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Ein entflohener Gewaltverbrecher, ein einsam gelegenes Schloss in Schottland und der kühnste aller Highland-Kämpfer. Die 16-jährige Lea Winterberg wird noch einmal mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Sie kehrt zusammen mit ihrem Vormund, dem britischen Adeligen Sir Mortimer, und ihrem Freund Maik Mamba in ihre Heimatstadt Bad Steinach zurück, um gegen ihren ehemaligen Peiniger Jonas Bratzinger vor Gericht auszusagen. Nach ihrer Ankunft dort erfährt Maik, dass seine Mutter im Sterben liegt. Er muss Lea für ein paar Tage verlassen. Kaum hat diese die Gerichtsverhandlung überstanden, geht die Schocknachricht durch die Medien: Bratzinger ist auf dem Weg in die Haftanstalt die Flucht gelungen, Lea ist in großer Gefahr. Mortimers Bruder Charles organisiert die heimliche Reise von Lea und Mortimer zu seinem alten Studienfreund Alastair MacMurphy, der ein abgelegenes Schloss in den schottischen Highlands besitzt. Dort sind die beiden vorerst in Sicherheit. Oder doch nicht?
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Seitenzahl: 355
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Ein entflohener Gewaltverbrecher, ein einsam gelegenes Schloss in Schottland und der kühnste aller Highland-Kämpfer. Die 16-jährige Lea Winterberg wird noch einmal mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Sie kehrt zusammen mit ihrem Vormund, dem britischen Adeligen Sir Mortimer, und ihrem Freund Maik Mamba in ihre Heimatstadt Bad Steinach zurück, um gegen ihren ehemaligen Peiniger Jonas Bratzinger vor Gericht auszusagen. Nach ihrer Ankunft dort erfährt Maik, dass seine Mutter im Sterben liegt. Er muss Lea für ein paar Tage verlassen. Kaum hat diese die Gerichtsverhandlung überstanden, geht die Schocknachricht durch die Medien: Bratzinger ist auf dem Weg in die Haftanstalt die Flucht gelungen, Lea ist in großer Gefahr. Mortimers Bruder Charles organisiert die heimliche Reise von Lea und Mortimer zu seinem alten Studienfreund Alastair MacMurphy, der ein abgelegenes Schloss in den schottischen Highlands besitzt. Dort sind die beiden vorerst in Sicherheit. Oder doch nicht?
Karin Dörnhofer-Neumann ist 1960 in München geboren und in einer hessischen Kleinstadt aufgewachsen. Sie lebt seit 1994 in Rheinhessen. Die gelernte Industriekauffrau kam erst in den 1980er Jahren zum Schreiben und veröffentlichte ein Sachbuch mit dem Titel "Sekretariat". Nach einem umfassenden Schreibstudium kam im Jahr 2021 ihr erstes Kinderbuch im Selfpublishing auf den Markt, es folgten die beiden ersten Bände der Jugendkrimi-Reihe um Lea und Maik. Ihre Lieblingsautoren als Kind waren Erich Kästner und Enyd Blyton, später verschlang sie die romantischen Abenteuerromane von Victoria Holt, um sich seitdem vorwiegend der Lektüre von Krimis und Thrillern zu widmen.
Wherever I wander,
wherever I rove,
the hills of the Highlands
for ever I love.
Robert Burns, 1789
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Die Fahrt über den Kanal als stürmisch zu bezeichnen, wäre eine Untertreibung. Die stahlgraue See um das Fährschiff herum kocht, und noch ist Calais verdammt weit weg. Ein Blick von der windumtosten Reling auf die tanzenden Wellen überzeugt mich davon, den Rückzug ins Innere der Fähre anzutreten. Mortimer hält mir mit einem Grinsen die Tür auf.
Ich bin nicht der Typ, der seekrank wird, und der Bug des Schiffes pflügt unerschütterlich durch die See. Außerdem: Sollte wirklich ein Orkan im Anmarsch sein, würde der Fährverkehr vorsorglich eingestellt werden. Für die Mutigen unter den Reisenden, die alles hautnah erleben wollen, gibt es auf Deck genügend Verstrebungen und Halterungen, um sich festzuhalten. Es ist bloß ... ich fürchte mich vor dem Ziel unserer Reise.
„Möchtest du etwas essen?“ Mortimer macht eine Kopfbewegung zum Eingang des Restaurants. „Noch können wir einen Tisch ergattern.“
Ich grinse. „Nö. Kein Appetit.“
Wie schon auf meiner ersten Überfahrt habe ich das Gefühl, dass die meisten der lärmenden Passagiere nur an Bord sind, um sich die Bäuche vollzuschlagen. Kinder bekommen eine Gratis-Mahlzeit. Die übrigen Fahrgäste strömen in die hell erleuchteten Läden und Duty-Free-Shops der Passage. Es herrscht so etwas wie Partystimmung.
Mortimer deutet auf zwei freie Sitzplätze neben einer Reihe knallbunter Snack- und Getränkeautomaten.
„Etwas zu trinken?“
„Mhm, ja, eine Cola wäre prima.“
Er zieht zwei Dosen. Ich lenke mich von meinen trüben Gedanken ab, indem ich dem vielsprachigen Stimmengewirr um uns herum lausche. Die einschmeichelnde Stimme von Ed Sheeran perlt aus den Lautsprechern. Durch Schnuppern versuche ich zu ergründen, welche Speisen im Restaurant angeboten werden. Die von der Gischt besprühten Fenster bieten lediglich einen Ausblick auf schmutzig-graue Wolken.
Ich nehme einen Schluck von meiner Cola. Dann entdecke ich Maiks Kopf hinter einer der Glastüren zum Deck. Er sucht uns. Als unsere Blicke sich treffen, stapft er herein und winkt uns ausgelassen zu.
„Was ist los mit euch? Ist echt super da draußen! Wie in dem Film Der Sturm.“
Ich winke ab. „Du kannst dich ja durchpusten lassen. Wir bleiben lieber hier drin.“
Maik keckert und macht sich breitbeinig wie ein alter Seebär wieder auf den Weg zurück an Deck. Offenbar findet auch Charles es reizvoll, die raue Überfahrt hautnah zu erleben.
„Er und dein Bruder haben sich gesucht und gefunden“, kommentiere ich.
Mortimer lächelt. „Charles war schon immer der Verwegenere von uns beiden. Ich freue mich, dass er und Maik so gut miteinander klar kommen.“
Charles hat sich spontan dazu entschlossen, mit uns nach Deutschland zu fahren. Seine Frau Diane verbringt ein paar Wochen bei einer alten Schulfreundin in Wales, und es hatte ihm nicht gefallen, als Strohwitwer zurückzubleiben. Anfangs hatte ich echte Bedenken, ob das mit ihm und uns gutgehen würde, aber entgegen seiner sonst etwas herrischen Art hält er sich bislang sehr zurück.
