin und Novellistin, geb. 13. Sept. 1830 auf Schloß Zdislavic in Mähren, genoss ihre Erziehung teils in Wien, teils in Zdislavic und heiratete 1848 den Freiherrn Moritz v. C., damals Hauptmann im Geniekorps und Lehrer an der Kriegsschule zu Klosterbruck, später Feldmarschalleutnant. In der kinderlosen Ehe widmete sich Marie v. E. mit großem Eifer umfassenden literarischen und wissenschaftlichen Studien, und ihr frühzeitig sich offenbarendes Talent fand Ermunterung durch Grillparzer und Förderung durch Fr. Halm. Seit Mitte der 1860er Jahre wohnte sie ständig in Wien, 1900 erfuhr sie zu ihrem 70. Geburtstag zahlreiche Ehrungen. Der dichterische Ehrgeiz Marie v. Ebner-Eschenbachs galt anfänglich der Bühne; ihr Schauspiel »Maria Stuart in Schottland« wurde 1860 in Karlsruhe ausgeführt, während das Trauerspiel »Marie Roland« (1867), wie das vorige nur als Manuskript gedruckt, nicht auf die Bühne gelangte. Im Wiener Burgtheater wurden zwei Einakter von ihr: »Doktor Ritter« (Wien 1871) und »Die Veilchen« (das. 1878) gespielt; im Wiener Stadttheater ihr Schauspiel aus der modernen Wiener Gesellschaft. »Das Waldfräulein« (1873) und der Einakter: »Untröstlich« (1874). Doch konnte die Dichterin auf der Bühne bei aller Begabung nicht festen Fuß fassen, und sie wandte sich daher der Erzählung zu. Ihre ersten Bücher: »Die Prinzessin von Banalien« (Wien 1872), ein satirisches Märchen, »Erzählungen« (Stuttg. 1875, 4. Aufl. 1901) und »Božena« (das. 1876, 6. Aufl. 1902) fanden indessen noch nicht viel Beachtung. Als sie aber mit heitern Sittenbildern der österreich ischen Aristokratie, den »Zwei Komtessen« (Berl. 1885, 6. Aufl. 1902), großes Aufsehen erregt hatte, wirkte ihr Ruhm auf die früher erschienenen Dichtungen zurück und steigerte sich noch, als die Dichterin in rascher Folge poesiereiche Novellen schrieb, die nicht bloß porträttreue Bilder des österreichischen Adels und seiner Umgebung in Stadt, Schloss und Dorf enthalten, sondern auch von einer hohen ethischen Gesinnung getragen und glänzend in der geistsprühenden Darstellung, fesselnd durch die Anmut des Humors sind. Es erschienen die Novellen: »Neue Erzählungen« (Berl. 1881, 3. Aufl. 1894; darunter die Meisterstücke: »Die Freiherren von Gemperlein«, »Nach dem Tode« und »Lotti, die Uhrmacherin«), »Dorf- und Schloßgeschichten« (das. 1883, 5. Aufl. 1902), »Neue Dorf- und Schloßgeschichten« (das. 1886, 3. Aufl. 1901), »Miterlebtes« (das. 1889, 3. Aufl. 1897), »Margarete« (Stuttg. 1891, 5. Aufl. 1901), »Drei Novellen« (Berl. 1892, 3. Aufl. 1901), »Das Schädliche. Die Totenwacht« (das. 1894), »Rittmeister Brand. Bertram Vogelweid« (das. 1896), »Alte Schule« (das. 1897), »Aus Spätherbsttagen« (das. 1901, 2 Bde.), »Agave« (das. 1903); die Romane: »Das Gemeindekind« (das. 1887, 7. Aufl. 1901), ihre bedeutendste Dichtung, »Unsühnbar« (das. 1890, 6. Aufl. 1902), »Glaubenslos?« (das. 1893, 3. Aufl. 1903). E. gilt jetzt mit Recht als die größte deutsche Schriftstellerin der neuesten Zeit. Ausgehend von der Kritik des Adels, in dem sie aufgewachsen war, hat sie nach und nach zu allen Zuständen und Streitfragen ihrer Zeit Stellung genommen und das Ideal der Menschenliebe, ohne Rücksicht auf Nation und Konfession, und der tätigen Entsagung in den verschiedensten Variationen verkündet. Freimütig und tapfer, fesselt sie durch die Schönheit ihrer Seele, die sich als der Erwerb eines durch reiche Erfahrung zur Harmonie gelangten empfindsamen Herzens erweist. Außer den Novellen veröffentlichte sie die mit Recht berühmten »Aphorismen« (Berl. 1880, 5. Aufl. 1901), die gehaltvollen »Parabeln, Märchen und Gedichte« (das. 1892) und das Märchen »Hirzepinzchen« (Stuttg. 1900). Ihre »Gesammelten Schriften« erschienen in 8 Bänden (Berl. 1893–1901). Vgl. Bettelheim, Marie v. E., biographische Blätter (Berl. 1900); Necker, Marie v. E. nach ihren Werken geschildert (das. 1900).

Die Freiherren von Gemperlein

1

Das Geschlecht der Gemperlein ist ein edles und uraltes; seine Geschicke sind auf das innigste mit denen seines Vaterlandes verflochten. Es hat mehrmals glorreich geblüht, es ist mehrmals in Unglück und Armut verfallen. Die größte Schuld an den raschen Wandlungen, denen sein Stern unterworfen war, trugen die Mitglieder des Hauses selbst. Niemals schuf die Natur einen geduldigen Gemperlein, niemals einen, der sich nicht mit gutem Fug und Rechte das Prädikat »Der Streitbare« hätte beilegen dürfen. Dieser kräftige Familienzug war allen gemeinsam. Hingegen gibt es keine schrofferen Gegensätze als die, in welchen sich die verschiedenen Gemperlein-Generationen in bezug auf ihre politischen Überzeugungen zueinander verhielten.

Während die einen ihr Leben damit zubrachten, ihre Anhänglichkeit an den angestammten Herrscher mit dem Schwerte in der Faust zu betätigen und so lange mit ihrem Blute zu besiegeln, bis der letzte Tropfen desselben verspritzt war, machten sich die anderen zu Vorkämpfern der Revolte und starben als Helden für ihre Sache, als Feinde der Machthaber und als wilde Verächter jeglicher Unterwerfung.

Die loyalen Gemperlein wurden zum Lohne für ihre energischen Dienste zu Ehren und Würden erhoben und mit ansehnlichen Ländereien belehnt, die aufrührerischen zur Strafe für ihre nicht minder energische Widersetzlichkeit in Acht und Bann getan und ihrer Güter verlustig erklärt. So kam es, daß sich dieses alte Geschlecht nicht, wie so manches andere, eines seit undenklichen Zeiten von Kind auf Kindeskind vererbten Stammsitzes zu erfreuen hatte.

Am Schlusse des achtzehnten Jahrhunderts gab es einen Freiherrn Peter von Gemperlein, der, der erste seines kriegerischen Hauses, dem Staate als Beamter diente und noch am Abende seines Lebens ein hübsches Gut in einer der fruchtbarsten Gegenden Österreichs erwarb. Dort schloß er hochbetagt, in Frieden mit Gott und mit der Welt, sein Dasein. Er hinterließ zwei Söhne, die Freiherren Friedrich und Ludwig.

In diesen beiden letzten Sprossen schien die im Vater verleugnete Gemperleinsche Natur sich wieder auf sich selbst besonnen zu haben. Sie brachte noch einmal, und zwar, was sie früher nie getan, in demselben Menschenalter, die beiden Typen des Geschlechtes, den feudalen und den radikalen Gemperlein, hervor. Friedrich, der ältere, war, seiner Neigung folgend, in der Militärakademie zu Wiener-Neustadt zum Waffenhandwerke ausgebildet worden. Ludwig bezog im achtzehnten Jahre die Universität in Göttingen und kehrte im zweiundzwanzigsten, mit einer prächtigen Schmarre im Gesichte und mit dem Ideale einer Weltrepublik im Herzen, nach Hause zurück.

Genau fünfzehn Jahre eines hartnäckigen, mit Kraft und Kühnheit geführten Kampfes brauchten die Brüder, um einzusehen, daß für sie in der Welt nichts zu suchen, daß Friedrichs Zeit vorüber und Ludwigs Zeit noch nicht gekommen war.

Der erste legte sein Schwert nieder, müde, einem Monarchen zu dienen, der in Eintracht leben wollte mit seinem Volke, der zweite wandte sich grollend von seinem Volke ab, das seinen Nacken willig und vergnügt dem Joche der Herrschaft beugte.

Zu gleicher Zeit bezogen Friedrich und Ludwig ihre Besitzung Wlastowitz und widmeten sich mit Liebe und Begeisterung der Bewirtschaftung derselben.

Wenn auch so verschieden voneinander wie Ja und Nein, begegneten sich die Freiherren doch in einem Kapitalpunkte: in der unaussprechlichen Anhänglichkeit, die sie nach und nach für ihren ländlichen Aufenthaltsort faßten.

Kein überzärtlicher Vater hat jemals den Namen seiner einzigen Tochter in schmelzenderem Tone ausgesprochen, als sie den Namen Wlastowitz auszusprechen pflegten. Wlastowitz war ihnen der Inbegriff alles Guten und Schönen. Für Wlastowitz war ihnen kein Opfer zu groß, kein Lob erschöpfend. »Mein Wlastowitz«, sagte jeder von ihnen, und jeder hätte es dem anderen übelgenommen, wenn er nicht so gesagt haben würde.

