Unter dem Herzen - Ildikó von Kürthy - E-Book

Unter dem Herzen E-Book

Ildikó von Kürthy

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Beschreibung

Datum: 9. September Schwangerschaftswoche: 6 + 6 Tage Zustand: Babys Herzchen schlägt, und ich ringe mit mir, meinen Frauenarzt zu bitten, in unser Gästezimmer einzuziehen. Nur zur Sicherheit und bloß für die nächsten acht Monate. Ich bin drauf und dran, ein anderer Mensch zu werden. Einer, den ich bisher noch nicht kannte: eine Mutter. Nie weiß ich, wann mich der Hunger, die Angst, das Glück oder die Übelkeit überkommt. Denn genauso überwältigend wie die Furcht, das Kind zu verlieren, kann die Furcht sein, das Kind zu bekommen. Neulich kamen mir die Tränen, als ich im Internet auf die Umstandsunterhose «Schluppi» stieß, in Größe und Form einem Zwei-Mann-Zelt nicht unähnlich. Was erwartet mich für ein Glück? Was für eine Liebe? Eine bedingungslose? Werde ich meinen Sohn auch noch leiden können, wenn er hundertdreißig Kilo wiegt und Fahrlehrer werden will, oder meine Tochter, wenn sie mit achtzehn beschließt, sich ein Arschgeweih tätowieren zu lassen und Weihnachten bei den Eltern ihres Idioten-Freundes zu feiern? Ich horche angestrengt in mich hinein. Spüre ich, dass ich zwei bin? Nein. Was soll mein Kind von mir denken? Kaum gezeugt und schon vernachlässigt. Ob ich eine schlechte Mutter werde? Eine hyperventilierende Megaglucke? Eine militante Rohkostschnipplerin? Eine Rabenmutter, die ihr Baby im Autositz vergisst? Werde ich alles falsch machen? Oder nur fast alles? «Unter dem Herzen» ist aufrichtig, lustig, bewegend, ein Reisebegleiter in die unglaubliche Realität von Eltern, Babys und Feuchttüchern, in der tatsächlich Sätze fallen wie: «Muttermund tut Wahrheit kund!» Ungelogen.

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Ildikó von Kürthy

Unter dem Herzen

Ansichten einer neugeborenen Mutter

 

 

 

Über dieses Buch

Datum: 9. SeptemberSchwangerschaftswoche: 6 + 6 TageZustand: Babys Herzchen schlägt, und ich ringe mit mir, meinen Frauenarzt zu bitten, in unser Gästezimmer einzuziehen. Nur zur Sicherheit und bloß für die nächsten acht Monate.Ich bin drauf und dran, ein anderer Mensch zu werden. Einer, den ich bisher noch nicht kannte: eine Mutter. Nie weiß ich, wann mich der Hunger, die Angst, das Glück oder die Übelkeit überkommt. Denn genauso überwältigend wie die Furcht, das Kind zu verlieren, kann die Furcht sein, das Kind zu bekommen. Neulich kamen mir die Tränen, als ich im Internet auf die Umstandsunterhose «Schluppi» stieß, in Größe und Form einem Zwei-Mann-Zelt nicht unähnlich. Was erwartet mich für ein Glück? Was für eine Liebe? Eine bedingungslose?Werde ich meinen Sohn auch noch leiden können, wenn er hundertdreißig Kilo wiegt und Fahrlehrer werden will, oder meine Tochter, wenn sie mit achtzehn beschließt, sich ein Arschgeweih tätowieren zu lassen und Weihnachten bei den Eltern ihres Idioten-Freundes zu feiern? Ich horche angestrengt in mich hinein. Spüre ich, dass ich zwei bin? Nein. Was soll mein Kind von mir denken? Kaum gezeugt und schon vernachlässigt. Ob ich eine schlechte Mutter werde? Eine hyperventilierende Megaglucke? Eine militante Rohkostschnipplerin? Eine Rabenmutter, die ihr Baby im Autositz vergisst? Werde ich alles falsch machen? Oder nur fast alles?«Unter dem Herzen» ist aufrichtig, lustig, bewegend, ein Reisebegleiter in die unglaubliche Realität von Eltern, Babys und Feuchttüchern, in der tatsächlich Sätze fallen wie: «Muttermund tut Wahrheit kund!» Ungelogen.

Vita

Ildikó von Kürthy ist freie Journalistin und lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in Hamburg. Ihre Bestseller wurden mehr als sechs Millionen Mal gekauft und in 21 Sprachen übersetzt. Ihr Roman «Mondscheintarif» wurde fürs Kino verfilmt. «Unter dem Herzen» ist ihr erstes Sachbuch.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2012

Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung Fotografie: Philipp Rathmer c/o Klein Photographen; Zeichnungen: Stefan Werthmüller

ISBN 978-3-644-21061-5

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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Meiner Mutter

Ich hatte gar nicht mehr mit dir gerechnet.

Dabei warst du längst unterwegs.

Nichts wird sein, wie es mal war. Mein Leben, so wie ich es kenne, ist Vergangenheit. Feuchttücher und Dinkelprodukte werden in Zukunft darin eine wichtige Rolle spielen. Ich werde neues Glück und ungeahnte Angst kennenlernen, und ich werde erstaunt sein, mit wie wenig Schlaf man dann doch irgendwie auskommt.

Ich werde mich von nun an regelmäßig fragen und fragen lassen müssen, ob ich nicht wahlweise mein Kind, meinen Mann, meinen Beruf oder mich selbst vernachlässige. Und darauf werde ich nie, nie, nie eine befriedigende, eine richtige, eine klare Antwort finden.

So sieht meine Zukunft aus, wenn ich den Leuten Glauben schenke, die es wissen müssen. Den Müttern und Vätern, deren Erfahrungen ich bis heute zwar interessiert zugehört habe, aber doch immer mit dem Gefühl, sie nicht wirklich zu verstehen.

Diese albernen Geräusche zum Beispiel, die Mütter von sich geben, wenn sie mit ihrem Baby kommunizieren. Wie soll das Kind denn da ordentlich sprechen lernen?

