Es steht geschrieben / Der Blinde - Friedrich Dürrenmatt - E-Book

Es steht geschrieben / Der Blinde E-Book

Friedrich Dürrenmatt

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Beschreibung

»Der Blinde stellt den Glauben an sich als eine elementare Kraft dar, unabhängig von seinem Inhalt. Die Handlung spielt im Dreißigjährigen Krieg und ist erfunden ­ wenn auch beeinflußt vom biblischen Hiob. In der Ruine seines Palastes wird ein blinder Herzog im Glauben gelassen, er besitze noch die Macht, die er verloren hat, und sein Land sei verschont geblieben. Der Herzog wagt den Glauben in der Erkenntnis, daß es für einen Blinden keine andere Möglichkeit gibt, als blind zu glauben. An seiner Blindheit zerbricht schließlich die Realität der Sehenden, und die geglaubte Realität des Blinden wird wirklich.«

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Friedrich Dürrenmatt

Es steht geschrieben | Der Blinde

Frühe Stücke

Diogenes

Es steht geschrieben

Ein Drama

Vorwort

Vielleicht wäre noch zu sagen, es sei nicht meine Absicht gewesen, Geschichte zu schreiben, wie ich denn auch Dokumenten nicht nachgegangen bin, kaum daß ich einige wenige Bücher gelesen habe über das, was sich in jener Stadt zugetragen. In diesem Sinne mag die Handlung frei erfunden sein. Was mich rührte, war die Melodie, die ich aufgenommen habe, wie bisweilen neuere Instrumente alte Volksweisen übernehmen und weitergeben. Inwieweit sich heutiges Geschehen in ihr spiegelt, sei dahingestellt. Es wäre jedoch der Absicht des Verfassers entsprechender, die mehr zufälligen Parallelen vorsichtig zu ziehen.

Personen

Drei Wiedertäufer

Der Mönch Maximilian Bleibeganz

Zwei Straßenkehrer

Eine Wache, später Nachtwächter

Johann Bockelson von Leyden

Bernhard Knipperdollinck

Judith

Katherina

Mollenhöck

Ein Mann

Der Bischof Franz von Waldeck

Gemüsefrau

Zwei Bürger

Weib mit Tochter

Ansager

Zwei Soldaten

Jan Matthisson

Rottmann

Krechting

Johann von Büren

Hermann von Mengerssen

Wächter

Trommler

Diener

Kaiser Karl der Fünfte

Zeremonienmeister

Chronometrischer Türke

Kaufmann

Landgraf von Hessen

Seine beiden Frauen

Wirt

Ein Weib

Ein Kind

Landsknecht

Koch

Scharfrichter

Geschrieben Juli 1945 bis März 1946

Uraufführung im Schauspielhaus Zürich am 19. April 1947

Zu Beginn knien drei Wiedertäufer auf der Bühne. Sie sind hager, haben lange Bärte, ungekämmte Haare und unbeschreibliche Kleider am Leib, die Wangen hohl, die Augen schwarz umrandet, doch kann vom durchdringenden Zwiebelgeruch abgesehen werden. Man braucht diese sauberen Brüder nicht so wichtig zu nehmen, daß für sie eine eigene Szenerie gebaut würde – Gott bewahre –, es genügt, sie vor dem bloßen Vorhang auftreten zu lassen, wie denn auch während des ganzen Spiels der Regisseur und die Schauspieler sich viele Einfälle erlauben dürfen, denn wir geben nicht mehr als einige dürftige Noten und Farben zu einer kunterbunten Welt, die gestern genau so war wie heute und morgen.

DER MITTLERE WIEDERTÄUFER

Gott verhüllte sein Antlitz, da erlosch die Sonne im Meer und die Schiffe brannten über den Wassern.

Die Wale wurden ans Land geschwemmt.

Die Berge sanken und die Wälder öffneten sich, aus der Tiefe brach Feuer.

Die Leichen der Menschen deckten die Ströme und hingen an den Ästen der Bäume.

Die Totenvögel mästeten sich.

Sie wurden feiß wie Säue, daß sie nicht mehr fliegen konnten.

Die Verdammten verließen die Höhle, welche sich zur Mitte der Erde hinabsenkte.

Ihre Leiber schoben sich vor die Gestirne der Nacht.

Sie glitten von den Felsen gleich Drachen der Mitternacht, vom Geklirr ihrer Schwingen erbebten Himmel und Erde.

DER WIEDERTÄUFER ZUR LINKEN

Sie erhoben sich, zu töten, und zogen aus wider die Täufer.

Diese aber sind reinen Leibes, und der Herr hat unter ihnen seinen Tempel errichtet.

Sie haben alle Sünden von sich geworfen, wie der Bräutigam seine Kleider von sich wirft, wenn die Nacht der Hochzeit gekommen.

Sie sind die Heiligen, erwählt, zur Rechten des Herrn zu sitzen.

Sie sind getauft, wie Johannes es tat mit dem Gott.

Jedes Ding ist ihnen gemeinsam, und wenn der Bruder spricht zum Bruder: Gib mir dein Kleid, mich friert, so bekommt er das Kleid, und wenn er spricht: Gib mir dein Brot, mich hungert, so bekommt er das Brot, und wenn der Bruder zum Bruder also redet: Gib mir dein Weib, daß ich Kinder Gottes mit ihm zeuge, so wird ihm das Weib zuteil.

Aber Gott gefiel es, seine Knechte dem Bösen auszuliefern, denn so einer ein Schwert will, hält er das Eisen ins Feuer.

DER WIEDERTÄUFER ZUR RECHTEN

Die Verdammten warfen sich über die Täufer, wie Wölfe sich über die Schafe werfen in der Winternacht.

Sie wurden in Käfige gezwängt und ersäuft, in den Boden gegraben bis zum Hals und einen Kessel über den Kopf und zwei Ratten unter den Kessel.

Sie verbrannten an Pfähle genagelt und mit Pech bestrichen. Die Männer wurden entmannt, und den Weibern stießen sie glühendes Eisen in den Schoß.

Ihre Augen wurden gestochen, ihre Hände abgehauen und ihre Zungen herausgerissen.

Tausende und Abertausende sanken dahin, denn der Herr prüfte sie.

DER MITTLERE WIEDERTÄUFER

Die Täufer fanden Gnade vor Gott.

Sein Zorn wandte sich gegen die, welche sprechen: Es ist kein Gott, oder ihn lästern und falsche Lehren verbreiten und Götzen anbeten, welche sie Heilige nennen. Er hat sie in die Hände der Täufer gegeben, denn er will, daß seine Knechte das Unkraut verbrennen.

