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Seit ihrem abenteuerlichen Kurztrip nach Mailand verbindet die 16jährige Lea Winterberg und den 30jährigen Maik Mamba eine besondere Beziehung. Sie waren zwischen die Fronten zweier rivalisierender Banden von Juwelendieben geraten und entkamen nur dank des entschlossenen Eingreifens von Sir Mortimer Rooster, einem britischen Adeligen. Und nun leben sie bei ihm auf seinem Landgut Cabot Green in West Sussex nahe dem beschaulichen Örtchen Long Nickleby, wo niemals etwas passiert. Doch dann entgehen sie knapp einem Unfall, und ihnen wird klar, dass dieser Anschlag Sir Mortimer gegolten hat. Und dass es nicht der erste ist. Wer steckt hinter diesen gefährlichen Attacken? Plötzlich gibt es eine ganze Reihe von Verdächtigen. Dann verschwindet Sir Mortimers Verwalter spurlos. Und Lea und Maik geraten in tödliche Gefahr.
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Seitenzahl: 312
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Seit ihrem abenteuerlichen Kurztrip nach Mailand verbindet die 16jährige Lea Winterberg und den 30jährigen Maik Mamba eine besondere Beziehung. Sie waren zwischen die Fronten zweier rivalisierender Banden von Juwelendieben geraten und entkamen nur dank des entschlossenen Eingreifens von Sir Mortimer Rooster, einem britischen Adeligen. Und nun leben sie bei ihm auf seinem Landgut Cabot Green in West Sussex nahe dem beschaulichen Örtchen Long Nickleby, wo „niemals etwas passiert“.
Doch dann entgehen sie knapp einem Unfall, und ihnen wird klar, dass dieser Anschlag Sir Mortimer gegolten hat. Und dass es nicht der erste ist. Wer steckt hinter diesen gefährlichen Attacken? Plötzlich gibt es eine ganze Reihe von Verdächtigen. Dann verschwindet Sir Mortimers Verwalter spurlos. Und Lea und Maik geraten in tödliche Gefahr.
Karin Dörnhofer-Neumann ist 1960 in München geboren und lebt mit ihrer Familie in Rheinhessen. Schon während ihrer Schulzeit war sie berüchtigt für ihre fantasievollen Deutsch-Aufsätze, veröffentlichte im Jahr 1988 jedoch zunächst ein Sachbuch mit dem Titel "Sekretariat". Im Jahr 2021 folgte ihr erstes Kinderbuch, 2022 ein Kriminalroman für junge Leser. "Es passiert nie etwas in Long Nickleby" ist dessen Fortsetzung.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Es war an jenem Samstagabend im September, als mir zum ersten Mal bewusst wurde, dass Mortimer Angst hat.
Er, Maik und ich hatten einen saustarken Abend mit meiner Klassenkameradin Larissa Peabody und ihrem Bruder Kevin in Rudy's Splendid Italian Restaurant in Long Nickleby verbracht. Mortimer und Maik hatten sich immer wieder von dem Chianti nachschenken lassen und waren am Ende ziemlich abgefüllt. Aus der antiquierten Jukebox dudelte ein fetziger Achtzigerjahre-Hit nach dem anderen, und Mortimer und Maik sangen lauthals mit. Ein paar Mal konnten Larissa, Kevin und ich uns vor Lachen kaum noch halten. Es war grandios!
Kevin, der grundsätzlich nur Cola oder Wasser trank, bot sich an, uns in seinem Pick-up mitzunehmen, unseren Land Rover ließen wir über Nacht im Dorf stehen. Seit meinem megapeinlichen Ausrutscher in Mailand vor zwei Monaten mied ich Alkohol wie der Teufel das Weihwasser. Außerdem hätte Rudolfo „Rudy“ Camelotti, ein waschechter, lockenköpfiger Sizilianer, mir und Larissa niemals so etwas ausgeschenkt. Man nahm es hier in England mit den Gesetzen für Minderjährige ziemlich genau.
Kevin setzte uns um kurz nach Mitternacht am Eingangstor von Mortimers Hofgut Cabot Green ab. Ich hakte die beiden grölenden Männer kichernd unter, um sie heil ins Wohnhaus zu bringen. Zuvor drückte ich auf den Lichtschalter für die Hofbeleuchtung. Weil der nur ein hohles Klacken von sich gab, aktivierte ich die Taschenlampe meines Handys.
In diesem Augenblick bemerkte ich, dass eine spürbare Veränderung mit Mortimer vor sich ging. Er beendete abrupt sein quäkendes Duett mit Maik vom Drunken Sailor und versteifte sich. Während Maik weiterträllerte, wurden Mortimers Schritte schleppender. Noch trennten uns etwa hundert Meter vom Wohnhaus. Die Nacht war schwärzer als schwarz, nur das krächzende Bellen eines Fuchses und Maiks blecherne Singstimme unterbrachen die Stille.
„Ach, ist das schön!“, juchzte dieser und wiegte sich beim Gehen hin und her. Ich hatte Mühe, die beiden Männer vor dem Umfallen zu bewahren.
Mann! Es war ein klasse Abend gewesen! Rudy hatte es einfach drauf, Stimmung zu machen. Aber jetzt spürte ich mit jedem Schritt Mortimers wachsende Unruhe.
„Geht es dir nicht gut?“, fragte ich.
Erst schien er mich nicht zu hören, dann zuckte er zusammen. „Was ...? Doch, doch, ich ... was ist nur mit der Hofbeleuchtung los?“
„Ach, die!“ Maik gackerte. „Da ist wieder die Sicherung rausgerutscht.“ Er verhaspelte sich an dem letzten Wort, was ihn erst recht losprusten ließ.
Die restlichen Meter bis zur Haustür begann Mortimer fast zu rennen. Sein Kopf schwenkte hin und her, als lauerte hinter jedem Busch ein Monster. Beim Versuch, den Schlüsselbund aus seiner Hosentasche zu ziehen, fiel der ihm auf den drei Stufen zu Boden. Ich hörte ihn vor Schreck schnappatmen, dann bückte er sich ruckartig.