Bald nach ihrer Ankunft hatten die Brüder beschlossen, das väterliche Erbe in zwei gleiche Hälften zu teilen. Das Schloß mit seinen Dependenzen sollte im Besitze Friedrichs verbleiben, der dafür die Verpflichtung übernahm, für Ludwig inmitten von dessen Grundstücken das Blockhaus errichten zu lassen, in welchem dieser an der Spitze der Familie, die er gründen wollte, zu leben und zu sterben gedachte.

Die Teilung wurde vielfach und hitzig erörtert, sie jedoch wirklich zu vollziehen, hoho! das überlegt man sich. Einen solchen Entschluß faßt man wohl; ihn auszuführen, verschiebt man gern von Jahr zu Jahr. Auf welches Stück, welchen Fußbreit, welche Scholle der geliebten Erde sollte einer der Brüder freiwillig verzichten? Jedem wäre der Grenzstrich, der Mein und Dein voneinander geschieden und das Gut, das als Ganzes einzig und vollkommen war, in zwei unvollkommene Hälften gespalten hätte, mitten durch das Herz gegangen.

Nichtsdestoweniger war seit langer Zeit die Grenze zwischen Ober- und Unter-Wlastowitz in der Katastralmappe verzeichnet, lag der Plan zu Ludwigs Blockhause wohlverwahrt im Archiv, und einmal geschah es... aber wir wollen der ohnehin unausbleiblichen Katastrophe dieser wahrhaftigen Familiengeschichte nicht vorgreifen.

Das Leben, welches die Freiherren auf dem Lande führten, war ein äußerst regelmäßiges. Schon am frühen Morgen verließen beide das Schloß und richten zusammen im Sommer auf das Feld, im Winter in den Wald. Doch ereignete es sich gar selten, daß sie auch zusammen heimkehrten. Meistens kam Friedrich zuerst, mit hochgeröteten Wangen und blitzenden Augen, durch die gegen Norden gelegene Kastanienallee im Schritte nach Hause geritten. Sein ehemaliger Privatdiener und jetziger Bedienter Anton Schmidt erhielt den Befehl: »Frühstück auftragen!« mit dem zornig klingenden Zusatze: »Für mich allein!«

Anton begab sich an die Küchentür, wartete ein Weilchen und rief dann plötzlich dem Weibervolke am Herde zu: »Das Frühstück für die Herren!«

Das war der Moment, in welchem Ludwig auf schaum- und schweißbedecktem Pferde durch das gegen Süden gelegene Tor in den Schloßhof sprengte. Sein schmales, feines Gesicht war so gelb wie eine Weizenähre um Peter und Paul, die hohe Denkerstirne schwer umwölkt. In gebieterischer Haltung betrat er den Speisesaal. Dort saß Friedrich, viel zu sehr in die »K.K. ausschl. priv. Wiener Zeitung« vertieft, um das Erscheinen seines Bruders wahrnehmen zu können. Dieser entfaltete sofort die »Augsburger Allgemeine« und hielt sie mit der linken Hand vor sich hin, während er mit der rechten den Tee in seine Tasse goß. Eifrig wurde gelesen, hastig gefrühstückt und sodann aus türkischen Pfeifen kräftigst geraucht. Die beiden Freiherren saßen einander gegenüber auf ihren steiflehnigen Sesseln, die Zeitungen vor den Gesichtern, vom Wirbel bis zur Sohle eingehüllt in schwere Rauchwolken, aus denen von Zeit zu Zeit ein Fluch, ein zürnender Ausruf als Vorzeichen nahenden Gewitters sich vernehmen ließ.

Auf einmal rief's da oder dort: »Oh, diese Esel!« und eine Zeitung flog unter den Tisch. Die politische Debatte war eingeleitet. Gewöhnlich gestaltete sie sich stürmisch und schloß nach beiläufig viertelstündiger Dauer mit einem beiderseitigen: »Hol dich der Teufel!«

Es gab aber auch Tage, an denen Ludwigs besonders gereizte Laune Abwechslung in die Sache brachte. Da führte er Reden, so persönlich giftig und beleidigend, daß Friedrich sie zu beantworten verschmähte. Sein offenes, sonst so freundliches Gesicht nahm einen starren Ausdruck an, ein Zug von unversöhnlichem Grimme legte sich um seinen Mund; jedes Haar seines Schnurrbartes schien sich trotzig emporzusträuben; er stand auf, ergriff seinen Hut, rief seinen braunen, kurzhaarigen Jagdhund und verließ schweigend das Zimmer. Sein breiter Rücken, seine mächtigen Schultern waren etwas gebeugt, als trügen sie eine schwere Last.

Ludwig bemerkte es, obwohl er ihm nur flüchtig nachsah, murmelte einige unverständliche Worte und las seine Zeitung mit all der Aufmerksamkeit zu Ende, die ein Mensch, dem die Herrschaft über seine Gedanken so ziemlich abhanden gekommen ist, aufwenden kann. Bald jedoch erhob er sich und begann mit dröhnenden Schritten im Gemache auf und ab zu schreiten. Seine Miene wurde immer finsterer; er warf den Kopf zurück; er nagte an der Unterlippe; er richtete seine schlanke Gestalt immer kühner und herausfordernder auf.

Wonach verlangte ihn denn noch als nach Ruhe und Frieden! Hier hatte er gehofft, ihrer teilhaftig zu werden. Ja, eine saubere Ruhe, ein sauberer Frieden! Um die zu finden, braucht man sich nicht zurückzuziehen in die Einöde, sich nicht zu vergraben in geisttötende Abgeschiedenheit. Wenn es aber schon nicht anders ist, wenn du recht hast, o Seneka! wenn leben kriegführen heißt und durchaus gestritten sein muß, dann sei es auf würdigem Kampfplatze; dann sei es in der Welt, wohin ein Mann gehört, den das Schicksal mit ungewöhnlicher Ausdauer und mit ungewöhnlichen Geistesgaben gesegnet oder – heimgesucht hat.

Ludwig ging langsam die Treppe hinab. Sein struppiger, immer verdrießlicher Pinscher folgte ihm bellend nach.

Unter dem Tore blieb der Freiherr stehen und sah sich einmal wieder die Gegend an. Die grünen Höhen, die in sanften Wellenlinien den Horizont ziemlich eng umgrenzten, mahnten sie nicht: Stecke dir nicht allzu weite Ziele! Was wir umschließen, ist auch eine Welt, aber eine stille, aber die deine – laß es dir gefallen in unserer Hut!

Auf einem der Ausläufer des Gesenkes lag der freundliche Hof, der den Stolz des Gutes Wlastowitz, die Elite der Negretti-Herde, beherbergte. Wie ein Schlößchen, stilvoll und blank, nahm er sich aus inmitten stattlicher Pappelbäume. Die sanft abgleitende Hügellehne nebenan, noch vor dreißig Jahren ödes Land, war jetzt in einen Obstgarten verwandelt. Dank dem treuen Vater, der ihn gepflanzt! Nicht für sich wahrlich, er sollte in seinem Schatten nicht mehr ruhen, sich an seinen Früchten nicht mehr erfreuen, für die Söhne, deren er stets gedachte und die er so selten sah, für die Söhne, die ferne von ihm ihre ehrgeizigen Ziele verfolgten und – wie vergeblich! – dauerndes Gut, dauerndes Glück im wechselvollen Leben suchten.

Nun standen die Birnbäume in der Fülle ihrer Kraft, die Apfel- und die Pflaumenbäume streckten ihre schwerbeladenen Äste breit um sich, und die zierlich schlanken Kirschbäume, was für Früchte hatten die in den letzten Jahren getragen! Groß wie Nüsse und saftig wie Weintrauben. Ja, die Kirschen in Wlastowitz, die schmecken nicht nur den Kindern.

Und die Felder ringsum – im Frühling ein grünes, im Sommer ein goldenes Meer, im Herbste aber erst recht eine Wonne für das Auge des Ökonomen! Neue Verheißung nach der reichsten Erfüllung... Ja, der Boden in Wlastowitz! Gestürzt, geeggt, gewalzt, so fein wie der des sorglichst gepflegten Beetes in einem Blumengarten, so aromatisch wie Spaniol ... schnupfen könnt man diese Erde!

Ludwigs Blicke schwelgten in all den Herrlichkeiten, und die Falten auf seiner Stirn, die hochgehenden Wogen in seinem Innern glätteten sich. Ein kurzer Kampf noch, noch ein Versuch, den Zorn, die Entrüstung festzuhalten, die ihm abhanden zu kommen drohten, dann war's vorbei: – »Wo ist mein Bruder?« fragte er den ersten, der ihm begegnete, und machte sich die erhaltene Auskunft schleunigst zunutze.

Um zwei Uhr kamen die Herren, natürlich streitend, aber doch zusammen, vom Felde zurück und setzten sich zu Tische. Nachmittags widmeten sie sich der Erziehung ihrer Hunde und Pferde, nahmen eine Rekognoszierung des Gutes oder eines Teiles desselben vor und besprachen mit Herrn Verwalter Kurzmichel das morgige Tagewerk. Den Schluß des heutigen bildete ein allerschwerster, mit der allergrößten Erbitterung geführter Streit über religiöse, politische oder soziale Fragen. Sehr aufgeregt und einander ewigen Widerstand schwörend, gingen die Brüder zu Bette.

Das war im großen ganzen, abgesehen von den Veränderungen, welche die jeweilige Jahreszeit, die Jagden, die Besuche in der Nachbarschaft mit sich brachten, die Lebensweise der Freiherren von Gemperlein.

Einem oberflächlichen Beobachter mochte sie nicht besonders reizend erscheinen, der tiefer eindringende jedoch mußte zugeben, daß sie auch angenehme Seiten habe. Die angenehmste war die hohe Achtung, in welcher die Brüder bei ihrer Umgebung standen. Mochte sich auch ein guter Teil Furcht in diese Achtung mischen, das nahm ihr nichts von ihrem Werte. Welcher von den beiden Herren strenger gegen seine Diener sei, hielt schwer zu entscheiden. Sie forderten viel, aber niemals ein Unrecht; sie waren oft unerbittlich hart, aber sie ehrten in dem Geringsten, ja noch in dem Unverbesserlichen – den Menschen.