Die Täufer sollen die Verdammten austilgen und ihren Samen erwürgen.

Ihre schwangeren Weiber sollen sie an die Wände nageln und ihnen die Kinder aus dem Bauch schneiden und die Ungeborenen hineinpressen in die aufgeschlitzten Wänste der Pfaffen.

Den Töchtern der Hölle sollen sie die Kleider vom Leibe reißen und mit ihnen tun, wie man mit Huren tut, und sie den Hunden vorwerfen, daß die Hunde satt werden am Hurenfleisch.

Der Erdkreis in seiner Unermeßlichkeit wird in die Hände der Täufer fallen durch die Macht seiner Knechte, die unwiderstehlich ist, wie der Blitz, der vom Himmel fällt, und wie der Strom, der zum Meere fließt.

DER WIEDERTÄUFER ZUR LINKEN

Der Herr schmiedete sein Schwert und sah, daß es gut war.

Zum Zeichen des Bundes gab Er seinen Knechten eine Stadt, von der sie die Erde bezwingen werden und wo ihnen ein neuer Salomo entstehen wird.

Also ziehen die Täufer aus allen Ländern gen Münster in Westfalen.

Gesegnet sei die Stadt, die vor uns liegt in der Abendsonne.

Gesegnet ihre Türme und Dächer, vergoldet vom späten Strahl des Lichts.

Bald werden die letzten Ungläubigen aus ihr fliehen, und der Bischof wird mit seinen Kebsweibern und Lustknaben den Tempel seiner Götzen verlassen.

Die erbärmlichen Lutheraner werden ihr entweichen wie Schelme.

Aus der Stadt aber werden einst die Täufer brechen, tausendmal tausend und zehnmal hunderttausend, die Feinde mit dem Schwert zu überwinden und das Meer mit ihrem Blute zu färben.

DER WIEDERTÄUFER ZUR RECHTEN

Dann endlich wird der Tag kommen, der verheißen ist, wo Er, allen sichtbar, in feuriger Wolke sitzen wird, Gericht zu halten über Gerechte und Ungerechte.

Er wird den ehernen Spruch fällen, der gelten wird von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Die Ungläubigen und Irregeleiteten wird Er zu ewiger Qual verdammen, daß sie hinabsinken in die Nacht.

Die Täufer aber werden Gnade finden vor Seinen Augen. Ein neuer Himmel wird sein und eine neue Erde. Eine neue Seele und ein neuer Leib.

Wir werden eins sein mit Ihm, der wiedergeboren ist in uns.

Ehre sei Gott in der Höhe!

Die drei, welche gegen das Ende ziemlich ins Feuer geraten sind, treten ab, doch wird es das Orchester nicht unterlassen können, ihnen einige parodistische Töne nachzusenden. Darauf erscheint ein Mönch vor dem noch geschlossenen Vorhang, der aber, während jener spricht, sich öffnet, so daß eine Szene sichtbar wird, die dem Folgenden zu entnehmen ist.

DER MÖNCH

Ihr werdet mir zugeben, meine Damen und Herren, ihr werdet mir zugeben, daß jene drei, die eben noch an dieser Stelle so entsetzlich geheult, ungehobelte und recht ungepflegte Kerle gewesen sind.

Daher wird es jedermann verstehen, wenn ihr euch über die Täufer eine schlechte Meinung gebildet, und ihr habt im großen und ganzen ja recht.

Es sind Tröpfe, ich weiß, arme Tröpfe,

Anhänger einer Sekte, die von Bäckermeistern, Goldschmieden, Kürschnern und verworrenen Predigern erfunden wurde, deren Dummheit euch nur insofern in Verlegenheit bringen kann, als ihr nicht wißt, ob ihr lachen sollt oder weinen.

Doch müssen mir Kenner unter euch beistimmen – gesetzt, es sitzen einige in diesem Saal –, daß mit solchen Schreihälsen wunderbar Weltgeschichte gemacht werden kann.

Was mich nun selbst betrifft,

so heiße ich Maximilian Bleibeganz

oder, wie man mich im Kloster zu nennen liebte, dem ich entlaufen: Bruder Maximus,

einerseits geboren am 31. Dezember 1499, anderseits am 1. Januar 1500,

in jener Mitternacht also, in der das alte Jahrhundert Gott sei Dank ein Ende und das neue leider Gottes einen Anfang nahm. Ich bin nicht historisch, ich habe nie gelebt und dies nie bereut, im Gegenteil, ich bin überzeugt, daß jede Art von Existenz mit Nachteilen verbunden ist, die nicht wieder wettzumachen sind. Ich komme denn auch in diesem Spiel nur selten vor, vielleicht zwei- oder dreimal,

ja, es trifft bisweilen zu,

daß ich überhaupt nicht aufzutreten brauche, weil der Regisseur mich wegläßt, um das Stück zu kürzen, oder weil er gerade einen Schauspieler zu wenig hat:

Und auch jetzt, indem ich zu euch rede,

bin ich nicht viel anderes als eine Verlegenheitspause, da der Vorhang zwar hinter meinem Rücken in die Höhe gegangen ist, aller Augen auf die Bühne geheftet sind, aber niemand recht weiß, wie es weitergehen soll. Doch hoffe ich ein wenig – und es könnte euch und uns viel helfen, wenn es zuträfe –, daß der Name der Wiedertäufer durch all die Jahrhunderte, die zwischen meiner Zeit und der eurigen als eine undurchdringliche Mauer liegen – denn wer könnte zurück in Vergangenes –, daß dieser Name also jenen gewissen Klang bewahrt haben möge,

der euch dafür Gewähr schenken könnte,

daß ihr genügend Blutbäder, Kriegsgeschrei, Folterszenen, erlaubte und unerlaubte Liebe für euer Geld zu sehen bekommt,

und ich kann euch versichern,

daß ihr Karl den Fünften sogar, den Kaiser, höchst natürlich auf dem Thron werdet sitzen sehen.

Richtet also die Blicke, wenn ich bitten darf, auf diese Hauswand, euch in voller Breite gegenüber,

samt jener Ecke, mir zur Rechten, um die sich eine Straße krümmt.

Wir befinden uns in Münster,

einer Stadt in Westfalen,

nicht sehr groß, so an die fünfzehntausend Seelen,

die, leider unsichtbar, uns alle mit Kirchen, Palästen, Straßen und Brunnen umgibt.

Ganz links, in jener Beuge der Straße, bemerkt ihr einen Karren, und in ihm Johann Bockelson aus Leyden, der sehr vernehmbar schläft, in einem Kleide,

das bedenkliche Löcher und Risse an bedenklichen Stellen aufzuweisen hat.