„Ups!“, witzelte Maik und hickste. „So was aber auch!“
Mit fahrigen Fingern versuchte Mortimer aufzuschließen, aber erst beim gefühlt zwanzigsten Mal rutschte der Schlüssel in das Schloss, und die schwere Eichentür schwang auf. Mortimer drängte sich vor uns hinein und entschuldigte sich im nächsten Augenblick für seine Unhöflichkeit. Aber Maik hatte gar nichts bemerkt. Er torkelte johlend die Treppe hinauf in sein Schlafzimmer, krachte auf sein Bett und schlief innerhalb weniger Minuten mitsamt seinen Klamotten ein.
Mortimer kippte in der halbdunklen Küche ein großes Glas Wasser fast in einem Zug hinunter. Dann erst sah er mich in der offenen Tür stehen.
„Was ist los mit dir?“ Ich ergriff seinen Arm und drückte ihn. Etwas Kaltes rann mir plötzlich den Rücken hinunter.
Er aber lächelte entschuldigend. „Ich habe wohl einen Roten zu viel getrunken. Das bin ich nicht mehr gewöhnt. Es tut mir sehr leid.“
„Was hat dich erschreckt?“
Jetzt tat er überrascht. „Erschreckt? Nichts! Ich bin nur müde. Und sehr, sehr glücklich.“
Ich nickte ohne Überzeugung. Aber es war zu spät am Abend, um weiter darüber zu diskutieren.
Ein spontaner Gedanke drängte sich mir auf. Mortimer hatte Maik und mich womöglich nicht nur deshalb bei sich aufgenommen, weil er ein rührend lieber Mensch war, sondern weil es da noch etwas anderes gab.
Er brauchte uns.
Vielleicht mehr als wir ihn?
„Lea! Schläfst du?“
Ich blinzle einen wirren Moment in das Dunkel des Zimmers, nehme schattenhaft Maiks Gestalt wahr. Dann atme ich tief durch und grinse. „Jetzt nicht mehr.“
„Sorry vielmals. Ich dachte nur, du hättest es auch gehört.“
„Was gehört?“
„Da draußen läuft wieder jemand herum.“
„Hä?“ Jetzt bin ich wach.
„Habe ich es dir nicht erzählt?“
„Nö. Aber ich bin sicher, du wirst es gleich tun.“
Er stapft zu meinem Fenster, das wie seins zu den Stallgebäuden hinausgeht. „Ich bin deswegen schon ein paar Mal wachgeworden.“
„Um ein Uhr nachts?“
„Ja. Immer um diese Zeit.“
„Und du bist sicher, dass du dir das nicht eingebildet hast?“
„Nein. Großes Luke-Skywalker-Ehrenwort.“
Ich gähne und rolle die Bettdecke zur Seite, stehe auf und schaue wie er angestrengt hinaus. Finsternis pur. Am Himmel die schwärzesten Wolken, wie es sie nur in England gibt. Glaube ich jedenfalls. In Bad Steinach war das nie so. Und ich spüre wieder die Stille. Eine Stille, die einem die Ohren sprengt.
Jetzt, nach zwei Monaten, habe ich mich daran gewöhnt, auch an den scheinbar immerwährenden Regen. Kein Wunder, dass Maik nicht schlafen kann und Gestalten herumhuschen sieht, wo garantiert keine sind.
„Okay. Schauen wir nach!“
Sofort huscht er auf Zehenspitzen zu meiner Zimmertür.
„Maik!“, halte ich ihn zurück und unterdrücke ein Lachen.
„Ja?“
„Zieh dir etwas an.“
Er sieht verwirrt an seinem Schlafanzug hinunter. „Ups ...du hast Recht. Warte einen Moment, bin sofort wieder da!“
Er stürzt zur Verbindungstür zwischen unseren Zimmern und verschwindet dahinter. Das ist einer der Augenblicke, in denen ich ihn knuddeln könnte. Maik bleibt Maik, auch wenn er glaubt, ein Jedi-Ritter zu sein.
Zwei Minuten später schleichen wir beide die breite Treppe ins Erdgeschoss hinunter und weichen dabei den knarrenden Stufen aus.
„Nehmen wir Bouncer mit?“, flüstert er.
Ich werfe einen skeptischen Blick auf Mortimers altersschwachen Labrador, der uns schwanzwedelnd entgegenhumpelt und Streicheleinheiten einfordert.
„Warum nicht? Wenn da draußen jemand ist, wird er ihn zu Tode lecken.“
Maik kichert. Wir schlüpfen in unsere Regenmäntel und Gummistiefel. Vorsorglich ziehe ich Bouncer sein wasserdichtes Cape an, denn bei den derzeit herrschenden Temperaturen könnte es dem alten Jungen zu kalt werden. Er hechelt freudig und sabbert meine Stiefelspitzen voll.
Und dann stapfen wir draußen durch den Regen.
„Am besten lassen wir das Hoflicht aus“, murmelt Maik, „damit er uns nicht kommen sieht. Sonst erwischen wir den Kerl nicht.“
„Bist du sicher, dass es ein Kerl ist?“
„Mhm ... weiß nicht. Ist auch egal.“
„Wo hast du ihn zuletzt gesehen?“
„Beim Stutenstall. Er ist durch die vordere Tür rein.“
„Ganz sicher?“
„Ganz sicher!“
Spätestens jetzt ist meine Abenteuerlust geweckt. So geräuschlos wie möglich überqueren wir das aufgeweichte Stück Weg bis zu der Schiebetür und horchen angestrengt, ob dahinter Geräusche sind. Nichts. Maik öffnet langsam, dennoch entsteht das unvermeidliche Kratzen der Rollen auf der Schiene. Wieder lauschen wir, aber es sind keine Schritte oder Ähnliches zu hören. Wir schlüpfen hinein und sehen uns um. An den Wänden hängen in Kopfhöhe Nachtlichter, sodass wir uns orientieren können.
