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Der hochbegabte Hanno erfährt bei seinem ersten Cello-Vorspiel vor den Hamburger Symphonikern eine überwältigende Anerkennung. Seine ihn vergötternde Mutter sieht sich schon als seine Tournee-Begleiterin. In seinen Träumen begegnet er jedoch seiner wahren Liebe. Mit ihr übt er bis zur Erschöpfung Stücke von Ravel und Schostakowitsch. Mit ihr begibt er sich auf eine Reise, in der sich die Grenzen von Traum und Wirklichkeit verwischen. Sie verlieren sich aus den Augen. Dann entdeckt er sie in Kopenhagen als Assistentin von Carol Wächter. Sie lieben sich und gründen ein Duo, er verliert sie wieder. Er zieht weiter und lebt auf der Straße. Ausgerechnet eine Kommissarin schenkt ihm ein zweites Leben, das er in Paris mit zwei Badenixen auslebt. Sie stecken voller skurriler Einfälle, mitten in Paris, am Place du Vosges, und gehen seltsamen mallorquinischen Urlaubs-Freuden nach.
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Seitenzahl: 101
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Er, Hanno, wurde von vielen als außergewöhnlich begabt eingeschätzt - seine Mutter vor allen Dingen war felsenfest davon überzeugt. Ab einem Alter von fünf Jahren schon gab sie ihm das Gefühl, dass er etwas Besonderes sei. Viele Mütter tun das sogar schon früher. Auch Mütter, die sonst in ihrem Leben gelassen sind und so tun, als würde sie nichts in der Welt aufregen. Sollte aber jemand nur andeuten, dass ihr Kind in seiner Entwicklung vielleicht noch etwas mehr Zeit bräuchte – ja, dann ist der Teufel los. Dann können wir beobachten, wie sie ihr Kind verteidigen können - wie eine Löwin in der Savanne.
Insofern haben wir uns daran gewöhnt, wenn sie mit ihren Lobpreisungen manchmal zu weit gehen und anderen Müttern damit auf die Nerven gehen – ja, ohne sich groß Gedanken darüber zu machen, provozieren sie damit ihre Geschlechtsgenossinnen - auch Väter wollen wir dabei nicht vergessen - denn auch sie haben Kinder, die etwas Besonderes sind. Falls sie sich einbildet, dass etwa sie selbst etwas Besonderes darstellt, dann hat sie nichts begriffen – ja, so streng geht es manchmal auch auf unseren Kinderspielplätzen zu.
Anna, Hannos Mutter, spielte in einer anderen Liga. Ihr Sohn gab schon kleine Cello-Konzerte. Tägliche Lockerungsübungen und kleine Etüden gehörten schon zu seinem Pflichtprogramm. Begabung allein bewirke nicht viel, erklärte seine Mutter, schon Goethe sprach von neunzig Prozent Schweiß. Hanno besaß zwar ein enges Band zu ihr und ging auf jeden ihrer Wünsche ein, aber davon waren sie noch weit entfernt. Für ihn war sie ein Vorbild, gleichgültig, was Goethe gesagt hatte. Sie hatte als Cello-Solistin bereits eine erfolgreiche Karriere hinter sich. Ein Unfall hatte sie leider frühzeitig beendet.
Für sie war es abgemacht, dass er, Hanno, ihre Nachfolge eines Tages übernehmen würde. Sie erinnerte sich noch an seine Geburt, als die Schwester ihr Hanno auf die Brust legte. Sie hatte den ersten Hautkontakt mit ihm, sie hatte ihn gesäugt und den ersten Blickkontakt mit ihm gehabt. Wer sonst als nur sie war dazu erkoren, ihn zu erziehen? Letzten Endes war sie im Nachhinein erleichtert, dass ihr Mann bei der Geburt nicht dabei war. Sie brauchte ihn nicht. Sie gehörte nicht zu den Händchenhalte-Typen. Keine einzige Sekunde hatte sie ihn vermisst.