Diese grauenerregenden Ultraschallbilder, die Schwangere ungebeten rumzeigen und dabei behaupten, man könne an diesem unförmigen Klümpchen bereits Ähnlichkeiten feststellen, wenn man nur genau genug hinschauen würde.

All die Geschichten von tagelangen Geburtswehen, durchwachten Nächten, von ersten Ballettaufführungen, ersten Zähnen und ersten Schultagen klangen mir wie aus einer fremden Welt.

Und diese fremde Welt wird nun meine sein.

Ich denke, dies ist ein guter Moment, um zu schreiben.

Ein Tagebuch über die normalste Sache der Welt. Allein in dieser Sekunde werden vier Kinder geboren. Leute, es ist absolut nichts Besonderes, wenn ein Kind zur Welt kommt.

Außer, es ist das eigene.

«Kinder sind Geiseln in den Händen der Welt.

Die Schmerzen der Kinder sind die schlimmsten, die Eltern

erleiden. Kinder sind in jeder Hinsicht eine Verstärkung der

Realität. Alles, was wirklich ist, ist durch Kinder noch wirklicher,

ob das Schmerz ist oder Freude.»

MARTIN WALSER

19. August

Schwangerschaftswoche: 4 + 2 Tage

Gewicht: Morgens unbekleidet und ohne Kontaktlinsen 64 Kilogramm. Bei 173 Zentimeter Größe und einem Körper, der noch nie zur Gattung der fettfreien Elfen gehörte, ein vortreffliches Ergebnis – das ich mir jedoch hart erarbeitet habe durch grausamen Verzicht, der meinem maßlosen Gemüt eigentlich nicht entspricht. 64 Kilogramm – diese beeindruckende Zahl dürfte schon bald der Vergangenheit angehören.

Zustand: Bin in Aufbruchsstimmung, gleichzeitig ungläubig und viel zu ängstlich, um richtig glücklich zu sein.

Ich hatte gar nicht mehr mit dir gerechnet. Dabei warst du längst unterwegs.

Nun gut, es gab ein paar Hinweise auf deine Existenz, denen ich jedoch nicht weiter nachgegangen bin. Die Tatsache, dass ich das Nutellaglas beim letzten Wochenendeinkauf in der Special Edition «Family & Co – jetzt mit 300 Gramm mehr!» gekauft habe, hatte mich nicht sonderlich stutzig gemacht. Ich bin seit jeher, auch ohne Familie, eine Anhängerin von großen Portionen und Übergrößen im nahrungstechnischen Bereich gewesen. Dass der Schokoladenaufstrich jedoch bereits drei Stunden später komplett verspeist gewesen war, und zwar direkt vom Glas in den Magen, ohne den Umweg über eine Scheibe Brot zu machen, hätte selbst mich, als bekennenden Vielfraß, misstrauisch machen können.

Ich wusste jedoch erst mit Sicherheit, dass etwas mit mir nicht stimmte, als ich gestern Abend nach dem zweiten Glas Wein keine Lust mehr auf Alkohol hatte. Das hatte es noch nie gegeben.

«Ich glaube, ich werde krank», sagte ich besorgt zu dem Mann neben mir auf dem Sofa, der keine Ahnung hatte, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits Vater eines sich eifrig teilenden Zellhaufens war.

«Wahrscheinlich irgend so ein blöder Magen-Darm-Virus», fügte ich noch übellaunig hinzu. Krank zu werden passte mir gerade gar nicht, denn ich hatte am nächsten Morgen einen Termin bei meinem bildschönen, wohlgestalteten Personal Trainer Marco, mit dessen Hilfe ich seit drei Monaten gegen die meinen 38 Jahre alten Körper zunehmend belästigende Schwerkraft antrainiere.

Ich habe nämlich seit vielen Jahren leidvolle Erfahrungen mit dem Thema «Schwangerschaft».

Ich wäre gern schwanger – sehe aber leider bloß so aus. Keine ganz glückliche Konstellation.

Aufgrund einer etwas ungünstigen Veranlagung, die meine Körpermitte betrifft, fragen mich seit meinem 30. Lebensjahr gerne mal weibliche Teile meines Bekanntenkreises mit mildem Lächeln und tiefer gelegter Stimme: «Hast du ein süßes Geheimnis?»

Ich reagiere darauf gallig – besteht mein süßes Geheimnis doch in der Regel aus einer Pizza mit doppelt Käse am Vorabend in Kombination mit der bereits erwähnten genetischen Prädisposition.

 

Am ersten Tag dieses Jahres machte ich eine Liste mit folgenden Beschlüssen:

1.) Finde dich damit ab, dass du in deinem biblischen Alter nach etlichen Jahren redlichen Bemühens höchstwahrscheinlich keine Kinder mehr bekommen wirst. Nicht trauern. Leben.

2.) Finde dich nicht damit ab, dass Verkäuferinnen dir ungebeten weitfallende Tuniken in die Umkleidekabine reichen und sagen: «Da kann das Bäuchlein noch reinwachsen.»

3.) Schluss mit dem Bauch! Schluss mit dem Kinderwunsch!

3. a) … und wo ich schon mal dabei bin: weniger Weißmehl, weniger Zucker. Morgens Ingwerwasser auf nüchternen Magen. Nicht von Ehemann zu unproduktiven Streitigkeiten provozieren lassen. Nie wieder Nutella kaufen mit der Ausrede: «Ist ja nur für sonntags aufs Brot.» Sex nur noch bei akuter Lust, nicht mehr wegen akuten Eisprungs. Jeden Abend Zahnzwischenraumbürstchen benutzen (auch wenn ich betrunken bin).

4.) Neuer Mann? Neuer Chef? Neue Wohnung? Es MUSS sich was ändern! Motto: MEHR MUT!!! (Und weniger Kohlehydrate.)

 

Und, was soll ich sagen?

Ich habe keine vier Monate gebraucht, um mein Leben auf den Kopf zu stellen. Den Mann habe ich zwar behalten – jedoch plane ich an ihm einige aufwendige Renovierungsmaßnahmen charakterlicher Natur. Aber ich habe keinen Chef mehr, eine Zweitwohnung in Berlin und einen Bauch, den man im weitesten Sinne als flach bezeichnen könnte.

