Es wird Zeit - Ildikó von Kürthy - E-Book
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Es wird Zeit E-Book

Ildikó von Kürthy

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Beschreibung

«Was soll jetzt noch kommen?» Judith ist fast fünfzig, und auf diese Frage fällt ihr leider keine zufriedenstellende Antwort ein. Die Kinder sind groß, ihr Mann ist in die Jahre gekommen und das Leben auch. Von der Liebe und dem Bindegewebe mal ganz zu schweigen. Dann stirbt ihre Mutter, und Judith kehrt nach zwanzig Jahren in die alte Heimat zurück, wo sie ein gut gehütetes Geheimnis, ein leeres Grab und einen Haufen Hoffnungen, Träume und Albträume zurückgelassen hat. Und plötzlich gerät alles aus den Fugen. Eine lebenslange Lüge stellt sich als Wahrheit heraus. Eine wiedergefundene Freundin hofft, den nächsten Sommer noch zu erleben, und will endlich wissen, was damals wirklich passiert ist. Eine Jugendliebe funkelt vielversprechend, eine Urne macht Umwege, und Judith stellt fest, dass es besser ist, sich zu früh zu freuen, als überhaupt nicht. «Es wird Zeit» ist eine Geschichte von Schuld und Freundschaft, vom Älterwerden und vom Jungbleiben, es geht um die Heimat, die Liebe und den Tod und darum, dass am Ende nichts verlorengehen kann.

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Seitenzahl: 446

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Ildikó von Kürthy

Es wird Zeit

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Du kannst dich nicht zu früh freuen. Nur zu spät.

Sie wird bald fünfzig, und die Lüge, mit der sie schon so lange lebt, fühlt sich fast an wie die Wahrheit. Dann stirbt ihre Mutter. Mit der Urne auf dem Beifahrersitz kehrt Judith in ihre Heimat und in ihre Vergangenheit zurück.

Und plötzlich ist nichts mehr so wie es war.

Ihre beste Freundin ist todkrank und will endlich wissen, was damals wirklich passiert ist.

Ihre Jugendliebe macht verlockende Zukunftspläne, ihr Mann schnarcht seit Jahren, und ihr bester Freund sagt: «Es kann nicht mehr so weitergehen wie bisher.»

Ist es zu spät, neu anzufangen?

Noch nicht.

Aber es wird Zeit.

 

«In diesem Buch ist Ildiko von Kürthy etwas Neues gelungen: Sie ist den Fragen nachgegangen, die uns bewegen, wenn wir älter werden, bis dahin, wo es weh tut. Hartnäckig und trotzdem sehr feinfühlig, immer die eigenen Ängste im Visier. Das ist amüsant und unglaublich tröstlich, selbst im Angesicht des Todes.» (Bettina Tietjen)

Vita

Ildikó von Kürthy ist Journalistin, Kolumnistin bei der Brigitte und eine der meistgelesenen deutschen Schriftstellerinnen. Ihre Bücher wurden mehr als sechs Millionen Mal gekauft und in einundzwanzig Sprachen übersetzt. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg. «Es wird Zeit» stand auf Platz 1 der deutschen Bestsellerliste, eine Verfilmung ist in Vorbereitung. «Ihr neues Buch berührt: Es ist eine Liebeserklärung an die Freundschaft und an das Leben, auch wenn es älter und zerbrechlicher wird.» (Bild der Frau)«Dieses Buch ist ein Herzpflaster. Es gibt Erinnerungen, die bluten. Aber manchmal muss man den Blick zurück wagen, um im Heute anzukommen.» (HR 3, Bärbel Schäfer Live)«Mit viel Humor und Empathie gelingt es Kürthy, auch den traurigsten Momenten etwas Tröstliches abzugewinnen.» (Abendzeitung München)«Die Emotionalität macht den Reiz ihrer Bücher aus. Sie können einem nahegehen. Anders als viele ‚Frauenbücher‘ sind sie ausserdem gut geschrieben.» (Die Weltwoche)«Wunderbare Heldinnen-Reise.» (Gala)

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2019

Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Illustrationen von Peter Pichler

Covergestaltung büro ident

Coverabbildung Peter Pichler

ISBN 978-3-644-20066-1

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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Dies ist ein Buch der Wehmut.

Wehmut kann lächeln.

Trauer kann es nicht.

Friedrich Torberg

Für Dich, Jutta.

Meine geliebte Herzensfreundin.

Lachend und weinend,

lebensmutig wider jede Statistik.

Nichts geht verloren.

Prolog

So hatte ich mir das nicht vorgestellt.

Seit Jahren frage ich mich, wie es sein wird, wenn wir uns wiedersehen. Seit Jahren habe ich nichts mehr gefürchtet und nichts mehr erhofft, als dir plötzlich gegenüberzustehen.

Und das soll er nun sein, dieser monumentale Moment?

Ich bin sehr enttäuscht.

Hauptsächlich natürlich von mir. Wie meistens. Ich suche gern die Schuld bei mir. Darin habe ich es in langen Jahren zur Perfektion gebracht. Außerdem hat mir meine Mutter ein gewisses Talent dafür bereits in die Wiege gelegt. Wie ein Drogenspürhund den Stoff finde ich jeden Fehler. Bei mir.

Was die Großereignisse meines Lebens angeht, sind die eigentlich nur selten exakt so abgelaufen, wie ich sie mir vorher ausgemalt hatte. Das scheint aber nicht nur mir so zu gehen, ich werde oft genug Zeuge, wie Leute die Realität im Nachhinein beherzt überarbeiten, damit aus Hochzeitsreisen, Geburten, Jubiläen und der eigenen Kindheit genau die Sternstunden werden, von denen sie im Bekanntenkreis voll eindringlicher Bescheidenheit berichten und an die sie irgendwann selber glauben.

Ich selbst bin immer wieder verblüfft, wenn ich mich, oft leider ungefragt, von den Geburten meiner Kinder schwärmen höre. Das klingt so, als hätte ich die allesamt selbstverständlich außerordentlich schönen und knitterfreien Säuglinge quasi nebenbei abgeworfen. Dabei musste mein Ältester mit der Saugglocke geholt werden, und der eine der Zwillinge sah bei der Geburt aus wie eine sehr ungünstige Kreuzung aus Chucky, der Mörderpuppe, und Sitting Bull. Bei allen Niederkünften wurde ich übrigens gleich nach der ersten Wehe eilig in einen abgelegenen Kreißsaal transportiert, damit mein Gebrüll nicht die Parallel-Gebärenden traumatisierte.

Großes inneres Erstaunen lösen auch die Schilderungen meines Mannes oder meine eigenen aus, wenn wir von unserer Trauung erzählen. Fast könnte ich selbst den Eindruck gewinnen, es habe sich um eine Liebesheirat gehandelt. Tatsächlich bin ich froh, dass es wenige Zeugen und Zeugnisse dieser Veranstaltung gibt und absolut Verlass war auf meine Mutter und ihr Talent, absurd schlechte Fotos zu machen, auf denen in der Regel fast nichts zu erkennen ist. Man sieht mich auf den Bildern nur als senfgelben Fleck mit Fledermausärmeln und Wasserfallkragen, und soweit ich weiß, wurde niemals eine dieser Ablichtungen irgendwo aufgestellt oder aufgehängt. Was nicht nur an der mangelnden Qualität der Fotos, sondern auch an der mangelnden Qualität der Gefühle der Braut gelegen haben könnte. Keiner, der dabei war, hat je von dieser Hochzeit geschwärmt. Womöglich ahnten die meisten, dass irgendwas nicht stimmt. Und dies, obwohl ich bis heute niemandem etwas von meiner Schuld erzählt habe.

Es ist schon so verdammt lang her. Zwanzig Jahre.

Wie aus dem Leben einer Fremden. Ich war ein anderer Mensch damals. Ich wäre ein anderer Mensch geworden, hätte ich mich anders entschieden. Aber die Sache ist längst verjährt. Die Zeit ging ins Land und zertrampelte dabei etliche meiner Träume und meiner Albträume.

Und jetzt diese Begegnung. Noch vor wenigen Sekunden hätte ich voll innerer Überzeugung behauptet, die alte Wunde sei verheilt und der Originalzustand quasi wiederhergestellt; ein unvermutetes Wiedersehen mit dir würde ich souverän und mit gelassener Freundlichkeit meistern, darauf hätte ich gewettet.

Ich habe mich jedoch offensichtlich getäuscht. Mein jahrzehntelang meist reibungslos funktionierender Verdrängungsmechanismus fliegt mir plötzlich um die Ohren wie ein bei Tempo zweihundert platzender Reifen. Jetzt bloß die Ruhe bewahren, sonst könnte erheblicher Sach- und Personenschaden entstehen.