Als sie noch in den ersten Tagen das Bett hüten musste, hatte sie einen Film eines Verhaltensforschers angesehen, der ihr nicht mehr aus dem Kopf ging. Jeden Morgen, wenn sie noch im Halbschlaf lag, sah sie ihn, wie er mit seinem Leichtflugzeug startete, während eine Schar junger Graugänse Anlauf nahm, sich in die Luft schwang und hinter ihm herflog. Er spielte die Mutter für seine Gänsekinder. Sie folgten ihm, als wären sie mit einem unsichtbaren Band mit ihm verbunden.
Eine ähnliche Bindung übertrug sie, während sie sich durch die medikamentöse Behandlung noch in einer Art Höhenrausch befand, auch auf sich - ja, sie sah sich, angeregt durch ein erfolgreiches Cello-Konzert ihres Sohnes, schon als seine ständige Tournee-Begleiterin. Sie steigerte sich in eine Euphorie, die ihr ein fantastisches Bild vorgaukelte, in dem sie sich kurz vor ihrem Erwachen mit ihren Flügeln in die Lüfte schraubte, während ihr Sohn, mit dem Cello auf dem Rücken, ihr hinterher flog. Ein Bild, das sie nie vergessen würde und ihr jedes Mal vor dem Erwachen erschien. Niemand sonst sollte an dem Wunder teilnehmen dürfen, das sie durch seine Geburt erfahren hatte.
Sie liebte den sonoren Klang des Cellos und war überzeugt, dass er irgendwann und irgendwie, wenn er die richtige Ausbildung durch sie erhalten würde, diesen strahlenden Klang dem Instrument entlocken würde. Leider verzögerte sich seine künstlerische Entwicklung. Seine Finger waren zu schwach, um die Saiten fest an das Griffbrett zu pressen. Es dauerte und dauerte viel zu lang mit ihm, endlich einen klaren Ton hinzukriegen, den sie von ihm hören wollte.
Ob sie damals, als sie selbst eine Karriere als Cello-Virtuosin anstrebte, zum Üben gezwungen wurde oder ob ihr die außergewöhnliche Begabung einfach so zuflog, daran konnte sie sich nicht mehr erinnern. Sie fragte sich, ob ihr Sohn tatsächlich das Talent besaß, das seine Musiklehrer ihm so eindeutig bescheinigten. Wollten sie ihr, der bereits arrivierten Künstlerin, vielleicht nur schöntun?
Es gab Situationen, in denen sie sich damals unter einem Kissen vergraben wollte. Sie litt, wenn die Cellosaiten nicht fest auf das Griffbrett gedrückt wurden und einen kratzenden Ton von sich gaben. Ihre Gehörgänge schmerzten. Sie signalisierten ihr, dass sie sich am Ende ihrer Toleranzschwelle befand. Während seiner Übungen lief ihr ein Schauer nach dem andere den Rücken rauf und runter, ihr Kopfweh meldete sich wieder nach so langer Zeit. Und das bedeutete, dass ihre nervliche Belastung kaum noch zu ertragen war.
Als er etwa acht Jahre alt war, gab sie ihm das Gefühl, dass er aus dem Kindesalter entwachsen war. Das Verhältnis zwischen ihnen hatte sich total gewandelt – ja, an manchen Tagen behandelte sie ihn, als hätte er das Zeug dazu, eines Tages ihr Level zu erreichen. Er wurde von ihr verwöhnt und genoss seine Sonderstellung in vollen Zügen. Sogar sein Vater beschwerte sich, dass sie ihn überhaupt nicht mehr beachtete. Er brächte nur das Geld nachhause, maulte er.
Welche Rolle hätten sie ihm denn zugedacht? fragte er mit einem Anflug von Sarkasmus. Den Mummenschanz, den sie beide aufführten, könne er kaum noch ertragen. Er verstehe zwar nicht viel von Cellomusik, erklärte er Hanno, aber er höre sie gern. Als er ein Junge war wie er, erzählte er ihm und forderte ihn auf, sich neben ihn zu setzen, fischte ihn sein Musiklehrer aus dem Schulchor heraus. Als einzigen Schüler. Und warum? Er hatte herausgehört, dass Hannos Vater falsch gesungen hatte. Er würde aber gern mitsingen, sagte er. Aber sein Lehrer bestand darauf, dass er lieber still sein solle.