Ich fühle Mortimers warmen Blick auf mir ruhen. „Geht es dir gut?“
„Nö. Nicht besonders. Aber es ist schon okay. Je eher ich das alles hinter mich bringe, umso besser. Und danach geht es ab nach Mailand.“
Das ist mein einziger Lichtblick. Die Gerichtsverhandlung gegen Jonas Bratzinger hat begonnen, und ich hatte mich bereit erklärt, vor Ort gegen ihn auszusagen. Solange wir zuhause auf Mortimers Hofgut Cabot Green in West Sussex waren, war ich mutig gewesen. Aber je näher wir meiner früheren Heimatstadt Bad Steinach in Mittelhessen kommen, umso mehr verdunkelt sich mein Blick auf die Dinge. Erinnerungen, die ich erfolgreich verdrängt habe, fahren in meinem Kopf Karussell.
„Du musst ihm nicht allein gegenübertreten“, versichert Mortimer und drückt meine Hand. „Dein Anwalt, Herr Bock, wird alles unternehmen, um dich zu schützen. Außerdem sind auch Maik und ich da.“
„Und Charles.“ Ich recke den Daumen.
„Und Charles. Mit ihm sollte man sich auf jeden Fall nicht anlegen.“
Ich stimme in Mortimers Lachen ein und atme tief durch. Wahrscheinlich mache ich mir unnötig Gedanken. Mein Auftritt im Frankfurter Gerichtssaal übermorgen wird nach Auskunft von Herrn Bock maximal zwei Stunden dauern, danach bin ich entlassen. Dennoch ... Ich gestehe mir ein, dass die Aussicht auf die bevorstehende Begegnung mit Jonas meinen Magen in einen Klumpen verwandelt.
Ich verscheuche diese Vorstellung und denke an den Bulli, Maiks geliebten rosa Oldtimer, der unten im Frachtraum steht. Wir werden mit ihm nach Bad Steinach fahren und danach direkt nach Mailand. Mein Schuljahr auf der Privatschule Highcliffe ist bereits zu Ende. Ich habe den gesamten Stoff durch und das Klassenziel erreicht, sodass ich im September in die nächste Klassenstufe aufsteige. Meine Freundin Larissa Peabody informiert mich im 60-Minuten-Rhythmus über alles, was in der Highcliffe und in Long Nick abgeht. Sie hatte ernsthaft in Erwägung gezogen, heimlich mit uns zu fahren, aber ihre Eltern hatten Lunte gerochen und ihr das ausgeredet. Schade. Ihre quirlige Art und ihr aufbrausendes Temperament hätten mich abgelenkt.
Die Monate Dezember bis März waren deutlich unaufgeregter verlaufen als die beiden vorhergehenden. Virginia und ihr wirklicher Vater, Doc Webster, sind zu langen Haftstrafen verurteilt worden. Mortimers ehemalige Haushälterin Gertrude Miller kam mit einem vergleichsweise milden Urteil davon. Leider musste sich auch Phil Dexter, ein enger Freund der Peabodys, vor Gericht verantworten. Seine Beteiligung an einer Londoner Jugendgang war zwar als gering eingestuft worden, dennoch musste er eine Bewährungsstrafe einstecken. Die gute Nachricht ist, dass dadurch sein Studienplatz in Cambridge nicht gefährdet ist und er seinem Berufswunsch Grundschullehrer näher kommt.
Nach reiflicher Überlegung haben Mortimer, Maik und ich beschlossen, Marvin als Bereiter auf Cabot Green zu behalten – trotzdem er ein Fiesling ist. Auch er ist für seine Mittäterschaft bei den Anschlägen gegen Mortimer auf Bewährung verurteilt worden. Er hätte sonst nirgendwo mehr eine Anstellung gefunden. Und mit jungen Pferden hat er echt eine gute Hand. Timothy, Mortimers neuer Verwalter, hält ihn am straffen Zügel, wie er bei unserem Abschied heute Morgen mit grimmigem Lachen versicherte.
So weit, so gut. Giorgio und Tonio, Mortimers taffe Mitarbeiter aus Mailand, sind dorthin zurückgekehrt und erwarten uns. Mann! Ich freue mich schon auf die Sommermonate. Mailand ist ein Traum.
Unser zweiwöchiger Ski-Urlaub im US-amerikanischen Vail war grandios. Maik und ich haben es ohne Knochenbrüche überstanden und am Schluss sogar eine kleine Abfahrt gewagt. Und das anschließende Weihnachtsfest in Long Nick entschädigte uns für die Aufregung der vorherigen Monate. Das britische Weihnachten ist völlig anders als das deutsche. Stimmungsvoller. Traditioneller. Und das melodiöse Bimmeln der Kirchenglocken habe ich noch immer in den Ohren.
Jetzt habe ich doch Appetit auf einen Schokoriegel. Ich ziehe für jeden von uns einen an einem der Automaten, und Mortimer und ich vernaschen sie andächtig. Der Riegel schmeckt zwar ein bisschen nach Seife, aber das macht nichts.
Alles wird gut werden.
Vielleicht.
Weil Maik und Charles noch immer an Deck sind, öffne ich die Tür nach draußen. Ich entdecke sie ein Stück entfernt an der Reling. Bei dem Anblick, der sich mir bietet, pruste ich los und winke Mortimer zu mir.
„Das musst du dir ansehen!“, japse ich. Gemeinsam schauen wir den beiden zu, wie sie sich johlend von der Gischt nassspritzen lassen. Wie zwei kleine Jungs auf ihrer ersten Klassenfahrt.
Mortimer lacht leise. „Wer hätte gedacht, dass die beiden so gut miteinander können. Diese Reise wird Charles guttun.“
Die anschließende Autofahrt durch Belgien nach Deutschland machen Maik und ich ja schon zum zweiten Mal, aber diesmal regnet es auf der gesamten Strecke. Daphne Johnson, unsere neue Haushälterin und Köchin auf Cabot Green, hat uns mit reichlich Proviant für unterwegs versorgt. Sie kocht zwar nicht so perfekt wie die Miller, ist aber superlieb und immer blendend gelaunt. Sie ist eine entfernte Verwandte der Peabodys und lebt nun in Long Nickleby.
Nach knapp sechs Stunden kommen wir am späten Nachmittag in Bad Steinach an. Es ist ein komisches Gefühl, als Besucher in die Kleinstadt zurückzukehren, in der ich von Geburt an lebte. Wir haben für drei Tage Zimmer im alteingesessenen Hotel Mayer gleich neben dem Marktplatz gebucht. Es ist ein aufwändig restaurierter Fachwerkbau. Maik stellt den Bulli auf dem hoteleigenen Parkplatz ab.
Dann sieht er mich grinsend an. „Da wären wir!“
Ich nicke nur.
Charles steigt als Erster aus und sieht sich mit gespitzten Lippen um. „Ganz hübsch. Ich hoffe, es gibt hier ein anständiges Abendessen. Ich sterbe vor Hunger.“
Dabei hat er den größten Teil unseres Reiseproviants verdrückt.