Nun, er wird auch so den Damen gefallen, denn er ist ein schöner Mann, und manche wird im stillen hoffen, einmal die erwähnten Löcher stopfen zu dürfen.

Von rechts kommen zwei Straßenkehrer,

eindrucksvoll vertrottelte Figuren,

davon der eine besonders pathetisch verarmt ist.

Gott sei seiner Armut gnädig.

Das Spiel beginnt.

Bewahrt das Gute, vergeßt das Mittelmäßige und lernt vom Schlechten! Ab.

ERSTER STRASSENKEHRER

Es ist ein frischer Morgen und ein Haufen Dreck und Staub am Boden.

ZWEITER STRASSENKEHRER

Lutum und pulvis. Ihr wißt, ich habe Philosophie studiert.

ERSTER STRASSENKEHRER

Je!

ZWEITER STRASSENKEHRER

Juristerei und Medizin.

ERSTER STRASSENKEHRER

Glaub’s! Glaub’s!

ZWEITER STRASSENKEHRER

Und Theologie!

ERSTER STRASSENKEHRER

Ihr gabt Euch Mühe, Straßenkehrer zu werden.

ZWEITER STRASSENKEHRER

Seht, in meinem Kopf rappelt’s. Ich bin auf den Hund gekommen, seht Ihr? Ich höre Stimmen.

ERSTER STRASSENKEHRER

Stimmen?

ZWEITER STRASSENKEHRER

Da ist immer was im Kopf. Wie ein Stern, versteht. Oder ein Baum, mit Ästen, Früchten und Blättern, versteht Ihr?

ERSTER STRASSENKEHRER

Wie ein Baum?

ZWEITER STRASSENKEHRER

Versteht, das macht das Rappeln.

ERSTER STRASSENKEHRER

Je!

ZWEITER STRASSENKEHRER steht ganz unbeweglich, mit dem Finger an der Nase

Hört Ihr?

ERSTER STRASSENKEHRER neugierig forschend

Rappelt’s?

ZWEITER STRASSENKEHRER

Hört Ihr?

ERSTER STRASSENKEHRER

Das schnarcht. Er sieht sich um und erblickt den schlafenden Bockelson. Je, da liegt einer im Karren und schläft.

Sie gehen zu Bockelson und betrachten ihn.

ERSTER STRASSENKEHRER

Er liegt im Staub.

ZWEITER STRASSENKEHRER

Wir sind aus Staub und werden zu Staub. Ex pulvere in pulverem. Versteht, das ist Latein.

ERSTER STRASSENKEHRER

Das ist nicht Latein, das ist Schnaps.

Von rechts kommt ein kleines, dickes Männlein mit einem langen Schnurrbart, das einen mächtigen Säbel am Gürtel hängen hat, der hinter ihm mit großem Gepolter über den Boden holpert.

DIE WACHE

Das Gesetz ist das Gesetz!

ERSTER STRASSENKEHRER mit einer großen Verbeugung

In jedem Fall, Euer Strengen.

DIE WACHE

Judico, ergo sum.

ERSTER STRASSENKEHRER

Sehr wohl, Euer Strengen, ergo dumm.

DIE WACHE

Da liegt jemand im Karren. Er ist arretiert.

ERSTER STRASSENKEHRER

Er ist arretiert.

DIE WACHE

Der Mann ist vor dem Gesetz betrunken. Ich muß arrretieren, wie der Befehl ist von den Täufern. Artikel 24: Gegen die Völlerei. Der Mann ist voll. Artikel 29: Gegen den Aufenthalt an unanständigen Orten. Ein Mistkarren ist ein unanständiger Ort.

ERSTER STRASSENKEHRER

Ein sehr unanständiger Ort, Euer Strengen.

DIE WACHE

Rüttelt ihn.

ERSTER STRASSENKEHRER

Er schneuzt, Euer Strengen!

ZWEITER STRASSENKEHRER

Sternuit! Versteht, studierte in Bologna, Ferrara, Sevilla, Salerno, Basilea.

ERSTER STRASSENKEHRER

Er erwacht!

Johann Bockelson brummt etwas Unverständliches und hebt ein wenig den Kopf in die Höhe.

DIE WACHE

Im Namen des Gesetzes. Ihr seid arretiert.

JOHANN BOCKELSON

Ehre sei Gott in der Höhe!

ERSTER STRASSENKEHRER

Je!

JOHANN BOCKELSON

Wo bin ich, Ihr Leute?

DIE WACHE

Ihr seid zu Münster in Westfalen.

JOHANN BOCKELSON

Ihr sagt: Zu Münster in Westfalen?

ERSTER STRASSENKEHRER

Gerade so. In der Ägidiistraße.

JOHANN BOCKELSON breitet die Arme gen Himmel

Herr! Ich danke dir, daß du so an deinem Knecht getan!

ZWEITER STRASSENKEHRER

Unio mystica! Habe studiert Theologie. Cusanus, Paracelsus, Scotus, Augustinus, Plotinus!

DIE WACHE

Von wegen der Trunkenheit, mit welcher Ihr in diesem Karren gelegen, seid Ihr arretiert.

JOHANN BOCKELSON

Wißt Ihr auch, wer ich bin?

DIE WACHE unbeirrt

Ihr seid dagelegen in Völlerei!

JOHANN BOCKELSON

Ich bin ein Täufer.

ERSTER STRASSENKEHRER

Je, ein Täufer!

JOHANN BOCKELSON

Einer der größten Propheten.

Die Wache schlägt verlegen die Hacken zusammen und verbeugt sich.

JOHANN BOCKELSON

Ich hoffe, daß auch Ihr diesem Glauben angehört.

ERSTER STRASSENKEHRER mit einer hilflosen Handbewegung

Ich bin ein Straßenputzer.

ZWEITER STRASSENKEHRER

Ich habe das Rappeln.

DIE WACHE  verwirrt und außerordentlich höflich 

Ihro Gnaden waren betrunken – ich meine, Ihro Gnaden schliefen in diesem Karren. Ich muß Ihro Gnaden arretieren. Er wischt sich den Schweiß von der Stirne. Das Gesetz ist das Gesetz, Ihro Gnaden!

JOHANN BOCKELSON nachlässig

Ich war nicht betrunken, mein Freund: Ich war ohnmächtig!

DIE WACHE

Ohnmächtig?

ERSTER STRASSENKEHRER

Je!

ZWEITER STRASSENKEHRER

Animus eum reliquit! Das ist Medizin, Ihro Gnaden, ich habe studiert Medizin, Ihr wißt!

DIE WACHE zieht ein Büchlein und eine Kohle hervor

Name, Herkunft, Beruf?