Na gut, sagte er sich, wenn er seinen Lehrer damit glücklich machte, dann könnte er auch auf den Flur gehen und eine Zigarette rauchen. Im Flur erwischte ihn der Mathelehrer und nahm ihn mit zum Direktor. Er durfte nicht mitsingen, antwortete er ihm, als er gefragt wurde, was er auf dem Flur zu suchen hätte. In der Zwischenzeit war der Mathelehrer den Flur weiter entlanggegangen, als er sich plötzlich umdrehte und Hannos Vater zu sich rief. Er antwortete höflich, dass er im Moment noch mit dem Herrn Direktor verhandle. Er soll das Papierknäuel aufheben, rief er, wenn er mit dem Herrn Direktor fertig sei. Wieder antwortete er ihm höflich, er selbst stünde doch direkt davor und bräuchte sich nur danach zu bücken.
Der Herr Direktor wusste auch nicht mehr weiter. Im Grunde müsste er ihn bestrafen, sagte er, aber er wüsste nicht warum. Er riet er ihm, seinen Stolz zu begraben und dem Mathelehrer das Knäuel direkt in die Hand zu drücken. Seien Sie doch ein bisschen diplomatisch, flüsterte er. Kooperativ! Plötzlich siezte er ihn. Seien Sie nicht dumm, fuhr er fort. Dieser Lehrer, wissen Sie, mit dem ist nicht gut Kirschen essen. Ruck-zuck haut er Ihnen bei der nächsten Arbeit ein Ungenügend unter ihre Arbeit. Aber sein Vater hatte keine Angst vor ihm. Und er respektierte ihn auch nicht. Er wusste, dass er gut in Mathe war. Und manchmal hatte er das Gefühl, dass er besser war als sein Lehrer.
Schon auf dem Gymnasium warf ihm das Lehrerkollegium vor, dass er seine Nase sehr hoch trage. Sie erinnerten ihn daran, dass er noch Schüler sei und den Anweisungen eines Lehrers Folge zu leisten habe. Sei er dazu nicht willens oder nicht in der Lage, stehe ihm frei, sich eine andere Bleibe zu suchen.
Das ließ er sich nicht zwei Mal sagen. Er heuerte bei einem Fensterbauer an, den sein Vater kannte. Es gefiel ihm gut dort. Sie behandelten ihn wie einen von ihnen, ohne ständig den Macker herauszukehren und ihn wie einen Idioten zu behandeln. Mit einem Schlag fühlte er sich erwachsen. Der Inhaber hatte erkannt, dass er ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen besaß. Das hätte nicht jeder, sagte er. Die Zeichnung eines Architekten genügte ihm, um sich gleich die räumliche Situation vorzustellen.
Das Cello, von dem sein Vater allzu oft redete, handhabte Hanno inzwischen in einem Alter von acht Jahren mit einer Bravour, die selbst lang gediente Cellisten des Hamburger Philharmonischen Staatsorchesters in Erstaunen versetzt hatte, als er bei ihnen vorspielte. Sie hielten ihn nicht gerade für ein Wunderkind. Aber sie sahen in ihm doch außergewöhnliche Fähigkeiten angelegt, die auf Größeres hoffen ließen.
Nicht unbedingt zwingend konnten sie feststellen, dass er ein verlässliches Tonhöhengedächtnis besaß, wie es seine Mutter behauptete. Genau dies wurde ihm von Kindesbeinen an suggeriert, und zuweilen glaubte er selbst daran. Aber seine wahre Begabung lag auf einem anderen Gebiet. Geschickt und mit einer gewissen Eleganz, die sie ihm nicht absprechen konnten, schlug er mit weit ausholender Geste eine Stimmgabel an, um zu Beginn der Aufführung sein Instrument zu stimmen - ja, es war noch die Zeit, als händisch gearbeitet wurde. In dieser Disziplin, die leider von vielen unterschätzt wird, hatte er es zu einer bestechenden Kunstfertigkeit gebracht. Er ließ den Ton durch eine wundersame Wellenbewegung seiner Hand in der Stille ausklingen, bis offenbar nur er ihn noch wahrnehmen konnte.