Ich habe gekündigt, denn ich spekuliere nicht mehr auf Mutterschutz und Elterngeld, und ich habe keine Angst mehr, meine Kinder in eine ungewisse Zukunft zu gebären. Welche Kinder? Angst war gestern!

Jetzt arbeite ich freiberuflich und wohne ab und zu für ein paar Tage in Berlin, wo ich sehr schön so tun kann, als sei ich absolut unkonventionell und als hätte das Leben noch gar nicht richtig angefangen.

Ich habe zwei Monate im Prenzlauer Berg gelebt und mich so lebendig und so einsam, so mutig und so verzweifelt gefühlt wie lange nicht mehr.

Ich habe nichts vermieden. Ich habe viel gefeiert, viel gearbeitet, nie ferngesehen und für mich untypisch laut Musik aufgedreht – ich will ja immer niemanden stören.

Mit einer sich leerenden Flasche Rotwein im Arm «Cripple and the Starfish» von Antony and the Johnsons gehört. Dabei ist mir beinahe das Herz zerbrochen wie vor zwanzig Jahren bei «If I Laugh» von Cat Stevens.

Habe sogar Musik ausgehalten, die ich sonst kaum ertragen kann, weil ich davon nervös werde und sie mich daran erinnert, dass ich es mir allzu gerne viel zu gemütlich mache, ich das Risiko nicht liebe und am liebsten an Orte in den Urlaub fahre, die ich bereits kenne.

Berlin war mein Drahtseilakt, meine Sprungschanze. Dabei, das muss ich natürlich zugeben, war während meiner todesmutigen Hauptstadt-Abenteuer ein absolut sicheres Netz unter mir gespannt. Denn wann immer ich meine selbstgewählte Pseudoeinsamkeit nicht mehr aushalten konnte und mir der Himmel über Berlin auf den Kopf zu fallen drohte, rief ich zu Hause an, um mir Mut zusprechen zu lassen.

Ich habe wirklich einen eigenartigen Mann. Er vertraut mir und möchte, dass ich glücklich bin.

Ist das zu fassen? Wirklich, damit muss man als Frau erst mal zurechtkommen.

Ich habe Freundinnen, die verabreden sich abends nicht mal fürs Kino mit einem Mann, der nicht ihr eigener ist. Zwei Monate Auszeit in Berlin? Allein wohnen? Jeden Abend ausgehen?

Das war für viele so undenkbar, dass in Hamburg sehr schnell das Gerücht die Runde machte, wir hätten uns getrennt.

Schmeichelhafterweise erzählte man sich, ich sei mit einem Berliner Anwalt aus dem Hochadel zusammen und in dessen Penthouse eingezogen. Leider kenne ich niemanden aus dem Hochadel und habe Höhenangst. Kein Penthouse, kein Anwalt, aber eine großartige und inspirierende Zeit, mit gelegentlichen Besuchen vom eigenen Mann.

So viel Freiheit, da war man sich in den lästernden und stänkernden Kreisen sicher, halte keine Ehe aus. Ich war verblüfft und erfreut, was man mir alles zutraute. Ich bin nämlich leider überhaupt nicht freiheitsliebend. Ich sage auch niemals so schicke Sachen wie: «Ich brauche jetzt mal Raum für mich» oder «Ich bin einfach jemand, den man nicht an die Leine legen darf».

Trifft alles nicht auf mich zu. Freiheit macht mir Angst. Ich bin sehr gern zu zweit, und ich liebe kurze Wege, sodass ich es gar nicht merken würde, wenn ich an einer kurzen Leine läge.

Tatsache ist, dass ich meinem Mann den Pullover vollgeheult habe an dem Tag, als ich mit meinem vollgepackten Mini nach Berlin fahren wollte. (Nachdem ich meine Abreise aus fadenscheinigen Gründen schon mehrmals verschoben hatte.)

Und wie bei vielen mehr oder weniger großen Wagnissen in meinem Leben war nicht ich es, die beherzt ins kalte Wasser gesprungen ist. Es war mein Mann, der mich beherzt ins kalte Wasser geschubst hat.

Ein Wort von ihm, und ich hätte den Mini auf der Stelle wieder ausgepackt.

Der kluge Mann aber schwieg, und ich fuhr bangend in die Mitte Berlins.

Dorthin, wo nie Ruhe herrscht. Dorthin, wo das Licht nicht ausgeht. Dorthin, wo es keine Langeweile gibt oder keine geben darf, keine Routine, nichts, woran man sich gewöhnen könnte oder sollte oder wollte.

Irgendeine Straße ist immer gesperrt, weil ein Staatsgast zu Besuch kommt, von irgendwo ist immer ein bunter Scheinwerfer aufs Brandenburger Tor gerichtet. Meistens überholt dich ein Polizeiwagen im Einsatz oder eine Stretchlimousine mit verdunkelten Scheiben, in der wahrscheinlich doch wieder nur eine Exfrau von Lothar Matthäus sitzt.

«Berlin ist eine Behauptung», habe ich mal gelesen.

Für mich ist Berlin die Behauptung, dass mein Leben auch anders sein könnte. Abenteuerlicher und anstrengender. Intensiver und greller und voller Erlebnisse, an die ich mich auf jeden Fall erinnern würde.

Ob ich das will? Manchmal schon. Aber nur mit Rückfahrkarte nach Hause.

Das ist feige? Ja. So bin ich.

Ist ja trotzdem was aus mir geworden.

Berlin hat mich immer mindestens so nervös gemacht wie emanzipierte Frauen, Globetrotter, Selbstverwirklichungsliteratur und Musik, die langsam anfängt und dann immer schneller und schneller wird. So wie der «Csárdás» von Kitty Hoff.

Hatte ich ewig nicht gehört. Aber in den Berliner Nächten konnte ich den Csárdás gut ertragen.

«Komm schon, komm schon, lass uns starten,

bevor das Leben verglüht.

Warum weinen oder warten, dass ein Wunder geschieht?

Heute Nacht muss alles weg:

Tränen, Trauer, Hoffnung, Dreck.

Komm schon, komm schon, lass uns starten,

bevor das Leben verglüht!»