Ich habe dich sofort erkannt, dahinten zwischen den Ilexsträuchern. Und das auf die Entfernung und obwohl ich mit den Bifokallinsen, die ich seit drei Jahren trage, gar nicht gut zurechtkomme. Eigentlich nehme ich mit den inkompetenten Sehhilfen immer gerade das verschwommen wahr, was scharf sein sollte, und umgekehrt. Vor zwei Jahren habe ich mich aus diesem Grund heillos in den angeblich so sehenswerten Gassen von Aix-en-Provence verlaufen, weil es mir weder möglich war, die Straßennamen auf dem Stadtplan zu entziffern, noch die auf den Straßenschildern. Ich fühlte mich umgeben von einem wabernden, unscharfen, lilafarbenen Meer aus Lavendelduftsäckchen und musste schließlich meinen Standort per WhatsApp an den Rest der Familie schicken und mich dort einsammeln lassen. Schon seit geraumer Zeit werde ich von meinen Söhnen wegen der Schriftgröße auf meinem Handy verspottet, weil man meine Nachrichten angeblich aus beliebiger Entfernung mitlesen könne. Und in unschöner Erinnerung bleibt mir auch die Episode, als ich im Freibad trotz Linsen erst in der Herrenumkleide landete und dann gegen das Drehkreuz rumpelte, das ich von der falschen Seite aus betrat.

Natürlich habe ich hin und wieder an dich gedacht, und das tat auch manchmal noch ein bisschen weh. Der erste Oktober war ein regelmäßiger Stolperstein im Rhythmus der Jahre, der Jahrestag der Beerdigung. Ich war ja nicht dabei und auch später nie am Grab gewesen. An diesem leeren Loch, in dem keine Leiche, sondern all meine Träume begraben worden waren.

Ich dachte, ich hätte im Großen und Ganzen meinen Frieden gefunden mit dem, was damals passiert ist. Aber jetzt, wo ich dich sehe, weiß ich, dass ich falsch gedacht habe. Der Frieden ist vorbei.

Du hast immer noch dieselbe Körperhaltung. Stolz und fordernd. Die Haltung eines Menschen, der um nichts kämpfen musste. Das gute Leben ist dir in den Schoß gefallen. Mir nicht.

Ich bin in der Zwischenzeit auch erwachsen und reif geworden, jedenfalls Teile von mir. Ich habe wirklich allen Grund, dir erhobenen Hauptes gegenüberzutreten. Aufrecht und stolz.

Reflexartig ducke ich mich hinter einen Stein und halte den Atem an. Bin ich das wirklich? Dieses krumme Ding? Ich kneife die Augen fest zusammen. Bescheuert. Als würde ich unsichtbar, sobald ich selbst nichts mehr sehen kann. So reagiert eine Zweijährige, die sich vor einer bösen Fee fürchtet. Keine lebenserfahrene Frau, die konsequent die pralle Sonne meidet und regelmäßig zur Zahngesundheitsprophylaxe geht. Das Einzige, woran ich meine Lebenserfahrung in diesem Moment überdeutlich spüre, sind meine Knie und mein unterer Rücken. Alles andere an mir benimmt sich, als wäre ich wieder zwanzig und somit nicht ganz zurechnungsfähig.

Nein, ich kann das nicht! Zwei Jahrzehnte sind offensichtlich doch nicht genug. Bitte, liebes Schicksal, jetzt noch nicht! Morgen vielleicht. Oder lieber übermorgen oder noch viel lieber gar nicht! Ich schaffe es einfach nicht, dir selbstbewusst und glaubhaft ins Gesicht zu lügen.

So hocke ich also im Schatten des schützenden Steins, und Teile meiner Beine fühlen sich bereits an, als gingen sie in Verwesung über, während die gesamte Becken- und Lendenwirbelregion stumm gegen die ungewohnte Krümmung rebelliert. Erste Knorpel drohen knirschend mit Kündigung. Meine Absätze versinken langsam im Erdreich, wodurch ich zunehmend in eine groteske Schieflage gerate. Ich reiße die Augen auf, und in einer letzten, verzweifelten Selbstrettungsgeste greife ich nach dem direkt vor mir pittoresk herabhängenden Ast einer Birke.

Geschafft. Mein Niedergang scheint fürs Erste gestoppt. Ich lasse den Atem langsam und stoßweise durch die halbgeschlossenen Lippen entweichen, wie ich es mit meiner Therapeutin zigmal für Fälle innerer Anspannung und seelischer Not geübt habe.

Bis gestern dachte ich noch, Eintönigkeit und Routine seien meine größten Probleme. Aber wenn ich aus dieser Situation physisch und psychisch unbeschadet wieder rauskomme, dann, das schwöre ich, werde ich mich nie wieder unüberlegt und vorlaut nach mehr Aufregung in meinem Leben sehnen.

Man kann gar nicht vorsichtig genug sein mit dem, was man sich wünscht. Meine Bekannte Helga wollte eine nette, kleine Affäre – jetzt bekommt sie Zwillinge von ihrem Paketboten. Also: Ich nehme offiziell hier und jetzt alles zurück. Ich liebe mein Leben so, wie es ist, und will mich in Zukunft mit der Aufregung und Zerstreuung begnügen, die mir durch Netflix-Serien, die jährliche Betreuung des Krippenspiels für Grundschüler und die Probleme anderer Leute zuteilwird – die Hälfte meiner Freundinnen ist frisch geschieden, oder es ist nur noch eine Frage von Minuten.

Und tatsächlich: Dieses eine Mal wenigstens ist das Glück auf meiner Seite. Der dünne Ast, an dem ich sehr hänge, scheint zu halten, und mein Atem beruhigt sich allmählich.

Doch dann, ohne Vorwarnung und mit geradezu hämischer Heftigkeit gibt der fiese Zweig nach, es kommt mir fast so vor, als würde mich der Baum absichtlich in mein Verderben schubsen. Frühblüher. Kennt man ja. Alles Schweine. Und die Birken sind die aggressivsten.

Wie in einem Klimbim-Sketch aus den Siebzigern mit Ingrid Steeger und Peer Augustinski kippe ich nach hinten, ich falle langsam, aber unabänderlich, wie in Zeitlupe, jedoch mit zerstörerischer Wucht. Irgendetwas scheppert und zerbricht. Es könnte sich unter anderem um mein sowieso fragiles Selbstwertgefühl handeln.

Vorsorglich schließe ich meine Augen erneut. Stille. Hast du womöglich nichts bemerkt? Unwahrscheinlich zwar, aber vielleicht hat dich das nahende Alter mit schlechtem Gehör und grauem Star gesegnet. Man wird ja noch hoffen dürfen.

Ich atme betont positiv ein, um mein Karma zu optimieren. Doch das nutzt anscheinend nichts. Schritte kommen in meine Richtung. Immer näher. Dann wieder Stille.

Ich spüre deinen Blick auf mir, noch bevor ich deine Stimme höre. Vertraut. Vielleicht ein wenig rauer als früher.

«Judith.»

Das ist keine Frage, sondern eine Feststellung.

Ich warte noch zwei Sekunden, dann sehe ich ein, dass es keinen Sinn hat, länger darauf zu hoffen, diese Sache hier würde jemand ganz anderem passieren oder gehöre zu einem miserablen Film, der sich auf wundersame Weise von selbst zurückspult bis zu dem Punkt, an dem alles so unweigerlich schiefging.

Damals. Als hier, ja, sogar ziemlich genau hier, aus meinem Leben das wurde, was man gemeinhin ein Schicksal nennt.

Ich öffne widerwillig die Augen. So sieht also die Realität aus: Ich liege auf einem schlecht gepflegten Grab im Schatten einer hinterfotzigen Hängebirke. Im Fallen habe ich zwei Porzellanengel kaputt gemacht und ein ewiges Licht gelöscht. Auf dem großen schwarzen Gedenkstein steht, von der Nachmittagssonne wie mit einem Punktstrahler beleuchtet:

Alles hat seine Zeit

Weinen und lachen

Klagen und tanzen

Lachen und getrennt sein

Suchen, verlieren, finden

Die Namen auf dem Grabstein kommen mir bekannt vor: Wilma und Herbert Kallensee. Die hatten einen Baustoffhandel in der Wilhelmstraße, bevor der alte Kallensee Ende der Siebziger zum größten Bauunternehmer der Region Jülich wurde und mit Frau Jürgensmeyer, der ledigen Fußpflegerin meiner Mutter, eine Affäre begann. Wieso der Schwerenöter am Ende doch hier neben seiner Frau zu liegen gekommen ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Die Jürgensmeyer hat jedenfalls ein Einzelgrab, drei Reihen weiter. Es scheint zwischen den beiden dann wohl doch nichts Festes gewesen zu sein.