Zunächst einmal scheint alles in Ordnung zu sein, auch Bouncer verhält sich unauffällig. Wir sind hier am Anfang der Boxenreihe. Einige der Stuten mümmeln friedlich ihr restliches Heu, andere kauern auf ihrem Lager aus Stroh und dösen, nur eine liegt wie erschossen auf der Seite. Aber das sei bei Pferden das Zeichen einer kurzen Tiefschlafphase, hat Mortimer uns erklärt. Kein Grund zur Besorgnis.
Wir haben das Ende der Gasse fast erreicht, als uns ein metallenes Scheppern zusammenfahren lässt. Ganz klar, da ist jemand gegen einen der schweren Tränkeimer in der Futterkammer gestoßen. Bouncer hat auf einmal einen wachsamen Ausdruck im Gesicht, stößt ein dunkles Wuff aus und trabt los. Das kurze Bellen hallt von den Wänden wider, und eine Sekunde später hören wir eindeutig Schritte. Jemand verlässt den Stall durch die hintere Tür, die wir von unserer Position aus nicht sehen können, weil die Gasse ein paar Meter weiter eine Biegung nach rechts nimmt.
Wir rennen los.
„HALT! STEHENBLEIBEN!“, ruft Maik, aber die Schritte verklingen.
Wir stürzen hinaus. Maik rutscht auf dem schlammigen Boden aus und kann sich gerade noch auf den Beinen halten. Jetzt schalte ich meine große Taschenlampe ein und leuchte damit das Areal vor uns aus. Links ist der Misthaufen, dahinter eine langgezogene, meterhohe Hecke, die den Eindringling ausgebremst hätte. Bleibt nur der Weg zu der Dreifachgarage, in der Mortimers Fahrzeuge stehen. Sämtliche Türen sind geschlossen, dennoch werfen wir einen Blick hinein. Maik schaltet die Neonröhren an, die ein paar Sekunden brauchen, bis sie aufflammen. Der Land Rover, der Kastenwagen und der Healey Elliott stehen an ihren Plätzen. Wieder ruft Maik eine Warnung, aber nichts rührt sich. Ich schnappe mir einen Besen und bin bereit, den Stiel als Waffe einzusetzen, wenn es sein muss. Bouncer trottet mit der Nase am Boden zum Rover und bleibt davor stehen. Er japst.
Aber nach ein paar Sekunden hat er das Interesse verloren und kommt zu uns zurück. Maik lobt ihn.
Ich grinse. „Was hat er denn gut gemacht?“
„Er hat uns gezeigt, dass hier niemand ist.“
„Pfff! Kann es nicht sein, dass er nach etwas Fressbarem gesucht und nichts gefunden hat?“
„Aber da war jemand, du hast es doch selbst gehört.“
„Okay, okay. Sehen wir draußen nochmal nach, vielleicht finden wir Fußspuren.“
Wir finden welche. Ganz viele. Was keine Sensation ist, denn die meisten davon stammen wohl von uns, Mortimer und dem Stallpersonal.
„Mist!“, gibt Maik sich geschlagen.
„Sei froh, dass wir niemanden gefunden haben. Am Ende ist derjenige bewaffnet und bedroht uns.“
Ich zucke bei meinen eigenen Worten zusammen. Für den Bruchteil einer Sekunde habe ich wieder einen der gefürchteten Flashbacks und höre das gedämpfte Pfeifen der Pistolenkugeln, mit denen meine Tante vor drei Monaten die gesamte Mannschaft ihres verbrecherischen Gegners in weniger als dreißig Sekunden niedergestreckt hatte.
Der Augenblick ist genauso schnell vorbei, wie er kam, und ich atme tief durch. Wir bleiben noch ein paar Minuten unter dem Dachvorsprung der Garage stehen und leuchten die freie Fläche vor uns aus. Alles ist still.
„Aber du hast es doch auch gehört?“, beharrt Maik.
Ich nicke. „Da war jemand, keine Frage. Wir schauen morgen nochmal gründlich nach, vielleicht finden wir etwas.“
Wir sind auf dem Rückweg zum Haus, als Bouncer ein Grunzen ausstößt und ein paar Meter wegläuft. Mit etwas Dunklem im Maul kehrt er zu uns zurück und legt es uns vor die Füße.
Maik bückt sich. „Woah! Ein Handschuh! Ich glaube nicht, dass der einem von uns gehört.“
Ich betrachte ihn. Er ist aus dunkler Wolle und sieht aus wie selbstgestrickt. „Wir sollten ihn wieder hinlegen.“
„WAS? Warum?“
„Ich glaube, da war bloß ein Obdachloser, der einen trockenen Platz für die Nacht gesucht hat und jetzt wartet, dass wir endlich verschwinden, damit er ihn zurückholen kann.“
„Meinst du echt?“
„Yep.“
„Okay ..." Er legt ihn zögernd auf eine trockene Stelle unter dem Dachvorsprung des Stutenstalls. Dann druckst er eine Weile herum, bis er fortfährt: „Aber wenn es nun kein Obdachloser war ..."
Ich denke einen Moment über diese Möglichkeit nach.
Auch mir ist nicht wohl bei den Gedanken, dass jemand sich nachts bei Mortimers wertvollen Pferden aufhält. Ich habe vollstes Verständnis für Menschen, die kein Zuhause haben, weiß aber, dass falsch verstandene Tierliebe ein Pferd das Leben kosten kann, und Unwissenheit ist manchmal schlimmer als böser Wille.
Doch dann zucke ich mit den Schultern. „Es ist ihnen ja nichts passiert. Gehen wir wieder schlafen.“
Als Maik und ich am nächsten Morgen zum Frühstück kommen, finden wir Mortimer dort bereits vor. Weil er den Mund voll hat, hebt er die Hand zum Gruß und lächelt.
Noch immer macht mein Herz vor Freude einen Satz, wenn ich seinen liebevollen Blick auf mir fühle. In den ersten Nächten hier auf Cabot Green träumte ich oft, ich sei wieder in meinem Zimmer bei Tante Katrina in Bad Steinach und würde Jonas die Treppe hochkommen hören. Ich starrte auf die Klinke, die sich langsam nach unten drückte, und dann stand Jonas vor mir. Angst und Verzweiflung schnürten mir die Luft ab ... Dann wachte ich auf und hörte das leise Schnarchen von Maik durch die offene Verbindungstür zwischen unseren Zimmern.