Am Tag, als ich aus Berlin zurückkehrte, reichte ich meine Kündigung ein. Ich hatte Angst, dass mich die vertraute Verzagtheit allzu schnell wieder übermannen würde.

Aber bis heute, immerhin bereits drei Monate später, halte ich mein Gewicht und mein Versprechen, den Routinen in meinem Leben nicht das Regiment zu überlassen.

Vergangene Woche habe ich mir eine Jeans gekauft, die ich letztes Jahr allenfalls als Augenbinde hätte benutzen können. Ist das zu fassen? Ich bin eine selbständige Unternehmerin, die sehr viel in wenig Öl gedünstetes Gemüse isst und regelmäßig Sport treibt.

Ich erkenne mich selbst kaum wieder! Wobei ich sagen muss, dass ich mich eigentlich immer für einen sportlichen Menschen gehalten habe. Dreimal die Woche eine Stunde Ausdauertraining war auch bisher kein Problem für eine Athletin wie mich. Dass ich bei meinen Runden um die Hamburger Alster häufig von fettleibigen Dackeln und walkenden Seniorinnengruppen überholt wurde, hatte mich kaum gestört. Fettverbrennung funktioniert am wirksamsten im aeroben Bereich, ohne Anstrengung, ohne Schweiß, hatte ich mich getröstet. Dieses Konzept des Niedrigleistungs-Sports kam meinem trägen Gemüt und meinem auf Widerstandsvermeidung ausgelegten Charakter sehr entgegen. Manches Mal hatte ich mich allerdings schon gewundert, warum sich mein Körper – abgesehen von einem soliden Ruhepuls und einer passablen Grundausdauer – von meinem Sportprogramm so unbeeindruckt zeigte.

Wo waren die Michelle-Obama-Oberarme, wo die brettharte Bauchmuskulatur, wo die gestählten Oberschenkel? Und warum klang ich, wenn ich meinen Wochenendeinkauf in den zweiten Stock tragen musste, wie eine Spätgebärende in den Presswehen?

Mein persönlicher Trainer Marco sagte mir dazu Sachen, die ich nicht unbedingt hören wollte: «Training bedeutet Anpassung, und das funktioniert nur, wenn man an seine Grenzen und darüber hinausgeht. Sonst ändert sich nichts. Aber die meisten wollen die Wahrheit gar nicht wissen und bleiben lieber gemütlich auf dem Crosstrainer und lesen dabei die Tageszeitung. Was soll da passieren? Das ist Zeitverschwendung. Wenn du dich verändern willst, musst du dich anstrengen. Sonst kannst du es gleich bleibenlassen.»

Übellaunig habe ich an die verplemperten Jahre gedacht, die ich gemütlich auf Stairmastern und Crosstrainern zugebracht hatte, und mir erst mal eine neue Sporthose in der angesagten Trendfarbe Violett gekauft.

Geht nicht an, dass ich neben meinem Trainer nicht nur körperlich, sondern auch modisch einen kläglichen Eindruck mache. Früher war es ja so, dass man sich zum Sport abschminkte, die Haare mit einem Einmachgummi oder was sonst gerade rumlag, zurückband und ein knielanges Schlaf-T-Shirt über Leggins stülpte, die man ansonsten weggeworfen hätte.

Diese Zeiten sind bedauerlicherweise lange vorbei. Eigentlich muss man immer und überall gut angezogen sein, sonst gerät man sofort in den Verdacht, man würde sich gehenlassen – und das ist ja absolut verboten.

Beim Stepp-Aerobic-Kurs trägst du modische Funktionskleidung im sorbetfarbenen Lagen-Look, kombiniert mit einem dezenten, wasser- und schweißfesten Make-up und einem Schirmmützchen mit angesagtem Schriftzug in ausländischer Sprache.

 

Heute Morgen war ich also chic in atmungsaktivem Lila – denn ich möchte nicht, dass Marco sich mehr als unbedingt nötig für mich schämen muss – zum Training in die Turnhalle geeilt und hatte versucht, beim Kickboxen Aggressionen ab- und beim Salsa-Work-out ein positives Körperbewusstsein aufzubauen.

Dabei hatte mich jedoch dieses typische Ziehen im Unterleib gestört, was einen kurzen Einkauf in der Abteilung «monatliche Damenhygieneartikel» des Drogeriemarkts nach sich zog.

Warum ich dort auch einen Schwangerschaftstest kaufte?

Ich würde allzu gerne von einer Art schicksalhafter Eingebung sprechen. Aber mir war bloß eingefallen, dass ich zwei Tage überfällig war, was für einen pünktlichen deutschen Eierstock wie den meinen eine halbe Ewigkeit ist.

Man kann es im Nachhinein mühsam romantisieren, transzendental überhöhen, aber es bleibt eine Tatsache, dass den meisten Frauen aus sogenannten zivilisierten Ländern ihre Schwangerschaft auf dem Klo bewusst wird.

Schwestern, lasst es uns sagen, wie es ist: Du pinkelst in entwürdigender Haltung auf ein Teststäbchen, und meist geht auch was daneben. Dann wartest du drei Minuten, und egal, wie gründlich du dir die Gebrauchsanweisung durchgelesen hast, das Ergebnis wirst du zunächst nicht verstehen und ergo die Anleitung zum wiederholten Male durcharbeiten müssen.

Ich weiß das so genau, weil ich heute Vormittag fünf verschiedene Schwangerschaftstests gemacht habe.

Der erste hatte zwei schwache rosafarbene Linien gezeigt. Wie war das noch mal? Eine Linie nicht schwanger? Zwei Linien schwanger? Oder genau andersrum?

Ich fischte die Gebrauchsanweisung aus dem Mülleimer und schaute in dem entsprechenden Kapitel noch mal nach.

Zwei Linien. Schwanger.

Ich hatte den Test bestanden. Jedoch, ich hielt das für unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher war, dass ich etwas falsch gemacht hatte oder es sich um ein fehlerhaftes Fabrikat handelte. Womöglich war sogar die ganze Baureihe kontaminiert?

Ich beschloss, in der Apotheke meines Vertrauens vier weitere Tests jeweils unterschiedlicher Hersteller zu kaufen, bloß um ganz sicherzugehen. «Ist für eine zwangneurotische Freundin», murmelte ich an der Kasse, nicht, ohne rot zu werden.