Mir tun immer die Menschen leid, die alleine in ihren Gräbern liegen. Ein Grabstein mit nur einem Namen drauf hat in etwa dieselbe trübsinnige Anmutung wie die Bilder von Frauen in Singleportalen, die sich mit ihrer Lieblings-Zimmerpflanze oder ihrem Kater fotografieren. Nichts macht mich betrübter als ein Single-Grabstein. Auch ein Grund, warum man sich in späteren Jahren nicht leichtfertig trennen sollte. Dein Mann landet dann nämlich womöglich im raumgreifenden Familiengrab seiner neuen und letzten Frau, während sich dein Geliebter auch im Tod nicht zwischen dir und seiner Ex entscheiden mag und versucht, sich durch eine anonyme Seebestattung aus der Affäre zu ziehen, obwohl er zeit seines Lebens nicht ein einziges Mal mit dir am Meer war.

Ich mag diese voluminösen Grabstätten, groß wie die Liegewiesen in Swingerclubs, in denen sich ganze Generationen fröhlich tummeln. Das sieht für mich nach einem erfüllten Leben aus, mit Kindern und Kindeskindern und einem Mann, mit dem man sich immerhin noch so gut versteht, dass man neben ihm begraben werden möchte.

Dabei liegen ja viele bereits zu Lebzeiten nicht mehr gern neben ihrem Mann. Manch alternder Partner fängt an, Geräusche zu machen, die nichts Menschliches mehr haben, sondern an einen kurzatmigen Mops erinnern, wenn er von einer Runde um den Block zurückkommt. Eine Kollegin meiner Mutter ist mit Mitte sechzig lesbisch geworden, weil sie das feuchte Schnaufen ihres siebzigjährigen Mannes nicht mehr ertragen konnte.

«Egal was er tat, er ächzte dabei», hatte sie meiner Mutter in einem Moment spontaner, unverlangter Offenheit anvertraut. «Und immer häufiger hatte er weißen Grind in den Mundwinkeln. Ich sage dir, das Zusammenleben mit alten Männern ist eine Zumutung. Die stöhnen und müffeln, und das ist kein Geruch, den man durch Intensivierung der Hygienemaßnahmen in den Griff kriegen würde. Es ist der Tod, der ihnen aus den Poren kriecht. Ich kann dir nur wünschen, liebe Uschi, dass du rechtzeitig den Absprung schaffst.»

Mein Vater war achtundsechzig, als er starb, also kurz bevor er in das unschöne Alter von Grind und Gemüffel kam. Der ächzende Mann der Kollegin ist mittlerweile auch unter der Erde und liegt irgendwo links von der Kapelle. Es ist schon beunruhigend, dass ich hier in meiner alten Heimat unter den Lebenden langsam weniger Leute kenne als auf dem Friedhof. Und nächste Woche Donnerstag wechselt wieder jemand vom einen Team ins andere. Meine Mutter.

Sie hatte, wann immer wir über den Tod sprachen, darauf bestanden, hier beerdigt zu werden. «Warum sollte ich mich nach meinem Tod noch an ein neues Zuhause gewöhnen? Dafür bin ich dann wirklich zu alt», hatte sie gesagt. Vielleicht wollte sie mich auf diese Weise zwingen, endlich zurückzukehren.

Ich habe mich oft gefragt, ob sie die Wahrheit ahnte oder sogar kannte. Vielleicht hat sie irgendwann das Buch gefunden? Wenn nicht, dann müsste es noch dort sein, wo ich es vor zwanzig Jahren versteckt habe. Ich werde heute nachschauen und es dann wegschmeißen, verbrennen, zerreißen, in Salzsäure auflösen, was auch immer, jedenfalls so gründlich entsorgen, dass es keinen Schaden mehr anrichten kann. Das hätte ich längst tun sollen. Es wäre geradezu lächerlich tragisch, wenn es jetzt noch in falsche Hände fiele.

Vor zwanzig Jahren hatte ich es nicht übers Herz gebracht, es zu zerstören. Das wäre mir wie Verrat an meiner großen Liebe und meinem großen Traum vorgekommen. Aus damaliger Sicht völlig verständlich. Meine Güte, ich war glücklich, unglücklich, pathetisch, naiv, verliebt, verloren und romantisch.

Das bin ich alles schon lange nicht mehr. Außer vielleicht unglücklich. Aber nur ein bisschen. Und auch nicht mehr als andere.

Ein zerbrochener Engelsflügel pikst mir unangenehm in den Po und zwingt mich, mich wieder mit der unleidlichen Gegenwart auseinanderzusetzen. Ich blinzele in die Sonne.

«Judith.»

Du schaust auf mich herab. Genauso wie früher.

Ich sage: «Hallo. Lange nicht gesehen.»

 

Und für diesen Satz habe ich zwanzig Jahre gebraucht.

Nein, so hatte ich mir unser Wiedersehen nicht vorgestellt.

Immerhin eine halbe Ewigkeit

Die beiden Kallensees haben sich wahrscheinlich im Grab rumgedreht, als ich ihnen so plötzlich aus heiterem Himmel aufs Grundstück geplumpst bin.

Ich muss zugeben, ich bin nicht der Typ Frau, der zwanglos auf anderer Leute Gräbern rumliegt, ohne sich dabei unwohl zu fühlen. Ich tue mich generell schwer mit Situationen, die nicht kontrollierbar sind. Ich bleibe gern Herrin der Lage, und ja, ich stehe dazu, dass es mir eine innere Befriedigung verschafft, wenn die Dinge an ihrem Platz sind, wenn Socken nach der Wäsche wieder zueinanderfinden und Säuglinge zum Entbindungstermin und Gäste zu dem Zeitpunkt erscheinen, für den sie sich angekündigt haben. Ich sehe immer weniger ein, warum ich auf Leute warten soll, die sich auf meine Zeitkosten noch mal umziehen, schon mal vorglühen oder noch einen Anruf erledigen, zu dem sie tagsüber nicht gekommen sind. Das empfinde ich als respektlos meiner Lebenszeit gegenüber, die sich gefühlt rasant dem Ende zuneigt.

Ich werde in acht Wochen und drei Tagen fünfzig, und da mag ich nicht mehr stoisch dreißig Minuten verplempern, bloß weil andere glauben, es käme ja nicht drauf an. Doch, es kommt drauf an! Mir zumindest. Und ich will nichts von meiner Zeit hergeben müssen, bloß weil ihr euer Leben nicht im Griff habt! Würde ich all die Warteminuten der letzten fünfzig Jahre zusammennehmen, dann hätte ich in dieser Zeit spielend ein weiteres Kind großziehen, eine Existenz in Übersee begründen oder einen Roman von bedrohlichem Umfang verfassen können.

Noch schlimmer als Gäste, die zu spät sind, finde ich nur die respektlosen Vor-der-Zeit-Kommer. «Wir sind nur zehn Minuten zu früh dran», zwitschern sie dann vergnügt an der Haustür, die ich am liebsten wieder zuschlagen würde mit der ungehaltenen Bitte, es zum vereinbarten Termin noch mal zu versuchen. Jeder Mensch weiß doch, dass die letzten zehn Minuten eine erhebliche, wenn nicht gar entscheidende Rolle bei der Zubereitung eines Filetsteaks oder eines Abend-Make-ups spielen. Wichtige Details, wie das Anlegen passenden Schuhwerks, das Tuschen der Wimpern, das Nachziehen der Lippen, das Garnieren des Bratens, das Abgießen der Nudeln oder das Beschimpfen der Kinder vor dem Zubettgehen, finden in ebendiesen maßgeblichen Minuten statt. Und ich habe wahrlich an zu vielen Abenden in schäbigen Puschen, ein noch ungewaschenes Kind an der einen Hand, ein Bratenthermometer in der anderen, mit unvollendeter Frisur und quasi wimpernlos im Flur stehen und Gäste begrüßen müssen, die nicht damit gerechnet hatten, dass sie sofort einen Parkplatz finden würden.

Ja und? Das ist doch nicht meine Schuld.

Pünktlichkeit ist schon lange nichts mehr, wofür man sich schämen muss. Und die Zeit, in der man auf Partys ganz bewusst zwei Stunden zu spät aufkreuzte und sich bis dahin krampfhaft bemühen musste, zu Hause nicht einzuschlafen, sind zum Glück lange vorbei. Mit fast fünfzig darf man pünktlich sein und Pünktlichkeit erwarten, ohne sich spießig vorzukommen, und es ist auch keine Schande, bei Abendeinladungen zuzugeben, dass man ganz gerne bereits deutlich vor Mitternacht im Bett liegen würde. Vorzugsweise im eigenen.