JOHANN BOCKELSON

Johann Bockelson, Schneidergesell, Mitglied eines dramatischen Vereins, Wanderprediger und Prophet der Wiedertäufer, gestorben auf eine grausame und gewalttätige Weise zu Münster in Westfalen am 22. Januar 1536.

DIE WACHE

Ihr sagt, Ihr seid am 22. Januar 1536 gestorben?

JOHANN BOCKELSON

Gewiß, ich starb damals. Man folterte mich und warf die Leiche, nachdem ich am Rade gestorben, in ebendenselben Karren, worin Ihr mich zur Stunde liegen seht.

DIE WACHE starr

Dies geschah am 22. Januar 1536?

JOHANN BOCKELSON

Am 22. Januar 1536.

DIE WACHE

Verzeiht, wir haben den 23. September 1533!

JOHANN BOCKELSON überlegen

Mein Freund, es mag uns Propheten hin und wieder unterlaufen, daß wir die Zukunft mit der Vergangenheit verwechseln.

DIE WACHE

Woher kommend?

JOHANN BOCKELSON

Vor einer halben Stunde lebte ich zu Leyden in den Niederlanden.

DIE WACHE stutzend

Zu Leyden? Vor einer halben Stunde?

JOHANN BOCKELSON

Wie Ihr sagt.

DIE WACHE

Leyden ist vier Tagreisen von Münster.

JOHANN BOCKELSON

Was wollt Ihr damit sagen?

DIE WACHE

Ihr seid in Münster.

JOHANN BOCKELSON

Ich zweifle nicht.

DIE WACHE

Ihr wäret in einer so kurzen Zeitspanne von wenigen Minuten von Leyden in den Niederlanden nach Münster in Westfalen gekommen?

JOHANN BOCKELSON

Versteht: Der Erzengel Gabriel trug mich durch die Lüfte.

Alle sind starr.

ERSTER STRASSENKEHRER

Je, durch die Lüfte!

ZWEITER STRASSENKEHRER

Das ist Magie, versteht. Faustus, Paracelsus, Agrippa!

DIE WACHE

Ihro Gnaden wären von dem Erzengel Gabriel durch die Lüfte getragen worden?

JOHANN BOCKELSON

Wir waren eben über Münster, das wir zu unseren Füßen ausgebreitet erblickten, als ihn die Sonne blendete. Er schneuzte und ließ mich in diesen Karren fallen, wo ihr mich ohnmächtig gefunden habt.

ERSTER STRASSENKEHRER

Je, schneuzt ein Erzengel auch, Euer Gnaden?

JOHANN BOCKELSON

Es ist dies ein sanftes und wohltönendes Getöse, einem Glockendreiklang ähnlich, von einer rhythmischen Erschütterung des Leibes begleitet, wobei der Engel die Arme auszubreiten liebt.

DIE WACHE

Wie kommt der Engel Gabriel dazu, Euch nach Münster in Westfalen zu tragen?

JOHANN BOCKELSON

Ich lebte in Leyden in großer Sünde des Fleisches.

DIE WACHE notierend

Ihro Gnaden liebten die Weiber.

JOHANN BOCKELSON

Eines Morgens erschien mir der Erzengel Gabriel. Er war fürchterlich in seinem Zorn, und ich beschloß, mir das Leben zu nehmen, wozu ich in den Rhein sprang.

ERSTER STRASSENKEHRER

Je!

JOHANN BOCKELSON

Ein Blindgeborener rettete mich, der am ganzen Leibe gelähmt war und kein Glied rühren konnte.

DIE WACHE

Wie war dies möglich, Ihro Gnaden?

JOHANN BOCKELSON

Den Himmlischen ist alles möglich.

DIE WACHE

Ihr habt mich überzeugt.

JOHANN BOCKELSON

Ich stürzte mich darauf vom Rathausturm.

DIE WACHE

Ein sicheres Mittel.

JOHANN BOCKELSON

Ich fiel senkrecht auf einen Menschen, dem ich zweihundert Gulden schuldete.

DIE WACHE

Und?

JOHANN BOCKELSON

Er starb.

ERSTER STRASSENKEHRER

Der Himmel muß Großes mit Euch vorhaben.

JOHANN BOCKELSON

Heute aber fand ich mich beim Erwachen zu meiner Überraschung in den Armen des Erzengels durch die Lüfte schwebend.

DIE WACHE

Was gedenken Ihro Gnaden zu unternehmen?

JOHANN BOCKELSON mit gnädiger Handbewegung

Wir gedenken uns so beiläufig zum Herrn der Erde zu erheben.

ERSTER STRASSENKEHRER

Je, so beiläufig?

DIE WACHE

Zum Herrn der Erde?

JOHANN BOCKELSON

Wie Ihr sagt.

DIE WACHE

Ihro Gnaden müssen sich da außerordentlich anstrengen!

JOHANN BOCKELSON

Ich werde meine Absicht mit einer lächerlichen Leichtigkeit erreichen. Der Erzengel hat es mir in einer trauten Stunde versprochen.

DIE WACHE

Gegenwärtig befinden sich Königliche Hoheit noch in diesem Karren.

ERSTER STRASSENKEHRER

Der mit Staub angefüllt ist – mit sehr schmutzigem Staub, um die Wahrheit zu sagen.

ZWEITER STRASSENKEHRER

Mit luto und pulvere, wie es auf lateinisch heißt, und viel stercus equorum ist darunter, Ihr wißt.

JOHANN BOCKELSON

Was tut’s, ihr Leute! Heute bin ich in diesem Karren, und morgen wird meine Leiche in diesem Karren sein. Es ist mir wenig Zeit gegeben. Ich werde als ein leuchtender Meteor durch Eure Nächte stürzen!

DIE WACHE

Wie denken Ihro Gnaden so hochgespannte Pläne zu verwirklichen?

JOHANN BOCKELSON

Ich werde mit den Menschen wie mit leichten Bällen spielen. Die Täufer werden mich zum König wählen, der Kaiser wird mir seine Krone anbieten, und der Papst – seine Heiligkeit, wird von Rom nach Münster nackten Fußes wandeln, den Saum meines Mantels zu lecken.

DIE WACHE steckt ihr Büchlein ein und macht eine Verbeugung

Ich werde Ihro Gnaden nicht arretieren!

JOHANN BOCKELSON

Es ist noch früh am Morgen, meine Guten, ich muß Euch bitten, mich noch ein wenig schlafen zu lassen.

ALLE DREI mit einer großen Verbeugung

Wie Eure Gnaden befehlen!