Wenig später war ich mit fünf positiven Ergebnissen verschiedenster Form konfrontiert, darunter besagte rosa Linien, ein Smiley und eine Zahlenfolge, die nur Eingeweihten etwas sagen dürfte: «2 – 3». Der Mercedes unter den Testmodellen hatte mir bereits ausgerechnet, wie lange die Empfängnis in etwa zurücklag, nämlich zwei bis drei Wochen.

Das konnte ich mir jedoch leicht selber und auch sehr viel genauer ausrechnen. Denn der Ehrlichkeit halber möchte ich hier festhalten, dass ich weder den Erzeuger des Kindes noch den Zeugungstermin mühsam recherchieren musste. Ein in Frage kommender Vater. Ein in Frage kommendes Datum, sogar mit genauer Uhrzeit.

Herrje, muss ich mich da wirklich rechtfertigen? Ich bin seit zehn Jahren verheiratet und habe es in diesem Jahr wieder nicht geschafft, meinen Mann zu betrügen. Bin irgendwie nicht dazu gekommen. Ich hatte genug andere Baustellen.

In einem Magazin habe ich gelesen, dass das vergangene Jahr das Jahr der prominenten Seitensprünge war. Erneut ein Trend, den ich verpasst habe – ähnlich wie Crocs, Clogs und Jodhpurhosen.

Auch in meinem Freundeskreis war die Hölle los: Affären flogen auf. Heimliche Liebschaften wurden begonnen. Dunkle, erregende Geheimnisse wurden nach drei Flaschen Wein im Freundinnenkreis ausgetauscht. «Treueschwüre und Gewissensbisse sind was für junge Leute», lautet die Ansicht meiner Freundin Uta. «Ich finde, wer sich in unserem Alter noch über Untreue aufregt, macht sich lächerlich.»

Uta, die beinahe fünfzig und schon sehr lange verheiratet ist, hat jetzt einen Liebhaber und zwei Konfektionsgrößen weniger und fragte mich erst neulich mit glänzenden Äuglein, ob ich beim Sex schon mal auf Latexlaken eingeölt worden sei. Darauf habe ich still geschwiegen, mich aber klammheimlich gefragt, ob man Latex eigentlich in der Maschine waschen kann.

Selbst beim Kurzurlaub im Robinson-Club Çamyuva mit drei bedürftigen Freundinnen war ich wohl der einzige Gast seit Bestehen der Clubanlage, der unberührt wieder nach Hause reiste.

In Çamyuva gibt es angeblich eine Fachkraft, die nur dazu da ist, morgens früh die Kondome vom Strand einzusammeln. Eine Schwäbin, die ich am ersten Abend kennenlernte, kurz bevor sie mit einem Typen Richtung Strand verschwand, hatte mir gesagt: «Wenn du hier keinen abschleppst, dann schaffst du’s nirgendwo. Hier geht alles. Ich hab’s auf sechs Kerle in fünf Tagen gebracht. Und noch ein guter Rat umsonst: Keinen Sex auf den Liegen, die auf der Sonnenwiese stehen. Da wirst du nass, wenn nachts die Rasensprenger angehen.»

Bis zum Tag meiner Abreise war ich nur ein einziges Mal überhaupt angesprochen worden. Heiner war mir harmlos erschienen und irgendwie rührend: sicher weit über sechzig, weißhaarig, gemütlich beleibt und mit dem gütigen Gesicht der Opas, die im Fernsehen für Treppenlifte und Kreuzfahrten werben.

Er wirkte etwas verloren zwischen all den paarungswilligen jungen Leuten. «Zu dem kannst du nett sein», sagte ich mir. «Der ist lieb und lebt nicht mehr lange.»

Ich hatte das gute Gefühl, ein gutes Werk zu tun, als wir uns abends an der Bar verabredeten. Heiner begann sogleich von seiner künstlichen Hüfte und seiner Tochter zu berichten – beide ungefähr in meinem Alter.

Als er mich zum Tanzen aufforderte, verfluchte ich innerlich die Fortschritte der modernen Medizin, die es Menschen mit künstlichen Hüften möglich macht, auf «In da Club» von 50 Cent zu tanzen. Standardtanz natürlich, zwei links, zwei rechts und alle zwanzig Sekunden eine Drehung.

Und dann fing Heiner an zu fummeln.

Ich dachte, mich trifft der Schlag. Ein Lustgreis!

Warum muss sich der wahrscheinlich älteste jemals registrierte Gast der Clubgeschichte ausgerechnet an mir vergreifen? Während ich mich verzweifelt fragte, ob ich das hier meinen Freundinnen überhaupt erzählen könnte und was das eigentlich über mich und meine Ausstrahlung aussagte, schob ich Heiners Hände auf meine Hüften zurück. Was er seltsamerweise als aufmunternde Geste wertete.

«Auf alten Schiffen lernt man gut segeln», raunte er mir an seinen dritten Zähnen vorbei ins Ohr. «Gestern bin ich zwar nass geworden, aber keine Bange, das passiert mir nicht noch mal.»

«Bitte?»

«Die Liegen auf der Sonnenwiese sollte man nachts meiden wegen der …»

«… Rasensprenger. Ich weiß. Verzeih bitte, Heiner, aber ich kann bereits segeln.»

Ich ließ den gierigen Greis stehen, und mir fiel eine andere Greisin ein, Margarete Mitscherlich, die gesagt hat: «Nur eine kleine Minderheit wünscht sich im Alter, ein tugendhafteres Leben geführt zu haben. Ich wünschte, ich hätte mehr gesündigt.»

Das mag sein. Aber so alt kann ich gar nicht werden, als dass ich es bereuen würde, nicht mit Heiner gesündigt zu haben.

 

Meine Sünden begehe ich nahezu ausschließlich im nahrungstechnischen Bereich – der Vater meines Leibesfrüchtchens steht also fest.

Seit zwei Stunden gehöre ich zur Gattung «werdende Mutter». Vor mir liegen die Schwangerschaftstests. Der Smiley verblasst schon langsam. In ein paar Tagen, so stand es in den Gebrauchsanweisungen, wird nichts mehr zu sehen sein von meinen Ergebnissen. Nicht schlimm. Denn eben erwischte ich meinen Mann, wie er die Teststäbchen in vorteilhaftem Licht fotografierte.