»Weil ich höher stehe als der arme Teufel, mein Nächster, und in ihm einen Schutzbefohlenen respektieren muß«, sagte Friedrich.

»Weil ich seinesgleichen bin«, sagte Ludwig, »und sogar in dem verzerrten Ebenbilde meine Züge wiederfinde.«

»Du Spitzbube!« rief Friedrich dem verstockten Sünder zu, »weißt du nicht, was das Gesetz befiehlt; hörst du nicht, was der Pfarrer predigt? Warte nur, dich kriegt hier die Gendarmerie und drüben ganz gewiß – die Hölle!«

Ludwigs Ermahnungen hingegen lauteten: »Wann werdet ihr endlich lernen, euch selbst in Zucht zu halten? Wann werdet ihr endlich, ihr Dummköpfe, müde werden, Leute zu bezahlen, die euch überwachen, euch einsperren und manchmal sogar aufhenken? Regiert euch selbst, ihr Esel, dann erspart ihr alles Geld, das euch jetzt die Regierung kostet.«

So eindringliche Vorstellungen blieben nicht ganz ohne Wirkung, und eine viel größere, als sie hatten, schrieben ihnen die Freiherren zu, die überhaupt trotz mancher erlittenen Enttäuschung alles, was sie am innigsten wünschten, auch für das Wahrscheinlichste hielten. Auf diese Weise genossen sie so manches Glück, das sie niemals gehabt; kosteten es in Gedanken durch und empfanden dabei ein vielleicht lebhafteres Vergnügen, als wenn es ihnen in Wahrheit zuteil geworden wäre. Die reiche Phantasie, welche die Natur ihnen geschenkt, entwickelte sich in dem stillen Wlastowitz viel üppiger, als dies im Wirbel des Weltgetriebes hätte geschehen können, und bereitete ihnen eine Fülle reiner Freuden, die nur derjenige belächelt und verschmäht, der nicht fähig ist, sich ähnliche zu schaffen.

Bekanntermaßen fließt das Dasein je einförmiger, je rascher dahin, und ehe die Brüder sich's versahen, kam der Tag heran, an dem Friedrich sagen konnte: »Ich möchte wissen, ob es je einen denkenden Menschen gegeben hat, der nicht schon die Bemerkung gemacht, daß die Zeit doch eigentlich sehr schnell vergeht.«

»Im Gegenteile«, sprach Ludwig, »diese Wahrheit ist schon so oft ausgesprochen worden, daß gar nichts daran liegt, sie noch einmal auszusprechen.«

»Würden wir's glauben, wenn wir's nicht wüßten«, fuhr Friedrich fort, »es sind jetzt gerade zehn Jahre, daß wir in Wlastowitz eingezogen sind.«

Ludwig fegte mit der Reitgerte die Spitzen seiner staubigen Stiefel, kreuzte dann die Arme und starrte melancholisch ins Grüne, das heißt ins Gelbe, denn es war Herbst, und sie saßen vor einer Goldesche.

»Zehn Jahre«, murmelte er, »ja, ja, ja – zehn Jahre. Hätte ich damals geheiratet, damals, als ich so gute Gelegenheit... als ich sehr geliebt wurde – –«

»Als du geliebt wurdest«, wiederholte Friedrich und zwang sich, ein ernsthaftes Gesicht zu machen.

»– so könnte ich jetzt bereits Vater von neun Kindern sein.«

»Von achtzehn, wenn deine Frau dir jedesmal Zwillinge beschert hätte, von noch viel mehr, weil ja die Äpelblüh büschelweise auf die Welt zu kommen pflegen!« sprach Friedrich und lachte.

Ludwig sah ihn von der Seite an. »Es gibt«, sagte er wegwerfend, »nichts Dümmeres als ein dummes Lachen.«

»Es gibt nichts Lächerlicheres als einen Mann, der am hellichten Tage träumt und ohne Fieber phantasiert«, rief Friedrich. »Zum Kuckuck mit all deinen Wenn und Vielleicht, mit deinen Schimären und Hirngespinsten! Du leidest an fixen Ideen. Halte dich doch endlich einmal an das Reale, an die Wirklichkeit!«

Jetzt schlug Ludwig ein grelles Gelächter auf. Er erhob die Augen und die gerungenen Hände anklagend zum Himmel. »Das Reale! Die Wirklichkeit!« schrie er, »o Gott, der spricht von ihnen... Der! ... und war drei Jahre lang in einen Druckfehler verliebt!«

Friedrich senkte zornig-beschämt den Kopf und biß seinen Schnurrbart. Plötzlich fuhr er auf: »Und du – weißt du denn – –?«

Ein verhängnisvolles Wort schwebte auf seinen Lippen, doch sprach er es nicht aus, sondern brummte nur leise vor sich hin: »Hol's der Geier!«

2

Schon im ersten Jahre ihrer Niederlassung in Wlastowitz hatten die Brüder beschlossen, sich zu verheiraten, und auch bereits die Wahl ihrer zukünftigen Gattinnen getroffen. Friedrich entschied sich für eine Gräfin Josephe, Tochter des Hochgebornen Herrn Karl, Reichsgrafen von Einzelnau-Kwalnow, und der Hochgebornen Frau Elisabeth, Reichsgräfin von Einzelnau-Kwalnow, gebornen Freiin von Czernahlava, Sternkreuzordensdame. Ludwig, der längst mit sich darüber im reinen war, daß er lieber zeitlebens in dem ihm eigentlich verhaßten Junggesellenstande verharren als eine Aristokratin heiraten wolle, faßte den Entschluß, Lina Äpelblüh, ein Kaufmannstöchterlein aus dem nächsten Städtchen, zu seiner Frau und zur Mutter einer großen Anzahl freisinniger Gemperlein zu machen.

Daß die Bekanntschaft, welche die Brüder mit ihren Auserwählten geschlossen hatten, von sehr intimer Art gewesen sei, ließ sich nicht behaupten. Friedrich war seiner Braut im Genealogischen Taschenbuche der gräflichen Häuser begegnet und wußte nur weniges von ihr, dieses wenige aber mit Bestimmtheit. Sie wohnte in Schlesien, auf dem 1100 Joche umfassenden Gute ihres Vaters, stand im Alter von dreiundzwanzig Jahren, hatte fünf Brüder, von denen der älteste dreizehn Jahre zählte, und bekannte sich zur katholischen Konfession.

Ihre Familienverbindungen waren sowohl väterlicher- als mütterlicherseits äußerst achtbare. Sie gehörten zwar nicht dem höchsten, aber einem guten, erbgesessenen Adel an, dessen Anciennität der des Gemperleinschen nichts nachgab. Einen nicht geringen Einfluß auf Friedrichs Wahl übte der Umstand, daß Josephe nur Brüder und keine Schwestern hatte; so geriet der Mann, der sie heimführte, nicht in Gefahr, seinen häuslichen Frieden durch einige allenfalls zum Zölibat verurteilte Schwägerinnen bedroht zu sehen. Kurz, unter sämtlichen Töchtern des Landes, die das gräfliche Taschenbuch aufzuführen wußte, paßte für Friedrich keine wie Josephe Einzelnau.

Er verfolgte den Lebenslauf seiner Erkorenen mit liebevoller Aufmerksamkeit durch drei Jahrgänge des Almanachs und befestigte sich immer mehr in dem Vorsatze, seinerzeit nach Schlesien zu reisen und sich dem Grafen von Einzelnau als ein von den redlichsten Absichten beseelter Bewerber um die Hand Gräfin Josephens vorzustellen.

Ludwig indessen kannte Fräulein Lina nicht nur von Angesicht zu Angesicht, er hatte sie sogar einmal gesprochen, als sie nach Wlastowitz gekommen war, um ihre Tante, die Frau Verwalterin Kurzmichel, zu besuchen.

»Wie geht's?« fragte er das hübsche Kind, das er im Garten mit einer Stickerei beschäftigt traf. Lina Äpelblüh erhob sich von der Bank, auf der sie gesessen, machte einen kurzen, resoluten Knicks, den echten Bürgermädchenknicks, der mit reizendster Unbeholfenheit das gediegenste Selbstbewußtsein ausdrückt, und antwortete: »Ich danke, gut.«

Wie sehr ihn das freue, verriet ihr ein feuriger Blick seiner blauen Augen, und ihre braunen senkten sich.

Eine Pause. – Was soll ich ihr jetzt sagen? ... Donner und Wetter! was soll ich ihr jetzt sagen? dachte der Freiherr und rief endlich: »Das macht die Landluft!«

»Oh, mir geht's auch in der Stadt gut!« versetzte die Kleine mit einem munteren Lächeln.

Die Erinnerung an dieses Gespräch beschäftigte den Freiherrn sehr oft und sehr angenehm; er gab sich ihr ohne Rückhalt hin, und seine Phantasie schmückte das bescheidene Erlebnis mit den anmutigsten Zutaten aus. Der Gruß der lieblichen Jungfrau, ihr Lächeln, ihr Erröten gewannen eine täglich wachsende, für ihn immer schmeichelhaftere Bedeutung.