Ich hätte jedes Mal vor Erleichterung heulen können.
„Ich hoffe, ihr beide hattet eine angenehme Nacht.“
„Geht so“, antworte ich und bediene mich an dem typisch englischen Buffet, das Ms Miller wie jeden Morgen an der langen Seite des Esszimmers hergerichtet hat.
„Wie darf ich das verstehen?“
Ich blinzle Maik zu, und er berichtet von unserem nächtlichen Ausflug. Dabei registriere ich, wie Mortimers Gesicht in Zeitlupe versteinert. Ich wechsle einen Blick mit Maik, ihm ist es auch aufgefallen.
Es dauert ein paar Sekunden, bis Mortimer etwas sagt.
„Das war nicht ungefährlich. Warum habt ihr mich nicht geweckt?“
„Wir hatten Bouncer bei uns“, erkläre ich. „Außerdem mussten wir schnell handeln, um den Typ noch zu erwischen.“
„Und? Liegt er jetzt gefesselt und geknebelt in der Scheune?“
Ich gackere los. „Nö, leider nicht. Er war wie vom Erdboden verschluckt.“
Mortimer runzelt die Stirn. „So einen Fall hatten wir bisher noch nie. Die Stalltüren sind nicht verriegelt, damit die Pferde in einem Notfall schnell nach draußen gebracht werden können. Hank soll heute alles überprüfen.“
„Im Stutenstall war alles okay“, füge ich hinzu. Dann wage ich einen Frontalangriff: „Du siehst erschrocken aus.“
Mortimer atmet tief durch. „Ich möchte nur nicht, dass den Tieren etwas geschieht.“
„Dann sollten wir uns einen ordentlichen Wachhund anschaffen“, schlägt Maik vor. „Oder besser zwei. Auf Bouncer kann man da eher nicht zählen.“
Bei der Erwähnung seines Namens kommt der Labrador angeschlurft und lässt sich am Kopf kraulen.
Mortimer räuspert sich. „Eine Idee, über die wir nachdenken sollten. Ich spreche mit Hank darüber. Auf jeden Fall bin ich sehr froh, dass euch beiden nichts passiert ist.
Mir ist bekannt, Maik, dass du ein unschlagbarer Held bist, aber wir wissen nicht, mit wem wir es da zu tun haben.“
Ich wiederhole meine Theorie von einem harmlosen „ Übernachtungsgast“.
Allmählich glätten sich Mortimers Gesichtszüge. „Wir kümmern uns darum, sobald ich aus Edinburgh zurück bin. Und ihr beiden wollt wirklich nicht mitkommen?“ Er zwinkert uns einladend zu.
Ich seufze. „Das würde ich wahnsinnig gern, aber wir schreiben heute und morgen zwei wichtige Klausuren.“
„Und mir will Marvin Springunterricht geben“, ergänzt Maik und verzieht das Gesicht.
„Das hört sich aber nicht sehr begeistert an.“ Mortimer schmunzelt. „Springen sollte man können, wenn man hier ausreitet.“
„Schon klar. Ich schaffe das.“ Maik reckt den Daumen und vertieft sich in seine Eier mit Speck.
Ich weiß, was ihn bedrückt. Es ist nicht das Springreiten als solches, sondern, dass Marvin den Unterricht gibt.
Maik und ich reiten erst, seit wir vor zwei Monaten hierher nach Cabot Green kamen. Maik ist noch immer mit Feuereifer dabei, tut sich aber wegen seines Übergewichts schwerer als ich und ist schon etliche Male vom Pferd gepurzelt, zum Glück jedes Mal ohne Blessuren.
Aber er ist ein Kämpfer und würde niemals aufgeben. Es ist nur, dass ...
Ich öffne den Mund, um Mortimer den wahren Grund für Maiks Bedenken zu sagen, aber der schüttelt nur für mich sichtbar den Kopf, als ich ihn ansehe. Das passt schon, will er damit sagen. Der Meinung bin ich zwar nicht, halte aber den Schnabel. Wieder einmal. Wir wollen Mortimer nicht noch mehr beunruhigen.
Denn dass mit ihm etwas nicht stimmt, steht für uns beide außer Zweifel. Die heitere Gelassenheit, die er in Mailand an den Tag gelegt hat, ist fort. Er wirkt schweigsamer und bedrückt. Bloß ... wie können wir ihm helfen, wenn er es nicht zugibt? Eine Weile essen wir schweigend. Dann wischt sich Mortimer mit einer Serviette den Mund ab und lächelt. „Ich werde in einer halben Stunde nach Edinburgh aufbrechen. Ihr beide kommt doch bis morgen Abend ohne mich klar?“
„Bingo!“
„Und ihr versprecht mir, heute Nacht in euren Betten zu bleiben.“
„Klar!“
Mortimer steht kurz vor dem Abschluss eines phantastischen Geschäfts. Melrose Ardry, ein schottischer Unternehmer und alter Bekannter von ihm, will für seine Söhne zwei von Mortimers Hochklasse-Dressurpferden kaufen. Mortimer hat sie selbst gezogen und von seinen Bereitern Ian und Marvin ausbilden lassen. Der Verkauf ist praktisch in trockenen Tüchern, Mortimer will sich nur noch die Ställe dort anschauen und dann sein endgültiges Okay geben.
Wir verabschieden uns herzlich voneinander, dann steht Hank Grimson, Mortimers Gutsverwalter, in der Tür. Er wird ihn nach London zum Flughafen bringen. Mortimer berichtet ihm von unserem nächtlichen Erlebnis.
Hanks Gesichtszüge entgleisen. „WAS? Hier auf dem Gut? Ein Irrtum ist ausgeschlossen?“ Er wirft einen skeptischen Blick auf Maik und mich.
Ich fühle Wut in mir aufsteigen. „Wir haben es beide gesehen.“
Hanks Mundwinkel verziehen sich spöttisch. „Ich kümmere mich darum. Aber jetzt sollten wir losfahren, Sir, sonst verpassen Sie Ihren Flieger.“
Wir folgen den beiden zum bereitstehenden Land Rover.