 

«Hallo. Lange nicht gesehen.»

Habe ich das gerade wirklich gesagt? Unheimlich peinlich. Ich stütze mich auf die Ellenbogen, schaue zu dir hoch und versuche, mich mit deinen Augen zu betrachten. Was siehst du?

Eine Frau, auf einem Grab zwischen zerbrochenen Engeln liegend, mittelgroß, mittelschwer, mittelalt, rausgewachsener Haaransatz, mindestens sechs Kilo zu viel, eher zehn, wenn man ehrlich ist. Verdammt, wäre ich doch bloß vor meiner Abfahrt noch zum Frisör gegangen und hätte die Saftkur gemacht! Ich hätte mich dir so gerne in bestmöglicher Form präsentiert.

Seit vierzig Jahren unterliegt mein Gewicht gewissen Schwankungen. Das hat allerdings nichts mit wechselnden Stimmungen zu tun, anders als bei vielen anderen Menschen. Mein Appetit ist stimmungsunabhängig, mir ist noch nie etwas auf den Magen geschlagen. Ich habe immer Hunger. Damit habe ich mich abgefunden.

Um nicht unkontrolliert zuzunehmen, habe ich unterschiedliche Methoden entwickelt. Mit Hilfe einer vierwöchigen Saftkur, begleitet von regelmäßigen Sporteinheiten, wollte ich meinem fünfzigsten Geburtstag stolz, straff und mit Idealgewicht entgegentreten. Wobei das Wort «ideal» hier als rein subjektive Maßeinheit zu verstehen ist und keineswegs etwas mit dem von der Weltgesundheitsbehörde so fahrlässig empfohlenen BMI zu tun hat. Ich lasse mir mein Wohlfühlgewicht doch nicht von irgendwelchen weltfremden Wissenschaftlern diktieren, die noch nie nachts an die Tankstelle gefahren sind, um frische Toffifee zu kaufen.

Ich habe also gerade mein Unwohlfühl-Gewicht. Und der Zeitpunkt ist denkbar ungünstig. Jetzt heißt es, Haltung zu bewahren und der unvorteilhaften Gewicht-Selbstwert-Location-Konstellation mit Contenance gegenüberzutreten. Auch im Liegen.

Du lächelst freundlich, und ich könnte nicht sagen, ob du überrascht bist. «Ja, das ist wirklich lang her. Darf ich mich zu dir legen?»

Hast du das gerade wirklich gesagt? Unheimlich lässig.

«Gern. Ich denke, es ist Platz genug für uns beide», sage ich und rücke ein Stückchen in Richtung des ewigen Lichts, das unter meinem Hintern sein frühzeitiges Ende fand. «Die Kallensees hatten ja schon immer einen Hang zu Prunksucht und Angeberei. Das größte Haus, das größte Auto und jetzt das größte Grab. Wusstest du, dass er was mit der Fußpflegerin meiner Mutter hatte?»

Ob du mein Angebot annehmen wirst, einfach so zu tun, als sei nichts geschehen? Immerhin hast du mich nicht gleich mit dem erstbesten Grabkreuz erschlagen. Ein gutes Zeichen.

Du lässt dich langsam neben mir nieder, mit vorsichtigen Bewegungen, die vermuten lassen, dass auch du mindestens einen Bandscheibenvorfall hattest. Hoffentlich kommen wir hier alleine überhaupt wieder hoch.

Eine ungemütliche Pause tritt ein, in der wir beide überlegen, welche Fragen man stellen kann, wenn man das Wesentliche vermeiden, gleichzeitig aber nicht allzu banal wirken will. Du kannst schlecht über das Wetter, deine Urlaubspläne oder die Zunahme des Rechtsextremismus reden, wenn du nicht mal weißt, ob dein Gegenüber das Wahlrecht, Kinder, einen Beruf, zwei Liebhaber oder eine tödliche Krankheit hat.

Du fragst: «Wie geht es ihr?»

«Der Jürgensmeyer? Liegt drei Reihen weiter vorne. Einzelgrab neben Heinemann, unsrem alten Erdkundelehrer. Ein hässlicher Vogel, weißt du noch?»

«Ich meinte deiner Mutter», sagst du lächelnd.

«Sie ist vor zwei Wochen gestorben. Ich bin hier wegen der Beisetzung.»

«Das tut mir sehr leid. Ich habe sie immer gemocht. Mehr als meine eigene. Ich erinnere mich, wie deine Mutter statt Blumen einen Bund Demeter-Möhren zum sechzigsten Geburtstag meines Vaters mitgebracht hat.»

«Und dann hat sie aus Versehen ihre Zigarette in dieser wahnsinnig wertvollen Schale ausgedrückt, die nur zu Dekozwecken auf dem Tisch stand. Das war mir so peinlich.»

«Deine Mutter war super. Meine war peinlich.»

«Deine Mutter war perfekt. Ich wette, du hast sie niemals pupsen hören.»

«Da hast du recht.» Du lachst, und es kommt mir vor, als sei keine Zeit vergangen. Was sind schon zwanzig Jahre?

Anne und Judith. Beste Freundinnen. Für mehr als die Hälfte unseres Lebens.

 

Ich schaue zu Anne hinüber. Sie trägt ihre Haare jetzt kinnlang und grau. Ungewöhnlich für eine Frau mit fünfzig. Die meisten, die ich kenne, würden sich eher von ihrem Mann trennen als von ihrem Coloristen. Ich gebe zu, es hat etwas Verzweifeltes, wie wir alle vier bis sechs Wochen gegen die Zeichen der Zeit anfärben und Termine weit im Voraus vereinbaren, bloß damit unser nachwachsender Ansatz nicht verrät, wie es in Wahrheit um uns bestellt ist. Die wenigen Frauen, die in Ehren ergraut sind, habe ich immer bewundert und beneidet, weil sie das Spiel «Ich will jünger aussehen, als ich bin» einfach nicht mitspielen. Graue Haare waren mir stets als das weithin sichtbare Zeichen einer stabilen Persönlichkeit erschienen.

Anne sieht gut aus. Allerdings keinen Tag jünger, als sie ist. Ein halbes Jahr älter als ich. Soweit ich es erkennen kann, hat sie in zwanzig Jahren kein Gramm zugenommen; im Gegenteil, sie wirkt sogar noch schmaler als früher. Während man mich als Kleinkind noch freundlich einen «dankbaren Esser» nannte, wurde mir wenig später schon nahegelegt, auf alles zu verzichten, was dick macht. Annes Mutter goss ihrer Tochter heimlich Sahne ins Müsli, damit sie etwas zulegte.

Ich habe mich Anne immer unterlegen gefühlt, ohne mich deswegen schlecht zu fühlen. Ich war stolz, dass sie meine Freundin war, und zahlte gerne den Preis dafür, der darin bestand, die meiste Zeit in ihrem Schatten zu stehen. Sie war die Hübschere von uns beiden und die Interessantere. Ich war zwar besser in der Schule, aber sie war klüger als ich, sie hatte bloß keine Lust zu lernen. Ich ließ sie abschreiben, und sie gab mir das Gefühl, mir dadurch eine Ehre zu erweisen. Uns war beiden klar, dass aus ihr mal was werden würde – und aus mir eventuell auch, solange ich mich von ihrer Energie mitreißen lassen und in ihrem Fahrwasser bleiben würde.

Annes Eltern waren unerträglich spießig, außerdem hatte ihr Vater die hässliche Neigung, ihm untergebene Frauen zu befummeln. Er hatte es aber nicht versäumt, seinen Kindern einen soliden Ehrgeiz einzupflanzen. Wenn es drauf ankam, erbrachte Anne Höchstleistungen. Beim Abitur. Beim Abschluss der Banklehre. Beim in Rekordzeit absolvierten Studium. Und es war keine Überraschung, dass sie mit sechsundzwanzig die jüngste Anlageberaterin in der Geschichte der Behrmann-Bank in Köln wurde.

«Und deine Eltern? Leben sie noch?», frage ich. Das Letzte, was ich von meiner Mutter über sie gehört hatte, war, dass Annes Bruder die Kanzlei übernommen hatte und ihr Vater Vorsitzender des Golfclubs geworden war.

«Meine Mutter ist seit acht Jahren dement und lebt im Heim.»

«Wie schrecklich.»

«Es geht ihr gut. Und von mir aus hätte sie schon zehn Jahre früher dement werden können. Das ist nicht böse gemeint, im Gegenteil. Seit sie nicht mehr weiß, wer mein Vater ist, ist sie richtig aufgeblüht.»

«Und was macht der?»