Eines Tages – an einem Sonntage war's, an dem das Ehepaar Kurzmichel auf dem Schlosse gespeist hatte – wandte sich Ludwig plötzlich mit den Worten zur Frau Verwalterin: »Ein ganz charmantes Mädchen, Ihre Nichte! Ein schönes, liebenswürdiges Mädchen.«

Frau Kurzmichel hatte eben den Beratungen Friedrichs und ihres Mannes über die bevorstehende Schafschur mit jenem verständnisinnigen Interesse für ernste Dinge gelauscht, dem sie vor allem anderen den Ruf einer ausgezeichnet gescheiten Frau verdankte. Sie bedurfte einiger Augenblicke, um ihrem Gedankenfluge die neue Richtung zu geben, die ihm durch Ludwigs wie vom Himmel gefallene Bemerkung vorgeschrieben wurde. Sobald ihr dies jedoch gelungen, verbreitete sich ein Ausdruck zarten Wohlwollens über ihr großes, würdevolles Gesicht. Sie schüttelte beistimmend die Locken, die, unzertrennlich von der Sonntagshaube, mit dieser zugleich angelegt wurden, und sprach: »Ein braves Kind! Ein wohlerzogenes, häusliches... Ich darf es gestehen.«

Das Lob der sittenstrengen Dame war ein Moralitätszeugnis von unschätzbarem Werte.

Ludwig sagte nur: »So, so«, aber er rieb sich die Hände mit einer Art von Phrenesie, was bei ihm das Zeichen allerhöchsten Behagens, eines wahren Glückseligkeitsrausches war.

Schon einige Monate später kündigte er seinem Bruder eines Abends an, daß es sein ganz bestimmter, unerschütterlicher, durch keine Rücksicht, keinen Widerstand, kein Hindernis, mit einem Worte durch nichts auf Erden zu besiegender Wille sei, sich mit Lina Äpelblüh zu verheiraten.

Als er diesen Namen nannte, schoß Friedrich einen Blick nach ihm, geladen mit Entrüstung und wildem Hohne, doch senkte er ihn sogleich wieder auf das Buch, das er vor sich liegen hatte. Es war »Judas, der Erzschelm«, sein Lieblingsbuch. Die Ellbogen auf den Tisch gestemmt, die zu Fäusten geballten Hände an die Schläfen gepreßt, setzte er mit leidenschaftlicher Aufmerksamkeit seine Lektüre fort. Auch Ludwig hatte seine Arme, jedoch verschränkt, auf den Tisch gelegt, machte, wie man zu sagen pflegt, einen Katzenbuckel und blickte seinen Bruder scharf und unverwandt an. Dieser wurde immer röter im Gesichte, immer drohender zogen die Falten auf seiner Stirn sich zusammen, allein er las – und schwieg.

Nun stieß Ludwig ein gellendes »Haha!« hervor, lehnte sich zurück und begann zu pfeifen.

»Pfeif nicht!« schrie Friedrich heftig, ohne jedoch die Augen zu erheben.

»Schrei nicht!« entgegnete Ludwig überlaut und setzte rasch und polternd hinzu: »Was hast du gegen meine Heirat? Es ist mir zwar ganz gleichgültig, aber ich will es wissen!«

Friedrich schob das Buch von sich. »Ich hab gegen deine Heirat – nichts!« sagte er, »heirate, wen du magst, meinetwegen eine Taglöhnerin! ... Nur«, sein Gesicht nahm einen Ausdruck von kalter Grausamkeit an, er durchschnitt mit einer feierlichen Bewegung der erhobenen Hand die Luft zwischen sich und seinem Bruder, »nur: Jedem das Seine! – Es gibt Stufen im Leben. – Dich zieht's nach den unteren, mich – nach den oberen...«

»Was?« unterbrach ihn Ludwig mit herausforderndem Spotte. »Was gibt's im Leben? – Stufen?«

Friedrich ließ sich nicht irremachen; er fuhr in dem magistralen Tone fort, den er in entscheidenden Augenblicken anzunehmen wußte: »Meine Frau hüben – die deine drüben. Umgang duld ich nicht. Die Schwelle der gebornen Äpelblüh wird meine Josephe niemals überschreiten.«

»Das hoff ich!« rief Ludwig. »Umgang mit einer hochmütigen Aristokratin – dafür dank ich. Meine Frau soll gar nicht ahnen, daß Närrinnen existieren, die sich für etwas Besonderes halten, weil man ihre Ahnen zählen kann!«

»Warum kann man das?« fiel Friedrich ein. »Weil diese Ahnen sich hervorgetan haben, nicht untergegangen sind in der Menge – darum kann man sie zählen.«

»Zufall!« entgegnete der jüngere Freiherr von Gemperlein, »daß sie sich hervortun konnten; Gunst der Verhältnisse, daß die Erinnerung an ihr ehrenwertes oder nichtsnutziges Wirken sich im Volke wach erhielt... Es gibt Taten genug – lies die Geschichte! –, es gibt weltumgestaltende Ereignisse genug, deren Urheber niemand zu nennen weiß... Was ist's mit den Nachkommen dieser Männer? Kannst du darauf schwören, daß dein Anton Schmidt nicht von dem Sänger des schönsten deutschen Götterliedes, nicht von einem der Wahlkönige der Goten abstamme? Kannst du darauf schwören?« fragte er und sah seinen Bruder durchbohrend an. Dieser, ein wenig außer Fassung gebracht, zuckte die Achseln und sprach: »Lächerlich!«

»Lächerlich? Ich will dir sagen, was lächerlich ist. Es ist lächerlich, Auszeichnungen zu genießen, die andere verdienten. Es ist mehr als lächerlich, es ist niedrig, den Lohn fremder Mühe einzusäckeln!«

»Fremder? Sind meine Ahnen mir fremd?!«

»Laß deine Ahnen in Ruh! Wirst du denn ewig deinen Anspruch auf das Köstlichste, das es gibt, auf die Achtung der Menschen, aus dem Ekelhaftesten, das es gibt, aus dem Moder wühlen? ... Pfui! Mich widert's an!« Ludwig schüttelte sich vor Abscheu und fügte dann ruhiger, in beinahe flehendem Tone hinzu: »Wirst du denn niemals einsehen, daß sich zugunsten der Adelsinstitution nichts vorbringen läßt, als was Staatsanwalt Séguier – lies die Geschichte! – zugunsten anderer Mißbräuche sagte: Ihre lange Ausübung macht sie ehrwürdig... Oder was die Bollandisten zugunsten des Diebstahls sagten – lies die Acta Sanctorum nur bis zum vierundvierzigsten Bande...«

»Bis zum wievielten?« schrie Friedrich, empört über diese hirnverbrannte Zumutung.

Sein Bruder lächelte geringschätzig und sprach: »Kennst du den Preis, mit welchem du deinen Ahnenstolz bezahlst? Er heißt Selbstachtung! ... Was ich bin, was ich bleibe, wenn man mir meinen Namen, meinen Rang, mein Vermögen nimmt, darin besteht mein Wert, auf den allein bau ich mein Recht, das übrige veracht ich als Geschenk des blinden, sinnlosen Zufalls!«

Beide waren aufgesprungen; der Ältere stürzte auf den Jüngeren los und packte ihn an den Schultern: »Wessen Geschenk sind denn diese Schultern, wem verdankst du diese Brust, den Wuchs, der das Mittelmaß der Menschen um Kopfeshöhe überragt? Und daß in deiner Brust ein redliches Herz schlägt und daß in deinem Kopfe Ideen wohnen – tolle freilich – aber doch Ideen –, wem verdankst du das alles? Hast du's vom Zufalle? Hast du's von deinen Ahnen?«

»Ich hab's von der Natur!«

»Jawohl, von der Gemperleinschen Natur!« versetzte Friedrich triumphierend.

»Dein Gedankenkreis«, sagte Ludwig nach einer kleinen Pause, »hat nicht mehr Umfang als der eines Perlhuhns. Ein fester Punkt ist da, um den drehst du dich herum wie jenes Tier auf dürrer Heide –«

»Perlhuhn? Tier?« brummte Friedrich, »einmal könntest du aufhören mit deinen Vergleichen aus der Zoologie.«

»Der feste Punkt, von dem aus jeder Esel«, Ludwig ließ die Stimme auf diesem Worte ruhen, um zu zeigen, wie wenig er die erhaltene Ermahnung berücksichtige, »von dem aus jeder Esel die vernünftige Welt aus ihren Angeln heben kann, heißt das Vorurteil.«

»Ludwig! Ludwig!« unterbrach ihn hier sein Bruder, »mit erhobenen Händen beschwör ich dich: Taste das Vorurteil nicht an... Vorurteil!« wiederholte er und legte auf dieses Wort einen unbeschreiblichen, man könnte sagen: zärtlichen Nachdruck, »so nennt der Grobian die Höflichkeit, der Egoist die Selbstentäußerung, der Schurke die Tugend, der Atheist den Glauben an Gott, das ungeratene Kind die Ehrfurcht vor den Eltern! Nimm das Vorurteil, du nimmst die Pflicht aus der Welt!«

»Holla! Es ist genug!« sprach Ludwig gebieterisch. »Dir beweisen Gründe nichts, man muß mit Taten kommen.« Er warf den Kopf zurück, sein Blick war prophetisch in die Ferne gerichtet, eine erhabene Zuversicht klang aus seiner Stimme. »Meine Kinder werden dich lehren, was das heißt, erzogen sein in Ehrfurcht vor dem Ehrwürdigen, aber – ohne Vorurteil...« 

»Deine Kinder! Bleib mir mit deinen Kindern vom Leibe!« schrie Friedrich auf und focht mit verzweiflungsvoller Hast in der Luft umher, als gälte es, von allen Seiten in hellen Schwärmen heranfliegende kleine, vorurteilslose Gemperlein von sich abzuwehren, »sie dürfen mir nicht über die Schwelle, deine Kinder! Ich verbiete ihnen mein Haus!«

Tief verletzt in seinem etwas verfrühten Vaterstolze wandte Ludwig sich ab.