Wir checken ein und erfahren, dass eine schriftliche Nachricht für Mortimer vorliegt. Er öffnet den Umschlag und liest die paar Zeilen.
„Die Kriminalhauptkommissare Berger und Scharf laden uns nach dem Abendessen in ein Lokal unserer Wahl ein.“ Er schmunzelt. „Welches empfiehlst du uns, Lea?“
Ich zucke mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich kenne keines von innen.“
Charles klatscht in die Hände. „Dann werden wir das heute ändern. Natürlich gehen wir in das Teuerste. Nach dem, was diese Chaoten dir zuletzt eingebrockt haben, sind sie dir das schuldig, finde ich.“
Eigentlich habe ich nicht die geringste Lust, den beiden heute schon zu begegnen, aber das Zusammentreffen zwischen ihnen und Charles verspricht spannend zu werden.
Wir bekommen vier nebeneinanderliegende Zimmer im ersten Stock, die offenbar Charles‘ Zustimmung finden, denn seine Mundwinkel rutschen nach oben. Danach schleppt er uns sofort ins Restaurant. Es tut gut, mal wieder Schnitzel mit Pommes und Salat zu essen. Maik und ich haben uns zwar mit der britischen Küche angefreundet, aber so eine kleine Abwechslung ist nicht übel.
Und dann wird es Zeit für unser Treffen mit den Kriminalhauptkommissaren.
Wolf Berger und seine Kollegin Eva Maria Scharf haben sich nicht verändert. Außer, dass sie heute nicht in ausgebeulten Jeans und T-Shirts erscheinen. Berger hat sich in einen tiefblauen Anzug mit blütenweißem Hemd und Fliege geworfen und Scharf in ein figurbetontes kleines Schwarzes mit einem asymmetrischen Ausschnitt. Wow!
Wir treffen uns vor einem neu eröffneten Weinhaus in der Fußgängerzone, das von außen sehr edel aussieht: Ein moderner zweistöckiger Bau mit einer durchgehenden Glasfront. Ich überlege einen Moment, welches Gebäude vorher da stand, dann fällt es mir wieder ein. Ein Investor hat noch während meiner Zeit hier das mehrstöckige, marode Wohnhaus aus den 1920er Jahren gekauft und abreißen lassen. Ich habe nicht mehr mitbekommen, wohin man die vorher hier lebenden Hartz-IV-Familien umgesiedelt hat. Bad Steinach ist berüchtigt für seine abenteuerlichen Mieten. Der neue Eigentümer muss mächtig Druck gemacht haben, dass dieser Prachtbau in so kurzer Zeit realisiert werden konnte.
Auch die Inneneinrichtung mit der indirekten Beleuchtung ist echt was für das Auge. Die mit professionellem Lächeln herumwuselnden Kellnerinnen tragen bordeauxfarbene Ensembles.
Frau Scharf grinst mich an und reißt mich damit aus meinen Betrachtungen. „Du siehst gut aus, Lea. Die neue Umgebung bekommt dir.“
Ich drücke spontan Mortimers Arm. Er und Maik sitzen rechts und links von mir. „Es ist schön bei Mortimer.“
Jetzt hält Charles es für an der Zeit, auf sich aufmerksam zu machen. Mit blasierter Miene erklärt er den beiden KHKs, dass sie einen schweren Fehler begangen haben, als sie mir letztes Jahr im November am Telefon die Nachricht überbrachten, dass Jonas Bratzinger mein Vater sei.
„Sie hätten das meinem Bruder mitteilen müssen, damit er es Lea schonend beibringt. So ein Fauxpas wäre einem britischen Detective nicht passiert.“
Tatsächlich hatte diese Nachricht bei mir eine Kurzschlussreaktion ausgelöst, in deren Verlauf ich nicht nur herausfand, wer hinter den Anschlägen auf Mortimer steckte, sondern selbst in eine brenzlige Situation geriet. Hätten nicht meine Freunde in Long Nick eine spektakuläre Rettungsaktion gestartet, würde ich wohl jetzt nicht hier sitzen.
Ich bin mir nicht sicher, ob dieser Kriminalfall über die Grenzen Großbritanniens hinaus bekannt wurde, wahrscheinlich nicht. Es ist mir im Nachhinein peinlich, so überreagiert zu haben.
Zum Glück lässt Charles auf einen eindringlichen Blick von Mortimer hin das Thema fallen und bestellt für sich, Mortimer und Maik je einen Rheingau-Riesling, ich lasse mir einen alkoholfreien Cocktail mixen, der aussieht wie aus einem James-Bond-Film.
Berger und Scharf haben wohl mit diesem Vorwurf gerechnet, sie entschuldigen sich wortreich.
Dann schwenkt Scharf auf ein anderes Thema um: „Die Gerichtsverhandlung ist übermorgen um 11 Uhr in Frankfurt, wir bringen Sie hin und anschließend wieder zurück. Ich nehme an, Ihr Anwalt hat Sie über die Details informiert. Das Gericht wird auf Leas Minderjährigkeit Rücksicht nehmen und behutsam vorgehen.“
Wieder lässt Charles es sich nicht nehmen, den britischen Aristokraten heraushängen zu lassen und erklärt, dass er und Mortimer selbstverständlich auf solchen Sicherheitsvorkehrungen bestehen würden. Erst ein deutlich hörbares Räuspern von Mortimer bremst seinen Redeschwall.
In genau diesem Augenblick dingelt Maiks Handy. Er zieht es überrascht aus seiner Westentasche. Ein paar Sekunden lang starrt er auf das Display, dann drückt er den Anruf weg. Sein Gesicht wirkt versteinert. Er sagt kein Wort. Schließlich blinzelt er ein paar Mal und atmet tief durch.
Berger informiert uns gerade über die für meine Sicherheit getroffenen Vorkehrungen, aber ich höre nur mit halbem Ohr hin. Ich stupse Maik leicht mit dem Ellbogen.
„Hey! Alles okay?“
Er zuckt zusammen und weicht meinem Blick aus. „Ja, ja.“
Er lügt, ganz klar. Eine solche Reaktion habe ich bei ihm bisher noch nie erlebt. Er trinkt hastig einen Schluck Wein.
Kurz darauf gibt sein Handy wieder einen Laut von sich. Eine schriftliche Mitteilung ist eingegangen. Maik sieht nicht mal nach.
Würde ich ihn nicht so gut kennen, wäre ich jetzt vielleicht eingeschnappt. Ich betrachte ihn unauffällig von der Seite, während die KHKs abwechselnd von Jonas‘ gesundheitlicher und sozialer Entwicklung in den vergangenen Monaten berichten.