«Du kennst ihn doch. Er meckert weiter an allem rum. Hockt hier um die Ecke im Haus Altenfriede, tyrannisiert die Pflegerinnen, die Mitbewohner und seine Frau. Bloß dass die endlich nichts mehr davon mitbekommt. Und ihn stört es nicht, ins Leere hineinzuschimpfen, das hat er ja im Grunde die letzten fünfzig Jahre auch schon gemacht.»

«Ganz schön hart.»

«Ich hab mir früher viel vorgemacht, alles idealisiert, meinen Vater, meine Mutter, unsere angeblich so heile Welt …»

«Deinen Bruder hast du nicht idealisiert, das wüsste ich», sage ich, um das Gespräch sanft in seichtere Gewässer zu lenken.

«Da hast du allerdings recht. Der war schon immer ein Arsch und ist es bis heute. Weißt du, wen der in zweiter Ehe geheiratet hat? Die Lisa.»

«Welche Lisa?»

«Die Tochter von Ingrid Becker.»

«Ingrid Becker, die prollige Kuh aus unserer Parallelklasse? Die hatte doch schon künstliche Nägel, als wir noch Glanzbilder in unsere Poesiealben klebten. Die hat eine Tochter? Aber die kann doch höchstens zehn sein!?»

«Fast. Sie ist fünfundzwanzig. Und die künstlichen Nägel hat sie von ihrer Mutter geerbt.»

«Nicht zu fassen. Ich dachte, dein Bruder bleibt für immer mit seiner Frau zusammen.»

«Ja, dachte ich auch. Aber was hält schon ewig? Bist du denn immer noch mit Joachim verheiratet?» Ich glaube, einen leichten Spott, vielleicht handelt es sich auch um noch nicht verjährtes Erstaunen, aus ihrem Tonfall herauszuhören. Sie war damals natürlich überrascht, als ich ihr am Telefon sagte, dass ich zu Joachim gezogen war. Sie wusste ja, wie ich über ihn dachte, und Anne teilte meine Meinung nicht, dass nun definitiv die Zeit reif sei für eine Notlösung. Natürlich, sie kannte die Wahrheit ja nicht.

«Judith, du bist dreißig!», hatte sie gesagt. «Es ist doch noch viel zu früh für einen Kompromiss. Zumindest für einen so großen.» Aber viel hatten wir ohnehin nicht darüber gesprochen. Sie hatte zu dem Zeitpunkt wirklich größere Probleme, mit denen sie klarkommen musste, und ihr Schmerz hatte sich zu meinem eigenen hinzuaddiert und wurde dadurch so unerträglich, dass ich mir und ihr nicht mehr zu helfen wusste. Ich hatte Anne nicht trösten können, ich am allerwenigsten von allen. Aber das hatte sie natürlich auch nicht wissen können – und sie fragt sich womöglich bis heute, warum ich sie im Stich gelassen habe.

«Ja, Joachim und ich sind seit zwanzig Jahren verheiratet», sage ich und finde, dass sich das anhört, als würde ich eine Haftstrafe absitzen. «Immerhin eine halbe Ewigkeit», füge ich betont munter hinzu. «Mit drei Kindern, Haus, Hund, Halbtagsjob und Panoramafenster ins Grüne. Hättest du gedacht, dass in mir eine perfekte Hausfrau steckt?» Klingt das nach Notwehr? Ich fürchte ja. Natürlich wird Anne mich still belächeln, weil ich nicht das geworden bin, was aus mir hätte werden können. Weil ich aus Gründen, die sie nicht verstehen kann, einen Kompromiss-Mann geheiratet, keine glänzende Karriere gemacht und unsere Freundschaft abgebrochen habe. Ich weiß genau, so viel Therapieerfahrung habe ich mittlerweile auch, dass Selbstironie kein Zeichen von Selbstbewusstsein ist, dass man als schwacher Mensch lieber selbst den Finger in die Wunde legt, ehe es ein anderer tut. Ich unterstelle Anne, dass ihr mein Leben allzu harmlos vorkommt, weil ich selbst so denke, und ich bin sauer auf sie, weil ich sauer auf mich bin. Anne kann mal wieder überhaupt nichts dafür. Und auch das nehme ich ihr übel.

Welche Note würde ich meinem Leben geben? Eine Drei mit der Tendenz zur Drei minus. Für eine Matheklausur mag das vor fünfunddreißig Jahren ein durchaus zufriedenstellendes Ergebnis gewesen sein, vor allem, wenn man bedenkt, dass ich wegen Mathe zweimal fast sitzengeblieben wäre. Aber für ein ganzes Leben?

«Hast du Kinder?», frage ich und bemerke eine schändliche Hoffnung in mir, dass dem nicht so sein möge und du nicht auch das noch perfekt hinbekommen hast. Lass mir wenigstens eine Sache, die ich besser kann, als du: Kinder kriegen und großziehen in einem vielleicht nicht perfekten, aber immerhin kompletten Elternhaus.

«Nein.»

Mir fällt ein Stein vom Herzen, und ich schäme mich dafür.

«Und wo lebst du?»

«Ich habe die letzten Jahre in München gewohnt. Aber ich bin dabei umzuziehen.»

«Wohin?» Ich rechne mit einem schillernden Sehnsuchtsort. New York oder Paris, London, vielleicht auch Sydney. Irgendeine Stadt, in der smarte Menschen in Konferenzräumen im siebenundsechzigsten Stock ihren laktosefreien Latte trinken. Eine Stadt, aus der Trends, Stars und Fernsehserien kommen, eine Stadt, in der ich, Judith Rogge, Zahnarztgattin aus Wedel bei Hamburg, immer nur Touristin sein werde.

Schrecklich, jetzt bin ich schon wieder am Meckern. Die Unzufriedenheit sickert mir, ich merke das selbst und finde es ekelig, wie zähes Gift aus allen Poren. Würde mich nicht wundern, wenn sich der alte Kallensee gleich wegen unerlaubter Verunreinigung seiner letzten Ruhestätte beschweren würde.

Ich brauche keine Saftkur mit wöchentlichem Einlauf. Ich brauche Detox für mein Ego und ein Abführmittel, das mir die Schlacken aus dem Charakter spült. Wann hatte ich bloß angefangen, so neidisch auf das Leben anderer Leute zu werden?

«Ich ziehe hierher», sagt Anne.

«Was meinst du mit hierher?», frage ich blöde, weil ihre Antwort so wenig dem von mir Erwarteten entspricht, dass ich sie gar nicht richtig kapiere.

«Ich komme zurück nach Hause.»

Dann klingelt mein Telefon.

 

Eine halbe Stunde später öffne ich die Tür und bin ernstlich verwundert. Ich hatte Anne eilig auf dem Friedhof zurücklassen müssen, um mich mit der Maklerin zu treffen, die bereits einen Interessenten für mein Elternhaus gefunden hatte. Ich hatte Anne schnell meine Nummer in ihr Handy diktiert, und sie hatte versprochen, mich noch am selben Tag anzurufen.

«Wir sehen uns bald», hatte sie lächelnd gesagt, und mein Herz hatte aus dem Stand heraus einen begeisterten Satz in Richtung Speiseröhre gemacht. Eine Bewegung, die uns, mir und meinem Herzen, nicht mehr sehr geläufig ist: der Freudensprung. Morgen haben wir womöglich beide Muskelkater.

Auf dem Weg nach Hause hatte ich erst gar nicht versucht, aus dem Wirrwarr meiner Empfindungen schlau zu werden. Freude, Erleichterung, schlechtes Gewissen, Angst, Scham und Glück – die ganze Palette und dazu noch eine unerklärliche Prise Hoffnung auf irgendwie so was Ähnliches wie einen Neuanfang.

«Guten Tag, Frau Rogge, ich bin Yvonne Osländer. Wir haben ja schon mehrfach telefoniert. Wie schön, dass wir uns persönlich kennenlernen und dass Sie so kurzfristig Zeit haben.» Die Maklerin trägt ein Kostüm in der Farbe von frisch Erbrochenem und grellen Lippenstift. Kleinstadt-Schick, das bin ich gewohnt. Sie reicht mir ihre Hand, die so feucht-lappig in der meinen liegt wie die einer Wasserleiche.

Mir war klar, dass man mit dem Verkauf meines winzigen alten Elternhäuschens nicht die Führungsriege des Immobilienbüros beauftragen würde. Gute Lage, aber schlechte Substanz. Da kommt nicht der Chef persönlich.

«Darf ich Ihnen Herrn Schmidt vorstellen? Er interessiert sich sehr für Ihr Häuschen. Ein Glücksfall für Sie, würde ich mal sagen.» Die Maklerin kichert doof.

Glücksfall? Häuschen? Unverschämtheit. Ich bin es langsam leid, dass fremde Leute mir sagen, was ich als Glück zu empfinden habe. Ich schaue Frau Osländer mit einem hoffentlich strafenden Blick an und wende mich übergangslos an den Herrn neben ihr.