»Kinder ohne Vorurteile!« fuhr Friedrich empört fort, »Gott bewahre einen vor solchen Ungeheuern!«

»Brauchst Gott nicht anzurufen, bist schon bewahrt«, versetzte sein Bruder mit eisiger Kälte. »Das übrigens versteht sich von selbst – an die Türe, die meiner Frau, meinen Kindern gewiesen wurde, werde ich nie pochen. Unsere Wege trennen sich. Wo sind die Schlüssel des Archivs?«

Er holte die Karte von Wlastowitz herbei, breitete sie auf dem Tische aus und begann die Grenzlinie, welche das schöne Blatt ohnehin schon traurig verunstaltete, zu beiden Seiten so derb zu schattieren, daß sie jetzt wie ein hoher, unübersteiglicher Gebirgszug erschien, der sich schroff durch die spiegelglatte Ebene, durch die blühendsten Felder und Wiesen hinschlängelte. Friedrich sah ihm traurig und grimmig zu.

»So!« brummte Ludwig jedesmal, wenn er von neuem die Feder eintauchte, »das zwischen uns. Hier bist du – hier bin ich. Gemeinschaft ist gut im Himmel, aber leider! leider! nicht auf der Erde... Die jetzigen Menschen sind noch nicht danach! ...«

Nicht so schnell als mit der längst auf dem Papier durchgeführten Teilung der Gründe konnte Ludwig mit der Wahl des Platzes fertigwerden, an dem das Blockhaus zu errichten sei; gegen jeden, für den er sich entschied, machte Friedrich einen triftigen und berücksichtigenswerten Einwand. Ludwig verlor endlich das bißchen Geduld, das er noch zu verlieren hatte.

»Jetzt hab ich's satt. Da wird's stehen!« rief er und bezeichnete mit der in zorniger Hast geschwungenen Feder die Stelle, auf der sein zukünftiges Heim sich erheben solle. Ach! Wie eine schwarze Träne fiel ein großer Klecks auf die Karte von Wlastowitz. Auf die schöne Karte, das treffliche, noch auf Anordnung des seligen Vaters mit wahrem Mönchsfleiße ausgeführte Werk eines ausgezeichneten Ingenieurs... Friedrich zuckte zusammen, und Ludwig murmelte: »Hunderttausend Millionen Donnerwetter! Die verdammte Feder!« –

Herr Verwalter Kurzmichel war an jenem Abende eben im Begriffe, das eheliche Lager zu besteigen, in dem seine Gemahlin bereits Platz genommen, als er durch ein heftiges Pochen am Haustore in seinem Vorsatze gestört wurde. Eilige Schritte auf der hölzernen Treppe, rasch gewechselte Worte – – Frau Kurzmichel saß schon aufrecht in ihrem Bette – die beiden Gatten sahen einander an; er ein Bild der Bestürzung, sie ein Bild der Wachsamkeit. Nun klopft es an die Stubentür: »Herr Verwalter«, ruft die Magd, »Sie sollen kommen – ins Schloß – gleich!«

»Um Gottes willen – brennt's?« stöhnte Herr Kurzmichel und stürzte auf die Türe zu. Aber seine Frau kam ihm noch glücklich zuvor: »Kurzmichel – du wirst doch nicht – du bist – – in diesem Nichtanzuge...«

»Wahr, wahr« entgegnete Herr Kurzmichel mit klappernden Zähnen, eilte an den Nachttisch zurück, setzte für alle Fälle seine Brille auf und machte krampfhafte Versuche, seine Tabaksdose in eine nicht vorhandene Tasche zu versenken.

»Ruhe, Kurzmichel! – in jeder Lage des Lebens Ruhe!« mahnte die Frau Verwalterin und rief nun ihrerseits durch die geschlossene Tür: »Brennt es?« – »Nein – brennen tut's nicht!« antwortete von draußen Antons derbe Stimme, »aber der Herr Verwalter soll gleich ins Schloß kommen!«

Frau Kurzmichel half dem Gatten in die Kleider: »Was mag's geben? Was mag's nur geben?« fragte ihr Mann einmal ums andere, und innerlich bewegt, äußerlich aber ruhig wie das gute Gewissen, antwortete die große Frau: »Was soll's denn geben? Die Flanelljacke, Kurzmichel! ... Wer hätte uns etwas vorzuwerfen? Was kann uns geschehen? Ich denke, wir stehen da! Nein! nein – ohne Flanelljacke darfst du mir nicht hinaus in die Nacht!«

Eine Viertelstunde verging. Die Frau Verwalterin hatte inzwischen Tee gekocht und die Wärmflasche mit heißem Wasser gefüllt. Der Herr Verwalter mußte, als er zurückkam, vor allem anderen zu Bette. Der Tee, den seine Gattin ihm aufnötigte, verbrannte ihm den Gaumen und die Wärmflasche die Fußsohlen. Er klagte ein weniges darüber. Aber seine heilkundige Hälfte belehrte ihn: »Das ist nur die Erkältung, die herausgeht, das tut nichts... Und jetzt sprich: Was hat's gegeben im Schlosse?«

»Befehle, liebe Frau; dringende, striktens zu befolgende Befehle wegen des morgen mit dem frühesten beginnenden Baues von Freiherrn Ludwigs...«

»Blockhaus!« fiel die Frau Verwalterin mit ironischer Schärfe ein.

Ihr Gatte blickte sie voll Erstaunen an: »Woher vermutest du? ...« sagte er.

Die Antwort, die er erhielt, war eine sehr sonderbare. Sie lautete: »Man könnte wahrlich, wenn der Respekt dies nicht verböte, in Versuchung geraten, die Herren Barone trotz all ihrer ausgezeichneten Eigenschaften, die ich verehre, ein bißchen – wie sag ich nur – zu nennen.« Die Frau Verwalterin machte eine Pause, bevor sie wieder die schmalen Lippen zu den aufzeichnenswerten Worten öffnete: »Denke an mich, Kurzmichel, denke in zehn Jahren an mich, wenn du noch lebst, was Gott gebe: Das Blockhaus wird nie gebaut! – Gute Nacht, Mann, lege dich aufs Ohr und schlafe, morgen wecke ich dich nicht!«

Man muß gestehen, die seltene Frau gab in jener Stunde einen durch das Dunkel der Zeiten glänzend leuchtenden Beweis ihres Scharfsinnes, ihrer merkwürdigen Voraussicht und ihrer ausgezeichneten Kenntnis des menschlichen Herzens.

3

Es ist eine ausgemachte Sache, daß Kämpfe, die man mit einem solchen Aufwande an Geist, Ausdauer und Temperament führt, wie die Freiherren von Gemperlein taten, nach und nach zum Selbstzwecke werden, während die Veranlassung derselben in den Augen ihrer wackeren Streiter immer mehr an Bedeutung verliert. Wenn Friedrich aufrichtig sein wollte, so mußte er bekennen, daß er hundert Josephen für einen zu standesgemäßen Überzeugungen bekehrten Ludwig gegeben hätte. Ludwig hingegen gestand sich, daß es ihm süßer wäre, von seinem Bruder ein einziges Mal zu hören: Du hast recht, als von seiner Lina: Ich liebe dich!

Nur in ganz bösen Stunden, in denen sie definitiv aneinander verzweifelten, rafften sie sich zu entscheidenden Entschlüssen auf. So geschah es, daß Friedrich eines Tages seine Koffer packen ließ und seine Abreise nach Schlesien für den kommenden Morgen festsetzte, während Ludwig mit sich selbst zu Rate ging, in welcher Weise er Frau Kurzmichel am besten von seinen Gefühlen für ihre Nichte in Kenntnis setzen könnte. Aber – mitten in diese Vorbereitungen hinein fiel ein Wink vom Himmel in Gestalt einer Büchersendung aus Wien. Die Sendung enthielt unter anderem den neuesten Gothaischen Almanach und dieser die Nachricht, daß Frau Gräfin Mutter Einzelnau am 3. August des laufenden Jahres auf Schloß Kwalnow verschieden sei.

Friedrich war von dem schmerzlichen Verluste, den Josephe erlitten, tief erschüttert, und auch Ludwig, der doch keine Ursache hatte, seine Schwägerin zu lieben, versagte ihr in diesem ernsten Augenblicke seine Teilnahme nicht.

»Ah ça! ah ça! meine arme Josephe!« wiederholte Friedrich sechsmal nacheinander und schnalzte dabei energisch mit den Fingern. »Ich bedauere nur meine arme Josephe. Sie ist es, die durch diesen Trauerfall am schwersten betroffen wird. Auf wem ruht jetzt die ganze Last der Haushaltung? Wer ist jetzt die Stütze des Vaters? Wer vertritt jetzt Mutterstelle an den jungen Brüdern? Niemand anders als sie – meine arme Josephe!«

Er gab sich eine Weile schweigend seinen Betrachtungen hin und sprach dann mit würdiger Resignation: »Sie stören in der Ausübung so heiliger Pflichten, in diesem Augenblicke mit selbstsüchtigen Absichten vor sie treten wäre nicht mehr und nicht weniger als eine Roheit! ... Anton, auspacken!« befahl er seinem Diener, der im Nebenzimmer eben damit beschäftigt war, die Koffer zu schließen.

Ludwig hatte sich in das Studium des Taschenbuches vertieft und rief plötzlich aus: »Sage mir doch nur, wo ist denn deine Josephe hingekommen? Ich finde sie nicht mehr. Ich finde nur noch einen Joseph, Oberleutnant im 12. Dragonerregimente.«

»Ja, du und der Gothaische Almanach!« sprach Friedrich und nahm mit selbstbewußter Kennermiene seinem Bruder das Buch aus der Hand.

Er überflog die betreffende Stelle, er las, er betrachtete, er magnetisierte sie förmlich mit seinen Blicken, aber – auch er fand seine Josephe nicht. Sie war und blieb verschwunden.