Die drei ziehen sich mit Bücklingen zurück. Doch nähert sich die Wache von neuem Bockelson.

DIE WACHE leise

Ihro Gnaden?

JOHANN BOCKELSON

Guter Freund?

DIE WACHE

Verzeiht, auch wir haben Täufer in der Stadt.

JOHANN BOCKELSON

Die Täufer sind überall.

DIE WACHE

Sie haben die Mehrheit inne, sie halten die Gewalt in den Händen, sie bilden die Regierung.

JOHANN BOCKELSON

Gott hat ihnen Münster übergeben.

DIE WACHE

Jan Matthisson ist ihr Führer.

JOHANN BOCKELSON

Jan Matthisson, mein Freund, hat einst zu Haarlem schlechtes Brot gebacken.

DIE WACHE

Von allen Seiten ziehen Täufer gen Münster, und man sagt, daß die Katholiken und Lutheraner die Stadt verlassen müssen oder hingerichtet werden.

JOHANN BOCKELSON

Um Katholik zu sein, braucht es keinen Kopf, und ein Protestant hat den seinen schon lange verloren.

DIE WACHE

Gestern wurden die Fenster des bischöflichen Palastes zertrümmert und von der Menge zwei Diakone zertrampelt.

JOHANN BOCKELSON

Mit einem Wort, guter Freund, was wollt Ihr von mir?

DIE WACHE

Trifft es zu, Ihro Gnaden, daß die Täufer Weibergemeinschaft haben?

JOHANN BOCKELSON

Ihr seid verheiratet?

DIE WACHE

Ich bin von etwas sinnlicher Natur.

JOHANN BOCKELSON

Das Fleisch ist unser aller Los und uns allen gemeinsam, was Fleisch ist.

DIE WACHE

Und Gütergemeinschaft?

JOHANN BOCKELSON

Ihr seid arm, guter Freund?

DIE WACHE

Ich lebe von der Hand in den Mund.

JOHANN BOCKELSON

Die Armen werden reich und die Reichen arm.

DIE WACHE

Ich lasse mich taufen!

JOHANN BOCKELSON

Ich selbst werde Euch in unsere Gemeinschaft aufnehmen, mein Sohn.

Die Wache will sich entfernen.

JOHANN BOCKELSON

Eine Frage, mein Freund.

DIE WACHE

Ihro Gnaden?

JOHANN BOCKELSON

Wer ist der reichste Mann zu Münster in Westfalen?

DIE WACHE

Habt Ihr nie von Bernhard Knipperdollinck gehört?

JOHANN BOCKELSON

Ich erinnere mich, in Amsterdam seine Lagerhäuser gesehen zu haben.

DIE WACHE

Er ist reicher als das übrige Münster zusammen.

JOHANN BOCKELSON

Sagt, ist Knipperdollinck den Täufern gewogen?

DIE WACHE

Neben Jan Matthisson und Bernhard Rottmann ist er unter den Täufern der Mächtigste.

JOHANN BOCKELSON

Ist er dick?

DIE WACHE

Er neigt zur Fülle.

JOHANN BOCKELSON

Hat er eine Tochter?

DIE WACHE

Er hat eine sehr schöne Frau und eine sehr schöne Tochter.

JOHANN BOCKELSON

Ich werde seine Frau heiraten.

DIE WACHE

Seine Frau?

JOHANN BOCKELSON

Oder seine Tochter.

DIE WACHE

Oder seine Tochter.

JOHANN BOCKELSON

Oder beide zusammen.

DIE WACHE

Ihro Gnaden denken großzügig.

JOHANN BOCKELSON

Ich werde gegen den Abend hin zu ihm gehen, wenn die Sonne hinunter ist und es dunkel geworden.

Es wird auf der Bühne bei seinen Worten dunkel, die Wache und Bockelson sind nur noch undeutlich ganz links zu erkennen. Die Hauswand rollt sich in die Höhe, und man erblickt das Innere eines niederdeutschen Zimmers. Vorne rechts an einem Tische Knipperdollinck, ein Mann von fünfzig Jahren, kostbar gekleidet, mit einer Kette am Hals. Er liest in einer schweren Bibel. In der Mitte des Hintergrundes eine Türe.

JOHANN BOCKELSON

So um die Zeit nach dem Abendessen herum, wenn die Straßen leer sind und hinter den Fensterscheiben die Kinder sitzen, denen alte Weiber Märchen erzählen, bevor sie ins Bett müssen.

Dann wird auch er am Tische sitzen, in seinem schönen Zimmer, voll Dämmerung und Schatten.

Er wird gerade Bohnen mit Speck gegessen haben und aus diesem Grunde die Bibel lesen.

Er wird etwas einer aufgeweichten Bohne gleichen und sehr sanft sein und sehr rührselig, denn sein Bauch ist voll.

Manchmal wird er tief und wirkungsvoll stöhnen, wie ein verwundetes Wildschwein.

Und dann –

DIE WACHE

Und dann, Ihro Gnaden?

JOHANN BOCKELSON

Und dann wird er seinen Kopf wenden und zu sprechen beginnen.

Bockelson und die Wache verschwinden vollständig im Dunkel.

KNIPPERDOLLINCK dreht seinen Kopf gegen das Publikum und beginnt zu sprechen

Ich bin reich, und meine Schätze füllen die Truhen meines Hauses und die schweren Eichenschränke.

Auf den Meeren der Erde fahren meine Schiffe und bringen mir Gold, Perlen und duftende Öle.

Ich kleide mich in kostbare Seide und dunklen Sammet und hülle mich in die Pelze fremder Tiere.

Könige und Herzöge sind meine Schuldner.

Selbst der Kaiser, der stolze Karl, verschmähte es nicht, an meinem Tische zu speisen, und sein Maler Tizian machte ein Bild von mir, auf dem ich wie ein Apostel aussehe.

Mein Weib ist schön.

Ihre Haut ist wie der Schnee, der im Dezember auf den Dächern liegt.

Aber das Reinste, was ich besitze, ist meine Tochter. Sie heißt Judith.

Ihr werdet sie sehen, wenn sie hereinkommt.

Ihr werdet ob der Leichtigkeit ihres Ganges staunen, und die Klarheit ihrer Augen wird euch blenden.

Dies alles ist mein.

Aber vor mir liegt ein Buch auf diesem Tisch, das brennt stärker denn Feuer in meinem Gebein.

Da steht geschrieben:

Verkaufe, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und es steht geschrieben:

Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ins Reich Gottes komme.

Und es steht geschrieben in diesem Buch, das mich ärgert:

Weh euch, ihr Reichen, denn euer Trost ist dahin!