«Herr Schmidt», sage ich. Dann verschlägt es mir die Sprache, denn Herr Schmidt ist der Mann meiner Träume. Grau meliert, schlank, groß, aristokratische Nase, schmale Lippen, kantiges Kinn und geschäftstüchtige Augen.

Nein, man kann mir wirklich nicht vorwerfen, dass ich einen ausgefallenen oder gar schrägen Geschmack hätte. Ich mag immer das, was jeder mag. Vanilleeis mit Cookies, Mallorca im Frühling, Colin Firth, Justin Timberlake, Skinny Jeans mit hohem Stretchanteil und alle Theaterstücke von Yasmina Reza. Herr Schmidt, das erkenne ich mit meinem erprobten Massengeschmack sofort, ist das, was alle wollen und ich natürlich auch. Männer wollen ihn zum Freund haben, und Frauen wollen ihren Mann mit ihm betrügen, weil, wenn der Betrug aufflöge, jeder Gatte dafür Verständnis hätte, ja, sich womöglich sogar geschmeichelt fühlen würde, dass die eigene Frau von so einem Maßanzug-Adonis erhört worden ist. Du willst ja auch nicht, dass dein Mann dich mit einer Frau betrügt, für die du dich schämen musst.

Ich lächle den fabelhaften Herrn Schmidt beseelt an und denke bekümmert an die Reste von Friedhofserde und rotem Wachs, die noch an meinem Hintern kleben. Ich werde versuchen, es so einzurichten, dass Herr Schmidt mich nicht von hinten zu sehen bekommt. Ist vielleicht sowieso besser, jedenfalls vor der Saftkur.

Denn als Herr Schmidt mich zum letzten Mal gesehen hat, gab es noch autofreie Sonntage, war Helmut Kohl Kanzler und wog ich quasi nichts. Mein Gott, was würde ich dafür geben, in diesem Moment so schlank zu sein wie zu der Zeit, als ich mir zum ersten Mal dick vorkam.

«Heiko», sage ich und bemerke selbst, dass meine Stimme klingt wie die eines erregten Minions.

«Judith.»

Herr Schmidt ist Heiko Schmidt. Heiko der Henker. Der Mann, der Max ermordet hat.

 

Ich habe ihn sofort wiedererkannt. Eigentlich hat er sich kaum verändert, seit er mit sechzehn mein Mathe-Nachhilfelehrer wurde, das einzige Fach, in dem ich das nötig hatte. Meine Noten waren damals zwar unverändert schlecht geblieben, aber dafür war ich schon nach der dritten Stunde keine Jungfrau mehr gewesen. Aus meiner damaligen Sicht ein beachtlicher Erfolg.

«Du hast mit dem Mörder deines Meerschweinchens geschlafen?» Gleich nach vollzogenem Akt hatte ich selbstverständlich Anne angerufen. Sie hatte ihre Unschuld bereits ein halbes Jahr vor mir bei einem Campingurlaub in Knokke an der belgischen Küste verloren, und ich war froh, nun endlich mitreden zu können. Außerdem hatte ich mir eingebildet, in ihrer Stimme einen angenehmen Unterton von Überraschung und Achtung herauszuhören. Das Mauerblümchen Judith hatte sich den allseits gefürchteten, aber auch umschwärmten Heiko geangelt.

«Er hat ihn nicht ermordet», hatte ich sie zu beschwichtigen versucht, obwohl ich genau wusste, dass Anne recht hatte. «Max ist aus dem Fenster gefallen, und er war zufällig dabei.»

«Meerschweinchen fallen nicht einfach so aus dem Fenster, das weißt du ganz genau. Es gibt keinen Suizid im Tierreich. Und außerdem war ich auch dabei, erzähl also keinen Quatsch. Heiko hat Max aus dem Fenster geworfen!»

«Aber nur, weil er gelesen hatte, dass Meerschweinchen sogar Stürze aus höchster Höhe überleben. Es war ein Experiment, das schlecht ausgegangen ist! Meine Güte, Anne, Heiko war zehn.»

«Ich sage dir: Der Typ geht über Leichen.»

Heiko hatte mich nach elf Monaten, für mich waren sie der Himmel auf Erden, abserviert und dafür eine nicht gerade feine, aber unter Männern weitverbreitete Methode gewählt: Er hatte mich einfach nicht mehr angerufen. Ich hatte gefühlte Jahre vor dem Telefon gesessen, dabei geraucht, geflucht, geweint und mir von Anne immer wieder versichern lassen, dass es sich bei dem Typen um ein respektloses Schwein handele, der meiner Liebe nicht würdig sei und aus dem sicherlich auch niemals was werden würde – aber auch das hatte mich nicht über diesen ersten, profunden und prägenden Liebeskummer hinwegtrösten können.

Und jetzt steht mir dieser Mann gegenüber, ausgerechnet in meinem Elternhaus, wo er mein Meerschweinchen erst seines Lebens und dann mich meiner Unschuld beraubt hat.

«Ach, Sie kennen sich?», fragt Frau Osländer alarmiert, womöglich in Sorge um ihre Maklerkaution.

«Das ist lange her», sage ich.

«Ich habe hier, glaube ich, noch eine alte Rechnung offen», sagt Heiko Schmidt. Sein Lächeln lässt mich erahnen, dass sich an seinem Charakter nichts, aber auch gar nichts zum Guten gewendet hat.

Ich verfalle ihm auf der Stelle.

Der Sommer, die Liebe, das Leben – alles schien endlos. Ein Irrtum

Der Dachboden war mir schon immer unheimlich. Ein düsterer Ort, den ich so selten wie möglich betreten habe. Man kann ihn nur durch eine Luke in der Decke erreichen. Mit einer Eisenstange öffne ich die Klappe und ziehe zaghaft die Holztreppe zu mir herunter, die, schon als wir vor fünfundvierzig Jahren hier einzogen, klapprig und morsch wirkte. Auch jetzt kommt mir das Loch in der Decke wieder vor wie das Maul eines zahnlosen Fisches, der bereit ist, alles zu verschlucken und zu verdauen, was ihm in den Schlund kommt. Eventuell auch mich.

Ich bewege mich zögerlich auf die schwarze Öffnung zu und versuche, mir mit vernünftigen Argumenten Mut zuzusprechen. Es sind dieselben Beruhigungsstrategien, mit denen ich mir jahrelang gesagt habe, dass höchstwahrscheinlich kein grausiges grünes Schleimmonster unter meinem Bett liegt, das nur darauf wartet, meine nackten Füße zu packen und mich direkt in die Unterwelt zu zerren.

Ich hatte diese Angst trotz guten Zuredens und hinlänglicher Therapieerfahrung nie ganz abgelegt. Noch mit dreißig sprang ich jeden Morgen mit einem weiten Satz aus dem Bett heraus und jeden Abend auf dieselbe Weise hinein. Man kann ja nie wissen. Die Tatsache, dass ich niemals von einer dunklen Macht unter ein Bett verschleppt worden bin, gibt mir ja auch irgendwie recht und zeigt, dass meine Vorsichtsmaßnahmen nicht umsonst waren. Der dunkle Spalt zwischen Matratze und Boden blieb für mich jedenfalls eine dauerhafte Bedrohung.

Vor fünfzehn Jahren dann kaufte Joachim, der deutlich Pragmatischere in unserer Ehe, ein Polsterbett ohne Beine mit einer Matratze, die bis zum Boden reichte. Seither kann ich zivilisiert und psychologisch unauffällig in unser Bett steigen. Dass es in vielen Hotels mittlerweile Boxspring-Betten gibt, macht mir das Leben ebenfalls leichter. Meinem Mann auch.

Joachim ist vielleicht nicht der richtige, aber er ist der perfekte Mann für mich. Er ist die Basentablette in meinem Säurehaushalt. Der Sunblocker für die empfindliche Haut meines inneren Kindes.

Joachim ist norddeutsch, rational, verlässlich, loyal und nicht aus der Ruhe zu bringen. Er hat keinen nervösen Magen und keine Allergien, er isst nur, wenn er Hunger hat, wird nicht ausfällig oder auffällig und bekommt nie Sonnenbrand.

Er hat allerdings auch mir gegenüber einen geographischen und genetischen Startvorteil. Meine diversen Neurosen haben nur teilweise den Charakter echter psychischer Störungen – im Wesentlichen sind sie schlicht darin begründet, dass ich aus dem Rheinland stamme, sieben Jahre jünger bin als er und eine Frau. Da kommen drei Faktoren zusammen, für die ich nichts kann, die aber einen Hang zu Pathos und Irrationalität erheblich begünstigen.