»Was soll denn – was soll denn das heißen?« fragte er in großer Bestürzung und antwortete sich selbst endlich: »Es kann nur ein Druckfehler sein!«

Von neuem begann er seine Prüfung: »Hier fehlt das e – es soll stehen Josephe, nicht Joseph. Der Titel Oberleutnant et cetera gehört meinem Schwager Johann, gehört in die nachfolgende Zeile, ist beim Setzen vermutlich nur zufällig hinaufgerutscht...«

»Dieser Schwager«, meinte Ludwig, »ist erst sechzehn Jahre alt und sollte schon Oberleutnant sein? Das wäre doch kurios... Bei aller Protektion, die der Bursche genießen mag, doch kurios! ... Es hat freilich – lies die Geschichte! – im sechzehnten Jahrhunderte einen neunjährigen Bischof von Valencia gegeben...«

»Glaube doch nicht alle diese Klatschereien!« murmelte Friedrich ärgerlich.

»Dennoch«, fuhr Ludwig fort, »halte ich einen sechzehnjährigen Oberleutnant, in unserem Zeitalter, für ein Ding der Unmöglichkeit.«

Sie begannen zu streiten.

Friedrich aber war nicht bei der Sache; er ließ so manche von Ludwigs verwegensten Behauptungen unangefochten und entgegnete auf einen von dessen tollkühnsten Schlüssen: »Ein Druckfehler ist's. Man täte gut, die Redaktion davon in Kenntnis zu setzen.«

Noch am selben Abende schrieb er vor dem Schlafengehen folgenden Brief:

»Verehrliche Redaktion des Genealogischen Taschenbuches der gräflichen Häuser!

Der Unterzeichnete, ein langjähriger Verehrer und Leser Ihres Almanachs, nimmt sich die Freiheit, Ihnen einen peinlich sinnstörenden Druckfehler zu notifizieren, der sich auf Seite 237 des diesjährigen Jahrganges eingeschlichen hat, indem auf der früher von Gräfin Josephe eingenommenen Zeile ein Oberleutnant im 12. Dragonerregimente steht, der offenbar dahin nicht gehört, wovon Sie sich durch Nachschlagung der drei früheren Jahrgänge zu überzeugen die Freundlichkeit haben und mir eine dringend erbetene Aufklärung mit umgehender Post zukommen lassen wollen. Empfangen Sie« und so weiter.

Nach wenigen Tagen erschien die »erbetene Aufklärung«. Sie lautete:

»Verehrter Freiherr!

Kein Druckfehler, sondern – eine Berichtigung. Herr Graf von Einzelnau – der unserer Publikation nur sporadisch Beachtung zu schenken scheint – wies erst bei Gelegenheit des uns mitgeteilten Ablebens seiner Frau Gemahlin auf den bedauerlichen Irrtum hin, der sich leider durch drei Jahrgänge unseres Taschenbuches geschlichen hat. Unserseits ersuchen wir Sie, die früheren Jahrgänge des Almanachs nachzuschlagen, in denen Herr Graf Joseph als Kadett, Leutnant und so fort eingetragen steht.

Für Ihre Teilnahme dankend, ergreifen wir diese Gelegenheit, um Sie zu bitten, uns jede in Ihrem werten Hause eintretende Veränderung rechtzeitig bekanntzugeben, und zeichnen« et cetera.

Die Brüder saßen am Frühstückstische, als die verhängnisvollen Zeilen eintrafen. Lange, nachdem er sie gelesen, hielt Friedrich dieselben vor sich hin und blickte sie an wie ein Landmann seine verhagelte Saat, wie ein Künstler sein zerstörtes Werk. Ludwig, der ihn mit ungeduldiger Bestürzung beobachtete, zog ihm endlich das Blatt aus den zitternden, widerstandslosen Händen, überflog es und brach in ein schallendes Gelächter aus. Plötzlich jedoch hielt er inne, hustete und begann sich mit der »Allgemeinen Zeitung« zu beschäftigen.

Friedrich hatte die Pfeife weggelegt, die Arme über die Brust gekreuzt, die Augen niedergeschlagen. Helle Schweißtropfen standen auf seiner Stirne, die so weiß abstach von seinem übrigen sonnverbrannten Gesichte. Ludwig warf besorgte Blicke nach ihm, räusperte sich immer aggressiver, schleuderte die Zeitung zu Boden und schrie wie besessen: »Das bist halt du! So etwas kann nur dir geschehen! Unter den Millionen, welche die Erde bevölkern, nur dir! ... Wenn ich schon ein Narr sein und mir meine Braut im Gothaischen Almanach suchen will, so tue ich's wenigstens gründlich, gehe ihr nach bis auf ihre Quelle, bis auf ihren allerersten Ursprung; kenne ihre Vorvorgroßeltern ungeboren! Aber du! – Was du tust, kannst du nur kavaliermäßig tun, das heißt – lies die Geschichte! – oberflächlich, leichtsinnig, dumm mit einem Worte! ... Gedankenlosigkeit und Gedankenfaulheit – das ist es ja! Daran geht ihr zugrunde, du und dein ganzer vernunftverlassener Stand!«

Jetzt erhob sich Friedrich brüllend wie ein angeschossener Löwe. Der Bann seines Schweigens war gelöst, und im Kampfe, der sich nun entspann, fand er seine Stärke wieder.

Der Einsturz von Friedrichs Luftschlössern hemmte natürlich den Aufbau von Ludwigs sicherem Hause. Wie konnte einer der Brüder daran denken, sich einen behaglichen Herd zu errichten im Augenblicke, in dem der andere vor den Trümmern seines Familienglückes stand? Ludwig verschob die Unterredung mit Frau Kurzmichel auf einen günstigeren Zeitpunkt. In drei, in sechs Monaten, wenn Friedrichs Herzenswunde vernarbt sein würde, dann erst wollte er die eigene Liebesgeschichte mit Eifer betreiben.

Aber – nur zu oft meint der Mensch über sein Schicksal noch entscheiden zu können, während dieses längst über ihn entschieden hat. Diese Erfahrung sollte Ludwig schon am folgenden Sonntage machen.

Da erschien Frau Kurzmichel in großem Staate beim Diner. Sie hatte sich mit ihren berühmtesten Garderobestücken geschmückt: mit ihrem braunen Seidenkleide, dem Hochzeitsgeschenke, das ihr Gatte ihr dargebracht, und mit dem gelben Schal, der noch aus dem Nachlasse der hochseligen Frau Baronin, der Mutter der Freiherren, stammte. Das braune Kleid pflegte die Frau Verwalterin bei jeder feierlichen Gelegenheit anzulegen, den gelben Schal aber nur dann, wenn sie sich in besonders gehobener Stimmung befand. Dies war heute der Fall. Man sah es ihrer verheißungsvollen Miene an, daß sie trotz all der Frische und Originalität, die wie gewöhnlich ihr Gespräch beseelten, das Beste doch, wie der Feuerwerker das Bukett, für den Schluß der Vorstellung versparte.

Beim schwarzen Kaffee erhob sie denn auch unter allgemeinem Schweigen die Stimme und sagte: »Darf ich mir erlauben, Freiherrlichen Gnaden eine Mitteilung zu machen, die zwar nur eine tief- und fernstehende, aber Freiherrlichen Gnaden doch bekannte Persönlichkeit betrifft, indem dieselbe vor einiger Zeit die Gastfreundschaft des herrlichen Wlastowitz genossen hat?«

»Wen meinen Sie?« fragte Friedrich.

»Sie meinen Ihre Nichte Lina Äpelblüh«, sprach Ludwig mit dem divinatorischen Instinkte der Liebe. Frau Kurzmichel verneigte sich beistimmend: »Meine Nichte allerdings – allein nicht mehr Äpelblüh, sondern Klempe, da sie sich vor drei Tagen mit Herrn Notar Klempe in K. verehelicht hat.«

Ludwig fuhr zusammen, und Friedrich rief: »Was der Teufel! Mit dem? Mit dem alten Griesgram?«

»Griesgram«, berichtigte die Verwalterin, »Griesgram ist ein etwas starker Ausdruck, Herr Baron, ich würde kaum wagen, ihn zu gebrauchen. Der Herr Notar hat allerdings viele – Extremitäten, ist aber ein sehr braver Mann, Herr Baron, und wohlhabend...«

»Darum also«, fiel Friedrich geringschätzig ein.

»Nicht darum, Herr Baron – aus Liebe...«

»Aus Liebe?« schrie Ludwig.

»Aus Liebe«, wiederholte Frau Kurzmichel, »zu ihren unbemittelten Eltern und ihren neun unversorgten Geschwistern. Drei davon durfte sie gleich mit ins Haus bringen. Das war ihre Bedingung, sonst hätte sie sich wohl geweigert; denn, du lieber Gott, wenn sie ihrem Herzen hätte folgen dürfen – dieses würde wohl anders – einen anderen – ganz anderen Gegenstand...« Frau Kurzmichel war bewegt, ihre gewohnte Zurückhaltung verließ sie, und sie schloß, hingerissen von Teilnahme und Rührung: »Ich sollte eigentlich – es ist nicht recht, aber jetzt, wo das Opfer vollbracht ist, alles vorbei, die Pforten der Ehe hinter ihr zugefallen sind... ihr Herz, Herr Baron – ist hier zurückgeblieben.« 

»Wie? Wo? In Wlastowitz?« sprach Friedrich betroffen, und Ludwig stand auf und verließ das Zimmer.

»Aber Frau«, sagte der Herr Verwalter, »derlei interne Angelegenheiten haben doch kein Interesse für...«

»Frau Kurzmichel«, unterbrach ihn Friedrich, der sehr ernst geworden war, »ich wünsche Sie einen Augenblick allein zu sprechen.«

Frau Kurzmichel errötete, und ihr Gatte, diskret und taktvoll wie immer, entfernte sich sogleich.