Eine letzte Umarmung, dann winkt uns Mortimer vom Beifahrersitz aus zu. Hank nimmt keine Notiz mehr von uns.
Idiot!
Maik fährt mich wie immer mit dem rosa VW Bulli, seinem heißgeliebten historischen Campingbus, zur Highcliffe School.
Ich wäre genauso gern auf ein staatliches britisches Gymnasium gegangen, aber die Highcliffe ist nur elf Kilometer von Cabot Green entfernt, und Mortimer kennt Charlotte Livington, die Leiterin, persönlich. Ich bekam dort kurzfristig einen Platz. Was der im Jahr kostet, möchte ich nicht wirklich wissen.
Anfangs fand ich es gewöhnungsbedürftig, eine Schuluniform zu tragen. Zum Glück besteht diese Kluft aus einer bequem geschnittenen, marineblauen Hose, einem gleichfarbigen Blazer und einem weißen Poloshirt, die letzten beiden Teile mit aufgesticktem Schulemblem.
Zum Glück eine Hose, denn ich hätte mich strikt geweigert, einen Rock zu tragen.
Ich musste feststellen, dass ich im Vorfeld nur eine lückenhafte Vorstellung von britischen Privatschulen hatte. Außer mir und meiner Banknachbarin Larissa Peabody gibt es weitere Tagesschüler, die übrigen sind in den beiden altehrwürdigen Internatshäusern untergebracht. Das ganze Umfeld ist einfach ... wow! Es gibt zwei Gruppen: Die „Juniors“ besuchen die Preparatory School, und wir ab 13jährigen die Senior School, in der wir gezielt auf die A-Levels, das britische Abitur, vorbereitet werden. Auch wir Tagesschüler sind voll ins Schulleben integriert und gehören einem „Haus“ an, werden aber zum Glück nicht in gleichem Maße wie die Internatsschüler zum Teamsport angetrieben.
Alter Finne! In den Schulmannschaften für Cricket, Hockey und Rugby geht die Post ab! Die nehmen das hier bierernst, angeknackste Nasen und geprellte Schienbeine sind an der Tagesordnung. Ein Mitschüler hatte in der letzten Rugby-Saison fast ein Auge verloren.
Trotzdem werden Gemeinschaftssinn und höflicher Umgang miteinander großgeschrieben. Jeder Schüler soll sich zu einer selbstbewussten Persönlichkeit entwickeln.
Unsere Hausleiterin, Ivy Madison, steht voll hinter uns, wir können echt mit allem zu ihr kommen.
Im Unterricht liegt der Schwerpunkt auf individuellem Lernen. Dass jemand am Ende einer Stunde den Stoff nicht kapiert hat, gibt es praktisch nicht. Und dass Schüler und Lehrer sich mit Vornamen anreden, lockert die Atmosphäre zusätzlich auf.
Fakt ist: Es hat mir vom ersten Tag an auf der Highcliffe supergut gefallen. Wir alle mussten eine Aufnahmeprüfung über uns ergehen lassen. Jetzt, nach zwei Monaten, kommt es mir vor, als sei ich nie woanders gewesen.
Heute schreiben wir eine anspruchsvolle Klausur in Mathe, die diszipliniert über die Bühne geht. Am Ende stöhne auch ich und stürze mich in die Pause. Wie immer belagern wir den achteckigen Kiosk im Schulhof und lassen uns die Leckereien aus der örtlichen Bäckerei schmecken. Ein Wunder, dass ich noch nicht zugenommen habe.
Ich berichte Larissa von unserem nächtlichen Ausflug.
Wie ich mir schon gedacht habe, reißt sie vor Sensationsgier die Augen auf. „Erzähle! Habt ihr ihn geschnappt? Ihr habt ihn entwischen lassen? Wieso das denn?“
Ich winke lachend ab. Sie ist unverbesserlich. Dann frage ich sie beiläufig, ob sie jemanden kennt, der Wachhunde züchtet.
Sie hebt die Brauen und grinst. „Du machst Witze!“
„Warum?“
„Mein Vater züchtet Airedale Terrier. Habe ich dir das noch nicht erzählt?“
Jetzt bin ich es, die dumm aus der Wäsche guckt. „Nein, nicht dass ich wüsste.“
„Dann habe ich es vergessen zu erwähnen.“
„Das ist ja cool! Ihr habt nicht zufällig einen zu verkaufen?“
„Doch, ja, aber nicht zufällig.“
„Hey! Das wäre für uns genau das Richtige.“
„Sicher sogar. Wir haben aus dem Wurf vom Februar zwei Rüden übrig, die Kevin eventuell behalten wollte.
Er bildet sie gerade aus.“
„Meinst du, er würde sie uns geben?“
„Mhm ... schon möglich. Aber ... du weißt, dass euer Verwalter Hunde nicht ausstehen kann?“
„Hank?“
„Mhm, ja. Er ist mal von einem gebissen worden.“
„Woher weißt du das?“
Sie grinst. „Long Nickleby ist mit Sicherheit der langweiligste Ort auf den Britischen Inseln. Hier passiert niemals irgendwas, da stürzen sich die Leute auf jede Neuigkeit, und wenn wirklich jemand ein Geheimnis hütet, dann nicht lange. Jeder weiß über jeden Bescheid.“
„Ups! Auch über uns?“
„Auch über dich und deinen Lover. Dass ihr bei Sir Mortimer lebt und eine schlimme Zeit hinter euch habt. Mehr nicht. Schade.“ Sie zwinkert mir hoffnungsvoll zu.