„Seine Genesung ist erstaunlich schnell fortgeschritten, und er war von Anfang an geständig. Er hat glaubhaft versichert, von Katrina Winterbergs Alleingängen erst sehr spät Kenntnis bekommen zu haben. Dass sie den gesamten Erlös der jahrelangen Beutezüge von dem Schweizer Bankkonto abgezogen und in Diamanten angelegt hatte, wusste er nicht.“
„Glauben Sie das?“, fragt Mortimer mit einem skeptischen Lächeln.
Berger holt tief Luft, bevor er antwortet. „Die Polizei-Psychologin schätzt ihn in ihrem Bericht so ein, dass er die Wahrheit spricht und weiterhin kooperativ sein wird. Er hat sich bislang in der Haft einwandfrei verhalten. Natürlich dürfte ihm klar sein, dass dieses Entgegenkommen sein Schuldmaß an den jahrelangen Juwelen-Diebstählen und an den Gewalttätigkeiten gegenüber Lea nicht mindert. Aber sein Strafverteidiger ist ein junger und fähiger Kopf, der alle Rechtsmittel ausschöpfen wird, um seinem Mandanten Strafmilderungen einzubringen.“
Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Ich erinnere mich an eine Verhandlung im Amtsgericht von Bad Steinach, der wir in der 9. Klasse als Zuschauer beiwohnen durften. Der Strafverteidiger hatte einen der Zeugen durch hundsgemeine verbale Attacken so in die Enge getrieben, dass der am Ende in Tränen ausgebrochen war.
Aber dann atme ich auf. Mein eigener Anwalt wird mich in dem Vorgespräch sicher darauf hinweisen, wie ich auf so etwas reagieren soll. Dennoch ... Die Erinnerung an die Jahre unter den Gewaltexzessen von Jonas zieht mich runter.
Maik scheint von Bergers Erklärungen nicht viel mitzubekommen. Er stiert noch immer auf das Glas Wein in seiner Hand.
Ich halte es jetzt doch für an der Zeit, ihn aus seiner Erstarrung zu lösen. „Hey! Alles klar mit dir?“
Er zuckt zusammen. Dann scheint sein Blick wie aus weiter Ferne zu mir zu kommen. Er verzieht den Mund zu einem schiefen Grinsen. „Klar! Was soll sein?“
Ich lege meine Hand auf seine und drücke sie. Dass er mich so offensichtlich anlügt, tut weh. „Wer wollte vorhin was von dir?“, wage ich einen erneuten Vorstoß.
„Was? Ach, niemand.“ Er trinkt das Glas in einem Zug leer und stellt es ab.
Den restlichen Abend sprechen wir dann über Long Nick und Cabot Green. Das heißt, Charles redet und alle hören zu. Ich bin ihm dankbar für diese Ablenkung, auch wenn er die Angewohnheit hat, unverschämt zu übertreiben. Mortimer und ich wechseln immer mal wieder einen Blick und ziehen belustigt die Brauen in die Höhe. So ist Charles nun mal. Und irgendwie bin ich froh, dass er auf dieser Reise bei uns ist.
Später im Hotel ist Maik weiterhin schweigsam. Normalerweise quatschen wir immer über Gott und die Welt, bevor wir uns schlafen legen, aber an diesem Abend zieht er sich sofort zurück. Eine unklare Angst kriecht in mir hoch. Ich kann mir sein Verhalten nur so erklären, dass es etwas mit dem Anruf und der Handynachricht zu tun hat, über die er sich ausschweigt. Durch wen oder was lässt er sich so aus der Bahn werfen?
Am nächsten Morgen ist Maik wieder der Alte. Ich atme innerlich auf. Wir beide wollen einen Spaziergang durch Bad Steinach machen. Mortimer und Charles telefonieren schon beim Frühstück mit Timothy. Eine von Mortimers Zuchtstuten ist in der Stallgasse gestürzt und wird gerade von Daniel Brown, dem Tierarzt, behandelt. Es handelt sich um eine Sehnenverletzung, eine schlimme, weil voraussichtlich langwierige Sache. Mortimer gibt sein Okay für den Transport in die Londoner Pferdeklinik.
Er und Charles sind nicht glücklich über diese Nachricht, können aber von hier aus nichts ausrichten. Sie beschließen, sich gemeinsam die historische Altstadt anzuschauen.
Maik und ich machen zunächst einen Abstecher zum Goethe-Gymnasium, meiner früheren Schule. Als wir ankommen, ist gerade große Pause. Im hinteren Pausenhof treffe ich Johanna, meine langjährige beste – und einzige – Freundin mit einigen anderen Jungs und Mädels. Bei meinem und Maiks Anblick reißt sie überrascht die Augen auf.
„Gibt’s ja gar nicht! Lea Winterberg! Was machst du hier? Wohnst du jetzt wieder in Bad Steinach? Ich denke, das Haus deiner Tante ist vermietet ... Du bist ja schick angezogen!“
Ich grinse in mich hinein. Sie hat sich nicht verändert, plappert noch immer ohne Punkt und Komma. Ich stelle ihr Maik vor, der lässig die Hand zum Gruß hebt. Johanna wirft ihm nur einen verwirrten Blick zu, dann begutachtet sie meine Jeans und das Shirt, die ich beide auf einem London-Trip mit Mortimer in einer der zahllosen kleinen, hippen Boutiquen gefunden habe.
„Boah, ey! Du siehst richtig ... stylish aus!“
Dass ich auf die Highcliffe Privatschule nicht weit von Long Nickleby gehe, weiß sie ja. Anfangs haben wir uns täglich Nachrichten geschickt, aber im Laufe der Monate ist die Kommunikation eingeschlafen. Ich hätte auch nicht gewusst, wie ich ihr von den aufregenden Erlebnissen des letzten Novembers hätte berichten sollen. Ihr braves und vorbestimmtes Leben unterscheidet sich um Welten von meinem, sie hätte mir vielleicht nicht geglaubt.
Inzwischen sind andere meiner ehemaligen Klassenkameraden auf uns aufmerksam geworden und scharen sich neugierig um mich und Maik. Ich muss unzählige Fragen beantworten, und mein Outfit ist das Thema Nummer Eins. Mann! Haben die sonst keine Probleme?! So blöd würden die Jungs und Mädels der Highcliffe nie reagieren. Na ja, sie gehören einer etwas gehobeneren gesellschaftlichen Schicht an und mussten sich niemals über ihre Klamotten Gedanken machen.
Wie immer bestreitet Johanna allein die Unterhaltung und schwenkt ständig auf ein neues Thema um. „Hast du jetzt auch einen festen Freund?“
Alle starren mich an.