Durch einige Zeit herrschte im Saale eine tiefe Stille. Friedrich rieb sich die Stirne und die Augen, riß unbarmherzig an seinem Schnurrbarte und begann endlich: »Können Sie mir sagen... Nun?«

»Befehlen Herr Baron«, sprach Frau Kurzmichel.

»Nun ja«, er vermied ihre Augen, »sagen Sie mir – genieren Sie sich nicht: Wer ist denn der Gegenstand, Sie wissen, den Ihre Nichte –«

»Herr Baron, diese Frage –« stotterte Frau Kurzmichel, ganz erschrocken über die ihr rätselhafte Wichtigkeit, die Lina Äpelblühs Herzensangelegenheiten für den Freiherrn zu haben schienen.

Nach abermaliger Pause sagte Friedrich mit ganz ungewöhnlich sanfter Stimme: »Ich bitte Sie, genieren Sie sich nicht, vertrauen Sie es mir an, Frau Kurzmichel... Wer ist der Gegenstand – Sie wissen –«

»Herr Baron, Sie haben von Vertrauen gesprochen«, entgegnete Frau Kurzmichel, beugte die Schultern etwas vor und legte so recht hilflos und jeden Widerstand aufgebend die Hände in den Schoß... »Wenn Sie von Vertrauen sprechen, Herr Baron, da ist es aus, da kann ich nur antworten ganz schlicht und bündig: Es ist der Amtsschreiber...«

»Nicht mein – –« Beinahe hätte der Freiherr sich verschnappt in seiner ersten Überraschung, »sieh da, der Amtsschreiber, also der Amtsschreiber?!«

Es war ihm sonderbar zumute. Eigentlich freudig, aber eine getrübtere Freudigkeit kann sich niemand vorstellen. Er atmete tief auf, wie befreit von einer schweren Last, und warf dabei einen Blick voll schmerzlicher Zärtlichkeit nach der Türe, aus der Ludwig soeben getreten war.

»Frau Kurzmichel«, sprach er, »wollen Sie mir einen Gefallen erweisen?«

»Oh, Herr Baron, was irgend in der Macht eines redlichen Weibes...«

»An ein unredliches würde ich mich nicht wenden«, fiel Friedrich ein, rückte seinen Stuhl näher zu dem ihren und blickte sie unbeschreiblich gütig und treuherzig an. »Der Gefallen, um den ich Sie bitte, ist: Wenn mein Bruder Sie fragen sollte: An wen hat denn Fräulein Lina ihr Herz verloren? so antworten Sie: Das ist ein Geheimnis – und, Frau Kurzmichel, Sie sterben lieber, als daß Sie es ihm verraten. Schwören Sie mir das, Frau Kurzmichel?«

»Ich verspreche es«, sagte die große Frau und erhob dabei das Haupt wie ein todesmutiger Soldat im Kugelregen: »Versprechen ist Schwur, Herr Baron.«

»Warum ich das von Ihnen verlange«, versetzte er, »das muß ich Ihnen – nehmen Sie es nicht übel – jetzt und immer verschweigen.«

Die Verwalterin erwiderte einfach und edel: »Herr Baron, ich brauche es nicht zu wissen.«

Mit ungeheuchelter Bewunderung reichte ihr Friedrich die Hand: »Ich glaube Ihnen, Sie sind brav!« rief er, sich erlebend, »ich sage es immer, Sie haben so etwas – etwas Antikes, Frau Kurzmichel, etwas Römisches.«

Frau Kurzmichel verbeugte sich und verließ den Saal; in ihrer Brust wogten unendliche Gefühle.

Friedrich begab sich in die Allee hinter dem Schlosse, wo sein Bruder ohne Hut, heftig gestikulierend, auf und ab stürmte und ihn mit den Worten empfing: »Alles hin! – Und wer ist schuld? Du! ... Um deinetwillen hab ich mein Glück versäumt, das meine und das Glück des Mädchens, das mich so ungeheuer geliebt hat...«

»Das dich geliebt hat – ja, ja«, wiederholte Friedrich und dachte: Armer Kerl!

4

Die Nachbarin, mit welcher die Freiherren am eifrigsten verkehrten, war Ihre Exzellenz die Frau Kanzlerin von Siebert, Herrin von Perkowitz.

Diese Dame führte seit fast einem halben Jahrhundert auf ihrem Gute, dem Vermächtnisse ihres verstorbenen Gatten, ein weises Regiment. Sehr jung Witwe geworden, bewahrte sie sich selbst die Unabhängigkeit und dem Andenken ihres »Herrchens« die Treue. Sie verließ den Wohnsitz nicht mehr, an dem sie einige Jahre mit ihm verlebt hatte, und vermählte sich auch nicht wieder, obwohl es ihr an Gelegenheiten dazu nicht gefehlt hatte.

Perkowitz bildete die östliche Grenze des freiherrlich Gemperleinschen Gutes und trieb eine Remise und drei Felder als ebenso viele Keile ins Mark von Wlastowitz hinein. Eine unangenehme Grenze. Eine Grenze, die zeitweilige Reibungen zwischen Nachbarn unvermeidlich macht. Ein verschobener Pfahl, eine schiefgezogene Furche geben auch den Friedfertigsten Anlaß zu Zwistigkeiten und Rivalität. Allein gerade das trug nicht wenig zur Annehmlichkeit des Verkehrs bei, indem es ihm ein prickelndes Interesse verlieh. Die Exzellenz war eine muntere alte Dame von siebenzig Jahren, gesellig wie Madame de Tencin, mit welcher Ludwig sie zu vergleichen liebte. Sie fürchtete nichts so sehr wie die Langeweile, bestimmte den Wert der Menschen nach dem Grade der Huldigungen, die sie ihr darbrachten, und forderte von jedermann die eifrigste Anerkennung ihres nicht gewöhnlichen Verstandes. Hingegen begnügte sie sich, ungleich ihrem berühmten Vorbilde, auch mit anspruchslosem Umgang, wußte einen mittelmäßigen Spaß zu würdigen und kümmerte sich nicht im geringsten um den Verdruß derjenigen, auf deren Kosten er gemacht wurde. Sie befaßte sich überhaupt nicht viel mit Rücksicht auf andere und teilte noch die altmodische Anschauung, »ein guter Mensch« sei nur die höfliche Bezeichnung für »Schwachkopf«.

In den Augen Frau von Sieberts, die sich gewöhnt hatte, auch in wirtschaftlichen Fragen als das Orakel der Gegend zu gelten, waren die »jungen Gemperlein« talentvolle Dilettanten. Sie lachte über die Schwärmerei der Freiherren für ihr Wlastowitz, war aber im Grunde den »feindlichen Brüdern« sehr gewogen. Es ereignete sich nicht selten, daß Friedrich und Ludwig heftig miteinander streitend in Perkowitz erschienen, der Exzellenz die Hand küßten, Fräulein Ruthenstrauch, die Gesellschafterin, und Herrn Scheber, den Sekretär, grüßten, eine Stunde lang weiterstritten, wütend aufsprangen, sich empfahlen und streitend abfuhren.

Die Exzellenz, die während der ganzen Zeit Öl ins Feuer gegossen hatte, indem sie jetzt Friedrich und jetzt Ludwig zurief: »Da haben Sie recht!« – »Da haben wieder Sie recht!« hielt sich die Seiten vor Lachen.

Herr Scheber wirbelte die Daumen, rückte die Perücke, die immer schief auf seinem gurkenförmigen Kopfe saß, in der Absicht, sie geradezurichten, noch schiefer, schwitzte sehr, nahm eine Prise Tabak und seufzte: »Das ist aber doch –!«

Die wasserblauen Augen Fräulein Ruthenstrauchs drückten hilflosen Unwillen aus, ihre bleichen Lippen sprachen zitternd: »Ich dachte schon, sie würden einander in die Haare fahren, ich habe alle Farben gespielt...«

»Bilden Sie sich nichts ein!« rief die Exzellenz. »Die interessante Blässe Ihrer Wangen hat die ganze Zeit über nicht die geringste Veränderung erlitten.«

Mit innigem Ergötzen an den verstörten Mienen ihrer Untergebenen fuhr sie fort: »Was habt ihr für Nerven, ihr zwei! – Mir hat der Lärm wohlgetan. Man hört doch einmal wieder, was die menschliche Stimme vermag. Solch ein Gespräch reinigt die Luft, ich fühle mich erquickt wie nach einem Gewitter!«

An dem Tag, an welchem die Brüder die Entdeckung gemacht hatten, daß sie bereits seit zehn Jahren in Wlastowitz weilten, statteten sie der Exzellenz einen Besuch ab. Die Gesellschaft hatte sich wie gewöhnlich in der Salle à terrain versammelt. In der rechten Ecke des Kanapees, das vor dem runden Tische stand, saß die Herrin von Perkowitz; Friedrich und Ludwig hatten auf zwei Armstühlen Platz genommen. Fräulein Ruthenstrauch wickelte in der Fenstervertiefung Seide ab, Sekretär Scheber hatte sich auf den Rand eines dünnbeinigen Sessels niedergelassen, in respektvoller Entfernung von den hochgebornen Herrschaften und in einer Positur, welche die Mitte hielt zwischen Schweben und Sitzen. Er blickte die Freiherren von Zeit zu Zeit verstohlen an und dachte: Was wird es heute geben?

Aber es gab nichts. Die Brüder waren in weicher, melancholischer Stimmung. Die Betrachtung über die rasche Flucht der Zeit, die Friedrich kürzlich angestellt, hatte einen starken Eindruck in seinem und in Ludwigs Gemüt hinterlassen.