«Ist schließlich das erste Bild meines Kindes», sagte er verlegen – hatten wir uns doch fest vorgenommen, auf die Nachwuchs-Nachricht mit zurückhaltender Freude und abwartender Sachlichkeit zu reagieren.

«Ich bin höchstwahrscheinlich schwanger», hatte ich dem dazugehörigen Mann möglichst emotionslos verkündet. «Aber ich bin auch alt, und ich habe letzten Samstag drei Mojito getrunken, und ich habe im Internet gelesen, dass dreißig Prozent aller Schwangerschaften von Frauen um die vierzig mit einer Fehlgeburt innerhalb der ersten zwölf Wochen enden. Wir sollten es also noch niemandem erzählen und uns nicht zu früh freuen.»

Er war blass geworden und hatte benommen genickt. Unsere Fähigkeit zur Hoffnung hat sich, diesbezüglich, in den letzten fünf Jahren ziemlich abgenutzt.

Mein Mann hatte auf den grinsenden Schwangerschaftstest geschaut. Und zurückgegrinst. Und das war’s dann bei mir gewesen mit Zurückhaltung und abwartender Sachlichkeit.

Ich hatte angefangen zu heulen, wie eine Irre rumzuhüpfen und zu schreien: «Wir bekommen ein Kiiiiiind! Ich bin schwaaaanger!» Und schließlich schluchzte ich: «Ach und übrigens: Herzlichen Glückwunsch!»

Denn heute hat der Vater meines ungeborenen Zellhaufens Geburtstag.

Und heute beginnen drei neue Leben.

Und darauf trinke ich jetzt mein letztes Glas Champagner für lange Zeit.

Prost, Mama Kürthy!

«Ich bin mein eigenes Kind,

wozu brauche ich noch mehr?»

TOMI UNGERER

27. August

Schwangerschaftswoche: 5 + 0 Tage

Gewicht: Keine Waage in unserem Hotelzimmer. Leider auch kein Ultraschallgerät.

Zustand: 28 Grad, makelloser Himmel über Ibiza. Ich liege oben ohne am Strand. Danke, ihr Schwangerschaftshormone. Topless! Ich! Dass ich das noch erleben darf!

Ich genieße den Urlaub, so gut ich kann. Aber so ein Sonnenuntergang verliert ohne Alkohol ja doch einen Gutteil seiner romantischen Ausstrahlung.

Die Woche Ibiza war schon lange gebucht. Da hatten wir noch gedacht, wir müssten unbedingt mal die Szene dort kennenlernen und halbnackt auf Schaumpartys tanzen. Nun ja, nicht ganz, wir hatten uns lediglich tollkühn vorgenommen, halbnackten Menschen zuzuschauen, wie sie auf Schaumpartys tanzen.

Aber statt mich voll losgelöst dem Hippie-Lifestyle hinzugeben, belauere ich argwöhnisch meinen Bauch. Was geht dadrin wohl vor? Bist du noch da? Teilst du dich eifrig, so wie es sich gehört? Oder hast du mich längst wieder verlassen?

Ich versuche, mich abzulenken. Sehr schwierig. Mein Mann und ich schlendern durch die Innenstadt, und während ich mir gerade vorstelle, wie es sein wird, eine Familie zu sein, sehe ich vor uns einen wunderschönen, zwei Meter großen Transvestiten, der sich auf absurd hohen, in sich verschlungenen Absätzen bewegt wie eine Raubkatze, kurz bevor sie zum Sprung ansetzt. Da kommt man sich auf einmal doch sehr gewöhnlich vor.

Ich betrachte verschüchtert und fasziniert ein Mädchen, das auf dem Marktplatz Flamenco tanzt. Lange dunkle Haare, perfekt geformter Körper, sündige Bewegungen und ein Kleid, das nur aus Fransen besteht. Als sie sich umdreht, sehe ich, dass das Mädchen eine Frau in meinem Alter ist.

Das macht mir nun doch zu schaffen. Eigentlich wäre ich nämlich auch ganz gerne eine rassige Spanierin, die nachmittags auf einem Marktplatz im Fransenkleid Flamenco tanzt.

Aber ich bin kein wildes Mädchen. Nie gewesen. Immer ein bisschen zu ängstlich, ein bisschen zu brav und immer viel zu freundlich zu Leuten, die es überhaupt nicht verdient haben.

Außerdem kann ich nicht flirten. Mein Vater war blind, und ich habe nie gelernt, mit etwas anderem als mit Sprache auf mich aufmerksam zu machen. Kokette Blicke, Schmollmündchen, Haare in den Nacken werfen, Hüftschwung und liebreizendes Lächeln waren keine Werkzeuge, die bei uns zu Hause funktionierten.

Die Regeln beim Flirten habe ich nie begriffen, und alle Männer, denen ich tiefe Blicke zugeworfen habe, habe ich grundsätzlich auch geheiratet.

Ich gehöre zu den weiblichen deutschen Schlachtschiffen, die gerne mal auf eine freundliche Bemerkung über gutsitzende Haare, Brüste oder Jeans Dinge antworten wie: «Ach, ist nur von H&M» oder «Das muss am schmeichelhaften Licht liegen».

Warum komme ich mir mit einem tiefen Ausschnitt vor, als würde ich unlautere Mittel verwenden? Warum gucke ich weg, wenn mal einer guckt? Und warum trage ich hohe Schuhe nur zu besonderen Anlässen? So werden sich meine Füße niemals an die Qualen gewöhnen können, und ich werde nie die Diva in mir wecken. Denn die schläft tief.

Eigentlich wäre ich schon ganz gern eine Frau, die kein bequemes Schuhwerk trägt, unbequeme Wahrheiten ausspricht und nie Speisereste zwischen den Zähnen hat. Die selbstbewusst ist und souverän, wild und mutig, stilsicher und zielsicher. Eine heißblütige Göttin.