Für mich beginnt, sobald das Licht aus ist, ein Gruselfilm allererster Güte. Auf schmalen, schlecht beleuchteten Kellertreppen geht meine Phantasie mit mir durch, und jedes Mal, wenn ich in ein Flugzeug steige, formuliere ich beeindruckende letzte Worte und versuche einzuschätzen, wem von meinen Mitreisenden ich nach einer Bruchlandung die größten Überlebenschancen einräumen würde. Ich kann nur jedem raten, sich nach einem Absturz in der Einöde bloß nicht an mich zu halten. Ich gerate leicht in Panik, habe keine Spur von Orientierungssinn und kann, wie gesagt, mit meinen Bifokallinsen weder das Kleingedruckte lesen noch einen korrekten Luftröhrenschnitt setzen.

Mein Mann hingegen ist ein fleischgewordener Kompass; er wird umso ruhiger, je chaotischer die Zustände um ihn herum sind. Joachim hat sich in seinem Leben noch nie vor Dachböden, Speichern oder den dunklen Wesen unter seinem Bett gefürchtet. Er kennt keine Monster. Vielleicht hat er einfach zu wenig Vorstellungsvermögen.

Jedenfalls war ich diejenige, die unseren Kindern immer die selbsterfundenen Gute-Nacht-Geschichten erzählt hat, von dem erbitterten Kampf zwischen Ivan, dem schrecklichen Säufer, und Cordula, der Pool-Fee, und von Luise, der neurotischen, aber bildschönen Badelatsche, die ständig in einen meiner Söhne verliebt war.

Ich taste in der Dunkelheit des Dachbodens nach dem Lichtschalter und sehe schon Dutzende klammer Hände gierig nach mir greifen. Wer keine Angst hat, der hat bloß zu wenig Phantasie.

Wenn ich nicht sofort diesen elenden Schalter finde, verschiebe ich mein Vorhaben spontan auf unbestimmte Zeit.

Endlich. Im gelblichen Schein einer Glühbirne, die womöglich im selben Alter ist wie ich, liegt der Dachboden vor mir. Er ist leer bis auf einige mürbe Kartons hinten in der Ecke. Gut möglich, dass hier oben niemand mehr war, seit ich vor zwanzig Jahren die Luke zum letzten Mal hinter mir geschlossen habe. Wir haben den Dachboden nie benutzt, und so blieb er stets unbelebt und gruselig; genau deswegen hatte ich ihn ja als Versteck ausgewählt.

Ich schiebe meine Hand eilig hinter den ersten Dachbalken rechts von der Luke, ich möchte hier oben keine Sekunde länger als nötig verbringen.

Ist es noch da? Fast wünsche ich mir in diesem Moment, dass ich es nicht finde. Dass meine Mutter mein Geheimnis gewusst und heimlich mit mir getragen hat, dass ich all die Jahre nicht allein damit war.

Es hat mir bis zum Schluss leidgetan, dass ich auch ihr nie die Wahrheit sagen konnte. Ob es aber die falsche Entscheidung war, mich auf eine Lebenslüge einzulassen, damit plage ich mich schon lange nicht mehr. Wenn ich die Antwort nicht wissen will, dann stelle ich die Frage erst gar nicht. An dieses Motto habe ich mich stets gehalten.

Da ist es!

Schade.

Das Buch ist sorgfältig in eine Plastiktüte der Konditorei «Wallmrath und Wiese» verpackt, in der ich damals jeden Nachmittag gegen vier für mich und meine Mutter einen Aprikosenfladen oder zwei Apfelberliner kaufte. Ich war zwar eigentlich ständig auf Diät, aber dank tobender Hormone konnte ich in jenen Sommerwochen ganz ausnahmsweise einmal essen, was ich wollte. Ich nahm ab, blühte auf und sah wieder aus wie fünfzehn, wie zu der Zeit, als direkt neben «Wallmrath und Wiese» noch die Modeboutique «Bananas» war, wo ich farblich fragwürdige Karottenhosen und Blazer mit Schulterpolstern, groß wie Sitzsäcke, kaufte.

Da hieß ich noch Judith Monheim und trug meine Originalhaarfarbe, ein uninteressantes Mittelbraun, das ich gerne als Dunkelblond bezeichnete. Ich hatte noch Schamhaare ohne Frisur, dafür keine Orangenhaut, und die Jungs rochen alle nach Azzaro und trugen Westernstiefel. Meine Mutter machte mir die Wäsche und kochte mir Mittagessen, während ich so tat, als sei ich erwachsen, Benson & Hedges rauchte, Milan Kundera las, «The Traveller» von Chris de Burgh hörte und ansonsten den ganzen Tag mit meiner besten Freundin Anne telefonierte, die keine zweihundert Meter entfernt wohnte.

Ich trug Perlmuttlippenstift und Frottee-Schlafanzüge. Die Erfindung von Quinoa Bowls, Chai Latte, Bluetooth, Smoothies und elektrischen Fensterhebern lag in ferner Zukunft.

Ich konnte Telefonnummern auswendig, hörte Kassetten und kämpfte mit Bleistiften gegen den Bandsalat. Ich nahm Songs aus dem Radio mit meinem Kassettenrekorder auf – und nicht selten hörte ich später, dass während der Aufnahme mein Vater von unten hochgerufen, meine Mutter im Flur gestaubsaugt oder der unbeherrschte Moderator einfach losgesabbelt hatte.

Ich benutzte Formulierungen, die meine Kinder heute nicht mehr verstehen würden: «Hoffentlich sind die Fotos was geworden» oder «Steh mal auf und schalt auf ein anderes Programm um». Ich hatte ein einziges, straffes Kinn und aß Pommes rot-weiß statt Süßkartoffelslides. Nena hatte Haare unter den Achseln, und ich hatte die Gewissheit, dass ich Schriftstellerin, glücklich und berühmt werden würde.

Der Sommer, die Liebe, das Leben – alles schien endlos. Ein Irrtum.

Berühmt bin ich nicht geworden. Ich habe drei Kinder, die man nicht mehr Kinder nennen darf. Jonathan wird zwanzig, die Zwillinge Karl und Anton sind achtzehn. Und ich werde bald fünfzig. Als wäre das noch nicht schlimm genug, hat nun auch Anton als Letzter vor zwei Monaten das Haus für ein Jahr nach Neuseeland verlassen. Und jetzt ist meine Mutter gestorben, die ich geliebt habe und die mir wenig mehr als einen leeren Dachboden und eine Plastiktüte mit meinem eigenen Tagebuch hinterlassen hat.

Ich bin seit neunzehn Jahren aus guten Gründen mit dem falschen Mann verheiratet. Aber darüber will ich nicht nachdenken. Nicht jetzt.

Derzeit habe ich eigentlich viel zu viel zu tun, als dass ich es mir leisten könnte, hier Zeit zu verplempern, Erinnerungen hervorzukramen und mich mit grundlegenden Zweifeln an Entscheidungen zu plagen, die längst getroffen und nicht mehr rückgängig zu machen sind. Die Einladungen zum Doppeljubiläum, mein fünfzigster Geburtstag plus unser zwanzigster Hochzeitstag, sind seit Wochen raus. Wir erwarten siebzig Gäste, meine drei Söhne werden kommen, ich muss das Menü und die Blumendekoration zusammenstellen, und ich suche nach einem schicken Kleid in einer Größe, die ich noch nicht habe. Außerdem muss ich rechtzeitig einen Botox-Termin bei meiner Hautärztin vereinbaren.

Ich sehe nicht ein, dass ich, nur weil ich fünfzig werde, auch so aussehen soll. Das tut heutzutage niemand mehr, auch nicht nach zwanzig Jahren Ehe. Ich will das jetzt auch: Jugend aus der Spritze und an meinem fünfzigsten Geburtstag jünger aussehen als an meinem vierzigsten. Und wenn ich dann schön und glatt bin und für mein altersloses Äußeres bewundert werde, dann werde ich, so wie alle anderen, behaupten, das läge lediglich an meinen guten Genen, genügend Schlaf und drei Litern stillem Wasser pro Tag.

Es ist ja leider völlig unüblich geworden, so alt auszusehen, wie man ist. Neulich habe ich mal versehentlich eine Fünfundfünfzigjährige auf vierundfünfzig geschätzt. Da war vielleicht was los. Und was hätte ich zu meiner Entschuldigung auch vorbringen können? Am Ende habe ich mich auf meine Alterskurzsichtigkeit und die mangelhaften Bifokallinsen berufen.