Beide waren sich der entschwundenen Jugend, des versäumten Glückes plötzlich bewußt geworden und fühlten sich eigentümlich bewegt.

Die alte Exzellenz schwang vergebens ihre kleine Erisfackel; die Funken, die sonst wie in ein Pulverfaß gefallen wären, fielen jetzt wie in nasses Gras.

»Wissen Eure Exzellenz«, sagte Friedrich, »wie lange wir nun schon in Wlastowitz leben? – Zehn Jahre sind's! Ja, seit zehn Jahren genießen wir die Ehre, Ihre Nachbarn zu sein!«

»Erst seit zehn Jahren?« erwiderte sie. »Ich hätte geglaubt, unser Krieg wär schon ein dreißigjähriger.«

»So?« – Friedrich ging mit sich zu Rate, ob dies eine Schmeichelei oder das Gegenteil sei. »Sehen Euer Exzellenz! ... Und ich machte erst kürzlich meinem Bruder die Bemerkung, daß die Zeit doch eigentlich sehr schnell... daß ich fände, daß eigentlich – die Zeit – ach, die Zeit...«

Er wußte nicht mehr, was er sagte, sagte es auch nur noch mechanisch hin und verstummte ganz, bevor er ein Ende seines Satzes gefunden.

Aber wenn die Stimme ihm ausblieb, so führten seine Augen eine um so beredtere Sprache. In Worte übersetzt würde sie gelautet haben: O wie schön! ... O du grundgütiger Himmel, wie teufelsmäßig schön! ... Etwas Schöneres kann man sich nicht denken und gibt's nicht!

Die Augen aller Anwesenden folgten der Richtung seines verzückten Blickes. In der Türe, die zu den Gastzimmern führte, stand eine hohe weibliche Gestalt. Nicht mehr in der ersten, aber, so wahr einem das Herz aufging bei ihrem Anblicke, in der schönsten Blüte. Sie trug ein einfaches, weißes Kleid, die prachtvollen kastanienbraunen Haare waren, in schwere Zöpfe geflochten, um den edel geformten Kopf gelegt. In der Hand hielt sie einen Strohhut, Handschuhe und Sonnenschirm, und so eigentümlich geschmackvolle, ja wirklich allerliebste Dinge wie diesen kleinen schwarzen Strohhut, diese schwedischen Handschuhe und diesen Sonnenschirm aus ungebleichter Seide meinte Friedrich in seinem ganzen Leben nicht gesehen zu haben.

So hatte ich mir meine Josephe vorgestellt! dachte er. Ludwig dachte: Mit der kann sich nicht einmal meine Lina vergleichen, und beide dachten: Kein Traum kann holder sein! Aber sie hat vor diesem voraus, daß sie nicht zerstiebt beim Erwachen, daß man sie auch mit offenen Augen sehen, ja sogar mit ihr sprechen kann.

Als die Exzellenz ihr die Freiherren nannte und dann zu diesen sagte: »Meine Nichte Siebert«, verneigte sie sich, lächelte und versicherte auf das liebenswürdigste, daß sie »sehr erfreut« sei.

Sie setzte sich zu ihrer Tante auf das Kanapee, in die linke Ecke, neben der Friedrichs Armstuhl stand.

Der ältere Freiherr begann sogleich mit dem schönen Gaste des Schlosses ein lebhaftes Gespräch, während der jüngere tiefsinnig schwieg und die Dame mit ausbündiger Bewunderung betrachtete.

Der Eindruck, den die Erscheinung dieses entzückenden Wesens auf ihn machte, war um so überwältigender, da er ihn in einem Augenblicke innerer Wehrlosigkeit empfing; in einem Augenblicke der Wehmut, der Reue- der Schwäche mit einem Worte!

Es gibt aber auch Zufälligkeiten im Leben, derart merkwürdig, daß man sie für Winke des Schicksals halten muß, und wäre man weise wie Kant und aufgeklärt wie Voltaire. Ich möchte den sehen, der in der Stunde, in welcher er den Verlust einer guten Gelegenheit betrauert, eine hundertmal bessere fände und nicht ausriefe: Fatum! Fatum!

Was Ludwig betrifft, er meinte die Stimme zu hören, die ihm zurief: Da hast du's wieder, das Glück – das verloren gewähnte! Und dieses Mal greifbar genug. Es wohnt in Perkowitz – es ist die Nichte deiner nächsten Nachbarin!

Er beneidete seinen Bruder recht herzlich um die Beredsamkeit, die dieser entwickelte. Freilich, man muß borniert sein, um vor einem so wunderbaren Wesen mit so hausbackenem Zeug auszurücken. Es geschah indessen mit hinreißendem Ausdrucke. Friedrich sagte: »Solches Wetter im September – das ist ein Segen – da reifen die Trauben – da polarisieren die Rüben!« und sah sie dabei mit Blicken an, die sie förmlich einhüllten in Wohlwollen, und neigte sich über ihre Hände, die auf dem Tische lagen und mit den schwedischen Handschuhen spielten, so tief, so tief, daß man meinte, er werde sie gleich küssen.

Die Dame schien sich des Zaubers, den sie ausübte, wohl bewußt. Sie hätte eine deutsche Lustspiel-Naive sein müssen, um nichts davon zu merken; doch wurde sie dadurch nicht übermütig, sie schien eher ein wenig verlegen, ein bißchen unangenehm berührt.

Wer jedoch die Freiherren mit heller Schadenfreude beobachtete, in wessen Mienen sich der Ausdruck des boshaftesten Triumphes spiegelte, das war niemand anders als Ihre Exzellenz.

Vorderhand war ihr jedoch daran gelegen, ihre wahren Gefühle zu verbergen, und plötzlich hub sie mit ihrer lauten, gedehnten Nasenstimme an: »Ja, was heißt denn das? mein lieber Ludwig? Ich frage Sie schon dreimal, ob Sie Ihre Wolle endlich verkauft haben, und kriege keine Antwort. Was ist denn überhaupt mit euch beiden? Ich weiß nicht, wie ihr mir vorkommt, meiner Treu! ... Der eine sitzt da wie Amadis auf dem Armutsfelsen, und der andere... Nehmen Sie sich in acht, Fritz, Sie sehen heute wieder aus, so rot, als sollte Sie gleich der Schlag treffen.«

Den Freiherren war zumute, als ob sie mittelst eines Fußtrittes aus dem siebenten Himmel auf die Erde geschleudert worden wären, und zwar dahin, wo sie am miserabelsten ist. Sie hätten in dem Momente die alte Dame ganz gerne totgeschlagen.

Diese fuhr fort: »Übrigens haben wir miteinander noch ein Hühnchen zu pflücken. Ich wollte Sie bitten, Ihrem Förster die Erlaubnis zu geben, wenigstens manchmal irgendwo anders als an der Grenze zu jagen.«

»Die Erlaubnis?« murmelten die Brüder. »Exzellenz... in der Tat...«

»Als an der Grenze!« wiederholte die Exzellenz scharf und nachdrücklich. »Er patrouilliert Tag und Nacht vor meiner Remise auf und ab und pafft nieder, was sich zeigt – Bock oder Geiß!«

Die Freiherren schrien auf. Die Augen Friedrichs funkelten, und die Ludwigs schossen Blitze. »Ich gebe mein Wort«, sprach der letztere, »daß der Förster entlassen ist, wenn mir die Geiß bewiesen wird.«

»Er vaziert!« rief die Exzellenz und streckte ihre dürre Hand befehlend aus. »Die Geiß ist vorgestern geschossen worden!«

»Exzellenz!« entgegnete Friedrich, kaum mehr Herr seiner selbst, »ich habe das Stück gesehen, es war ein Bock!«

»Es war eine Geiß!« fiel Ihre Exzellenz mit kalter Bosheit ein, und Friedrich schrie wütend... das heißt, er schickte sich an wütend zu schreien, doch blieb es bei der Absicht. Ein Blick seiner schönen Nachbarin verwandelte seine Aufregung in Ohnmacht und seinen Groll in Wonne. Sie sah ihn erschrocken an, flüsterte ihm leise flehend zu: »Ich bitte Sie! Haben Sie Nachsicht mit dem Eigensinn des Alters.«

– Ich bitte Sie! ...

Es klang wie himmlische Musik, hinreißend und unwiderstehlich. Nicht nur beschwichtigt, nein, selig neigte er das Haupt vor Ihrer Exzellenz und sprach mannhaft und begeistert wie ein ritterlicher Märtyrer: »Wenn Euer Exzellenz befehlen, so war es denn eine Geiß.«

»Da haben wir's!« sagte die Tante; die Nichte jedoch legte die Hände wie applaudierend zusammen: »Bravo! Bravo! Sie sind ja außerordentlich liebenswürdig, Baron Gemperlein!«

»In solcher Nähe bemüht man sich wenigstens...« sagte er mit gutmütiger Naivität, und überwältigt von seiner großen, rasch entflammten Sympathie, fügte er hinzu: »Bleiben Sie doch recht lange bei uns, Fräulein!«

Sie hob bei diesem Worte errötend und mit schalkhaft protestierender Miene den Kopf. Schebers Augenbrauen fuhren ihm plötzlich vor Entzücken mitten auf die Stirn; Fräulein Ruthenstrauch stieß in ihrer Fensterecke ein Gekicher aus... Aber die Herrin blickte die beiden Satelliten strafend an. – Schebers Gesicht legte sich sogleich wieder in die gewohnten Angst- und Kummerfalten. Fräulein Ruthenstrauch unterdrückte ihr Gekicher und widerrief es gleichsam durch ein lebhaftes Räuspern.

Die Exzellenz brachte rasch einen neuen Gesprächsgegenstand auf das Tapet und sagte dann, sich an ihren Gast wendend: »Wollen wir den Kaffee im Pavillon trinken, Klara?«