„Öhm ... nö, nicht so wie du. Ich bin viel mit Maik zusammen, wir reiten oft aus und hängen abends in Rudys Pizzeria oder dem Pub ab. In einem der Nachbarorte gib es einen Jugendclub, da findet alle paar Wochen eine Disco statt. Mit meiner Freundin Larissa und ihrem Bruder Kevin bin ich auch schon alleine nach London gefahren, ich meine, ohne Mortimer.“
Maik steht die ganze Zeit mit lässig gespreizten Beinen, die Hände in den Hosentaschen, daneben. Mit seinen etwas zu langen, aber perfekt geschnittenen mittelblonden Haaren sieht er seinem Idol Luke Skywalker verblüffend ähnlich. Als wir uns kennenlernten, steckte er in übergroßen Hemden und labberigen Hosen. Heute trägt er eine gut sitzende Chino, ein farblich dazu passendes Poloshirt und sündhaft elegante Mokassins. Das Leben in Long Nick hat ihn selbstbewusster werden lassen. Zum ersten Mal fällt mir auf, dass er etliche Pfunde verloren hat und klasse aussieht.
„Ist dieser Mortimer ein Earl oder so?“, fragt Johanna.
Ich grinse. „Nein, nur ein Lord. Er ist total lieb, und sein Bruder Charles und seine Familie sind super.“
Die bevorstehende Gerichtsverhandlung erwähne ich nicht. Weder Johanna, noch sonst jemand hier weiß etwas über meine ehemalige Verwicklung in die ‚Gruppe‘, einer Bande von Juwelendieben, die jahrelang spektakuläre Beutezüge im ganzen Land durchgezogen hat, ohne jemals aufzufliegen. Bis letzten Sommer. Da ist etwas schiefgelaufen. Maik und ich gerieten von einer Bredouille in die nächste.
In diesem Moment checke ich plötzlich, dass jemand neben mir steht.
Ben.
Ich wundere mich selbst, dass ich bei seinem Anblick so cool bleibe. Noch vor einem Jahr wären um meinen Kopf tausend bunte Feen geflattert.
„Hallo!“, grüße ich ihn und verziehe den Mund zu einem Lächeln. Er sieht noch immer aus wie der junge Brad Pitt. „Hi, Lea. Mit dir hätte ich jetzt nicht gerechnet. Du warst plötzlich verschwunden.“
Als wenn ihn das interessiert hätte! Ich schnaube innerlich und verachte mich selbst dafür, dass ich in diese Lusche mal so wahnsinnig verliebt war.
„Du siehst gut aus“, fährt er fort.
„Danke. Man lebt so. Wir sind ein paar Tage hier in der Stadt, da dachte ich, ich schaue mal, was ihr so treibt. Wie geht es Jessy?“
Natürlich weiß ich, dass er die bildschöne Blondine schon vor Monaten abserviert hat, aber ich kann es mir nicht verkneifen.
Er zieht gespielt fragend die Brauen in die Höhe. „Jessy? Wer ist das?“ Dann lacht er über seinen eigenen Witz. „Sie ist letzten Sommer abgegangen und arbeitet im Rewe-Markt. Wir sind nicht mehr zusammen. Ich gehe jetzt mit Ariane, die kennst du bestimmt noch?!“
Ich heuchle Überraschung. „Ariane? Nö, kann mich nicht an jemanden erinnern, der so heißt.“ Dann blicke ich auf meine Armbanduhr. „Ups! Schon so spät. Wir müssen dann mal wieder. War schön, euch zu treffen. Bis irgendwann mal. Ciao!“
Alle starren uns nach, scheinbar hat es ihnen die Sprache verschlagen. Der Anblick von Lea Winterberg in angesagten Klamotten passt nicht in ihr Weltbild. Okay, mein früheres Outfit war nicht der Brüller gewesen.
Maik schlendert mit breitem Grinsen neben mir her. „Starker Abgang“, lobt er.
Ich klatsche mit ihm ab.
Auf dem kurzen Weg zur Straße treffen wir auf den Direx des Goethe. Sein hageres Gesicht drückt Verwirrung aus.
„Wenn das nicht Lea Winterberg ist! Kommst du zu uns zurück?“ Er schüttelt mir frenetisch die Hand.
„Nein, wir sind nur für zwei Tage hier.“
„Schade. Sehr schade. Ich habe dich immer sehr geschätzt, das weißt du.“
Klar! Ich war auf Einser abonniert und damit sein Aushängeschild. Dann will er haarklein wissen, auf welcher Schule ich jetzt bin. Dass ich in Südengland lebe, hat er nicht mitgekriegt.
„So? Und es gefällt dir dort? Schön. Diese Schule hat wohl auch eine Homepage? Ich werde sie mir mal anschauen.“
Nach einem weiteren Handschlag der Marke Schraubstock schreitet er würdevoll ins Innere des Gebäudes.
Maik und ich prusten los.
„Würdest du gerne wieder hierher zurückkommen?“, fragt er.
Die Antwort fällt mir nicht schwer. „Nö. Ich will da bleiben, wo ich bin.“
Womit wir uns mal wieder einig wären.
Für den ausgedehnten Fußweg quer durch die Stadt zum Jugendamt lassen wir uns Zeit. Wir statten zunächst Tante Katrinas Haus einen kurzen Besuch ab, das seit ihrem Tod mir gehört und an die dreiköpfige Familie Brehm vermietet ist.
Als ich vor dem Gartentor stehe und das Haus samt Grundstück betrachte, sackt mir einen fiesen Moment lang das Herz in die Kniekehlen. Zu stark ist die übermächtige Präsenz meiner Tante. Ich schaue hoch zu ihrem Schlafzimmerfenster und glaube für den Bruchteil einer Sekunde, ihr Gesicht hinter den Gardinen zu erkennen. Aber dann atme ich tief durch. Sie starb letzten Sommer durch die Kugel eines Polizei-Scharfschützen, nachdem sie ihren Gegenspieler Fabrizio Hofstädter und seine Mannschaft kaltblütig ermordete. Sie wird nicht wiederkommen.
Ich drücke auf den Klingelknopf. Natürlich habe ich mein Kommen angekündigt, und Frau Brehm öffnet mir mit einem Lächeln. „Hallo, Frau Winterberg!“
Es dauert eine Sekunde, bis ich checke, dass sie mich damit meint. Sie bittet uns herein und klärt uns darüber auf, dass ihr Mann auf Arbeit und die Tochter in der Schule sei.
Herr Kaufmann, unser damaliger Anwalt, kümmert sich um sämtliche Angelegenheiten, die das Haus betreffen und hatte im letzten Jahr die Möbel meiner Tante einlagern lassen. Die Brehms haben dem Haus mit ihrer eigenen, weitaus moderneren Einrichtung eine ganz andere Note gegeben. Es ist jetzt im Inneren heller und freundlicher. Als ich einen Blick auf die gewundene Holztreppe nach oben werfe, glaube ich Jonas‘ dunklen Schatten zwischen den beiden Türen zu erkennen. Ich zucke zusammen.
Dann wende ich mich wieder Frau Brehm zu und versichere ihr, dass ich nur mal kurz vorbeischauen wollte, weil ich in der Stadt sei. Ich lobe ihren geschmackvollen Einrichtungsstil und gebe ihr meine witzige Visitenkarte, die ich vor kurzem habe drucken lassen, und auf der mein Kopf zwischen denen unserer beiden munteren Airdale Terrier Ebby und Flip fast eingequetscht wird.