Manchmal arbeite ich daran, die göttlich-weiblichen Anteile in mir auf Vordermann zu bringen. Dann schlüpfe ich statt in die Ballerinas – eine Schuhform, in der nur ein einziger Typ Frau gut aussieht, nämlich die Ballerina – in hochhackige Stiefeletten, lege dunkelroten Lippenstift auf statt «Labello babyrosa» und gucke enorm selbstwertig, während ich im Drogeriemarkt Klopapier kaufe.

Aber die Göttin wirkt an mir wie ein Kostüm, zwei Nummern zu groß. In entscheidenden Momenten ist meine innere Diva meist außer Haus. Rund um die Uhr dienstbereit sind hingegen die blöde Zicke, das dumme Schaf und das verängstigte Kaninchen.

Neulich hat sich mal eine gute Gelegenheit ergeben, mein Image aufzupolieren und mich auf dem Markt als rattenscharfer Vamp zu positionieren. Trotz großen inneren Zauderns hatte ich also zugesagt, bei einer Laienmodenschau für einen guten Zweck mitzulaufen.

Das Erste, was ich dort sehr bald feststellte, war: Frauen, die im Fernsehen schlank aussehen wollen, müssen im wahren Leben dünn sein. Man kann sich also leicht vorstellen, was für eine Figur ich zwischen den Personen aus dem öffentlichen TV-Leben machte.

Der Stolz auf meine hart er- und umkämpfte Konfektionsgröße achtunddreißig versiegte wie ein Rinnsal an einem besonders heißen Nachmittag in der Wüste Gobi, als ich dummerweise bei der Anprobe zwischen Mareike Carrière, Monica Ivancan und Yasmina Filali zu Stehen kam.

Ich fühlte mich wie der Koloss von Rhodos inmitten einer Schar besonders zartgliedriger Elfen.

Während die Kleider der Elfen am Rücken allesamt mit Sicherheitsnadeln enger gemacht werden mussten, um nicht von ihren schmalen Schülterchen zu rutschen, musste man bei mir lange im Fundus wühlen, bis man einige wenige Kleidungsstücke gefunden hatte, die hinten überhaupt zugingen.

Während sich der Top-Haarstylist Heiko Bott rührend um die Frisuren der Prominenz bemühte, durfte sich an mir ein talentfreier Geselle ausprobieren, der mich tatsächlich so verunstaltete, dass ich mich weigerte, den Laufsteg zu betreten.

Ich bin selbst keine Virtuosin mit dem Glätteisen – aber dieser Lehrling hatte meine Haare zu einer unbeweglichen, brettharten Haar-Masse gegrillt. Außerdem war ich, anders als alle anderen um mich herum, noch nicht geschminkt worden.

Rote Panikflecken auf teigig-blasser Haut unter haarsträubenden Haaren.

Ich sagte: «Entweder eine gutschließende Burka oder eine andere Frisur.» Ich kämpfte mit den Tränen, und meine rot umrandeten Augen ertranken in einer unschönen, weinerlichen Wässrigkeit.

Der herbeigerufene Meister Bott verbarg seine Gefühle mir gegenüber nicht. «Die ist dick, und die ist niemand – dafür aber schwierig», dünstete es aus jeder seiner parfümierten Poren.

Ich versuchte meine natürliche Würde zurückzuerlangen, als ich hinter der Bühne auf meinen ersten Auftritt wartete. Vergebens. Man hatte mich in eine moderne Abendrobe in Weiß – das macht ja auch nicht schlank – gesteckt, in der ich aussah wie ein explodiertes Baiser.

Die Designerin dieses weißen Albtraumes war selbst anwesend und schien auch sehr unglücklich darüber, dass ihr Kleid ausgerechnet an mir gelandet war und nicht an Sylvie van der Vaart – die ich zunächst für eine illegal beschäftigte Minderjährige hielt und die dann, beim Finale, bedauerlicherweise ausgerechnet neben mir hertrippelte wie ein Kolibri neben einer Elefantendame.

Aber ach, ist das Leben nicht schön, wenn man alles, was einem widerfährt, auch das Unschöne und das Peinliche, verwerten und wiederverwerten kann?

Das ist das Großartige daran, Schriftstellerin zu sein: Alles geschieht mir für einen guten Zweck. Jede Demütigung, auf die mir die passende Antwort erst Wochen später oder gar nicht einfällt, inspiriert mich. Jede doofe Pissnelke, die mir den Parkplatz, den Mann oder die letzte Matte im Yogalates-Kurs wegschnappen will, tut mir einen Gefallen.

Jede Verkäuferin, die mich schlecht behandelt, jeder Freund, der mich enttäuscht, jeder Mann, der in der Sauna über mich hinwegsieht wie über ein liegengelassenes Handtuch in Dunkelbraun – ihr alle macht mich reicher, erfahrener und menschlicher.

Eine besonders dämliche Arschkrampe sagte mir kurz vor der Veröffentlichung ihres ersten und bisher auch einzigen Romans: «Mein Buch wird es natürlich schwerer haben als deine Bücher, weil ich für eine sehr ausgewählte Zielgruppe schreibe. Ich kann mich nicht mit der Menge gemeinmachen. Ich habe halt auch keinen Hintern wie ein Hubschrauberlandeplatz.»

Darauf fiel mir selbstverständlich nichts ein. Aber wenn ich die Kackbratze heute sehe, wie sie ihren verknöcherten Arsch hinter sich und ihre dümmliche Arroganz vor sich herträgt, freue ich mich jedes Mal. Über mich. Über meinen Hintern, der gewichtig ist, und über mein Ego, das brüchig ist. Über mein Selbstwertgefühl, das schwankt wie der Dax an einem besonders turbulenten Börsentag, und darüber, dass ich weiß, wie es ist, wenn man sich blöd vorkommt oder dick, wenn man sich wie ein Teenager fühlt, während man auf einen Anruf wartet, oder wie eine Greisin, weil man sich auf der Moritz-von-Uslar-Lesung zwischen die dreißigjährigen «Mädchen» und ihre Volvic-Flaschen auf den Boden hockt, wovon einem noch Wochen später die Sitzbeinhöcker wehtun.

Ich bin wie die meisten. Normal.

Ich kann nur eine Sache besonders gut: darüber schreiben, wie es ist, normal zu sein.