Natürlich konnte er mit diesen Fähigkeiten keinen bleibenden Eindruck bei den Symphonikern hinterlassen. Zumal ihm ein Mitglied des berühmten Klangkörpers den Ton mit seinem eigenen Cello vorgab, und er missmutig seine Stimmgabel wieder in die Jackentasche gleiten ließ. Immerhin luden sie ihn zu einem weiteren Vorspiel ein, zu einem späteren Zeitpunkt.
Nach seiner Rückkehr durfte er wieder in seinem heimatlichen Wirkungskreis, einem musischen Gymnasium, mit einem Lehrangebot, das der Waldorfpädagogik nahe stand, seine Stimmgabel aus der Tasche ziehen und sie erklingen lassen. Hier schien die Welt für ihn noch in Ordnung zu sein. Sie wussten seine Begabung zu schätzen. Sein Musiklehrer hatte seinen Drang erkannt, sich zu präsentieren und ihm allein das Privileg übertragen, für sie alle bei einer musikalischen Darbietung den Ton anzugeben - mit all dem Gehabe, das er inzwischen zu einer ihm eigenen Kunstform entwickelt hatte.
Das eigenartige Szenario hatte er bei einem Professor der Neurologie beobachtet, einem engen Vertrauten seiner geliebten Mutter. Dort saß er diskret hinter einem Vorhang und sah zu, wie er mit seinen vorwiegend weiblichen Patientinnen verfuhr. Fast schon routinemäßig und immer zu Beginn einer Behandlung schlug er eine Stimmgabel an, ließ sie einen Augenblick lang vibrieren und legte sie - für Hanno etwas zu theatralisch - in einem weit ausholenden Bogen an ihr Knie. Geduldig wartete er dann auf ihre Reaktion. Manchmal wartete er vergebens. Kein gutes Zeichen, murmelte er dann vor sich hin und wiederholte die Prozedur. Sogar Hanno hinter dem Vorhang konnte die Enttäuschung des Neurologen wahrnehmen. Denn es ereignete sich leider viel zu oft, dass die Patientinnen weder die Vibration noch die Kälte des Metalls wahrnehmen konnten.
Sie gaben ihm dann zu verstehen – ja, sie forderten ihn geradezu auf - weiter auszuholen, vielleicht mit einem noch kraftvolleren Schwung und einem noch stärkeren Druck auf ihr Knie. Und wenn erforderlich, am Schienbein runter bis zum Knöchel. Hanno hinter dem Vorhang konnte es nicht fassen, dass eine Patientin ihm, dem Herrn Professor für Neurologie, Anweisungen gab, wie sie behandelt werden wollte. Eine Patientin ging sogar so weit ihn aufzufordern, endlich seine Zurückhaltung aufzugeben. Wird er ihrer Aufforderung nachkommen? Wird er sich von ihr, einer Unwissenden, vorschreiben lassen, wie er sein Geschäft zu betreiben hat? fragte er sich.
Oder wird der Herr Professor in seiner dezenten Art das Ganze einfach als Missverständnis abtun? Mit fünfzehn hatte Hanno schon einiges an Aufklärungsliteratur gelesen - daran hatte seine fürsorgliche Mutter schon zu Beginn seiner Pubertät gedacht und wie zufällig einige Schriften zu diesem Thema in der Wohnung herumliegen lassen. Und er nahm sich für seine einsamen Abendstunden das eine oder andere Blatt mit in sein Zimmer, wo er seiner Fantasie freien Lauf lassen konnte. Wusste ihr Mann zum Beispiel, was seine Frau trieb, wenn sie die Neurologie aufsuchte? Wusste er, dass sie drauf und dran war, einen Neurologen anzumachen?