Ich räuspere mich ein wenig verschnupft. „Maik ist nicht mein Lover.“
Sie zieht die Brauen in die Höhe. „Nicht? Was dann?“
„Ein sehr lieber Freund. Wir kennen uns erst seit knapp drei Monaten.“
„Echt jetzt? Ihr seht aus wie ein altes Ehepaar. Wie alt ist er?“
„Dreißig geworden.“
„Puh! Schon so alt! So sieht er gar nicht aus. Du stehst auf ältere Männer?“
Ich funkle sie an. „Jetzt redest du Blödsinn! Lass das! Du hast keine Ahnung, was wir zusammen durchgemacht haben, also halte die Klappe, ja?!“
Sie hebt kichernd beide Hände. „Hab's nicht so gemeint, sorry! Dann hat Kev ja Chancen bei dir.“
Ich starre sie an. „Kevin, dein Bruder?“
„Kennst du sonst noch einen Kevin? Klar! Er steht auf dich.“
Ich tippe mir an die Stirn. „Das bildest du dir ein.“
„Tue ich nicht.“
Kevin ... okay, er ist ein ganz netter Kerl und für jeden Jux zu haben, aber ich kann mir nicht vorstellen, mich in ihn zu verlieben. Oder in irgendjemanden sonst. Außerdem gehören dazu immer zwei. Ich habe mich daran gewöhnt, ein Außenseiter zu sein, es stört mich nicht mehr. Der megapeinliche letzte Versuch mit Ben, einem extrem gutaussehenden Schulkameraden von mir, hat mir genügt. Mit meinen dünnen, rotbraunen Haaren und meiner kriminellen Vergangenheit bin ich nicht der Typ, in den man sich verliebt. Außerdem haben die Jahre unter der Fuchtel von Jonas jegliches Gefühl für das Gute im Mann in mir zerstört. Männer sind Scheiße!
Okay, es gibt zwei Ausnahmen. Sie heißen Maik und Mortimer. Aber sonst ... nö! Eher nicht!
„Was habt ihr denn zusammen durchgemacht?“, fragt sie scheinbar desinteressiert und knabbert an einem mit rosa Zuckerguss überzogenen Muffin. Dabei blitzt ihr die Neugier aus jedem Knopfloch.
Ich werde ihr kaum unter die Nase reiben, dass Maik und ich vor drei Monaten in einem geklauten Maserati nach Mailand geflohen sind, um meine Tante zu suchen und zu retten. Am Ende hatten wir alle Hände voll damit zu tun, uns selbst zu retten. Gerade jetzt haben meine Albträume aufgehört.
Als der Gong zur nächsten Stunde ertönt, machen wir beide aus, dass ich morgen Abend mit Mortimer über die Hunde spreche und sie ihren Bruder fragt, und dass wir sie uns anschauen.
Um 16.30 Uhr ist der Unterricht zu Ende. Mir fällt sofort auf, dass Maiks Bulli nicht wie sonst am Eingangstor steht. Ohne dass ich es verhindern kann, beginne ich zu frieren. Zu allem Übel fängt es stärker an zu regnen. Ich stelle mich zusammen mit Larissa unter das Dach der Bushaltestelle. Sie wird heute von Kevin abgeholt. Ihre Eltern besitzen die Lakewell Farm in Petworth, das liegt ein ganzes Stück südlicher von uns, und natürlich kennt sie Mortimer. Wie immer schnattert sie unbekümmert über Gott und die Welt, bis der Pick-up ihres Bruders am Ende der Straße auftaucht.
Noch immer ist der Bulli nicht zu sehen. Inzwischen hat sich mein Herzschlag verdoppelt. Ich krame mein Handy hervor und versuche, Maik zu erreichen, aber er hebt nicht ab. Hält Marvin ihn absichtlich länger in der Reitstunde fest? Aber warum geht er dann nicht ran? Kevin hält neben uns, und sein Gesicht leuchtet auf, als er mich sieht.
Er ist das exakte Gegenteil von Larissa: Hoch aufgeschossen, rothaarig und mit dem Gesicht voller Sommersprossen, genau wie sein Vater. Sie dagegen kommt von der Statur her nach ihrer drahtigen kleinen Mutter. Wenn man davon absieht, dass die nicht an allen möglichen und unmöglichen Körperteilen gepierct ist und sich die langen Haare strähnchenweise bunt gefärbt hat. Ein Paradiesvogel ist nichts gegen Larissa.
Kevin lächelt mir vom Fahrersitz aus zu.
„Warum fährst du nicht mit uns mit?“, bietet sie an.
Kevin macht sofort eine einladende Handbewegung.
„Der Umweg ist für uns kein Problem“, beteuert er, „wir haben keine Eile. Wenn wir Maik unterwegs treffen, gebe ich ihm mit der Lichthupe ein Zeichen.“
Ein wenig verlegen willige ich ein, und wir brummen in dem mittlerweile strömenden Regen los. Larissa hat sich auf die Rückbank gesetzt und mir feixend den Platz neben Kevin gelassen.
Meine Unruhe wächst. Obwohl ich mir versuche einzureden, dass mit Sicherheit rein gar nichts passiert ist, werde ich das beschissene Déjà-vu-Gefühl nicht los.
Genauso war es damals in Mailand: Maik war nur kurz losgezogen, um Frühstück für uns zu holen. Aber er kam nicht zurück. Dass Hofstädters Männer ihn geschnappt hatten, erfuhr ich erst später.
Die Erinnerung daran lässt mein Herz wummern. Lieber Gott, bitte mach, dass ich mir das nur einbilde ...
Maik kommt uns nicht entgegen.
Die Fahrt in dem zwar praktischen, aber schlecht gefederten Pick-up gleicht einer Wüstenrallye, Kevin lässt kein Schlagloch aus.
Nach knapp zwanzig Minuten kommen wir in Cabot Green an.
Und genau da steht der Bulli an seinem Platz.
Von Maik ist nichts zu sehen.
Der Regen prasselt unvermindert herunter. Im Haus brennt kein Licht. Ein spontanes Gefühl sagt mir, dass ich Maik dort nicht finden werde. Obwohl es klüger wäre, erst meinen Regenmantel von der Garderobe zu holen, stapfe ich sofort zum Eingang der Reithalle und werde dabei von oben bis unten nass.
Im Vorbeigehen fällt mein Blick auf die uralte Eiche, in deren Stamm Maik an einem unserer ersten Tage hier unbemerkt etwas geritzt hat: L+M forever. Die Macht ist mit uns. Immer. Er muss Stunden dafür gebraucht haben.