Seine Tochter Judith kommt herein, etwa durch eine Türe, die man ganz rechts vermuten könnte. Judith ist als zierliches Mädchen zu denken, Kind und Weib durcheinander. Sie trägt in den Händen einen schönen Pokal.

JUDITH

Euer Wein, Vater.

KNIPPERDOLLINCK

Du hast den Becher, meine Tochter, mit jener Sorgfalt auf den Tisch gestellt, die ich immer an dir lobe. Der Becher ist kostbar gearbeitet, und es ziemt sich, ihm eine gute Behandlung angedeihen zu lassen. Die Steine, welche du an ihm siehst, haben Kaufleute aus Indien gebracht, und das Gold stammt aus Afrika. Sanft strahlt es dein Bild zurück.

JUDITH

Erwartet Ihr Besuch, Vater?

KNIPPERDOLLINCK

Ich erwarte keinen Besuch. Es sei denn einen Engel Gottes.

JUDITH

Ich würde mich ans Fenster setzen, wenn Ihr’s erlaubt. Ich würde Euch nicht stören, Vater.

KNIPPERDOLLINCK

Wie könnte mich stören, was mich freut? Bleib bei mir, Kind. Es tut gut, so etwas wie eine Tochter in seinem Zimmer zu haben.

JUDITH

Ich will Euch Licht bringen. Die Sonne ist hinter dem Dom, und es wird Nacht.

KNIPPERDOLLINCK

Laß das! Laß das! Kannst du mir ein Licht in meiner Brust anzünden? Das kannst du nicht. Und meine Frau, deine Mutter, ist ein schwaches Weib und kann es auch nicht. Und Rottmann kann es auch nicht, und Jan Matthisson kann es nicht, und er ist ein Prophet.

KNIPPERDOLLINCK macht eine Pause, dann düster

Herr, du schweigst, und ich brauche eine Antwort!

JUDITH am Fenster

Es müssen heilige Menschen sein, die Täufer, weil – Sie schweigt, wie erschreckt, als hätte sie ihn gestört.

KNIPPERDOLLINCK

Sprich nur, mein Kind. Du störst mich nicht.

JUDITH

Weil auch Ihr ein Täufer seid.

KNIPPERDOLLINCK heftig

Wer sagt das?

JUDITH erschrocken

Alle sagen es.

KNIPPERDOLLINCK langsam

Ich bin kein Täufer. Ich bin nicht heilig. Ich habe keinen Glauben, ich habe Gold.

JUDITH

Sie sagen, Ihr hättet die Täufer mächtig gemacht in dieser Stadt.

KNIPPERDOLLINCK

Ich war es nicht, und mein Gold war es nicht. Was könnte ihnen solches helfen und meine Stimme im Rat, wenn sie nicht ihren Glauben hätten!

Von draußen wird an die Türe im Hintergrund der Mitte gepoltert. Gleichzeitig hört man eine Stimme.

DIE STIMME VON AUSSEN

Macht auf! Macht auf! Ehre sei Gott in der Höhe und seinem großen Statthalter Johann von Leyden.

JUDITH erschrocken

Mein Vater!

KNIPPERDOLLINCK

Öffne die Türe, Kind. Mein Haus steht jedem offen.

Katherina, Knipperdollincks Weib, tritt auf. In der Hand hält sie ein Licht.

KATHERINA

Es verlangt jemand Einlaß bei dir, Knipperdollinck.

DIE STIMME VON AUSSEN

Macht auf! Macht auf! Es ist die Hand Gottes, welche an diese Türe poltert.

JUDITH leise

Mein Vater!

Katherina blickt zögernd nach Knipperdollinck und Judith.

KNIPPERDOLLINCK

Schließ die Türe auf, Frau. Du hörst, es verlangt jemand Einlaß bei mir.

Katherina öffnet die Türe. Bockelson tritt mit leise tänzelnden Schritten und ausgebreiteten Armen über die Schwelle.

JOHANN BOCKELSON

Gold! Gold! Wie es strahlt! Wie der milde Bogen des Nordlichts über meinem Haupt. Ich ziehe es an meinen Leib mit den Händen! Ich atme es mit meinen Lungen! Ich schreite über das glatte Holz uralter Zedern! O Lavendelgeruch! O Schein des Lichts an der Wand! Er fällt auf die Knie. Herr! Herr! Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! Er erhebt sich wieder. Ein Mann mit einer goldenen Kette um den Hals. Er spielt mit der Kette, die Knipperdollinck um den Hals hängt. Eine schwere Kette aus schwerem Gold. Ich sehe verhungerte Weiber und Kinder mit großen Augen! Voll Hunger! Er klopft Knipperdollinck auf den Bauch. Du hast einen Bauch. Einen runden Bauch mit einem großen Magen und gefüllten Därmen! Gesegnet sei dein Bauch, gesegnet sei dein Appetit! Er sieht nach den Frauen. Ein Weib mit einer festen Brust. Und eine Jungfrau! Wie Strahl der Sonne in Morgenwolken über Jerusalem! Er wendet sich wieder zu Knipperdollinck. Du bist Bernhard Knipperdollinck, der reiche Mann?

KNIPPERDOLLINCK

Du sagst es.

JOHANN BOCKELSON

Dies ist dein Weib?

KNIPPERDOLLINCK

Sie ist mein Weib.

JOHANN BOCKELSON

Und dies ist deine Tochter?

KNIPPERDOLLINCK

Sie ist meine Tochter.

JOHANN BOCKELSON

Wahrlich, du hast ein schönes Weib und du hast eine schöne Tochter. Dich hat der Herr mit schönen Weibern gesegnet.

KNIPPERDOLLINCK

Wer bist du?

JOHANN BOCKELSON

Ich bin Niemand. Sieh die Fetzen an meinem Leib! Ich bin ein hungriger Magen, und ein hungriger Magen ist leer, und leer ist nichts! Und wo nichts ist, ist niemand.

KNIPPERDOLLINCK

Was führst du für einen Namen?

JOHANN BOCKELSON

Bin ich nicht dein Bruder? Bin ich nicht der arme Lazarus?

KNIPPERDOLLINCK

Was willst du von mir?

JOHANN BOCKELSON

Ich will nichts von dir. Ich will von deinem Wein. Ich will von deinem Gold und deinem Geschmeide. Ich will ein Bett zum Schlafen und ein Kleid für meinen Leib.

KNIPPERDOLLINCK

Was willst du mir dafür geben?

JOHANN BOCKELSON

Was fragst du nach deinem Lohn? Könnte es nicht sein, daß ich dir die ewige Seligkeit verschaffe?