Ich dachte immer, ich selbst würde meinen Alterserscheinungen nachsichtig und aufgeschlossen gegenübertreten. Aber das lässt sich natürlich leicht und vorlaut behaupten, solange man noch keine ernstzunehmenden Alterserscheinungen hat. Das ist so, wie wenn reiche Leute sagen, Geld spiele in ihrem Leben keine große Rolle. Dass ich nicht lache. Geld spielt erst dann eine große Rolle, wenn du arm bist, und Botox erst dann, wenn du alt wirst.

 

Ich will hier alles nur möglichst schnell erledigen. Die Beisetzung der Urne nächste Woche und die Haushaltsauflösung hinter mich bringen, den Verkauf des Hauses in die Wege leiten, um dann zügig wieder in mein altes Leben und zu meinen diversen Verpflichtungen zurückzukehren. Ein Ausflug mit den Rotariern ins Alte Land, Zahnreinigung, Lymphdrainage und Brustkrebsvorsorge stehen auch noch an.

Manchmal frage ich mich, warum wir eigentlich alle unbedingt möglichst lange leben wollen, wenn wir die Zeit bis zu unserem Tod hauptsächlich in Wartezimmern und bei Vorsorgeuntersuchungen verbringen, mit Schläuchen im Gedärm, mit zwischen Röntgenklammern eingequetschten Brüsten oder bei entwürdigenden Hautchecks, für die ein Typ, der gerade erst abgestillt worden ist, deinen Körper mit einer Lupe nach zwielichtigen Muttermalen absucht, sogar zwischen den Pobacken und mit zunehmendem Alter und abnehmender Straffheit auch darunter.

Die Luke schließt sich. Klappe zu. Monster tot. Ich habe nicht vor, diesen Dachboden jemals wieder zu betreten.

 

Ich werde noch ein Glas Wein trinken und dann früh ins Bett gehen. Früher bin ich aus Prinzip nicht früh ins Bett gegangen. Aber da wusste ich auch noch, wie das geht: Ausschlafen. Als Mutter kannst du nicht ausschlafen, du verlernst es wie eine Sprache, die du jahrelang nicht sprichst. Du wachst um sechs auf – selbst wenn in den ehemaligen Kinderzimmern längst die Wäsche trocknet und das letzte Lego-Piratenschiff schon vor Jahren bei eBay verkauft worden ist.

Ich habe ja beim Verkauf stets nur einen Bruchteil des ursprünglichen Wertes für Lego-Spielzeug erzielen können. Unbegreiflich, wie andere Mütter es hinkriegen, dass die Bausätze über Jahre hinweg komplett bleiben. Nach sieben Jahren verkaufen diese Zwangsneurotikerinnen eine dreihunderttausendteilige Feuerwehrwache mit mehreren Löschfahrzeugen in der unbeschädigten Originalverpackung, mit Bauanleitung, in sehr gutem Zustand, kein Teil fehlt! Das ist doch nicht normal.

Meine Kinder haben es nicht ein einziges Mal geschafft, einen Lego-Karton so zu öffnen, dass man ihn nachher noch für irgendwas anderes als fürs Altpapier hätte gebrauchen können. Und wenn nicht die Anleitung nach wenigen Stunden verschwunden gewesen war, dann mit Sicherheit das einzige Teil, ohne das das gesamte Objekt keinen Sinn ergeben hat. Wenn ich mal früh sterbe, dann wegen Lego.

Oder bin ich schon zu alt, um noch früh zu sterben?

Jedenfalls haben mich diese Heerscharen von Ninjagos und Nexo Knights, diese mehrstöckigen Parkhäuser, Kampfsterne und Star-Wars-Raumschiffe innerlich zermürbt und ausgehöhlt. Lego hat meine Nerven zerfressen und meine Kinder zu Biestern gemacht, die tobend Türen schlugen, weil sie auf Seite 219 der Bauanleitung feststellen mussten, dass sie bereits auf Seite vier einen entscheidenden Fehler gemacht hatten.

Ich habe schon mal einen kompletten Starfighter aus dem Fenster geschmissen. Komplett? Nein, eben nicht komplett, es fehlten drei immens wichtige Flügelteile, die Jahre später in einem Sicherungskasten im Keller wiederauftauchten. Wie sie dorthin gekommen sind, bleibt eines der vielen Geheimnisse, die das Leben mit Söhnen mit sich bringt.

Der Schulranzen eines Jungen gleicht einem schwarzen Loch, in dem Stifte, Radiergummis, Klassenarbeiten und Brotreste spur-, gruß- und rettungslos verschwinden. Auch das Zimmer eines männlichen Kindes saugt Materie ein und gibt sie nur in Ausnahmefällen wieder her. Wo ist die Einladung zum Elternsprechtag geblieben, wo die neue Jacke, die Trinkflasche, der Haustürschlüssel? Selten tauchen Dinge wieder auf, Schiffbrüchigen gleich, die nach Jahren auf einer einsamen, in keiner Landkarte verzeichneten Insel durch Zufall entdeckt werden.

Ich habe Marmeladenbrote und Unterhosen in einem Zustand gefunden, der bei mir posttraumatische Störungen ausgelöst hat.

Die Psyche eines heranwachsenden Jungen wirft etliche Fragen auf, die auf ewig unbeantwortet bleiben werden: Warum stört es dich nicht, wenn deine Füße wie Pansen riechen? Warum hast du nicht aus dir heraus das Bedürfnis entwickelt, dir regelmäßig die Zähne zu putzen, den Müll zu entleeren oder leise die Treppe runterzugehen? Warum bedeutet dir frische Luft nichts?

Auch hier hatte sich Joachim als idealer Partner und überlegener Pädagoge erwiesen. Er blieb immer einfach ruhig und nahm auch die abstoßendsten Entwicklungsphasen unserer Söhne mit stoischer Gelassenheit hin, ohne sich, wie ich, mehrmals am Tag zu fragen, an welcher Stelle wir als Eltern versagt hatten. Während ich heulend und tobend Protestbriefe an das Lego-Imperium entwarf, nahm er sich Zeit, um geduldig und Schritt für Schritt eine Fehleranalyse zu betreiben und am Ende die Piratenschiffe und Raumstationen doch hinzukriegen. Wenn unsere Söhne stanken, roch er nicht so genau hin und behauptete, dass Kinder bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr volle Mülltüten, unaufgeräumte Zimmer und schmutzige Füße rein genetisch nicht wahrnehmen könnten, damit Mütter noch möglichst lange das Gefühl hätten, sie würden im Leben ihrer Kinder eine wichtige Rolle spielen und dringend gebraucht werden. Alles sei vom Schöpfer wohlwollend so eingerichtet, um Mütterseelen zu schonen, und ich würde mich noch wundern, wie sehr mir der Geruch von pubertierenden Sportschuhen später fehlen würde.

Ich hatte stets nur bitter aufgelacht und mit spitzen Fingern die nächste Socke direkt in den Müll entsorgt. Und nie hätte ich gedacht, dass es mir mal so sehr fehlen würde, nachts auf dem Weg zur Toilette auf einen Lego-Stein zu treten. Eine Narbe an der Fußsohle habe ich heute noch. Sie erinnert an bessere Zeiten, als die Mülltonnen noch zu voll und mein Leben noch nicht zu leer war.

Prost! Auf Lego und die Schweißfüße!

Der Wein schmeckt schlecht. Das finde ich gut. Meine Mutter hatte nie ein Händchen für erlesene Getränke oder Speisen, für kostspielige Kleidung, wertige Kunst oder exquisite Möbel. Bei uns sah es eigentlich überall aus wie in anderer Leute Rumpelkammer. Nichts passte zusammen, nichts war schön oder neu. Nur unsere Rumpelkammer, ebenjener kaum frequentierte Dachboden, war leer und aufgeräumt. Das ganze Gerümpel war ja im Rest des Hauses im Einsatz.

Ich sitze an unserem wackeligen Küchentisch, den auch niemand freiwillig aus dem Sperrmüll retten würde. Der Tisch ist deutlich kleiner, als ich ihn in Erinnerung hatte. Alles hier ist kleiner, als ich es in Erinnerung hatte: der Flur, das Wohnzimmer, die Fenster, die enge Treppe nach oben und der winzige Raum mit der Dachschräge, der mal mein Zimmer war und der von der Größe her an etwas erinnert, in dem Boris Becker uneheliche Kinder zeugt.

Meiner Vorstellung nach bin ich in einem palastartigen Gebäude mit geschwungener Freitreppe und lichtdurchfluteten Räumen aufgewachsen und nicht in diesem Schuhkarton. Vielleicht kommt einem das eigene Elternhaus immer größer vor, als es in Wahrheit ist, einfach weil man früher klein war. Da dachte man ja auch, Jungs aus der neunten Klasse seien anbetungswürdige Halbgötter und Kim Wilde eine atemberaubende Sängerin.