Als ich es zum ersten Mal bemerkte, konnte ich mir ein breites Grinsen nicht verkneifen. Um es mit den Worten Erich Kästners zu sagen: Er ist das älteste Kind, das ich kenne. Aber ein sehr liebes Kind.
Die Reithalle liegt verlassen da, und es stehen eine Reihe hoher Hindernisse darin. Soll heißen: höher als ein Meter zwanzig. Ich schnaube. Jeder hier kennt Mortimers Anweisung, nach dem Ende einer Springstunde alle Stangen wieder wegzuräumen. Der Schwerpunkt seiner Pferdezucht liegt auf Dressur, und er hat zurzeit fünf hochkarätige Jungpferde in Ausbildung, für deren Beritt die Halle jederzeit zur Verfügung stehen soll. Ian Brewer, Mortimers erfahrenster Bereiter, kommt erst morgen aus dem Urlaub zurück. Wäre er hier, würde er das nicht dulden. Aber Marvin schert sich einen Dreck um so etwas.
Ich marschiere durch die Länge der Halle zur oberen Banden-Tür. Das ist von hier aus eine Abkürzung, die direkt in die Stallgasse der Jungpferde führt. Sie stehen in ihren Boxen und knabbern am Heu. Am Ende der Gasse gelangt man rechts in Mortimers privaten Trakt, in dem auch die Pferde untergebracht sind, die Maik und ich reiten. Ich habe eine brave schwarze Vollblutstute mit Namen Bella bekommen und Maik den fast zwanzig Jahre alten gutmütigen Warmblutwallach Dan. Beide stehen nebeneinander, und Dan hebt bei meinem Erscheinen den Kopf. Ich betrachte ihn mir aus der Nähe.
Er sieht nicht so aus, als sei er heute schon geputzt und geritten worden, an seiner linken Seite prangt ein großer Mistfleck. Das verstärkt meine Unruhe. Ebenso wie die Tatsache, dass niemand vom Personal zu sehen ist.
Jetzt renne ich fast durch den gesamten Stall, bis ich in der angrenzenden Scheune auf Mandy, das Stallmädchen, treffe. Bei meinem Anblick zuckt sie zusammen.
„Du hast mich erschreckt!“
„Was ist hier los?“, blaffe ich sie an und schäme mich gleich darauf für meinen patzigen Ton.
„Nichts ..."
„Was ist passiert?“ Denn dass etwas geschehen ist, sehe ich an ihrem flackernden Blick.
Aber sie heftet die Augen auf den hydraulischen Hubwagen, mit dem sie einen der großen Strohballen in Richtung Stallgasse schiebt. „Vielleicht ist er im Haus. Weiß nicht.“
Mehr ist aus der blöden Tussi nicht rauszukriegen. Ich schnaube. Verdammt! Warum bin ich nicht sofort dorthin gegangen?! Ich stürze wieder hinaus in den Regen und renne den ganzen Weg zurück.
Die Tür zum Haus ist nicht abgeschlossen. Ich reiße sie auf und stoße fast mit Maik zusammen. Er sieht aus, als würde er jeden Moment zusammenbrechen.
„Lea ... Es tut mir so leid, ich wollte dich abholen, aber ich ..."
Und dann klappt er vor meinen Augen zusammen.
Es dauert fast zwei Stunden, bis Dick Webster, Mortimers langjähriger Freund und Hausarzt, eintrifft und Maik mit gerunzelter Stirn untersucht.
Wie immer bin ich fasziniert von der Leibesfülle des „Doc" und dem Schnaufen, das jeder seiner Bewegungen folgt. Sein breites Gesicht ist von unzähligen Falten durchzogen, und seine stahlgrauen Haare sind akkurat gegelt, was ihm das Aussehen eines Hamsters verleiht.
Er sieht immer aus, als könne ihn gar nichts aus der Ruhe bringen. Ich finde ihn nicht verkehrt. Zumindest behandelt er Maik und mich nicht wie Schuhputzer.
Maik hatte ich nach meiner Ankunft ins Wohnzimmer auf die Couch verfrachtet und zugedeckt. Er lallte dabei etwas Unzusammenhängendes von Rocky und durchgegangen und mit dem Kopf an die Bande geknallt.
Rocky? Marvin hat ihm doch nicht etwa diesen temperamentvollen Vollblutwallach zum Reiten gegeben? Jeder hier weiß, dass er zwar sicher springt, aber kein Anfängerpferd ist.
Und noch immer haben sich weder Marvin, noch Hank blicken lassen.
Der Doc ist überzeugt davon, dass Maik eine mittelprächtige Gehirnerschütterung hat und empfiehlt, ihn noch heute Abend zur genauen Untersuchung ins Hospital zu bringen. Er reagiert verschnupft darauf, dass man Maik nach seinem Unfall allein hier im Haus gelassen hat. Was ich selbst darüber denke, schlucke ich im Augenblick hinunter. Wenn Mortimer von der Sache erfährt, wird das ein Nachspiel für alle Betroffenen haben.
Maik hyperventiliert fast, er will auf keinen Fall ins Hospital. Er beruhigt sich erst wieder, als der Doc sich einverstanden erklärt, ihm vorab ein wirksames Mittel gegen die Kopfschmerzen dazulassen und morgen früh nochmal vorbeizuschauen. Dann verabschiedet er sich.
Sein Dienst ist an diesem Tag noch nicht zu Ende.
„Du bleibst doch bei mir, Lea ...?" Maiks Stimme bricht.
Ich nicke grimmig. Und ob ich das tue! Ich widerstehe dem Drang, Mortimer anzurufen. Er kommt sowieso morgen Abend wieder, und ich will ihn nicht aufregen.
Sollte Maiks Zustand sich in der Nacht verschlimmern, muss er ins Hospital, darauf werde ich bestehen.
Aber jetzt beruhigt er sich zusehends, und die Wirkung des Medikaments setzt ein. Ich helfe ihm die Treppe hinauf in sein Bett, wo seine Augen sofort zufallen.
Kurz darauf höre ich Schritte im Erdgeschoss. Gertrude Miller, Mortimers Haushälterin, ist gekommen, um das Abendessen zu machen. Wie kaum anders zu erwarten, fängt sie sofort an, zu motzen, weil durch den Besuch des Doc im Wohnzimmer Unordnung entstanden ist. Das würde sie nicht tun, wenn Mortimer hier wäre.