KNIPPERDOLLINCK

Was du bist, weiß ich nicht und nicht, von wo du kommst. Du bist nackt, ich will dich kleiden, du bist hungrig, du sollst an meinem Tische sitzen, dich dürstet, ich will dir von meinem Wein geben. Er legt ihm seine Kette um den Hals. Komm, ich will dich selbst auf dein Zimmer führen.

KATHERINA ihnen nacheilend

Ich will Braten herschaffen! Wein und Kuchen!

Judith macht einige Schritte und birgt dann ihr Antlitz in ihre Hände.

Zwei Männer begegnen sich in einer Gasse in Münster, aber am besten läßt man die beiden vor dem Vorhang ihre Sache erledigen. Der eine, Mollenhöck, würde dann die Beine ins Orchester baumeln lassen, und der andere käme mit einem schweren Sack auf dem Buckel von rechts.

MOLLENHÖCK ein schwarzhaariger, undurchdringlicher Mensch

Nun, Protestant! Nun? Nun?

DER MANN

Was wollt Ihr mit Eurem Nun! Nun!?

MOLLENHÖCK

Was tragt Ihr für Lasten auf Euren Schultern?

DER MANN

Mein Hab und Gut.

MOLLENHÖCK

Wo geht Ihr hin?

DER MANN

Ich weiß nicht. Zum Tor hinaus, das ist alles, was ich zu sagen wüßte.

MOLLENHÖCK

Ihr verlaßt das gastliche Münster zu ungünstiger Zeit. In einer halben Stunde haben wir Regen.

DER MANN

Wenn ich das gastliche Münster nicht verlasse, holt mich in einer halben Stunde der Teufel.

MOLLENHÖCK

Ihr sprecht sehr liebenswürdig von den Täufern. Aber wo ist Euer Weib und wo habt Ihr Eure Kinder?

DER MANN

Die haben’s mit dem Glauben wie wir mit den Hemden. Zuerst war katholisch die Mode. Gut, wir waren katholisch. Dann war Luther die Mode. Gut, wir waren lutherisch. Jetzt sitzen die Täufer im Rat, und meine Frau sagt: Ich werde täuferisch. Ich auch, sagt mein Sohn, ich auch, sagt meine Tochter. Da sag ich: Mir gefällt’s in diesem Hemd und bleibe lutherisch.

MOLLENHÖCK

Seht Ihr! Jetzt müßt Ihr die Stadt verlassen mit Eurem Glauben und Eurem Charakter.

DER MANN

Ihr seid der Schmied Mollenhöck, nicht wahr?

MOLLENHÖCK

Der bin ich.

DER MANN

Ihr habt sehr laut für den Bischof geschrieen, als katholisch die Mode war.

MOLLENHÖCK

Was meint Ihr damit?

DER MANN

Ich meine damit, daß Ihr einen kurzen Glauben habt. Ich habe viele gesehen, die mußten mit ihrem katholischen Glauben die Stadt verlassen, wie ich jetzt, und ich habe vor denen den Hut gezogen, denn sie hatten einen langen Glauben, wenn er auch katholisch war.

MOLLENHÖCK

Wißt Ihr, Freund Protestant, was eine Kanone ist?

DER MANN

Nun, wir haben so einige auf dem Rathaus.

MOLLENHÖCK

Seht, ich bin der einzige, der mit solchen umgehen kann. Da müssen sie mich in Ruhe lassen.

DER MANN

Was brauchen die eine Kanone?

MOLLENHÖCK

Ich will Euch einen Rat geben, Freund Protestant. Geht nach Köln. Oder nach Osnabrück.

DER MANN

Ich kenne niemand dort.

MOLLENHÖCK

Habt Ihr nicht feste Beine und breite Schultern? Dort haben sie Landsknechte nötig.

DER MANN

Gegen die Franzosen?

MOLLENHÖCK

Ihr kennt die Mauern und Gräben um Münster?

DER MANN

Wie meine Hosentasche.

MOLLENHÖCK

Geht nach Köln! Solche Männer brauchen sie dort.

DER MANN

Ich verstehe.

MOLLENHÖCK

So schweigt, wenn Ihr versteht. Aber geht, sonst wird Euch morgen der Kopf fehlen.

DER MANN

Ich gehe nach Köln, Mollenhöck.

Zimmer des bischöflichen Palastes in Münster. Der Bischof wird in einem Rollstuhl von zwei Pagen auf die Bühne geschoben. In der Mitte der Bühne wenden sie ihn gegen das Publikum. Der Bischof in Violett, schneeweiße Haare, hager, schlanke Hände mit kostbaren Ringen an den Fingern.

DER BISCHOF

Fort! Fort!

Verlaßt mich, ihr Knäblein!

Spielt Ball oder tollt euch mit meinen Schäferhunden. Sie sind zahm, und einer ist darunter, Odin, den liebe ich von ganzem Herzen.

Tut, wie es eurer Jugend angemessen ist. Ich dagegen habe einiges mit den Menschen zu reden, die vor mir den Saal füllen und mit runden Augen nach mir die Hälse recken.

Auch wird sich gleich Knipperdollinck melden lassen. Ich bin ihm Geld schuldig.

Ich möchte euch diese auch für einen Bischof peinliche Szene ersparen.

Geht, meine Knäblein, geht!

Die Pagen treten ab.

DER BISCHOF

Wie ihr dem Theaterzettel entnehmen könnt – gesetzt, daß ihr einen habt, er ist ja nicht zu teuer –, bin ich der Bischof von Minden, Osnabrück und Münster in Westfalen.

Franz von Waldeck,

99 Jahre 9 Monate und 9 Tage alt.

Ich bin an beiden Beinen gelähmt, und dies seit einem Jahrzehnt, wie es bisweilen bei Leuten meines Alters vorkommt.

Der kunstreiche Wagen, auf dem mich meine Knäblein hergeführt haben, ist mir vom Sultan Soliman nebst einem weißen Elefanten geschenkt worden, den ich euch aber nicht vorführen kann, da er sich in meinen Stallungen zu Osnabrück befindet. Dieses mit Farbe bestrichene Zeug, welches man um mich herumgestellt hat, soll einen Saal des bischöflichen Palastes zu Münster vortäuschen, aber ich versichere, daß er in Wahrheit viel schöner ausgesehen hat.

Leider muß ich diesen Saal und diesen Palast morgen in der Frühe verlassen, da mir der Rat von Münster befahl, das Weite zu suchen.

Was mich nun, ihr Guten, veranlaßt, an euch einige Worte zu verschwenden,

ist das Gefühl,

daß es einigen unter euch vorkommen könnte, als wäre es recht eigentlich unnützes Gerede, was ihr da oben zu hören bekommt, ja, daß euch so längst vergangene Zeiten und so vermoderte Menschen, wie wir es nun einmal sind, nicht mehr viel zu sagen vermöchten.