„Falls mal etwas ist, rufen Sie mich einfach an oder schicken Sie mir eine Nachricht, ja?!“
Sie bedankt sich, und wir verabschieden uns.
Im Vorbeigehen wirft Maik einen träumerischen Blick auf den Rasen. „Da hinten hat mein Zelt gestanden.“
Ich grinse. „Ich weiß.“
Nachdem Maiks Bulli im letzten Sommer direkt vor unserem Grundstück sein Leben ausgehaucht hat und in die Werkstatt abgeschleppt werden musste, hatte ich ihm erlaubt, hinten auf dem Rasen zu campieren. Und damit innerhalb der ‚Gruppe‘ eine Palastrevolution ausgelöst.
„Du hattest mich eingeladen, bei dir im Zelt zu übernachten“, erinnere ich mich grinsend.
Sofort läuft er rot an. „Das war ganz ohne Hintergedanken. Weil du gesagt hast, im Haus sei es so warm.“
Ich lege den Arm um seine Schultern. „Ist schon klar, Großer. Aber damals warst du mir nicht geheuer. Ich wusste nicht, wo ich dich einordnen sollte.“
„Aber es war eine verdammt geile Zeit. Trotz allem.“ „Und ob es das war! Heute würde ich auf dein Angebot eingehen.“
„Echt jetzt?“ Er strahlt.
„Ohne mit der Wimper zu zucken.“
Unser nächstes Ziel ist der Stadtpark mit dem gewaltigen Ahorn-Baum, unter dem Maik und ich nach der Flucht vor Jonas eine Nacht verbracht haben.
Maik reckt den Daumen und lacht.
Mein Handy düdelt. Mortimer und Charles haben ihren Rundgang beendet und schlagen vor, dass wir uns alle beim Jugendamt treffen.
Kirsten Brosch, die für mich zuständige Beamtin, winkt uns in ihr Büro und begutachtet mich wie eine wertvolle Topfpflanze. Wurde ich auch genug gegossen? Was sie sieht, stellt sie offenbar zufrieden.
Mortimer kennt sie ja, aber Charles scheint ihr Ehrfurcht einzuflößen. Na ja, er gibt sich auch reichlich Mühe, den großen Macker hervorzukehren.
Nach einer Viertelstunde dürfen wir wieder gehen. Sie weiß von der morgigen Gerichtsverhandlung und wünscht mir zum Abschied viel Kraft, um diese Prüfung durchzustehen. Was nicht dazu beiträgt, mich zu beruhigen. Aber so ist sie nun mal. Taktgefühl ist ihr fremd.
Weil Charles darauf besteht, schick Eis essen zu gehen, führen wir ihn zur einzigen Eisdiele von Bad Steinach, die zum Glück wieder geöffnet hat. Danach kehren wir in unser Hotel zurück.
Wir sind noch nicht richtig angekommen, als Maiks Schritte langsamer werden. Er starrt auf zwei Männer, die vor dem Hotel auf- und abgehen. Einen Augenblick lang kommt es mir vor, als wolle er auf dem Absatz kehrtmachen und davonrennen.
Auch Mortimer hat es bemerkt, und wir beide betrachten uns die fremden Männer näher. Der jüngere von ihnen hat eine gewisse Ähnlichkeit mit ... Maik.
Da geht ein Ruck durch die beiden. Der Ältere hebt genervt die Arme in die Luft.
„Da bist du ja! Wir warten schon eine Ewigkeit auf dich. Warum hast du nicht auf meine Mails geantwortet?“
Maik ist kreidebleich geworden. „Was wollt ihr hier?“
„Pfff! Dich mitnehmen, was sonst! Sieh zu, dass du deine Sachen packst, damit wir noch vor Einbruch der Dunkelheit in Wückerstedt ankommen.“
Wückerstedt ...? Das ist doch ... Und dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen.
Die beiden sind Maiks Vater und Bruder.
Vor denen er im letzten Sommer geflohen ist.
Mir wird kotzübel. Ich betrachte die zwei Männer und entdecke zwar eine äußere Ähnlichkeit mit Maik, sowohl, was die Gesichtszüge betrifft, als auch Größe und Körperform. Aber da hören die Gemeinsamkeiten schon auf. Ich weiß, dass Maiks Bruder Dirk heißt und älter ist als er. Er hat wie sein Vater beim Finanzamt Karriere gemacht, wofür Maik nie Interesse gezeigt hatte. Das hatten sie ihm über die Jahre schwer angekreidet, weshalb er schließlich bei Nacht und Nebel von zuhause abgehauen ist.
Was wollen die jetzt von ihm? Woher wissen sie, dass wir heute hier in Bad Steinach sind? Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass sie ihn einfach so mitschleppen können?
In diesem Moment macht es in meinem Kopf Bling. Das war also die Message, die Maik gestern bekommen hat.
Und über die er nicht sprechen wollte.
Mortimer fasst sich als erster. Mit einem herzlichen Lächeln geht er auf die Männer zu und stellt sich in perfektem Deutsch vor. Maiks Vater verzieht geringschätzig den Mund, Dirk gibt vor, nichts gehört zu haben. Ich fühle Wut in mir hochsteigen.
Maik schluckt. „Das sind mein Vater und mein Bruder.“ Mamba Senior hält es nicht für nötig, auf Mortimers freundliche Begrüßung zu antworten. Er stemmt die Hände in die Hüften. „Bist du so weit? Unser Wagen steht da vorne.“
Maik wirft uns einen hilflosen Blick zu.
„Warum soll Maik mit Ihnen kommen?“, frage ich und höre selbst, dass meine Stimme vor Kälte klirrt.
Sein Vater betrachtet mich wie ein lästiges Insekt. „Das ist eine Familienangelegenheit.“
Maik räuspert sich. „Meine Mutter ist sehr krank. Sie wird ... sterben.“
Mortimers Miene drückt Betroffenheit aus.
Charles, der ebenfalls Deutsch spricht, wenn auch nicht so perfekt wie Mortimer, hält es für an der Zeit, nun auch etwas zu sagen: „Das tut uns sehr leid. Natürlich solltest du zu ihr fahren. Warum hast du uns nichts davon gesagt?“
„Hat er nicht?“, ätzt Dirk. „Sein Familiensinn war noch nie besonders stark.“
Maik steht da mit hängenden Armen. Dann sieht er mich an. „Lea ...“
Eine unbestimmte Angst schnürt mir die Kehle zu. Wenn er jetzt losfährt, wird er morgen bei der Gerichtsverhandlung nicht an meiner Seite sein. Diese Vorstellung ist für mich mörderisch.
„Maik! Wir warten! Lass deine Sachen einfach hier, deine Freunde können sich darum kümmern. Wir wollen jetzt endlich losfahren!“ Die Stimme seines Vaters duldet keinen Widerspruch. Er packt Maiks Arm und will ihn mit sich fortziehen.