Sie überschüttet mich wie gewohnt mit Vorwürfen. Bislang haben Maik und ich diesen Terror klaglos ertragen, weil sie schon seit Jahrzehnten in Mortimers Diensten steht und er große Stücke auf sie hält. Sie hat von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht, dass sie unsere Anwesenheit in diesem Haus missbilligt. Das macht uns zwar nicht froh, aber wir akzeptieren es schweigend.
Genauso wie das unverschämte Verhalten von Hank, Marvin und den Stallhelfern uns gegenüber.
Doch jetzt platzt etwas in mir. Okay, Maik hat mit seinen schmutzigen Klamotten die Couchlandschaft im Wohnzimmer versifft, aber nicht absichtlich. Ich drehe mich zu ihr um und hebe abwehrend die Hand. „Ist ja schon gut!“, schnauze ich zurück. Eigentlich hatte ich etwas Deftigeres auf den Lippen, aber ich beherrsche mich.
Ihre Krähenaugen hinter den dicken Brillengläsern treten fast aus den Höhlen. Ein paar Sekunden lang stehen wir uns gegenüber und starren uns an, bis ihr Gesicht leuchtend rot anläuft. Sie murmelt etwas, das ich zum Glück nicht verstehe. Dann schnappt sie sich ihre Tasche, dreht sich auf dem Absatz um und rauscht ab. Die Haustür knallt hinter ihr zu.
Mann! Ich könnte kotzen vor Wut und stampfe ein paar Mal mit dem Fuß auf.
Maiks Stimme lässt mich herumfahren. Er steht mit wackeligen Knien oberhalb der Treppe. „Reg dich nicht über diese Tussi auf, das ist sie nicht wert.“
Ich scheuche ihn sofort zurück in sein Bett. Er grinst.
„Diese alte Zecke!“
Ich decke ihn bis zum Hals zu und höre ihn befreit durchatmen. Es scheint ihm etwas besser zu gehen. Dann bringe ich ihn dazu, zu erzählen, was genau heute passiert ist. Dem Doc hat er nur gesagt, er sei vom Pferd gefallen und mit dem Kopf aufgeschlagen.
Wie vermutet, hat Marvin ihm den Wallach Rocky aufgedrängt und einen kleinen Sprung an der Bande aufgebaut. Aber schon nach der ersten Galopprunde wurde Rocky heiß, widersetzte sich Maiks Versuch, ihn zu zügeln, und stürmte mit ihm kreuz und quer durch die Halle. Allein bei dieser Vorstellung schlägt mein Herz einen Doppelsalto. Dann setzte Rocky mit einem Riesensatz über eines der im Weg stehenden hohen Hindernisse. Maik verlor die Steigbügel, segelte herunter und knallte mit dem Kopf an die Bande. Der Reithelm hatte zwar das Schlimmste verhindert, aber für ein paar Sekunden lag Maik bewusstlos am Boden, bis ihm Marvin und einer der Stalljungens feixend auf die Beine halfen. Er war so fertig, dass er nur noch zurück ins Haus wollte, schaffte es aber nicht mehr die Treppe hinauf. Er hoffte, es würde ihm bald besser gehen und er könnte mich von der Schule abholen.
„Bist du böse?“, blubbert er.
„Du spinnst total! Ich habe mir Sorgen gemacht!“
Dann fällt mir mein Gespräch mit Larissa und den Hunden wieder ein, und ich erzähle ihm davon.
„Airedale Terrier!“, krächzt er erfreut. „Die mag ich! Das sind zwar keine richtigen Wachhunde, aber die sind hellwach, kannst du glauben.“
„Fühlst du dich jetzt ein bisschen besser? Müssen wir nicht ins Hospital?“
Er hebt abwehrend die Hände. „Nein! Ich meine, ja, es geht mir besser. Du weißt ja: Echter Jedi-Ritter kennt keinen Schmerz.“
In Gedanken ermorde ich Marvin und seinen ihm treu ergebenen Hofstaat und male mir die schmerzhaftesten Todesarten für sie aus. In Farbe.
Plötzlich sehe ich Tränen in Maiks Augen.
„Hey, Großer! Was ist los?“
Er schnieft. „Ach nichts. Das kommt von den Tabletten.
Mach dir keine Sorgen um mich, das wird wieder.“
„Du hast schon besser gelogen.“ Ich greife nach seiner Hand und drücke sie fest. Mir ist klar, was er nicht sagen will. Dass er nicht versteht, warum alle hier auf dem Gut so ekelhaft zu uns sind. Von Anfang an waren wir für sie nur the Germans. Abschaum. Schmarotzer. Hämorrhoiden im Hintern. Wenn es nicht wegen Mortimer wäre, hätten wir beide schon längst den Abgang gemacht, zurück nach Bad Steinach.
Es ist wunderschön, mit Mortimer zusammenzuleben, sein Gut und die gesamte Gegend hier sind ein Traum, die Highcliffe School ist spitze. Wir dachten, wir könnten hier ein neues Leben beginnen und die schrecklichen Erinnerungen hinter uns lassen.
Wenn ich an Mortimers Personal in seinem Haus in Mailand denke, könnte ich heulen. Ich sehe Giorgio und Tonio vor mir, die immer zur Stelle sind, wenn man sie braucht, und für die nichts unmöglich ist. Stella, seine liebenswerte Haushälterin. Und Salvatore, der Gärtner, dessen unzählige Runzeln sich immer vor Freude verziehen, wenn wir ihm bei der Arbeit helfen. Und der mit seiner rauen und doch warmen Stimme plaudert, auch wenn wir kaum ein Wort verstehen. Dort schien immer die Sonne. Okay, es war Sommer ... aber hier in West Sussex regnet es, seit wir da sind.
Maiks Atemzüge werden flacher, er hat die Augen geschlossen. Ich spreche ihn leise an, aber er reagiert nicht mehr.
Okay.
Dann werde ich jetzt in den Stall marschieren und Dampf ablassen.