Ihr mögt recht haben, meine Guten, aber glaubt mir, dieses Spiel könnte euch – wenn ihr recht aufmerksam seid und mir nicht davonlauft – auf einige nicht so unwichtige Dinge hinweisen, die bei euch und bei uns ihre Gültigkeit haben.

Ich bin alt,

und es kommt mir bisweilen in schlaflosen Nächten vor, als ob Gott uns Menschen zwar viel Verstand und Witz, aber recht wenig Lebenskunst mit auf den Weg gegeben hätte.

Wenn ihr nun Dinge zu sehen bekommt, die euch vielleicht grausam und unsinnig vorkommen werden, so erschreckt nicht allzusehr:

Glaubt mir, die Welt vermag jede Wunde zu ertragen, und es kommt im großen und ganzen nicht so darauf an, ob der Mensch glücklich ist oder nicht,

denn das Glück wurde ihm nicht gegeben, und wenn er es hat, ist dies eine große Gnade.

Notwendig vor allem ist, daß er überhaupt auf der Erde herumstolpert.

Ich weiß, es ist viel Elend hienieden und viel Verzweiflung und Verworrenheit ohne Ende,

doch wenn wir dies nicht so wichtig nehmen auf unserer Bühne, so geschieht es nicht eurem und unserem Unglück zum Spott, sondern nur, weil wir das Treiben der Menschen ein wenig losgelöst von der Schwere der Erde, im Lichte jener Regionen zeigen wollen, in denen die Linien deutlicher und unvermischter sind und die Formen sich rein vom Hintergrund abheben.

Wir leben, wenigstens wir auf dieser Bühne, alle vierhundert Jahre vor euch, und da ist es nun einmal so, daß wir in vielen Dingen törichter, unbeholfener und kindischer sind als ihr und in manchen Dingen tapferer, ehrlicher und gröber.

Ich weiß ganz genau, daß ich in manchem weniger weiß als bei euch die Schuljungen mit den ungeputzten Nasen, wenn ich auch fließend Latein und Griechisch spreche und nichts so sehr liebe wie Homer und Lukian.

Aber ich höre Schritte hinter mir.

Es sind die Schritte Knipperdollincks, und ich bitte euch, der folgenden Unterredung möglichst aufmerksam beizuwohnen. Auch von schmalen Tischen liebt man Brosamen zu nehmen, wenn man hungrig ist.

Knipperdollinck tritt von links zum Bischof.

KNIPPERDOLLINCK

Eure Eminenz!

Der Bischof erhebt die Hand zum Zeichen des Grußes.

DER BISCHOF

Kommt Ihr als Mitglied des Rates oder als Knipperdollinck?

KNIPPERDOLLINCK

Als Knipperdollinck.

DER BISCHOF

Ihr erlaubt, daß wir Euch einen Stuhl holen lassen. Er wurde zur Verrammelung der Türen gegen vorwitzige Täufer gebraucht, nun ist er nicht zur Stelle.

KNIPPERDOLLINCK

Erlaubt, daß ich stehe.

DER BISCHOF

Wir sind Euch Geld schuldig. Die Zeiten sind miserabel für einen Bischof, Knipperdollinck. Die Leute werden protestantisch oder noch Schlimmeres, und die Kirche ist knauserig geworden. Ihr seht: schlechte Geschäfte.

KNIPPERDOLLINCK

Behaltet das Geld, Eminenz.

DER BISCHOF

Wir sehen mit Vergnügen einen vernünftigen Gläubiger. Möge Euer Beispiel allgemein beherzigt werden. Auch die Kirche dankt, und für das Heil Eurer Seele wird sie Messen lesen lassen.

KNIPPERDOLLINCK

Ich brauche das nicht.

DER BISCHOF

Ihr werdet die Kirche nicht hindern, das Ihre zu tun.

KNIPPERDOLLINCK

Die Kirche ist gewalttätig.

DER BISCHOF

Die Kirche liebt es nicht, jemandem etwas schuldig zu bleiben. Sie wird das von Euch geschenkte Gold verwenden, gegen die Täufer ein Heer aufzustellen.

KNIPPERDOLLINCK

Eminenz sind mir gegenüber sehr deutlich.

DER BISCHOF

In Zeiten der Not lieben wir die Klarheit. Nach einer Pause Warum seid Ihr gekommen, wenn Ihr kein Gold wünscht? Was wollt Ihr von mir, Knipperdollinck?

KNIPPERDOLLINCK

Die Wahrheit.

DER BISCHOF

Und die glaubt Ihr von einem Knecht der Kirche zu erhalten?

KNIPPERDOLLINCK

Ich glaube sie von einem hundertjährigen Menschen zu erhalten.

DER BISCHOF

Der Rat in Münster hat mir befohlen, die Stadt zu verlassen.

KNIPPERDOLLINCK

Ihr müßt gehen. Ich selbst habe diesem Beschluß zugestimmt.

DER BISCHOF

Meine Landsknechte werden Münster besiegen.

KNIPPERDOLLINCK

Münster fürchtet Eure Landsknechte nicht, Eminenz.

DER BISCHOF düster

Auch Ihr werdet am Rad sterben müssen, Knipperdollinck.

KNIPPERDOLLINCK

Gott wird uns helfen.

DER BISCHOF traurig

Vielleicht wird Gott keinem von uns helfen in diesem Kampf.

KNIPPERDOLLINCK

Warum bekämpft Ihr uns, Bischof von Münster?

DER BISCHOF

Ihr liebt es, geradeheraus zu fragen.

KNIPPERDOLLINCK

Ihr seht, auch ich liebe die Klarheit. Ihr kennt die Bibel und Ihr kennt unsere Schriften.

DER BISCHOF

Sie sind sehr schlecht geschrieben.

KNIPPERDOLLINCK

Ihr wißt, daß die Täufer nichts anderes wollen, als was Christus befahl.

DER BISCHOF

Wir haben nie gezweifelt, daß die Edleren eurer Sekte solches wollen.

KNIPPERDOLLINCK

Wer wider uns, ist wider Christus.

DER BISCHOF

Wir pflegen auf solche Worte nicht einzugehen. Nach einer Pause Wir möchten sagen, was wir denken, denn wir sind Euch, als Euer Hirte, solches schuldig, aber sind wir weiter als Ihr, und hat Gott die Zweifel in unserer Brust erstickt?

KNIPPERDOLLINCK

Ich bin nicht mehr in Eurer Kirche.

DER BISCHOF