Aber Mortimer ist schneller. Er umarmt Maik. „Wir fahren morgen Abend wie geplant nach Mailand. Komm nach, sobald du kannst.“
„Der Bulli ...“, entfährt es Maik. Er greift in seine Hosentasche, zieht den Wagenschlüssel heraus und reicht ihn Mortimer. Seine Hand zittert dabei. Und er sieht mich mit verzweifelten Augen an.
Irgendwie bringe ich ein Lächeln zustande. „Komm so schnell wie möglich nach. Bitte.“
Er nickt. „Ich nehme den nächsten Zug nach Mailand.“
Sein letzter todtrauriger Blick treibt mir die Tränen in die Augen. Ich will etwas sagen, finde aber keine Worte. Es geht einfach alles zu schnell. Ich komme nicht einmal mehr dazu, ihn zu umarmen. Ist vielleicht auch besser so. Sonst würde ich anfangen zu heulen.
Und dann verschwinden die drei aus unserem Blickfeld.
Wie ich diesen Tag überlebe, weiß ich später nicht. Mortimer und Charles versuchen, mich aufzuheitern. Aber ich fühle mich wie ausgehöhlt.
Seit neun Monaten sind Maik und ich täglich zusammen. Lea ohne Maik gibt es praktisch nicht. Vor meinem geistigen Auge spult sich ein Film ab: Wie er letztes Jahr im Juli wie ein Meteorit in mein Leben krachte. Unsere gemeinsame Fahrt in dem geklauten Maserati nach Mailand. Der Zusammenstoß mit Fabrizio Hofstätters Gorillas. Die Gefahren, aus denen ich ohne Maik nicht lebend herausgekommen wäre. Die Begegnung mit Mortimer. Die erste Zeit in Long Nickleby. Doc Webster und Virginia. Meine filmreife Rettung, bei der das gesamte Dorf beteiligt war. Und überall war Maik dabei.
Ich spüre Mortimers Arm um meine Schultern. „Hallo! Erde an Lea! Was hältst du von einem Kinobesuch?“
„Mhm. Wann?“
„In einer halben Stunde.“
„Okay ...“
Keine Ahnung, wie diese dreißig Minuten herumgehen.
Ich folge den beiden in das Programmkino der Stadt und lasse mir von Charles eine Riesentüte Popcorn in die Hand drücken. Dann atme ich zum ersten Mal tief durch.
Bringe ein halbwegs optimistisches Lächeln zustande.
Ich habe ja die beiden. Ich bin nicht allein.
Und spätestens übermorgen Abend wird Maik bei uns in Mailand sein.
Trotzdem bekomme ich von dem Film nicht wirklich viel mit. Nur so viel, dass es ein scheinbar witziger alter Schinken aus den 1960er Jahren ist. Romy Schneider und Alain Delon. Charles lacht sich halb kaputt. Ich aber sehe auf der Leinwand überall Maiks verzweifeltes Gesicht.
In der folgenden Nacht liege ich in meinem Hotelbett wach. Stunde um Stunde.
Maik fehlt.
Ganz furchtbar.
Ich weiß, dass im Zimmer rechts von mir Mortimer ist und gleich daneben Charles. Dennoch wälze ich mich von einer Seite auf die andere und kämpfe gegen die Dämonen in meinem Kopf.
Na ja, ein Gutes hat die Sache. Die bevorstehende Begegnung mit Jonas hat dadurch etwas von ihrem Schrecken verloren. Schlimmer als die Katastrophe mit Maik kann sie nicht werden. Ich bringe sie hinter mich, und dann ist der Spuk vorbei. Und spätestens übermorgen ist Maik wieder bei uns, und wir beide machen Mailand unsicher.
Der neue Tag beginnt trüb. Die Sonne, die gestern noch unverschämt gutgelaunt vom Himmel gestrahlt hat, ist hinter einer undurchdringlichen Wolkenwand verschwunden.
Maik hat sich seit seinem Weggehen noch nicht gemeldet. Ich habe ihm gestern Abend eine kurze Nachricht geschickt, aber sie blieb unbeantwortet. Was überhaupt nicht zu ihm passt. Okay, seiner Mutter geht es sehr schlecht. Komisch, er hat nie von ihr erzählt, nur von seinem Vater und Dirk.
Ein paar Mal stehe ich auf, gehe zum Fenster und starre auf den nächtlichen Parkplatz hinter dem Hotel. Da steht der rosa Bulli, als sei nichts geschehen.
Larissa hat mir seit unserer Abreise gefühlt tausend Nachrichten geschickt, mit denen ich mich tröste. Auch sie ist für mich da, wenn ich sie brauche.
Ich gebe mir einen Ruck und berichte ihr trotz der nächtlichen Stunde in einer Nachricht von Maiks plötzlichem Weggehen. Ihre Antwort kommt innerhalb von Sekunden: „Warum???“
Ich spüre, dass sie genauso beunruhigt ist. Das ist nicht gut. Ich hätte erwartet, dass sie über meine Befürchtungen lacht und mich dafür verspottet. Stattdessen schickt sie mir drei bedröppelt dreinblickende Emojis.
Scheiße!
Am nächsten Morgen versuchen Mortimer und Charles mich während des ausgiebigen Frühstücks im Hotel aufzuheitern. Charles liest uns eine Mail von Diane vor: Sie langweilt sich fürchterlich bei ihrer Freundin und kehrt schon früher nach Hause zurück. Charles ändert daraufhin seine Reisepläne und will noch am gleichen Abend einen Flieger zurück nach London nehmen.
„Aber bei der Gerichtsverhandlung bin ich dabei“, erklärt er. „Du brauchst jede Unterstützung.“
Ich nicke dankbar. Das sehe ich auch so.
Und dann ist es so weit. Die KHKs holen uns mit ihrem Dienstwagen ab, und pünktlich um 10 Uhr treffen wir im Gerichtsgebäude in Frankfurt ein. Von der Fahrt dorthin bekomme ich nicht viel mit. Mein Blick geht aus dem Fenster, ohne dass ich etwas wahrnehme. Berger lenkt den Wagen mit nachtwandlerischer Sicherheit durch den dichten Stadtverkehr und hinein in ein mehrstöckiges Parkhaus.
Auf den paar Schritten über die belebten Bürgersteige der Frankfurter City verwandeln sich meine Knie in Pudding. Schließlich reiße ich mich zusammen und atme tief durch. Worüber rege ich mich eigentlich auf? Mortimer und Charles sind dicht an meiner Seite. Außerdem hat Herr Bock erreicht, dass sich während meiner Befragung außer den beiden KHKs keine Zuschauer in dem kleinen holzgetäfelten Saal aufhalten dürfen.
Ich nehme zwischen ihm, Mortimer und Charles Platz. Kurz darauf rauscht die Richterin herein. Sie stellt sich als Melanie Schaberger vor. Ich schätze sie auf fünfunddreißig bis vierzig Jahre. Sie hat einen perfekt geschnittenen strohblonden Bob und auffällig blaue Augen. Ihr breites Lächeln wirkt sympathisch.
Und dann kommt der Moment, vor dem ich mich seit Wochen fürchte: Jonas wird von zwei Beamten hereingebracht. Ich glotze ihn an. Alles in mir verfällt in Schockstarre. Fast hätte ich ihn nicht erkannt. Aus der bulligen Gestalt ist ein hagerer, gebeugt wirkender Mann geworden. Seine Wangen sind eingefallen, nur die Augen haben ihren durchdringenden Stich behalten. Er sitzt in einem Rollstuhl, die Beine und Füße eng nebeneinander, die Hände im Schoß gefaltet.
Unsere Blicke begegnen sich für einen Moment. Er verzieht das Gesicht zu einer Grimasse. Soll das so etwas wie ein Lächeln sein? Ich zucke zusammen. Das hat er noch niemals getan.
Der Raum um mich herum scheint kleiner zu werden, die Wände kommen auf mich zu. Erst Mortimers leise Frage, ob ich einen Schluck Wasser trinken möchte, reißt mich aus dieser Wahnvorstellung.
Die Richterin räuspert sich und liest von einem Blatt die Namen der anwesenden Personen und die heute zu besprechenden Anklagepunkte vor: Körperliche und seelische Misshandlung einer Minderjährigen über den Zeitraum von sieben Jahren. Die minderjährige Person, um die es hierbei geht, bin ich. Ich fühle mich, als würde ich durch einen Fleischwolf gedreht. Aber dann liegt Mortimers Hand auf meiner. Ich atme tief durch. Charles sitzt auf dem Platz neben Mortimer, der eigentlich für Maik bestimmt war.
Maik.
Warum nur habe ich plötzlich das ohnmächtige Gefühl, dass er für immer aus meinem Leben verschwunden ist? Meine Kehle wird eng.
Die Stimme der Richterin holt mich zurück. „Lea?“
Sie nennt mich beim Vornamen. Lächelt. Offenbar habe ich ihre letzten Worte verpasst. Ich entschuldige mich.
„Sind diese Angaben korrekt wiedergegeben?“
Ich räuspere mich. „Ja.“
„Geht es dir gut? Sollen wir die Sitzung unterbrechen?“
„Nein, schon okay. Danke.“ Mein Kopf ist plötzlich wieder klar.
Nun gibt sie Jonas‘ Strafverteidiger das Wort. Der steht auf und stellt mir Fragen zu den einzelnen Anklagepunkten. Will alles noch einmal detailliert aus meinem Mund hören. Ich antworte wahrheitsgemäß. Bin ganz cool.
Herr Bock und Mortimer haben mich auf diese Heimsuchung vorbereitet. Dass Herr Lipping, so heißt dieser dunkelhaarige Schönling im tadellosen Anzug, versuchen wird, mich zu verunsichern. Mich in Widersprüche zu verwickeln. Meine Aussagen zu zerpflücken. Und genau das tut dieser Arsch. Klar, er will das Strafmaß für seinen Mandanten nach Möglichkeit verringern. Ich muss minutiös schildern, wie ich mich damals nach Johannas 13. Geburtstagsparty kurz vor Mitternacht nach Hause geschlichen habe. Die Party, zu der ich niemals hätte gehen dürfen. Es war das erste und letzte Mal, dass ich mich Jonas‘ Anordnungen widersetzt habe. Ich berichte in allen Einzelheiten, wie er mir beim Heimkommen auflauerte, wieder und wieder auf mich eindrosch, mit Fäusten und Füßen. Und damit erst aufhörte, als ich in gnädige Ohnmacht fiel.
Ich hebe den Blick und schaue Jonas voll ins Gesicht. Beschreibe die Verletzungen, die ich davontrug. Dass ich zwei Wochen lang nicht zur Schule gehen konnte. Dass ich nur noch aus Schmerzen bestand.
Die körperlichen Blessuren verheilten. Aber Jonas ist es gelungen, mich zu brechen. Niemals wieder habe ich mich seinen Anweisungen widersetzt.
Doch das Schlimmste war für mich, dass Tante Katrina diese Übergriffe duldete. Sie hat mich im Stich gelassen. Niemals zuvor in meinem Leben bin ich mir so verlassen und wertlos vorgekommen.
Während dieser Jahre bei Tante Katrina durfte ich an keiner Klassenfahrt teilnehmen, keine Party besuchen, niemanden zu uns einladen. Denn dann wäre ich nach Jonas‘ Meinung Gefahr gelaufen, etwas auszuplaudern. Ich hatte meinen festen Part innerhalb der ‚Gruppe‘. Es war mein Daumenabdruck, mit dem sich der Zugang zu unserem Bankschließfach öffnen und der Erlös der Beutezüge dort deponieren ließ. Niemand hat etwas gemerkt. Niemand hätte bei einem harmlos aussehenden Teenager so etwas Monströses vermutet. Ich war die perfekte Tarnung.
Ich habe geschwiegen. Zu allem. Bis Maik kam.
Charles murmelt „Oh, Gott ...“ Ich werfe ihm einen beruhigenden Blick zu. Es ist vorbei. Ich habe es überlebt. Genauso wie die Nacht, in der meine Tante Hofstädters gesamte Mannschaft niedermetzelte. Und Maik und mich ebenfalls töten wollte.
Es war Mortimer, der uns beide vor dem sicheren Tod rettete, indem er die Polizei zu Hilfe rief. Sie kam buchstäblich in letzter Sekunde.
Später beantragte er die Vormundschaft für mich und holte Maik und mich zu sich nach Long Nickleby. In den ersten Wochen auf Cabot Green wachte ich jede Nacht auf, um vor Erleichterung und Freude darüber, bei diesem warmherzigen und wundervollen Mann zu sein und bleiben zu dürfen, fast in Tränen auszubrechen.
Herr Lipping fährt fort zu fragen:
„Gibt es Zeugen für die Verletzungen?“
„Nein.“
„Knochenbrüche? Bleibende Narben?“
„Nein.“ Was mir im Nachhinein wie ein Wunder erscheint.
„Hat deine Tante dabei zugesehen?“
„Nein.“
„Hat sie meinen Mandanten später zur Rede gestellt?“
„Nein.“
„Nein?“ Er schürzt skeptisch die Lippen. „Wie hat sie darauf reagiert?“
Ich winde mich innerlich. „Sie hat mir geraten, künftig auf ihn zu hören.“
„Ist er später nochmal in dieser Weise tätlich geworden?“
„Nein.“
Wieder kräuselt er den Mund. Will wissen, warum ich mich während all der Jahre im Haus meiner Tante so offensichtlich bereitwillig in meine Rolle innerhalb ihrer Bande von Juwelendieben eingefügt hätte.
Ich höre Charles schnauben.
„Ich hatte keine Wahl.“