Manchmal, eigentlich sogar ziemlich oft, kann ich es selbst nicht fassen: Aus mir ist eine Bestsellerautorin geworden! Und das ist ja nun nicht gerade ein Lehrberuf, in den man langsam hineinwächst. Als ich mein erstes Interview gab, hätte ich am liebsten Windeln getragen, so nervös war ich.

Mensch, auf einmal bin ich ein Mensch, der Autogramme gibt! Auf einmal bin ich ein Mensch, der Fanpost bekommt! Und auf einmal bin ich ein Mensch, der seine eigene Filmpremiere besucht!

Ich erinnere mich gut, wie ich meiner Meinung nach göttinnengleich am Arm des Regisseurs Ralf Huettner, der aus «Mondscheintarif» einen super Kinofilm gemacht hat, über den roten Teppich schwebte. Reporter, Fotografen, Blitzlichter. Ich strahlte, was das Zeug hielt, und wollte mir gerade wie Nicole Kidman vorkommen, als ein Fotograf mir zurief: «Bitte schauen Sie hierher, Frau Huettner!»

Für Fotos schämt man sich übrigens immer. Entweder du bist derart ungünstig getroffen – rote Augen, Pfannkuchengesicht und, nun ja, eben ein Hintern wie ein Hubschrauberlandeplatz –, dass du dich am liebsten auf der Stelle vor Entsetzen entleiben möchtest.

Oder aber du bist nach mehreren Stunden Styling so schön, dass du dich fragst, wie du mit deinem ursprünglichen Aussehen weiterleben sollst.

Erst letzte Woche rief mich eine Schülerin an, um mich für eine Hausaufgabe zu interviewen. Es gelang ihr noch, mir mitzuteilen, dass ihr Deutschlehrer von der Idee nicht begeistert gewesen war und vorgeschlagen hatte, sie solle sich doch lieber mit der Lyrikerin Ulla Hahn auseinandersetzen. Dann versagte dem Mädchen vor Nervosität die Stimme.

Hallo, dachte ich gerührt, kein Grund zur Aufregung. Ich bin’s doch nur, die olle Kürthy! War heute wieder nicht beim Sport. Bin neulich mit einem hohen Absatz vor allen Leuten im Gullydeckel stecken geblieben. Mein Mann versteckt zu Hause die Süßigkeiten vor mir. Ich bekomme kein Kind, obschon ich mir eines wünsche, und ein zweites Kinn, obschon ich mir keines wünsche. Und auch meinem Bindegewebe ist es im Übrigen völlig egal, wie viele Bücher ich verkauft habe.

Normal eben.

Berühmt ist man ja nur für andere, und auch ich selbst kenne mich leider zu gut, um länger als ein paar Sekunden von mir beeindruckt zu sein.

Bis jetzt.

Denn jetzt bin ich drauf und dran, ein anderer Mensch zu werden. Einer, den ich bisher noch nicht kannte: eine Mutter.

Mein größter Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Ausgerechnet jetzt, wo ich endlich eine gute Figur, eine Zweitwohnung in Berlin und mir das Wünschen abgewöhnt habe.

Ein Zufall? Höchstwahrscheinlich nicht.

Ich bin schwanger.

Es wird jemanden geben, den ich sein Leben lang begleite. Ich werde nie wieder ohne Angst sein, denn ich werde etwas Ungeheuerliches zu verlieren haben.

Ich werde nie wieder frei sein. Ich werde einen wunden Punkt haben, lebenslang, eine Stelle, an der man mich mit wenig Aufwand zu Tode verletzen kann. Und was erwartet mich für ein Glück? Was für eine Liebe? Eine bedingungslose?

Wirklich?

Werde ich meinen Sohn auch lieben können, wenn er hundertdreißig Kilo wiegt und Fahrlehrer werden will, oder meine Tochter, wenn sie mit achtzehn beschließt, sich ein Arschgeweih tätowieren zu lassen und Weihnachten bei den Eltern ihres Idioten-Freundes zu feiern?

Da geht mir ja jetzt schon das Messer in der Hose auf.

Ich versuche mich zu beruhigen. Erst mal die nächsten kritischen Wochen hinter mich bringen. Dann ist noch genug Zeit, sich über Drogen, Schweinefleisch, Sexualpartner und andere unerwünschte Störenfriede im Leben meines Kindes zu informieren.

Das andere Leben, das jetzt plötzlich vor mir liegt, ist reine Theorie. Genauso wie der Vielzeller in den Tiefen meiner Gebärmutter.

Ich horche angestrengt in mich hinein.

Empfange ich Signale aus fremden Welten?

Spüre ich, dass ich zwei bin?

Nein.

Vielleicht bin ich zu unsensibel?

Erst neulich habe ich meinen/​unseren zehnten Hochzeitstag vergessen. Und dass mein Mann eine neue Uhr hat, habe ich auch erst gemerkt, als er von einem gemeinsamen Bekannten darauf angesprochen wurde.

Und jetzt fühle ich nichts in meinem Bauch. Außer Appetit. Der Normalzustand für mich, da brauch ich nicht sensibel für zu sein.

Was soll mein Kind von mir denken? Kaum gezeugt und schon vernachlässigt. Ob ich eine schlechte Mutter werde? Egoistisch und lieblos? Oder eine hyperventilierende Megamama? Eine Stillfanatikerin? Eine militante Rohkostschnipplerin? Eine Rabenmutter, die ihr Baby im Autositz vergisst?

Werde ich alles falsch machen? Oder nur fast alles?

30. August, auf dem Rückflug von Ibiza nach Hamburg

Zustand: Höhenangst! Ich kralle mich am Sitz fest und nehme meinem Mann das Versprechen ab, dass er mit unserem Kind all diese schrecklichen Dinge tun wird wie Riesenrad fahren, die Achterbahn besteigen oder den Fernsehturm besichtigen. Ich werde lediglich vom Erdboden aus zusehen und Zuckerwatte oder Paradiesäpfel essen.

In der Reihe vor uns sitzt eine Familie mit zwei kleinen Kindern. Ich bemühe mich, das ständige Gezanke und Geschrei nicht als störend zu empfinden. Die Schwangerschaftshormone scheinen jedoch nur für große Brüste und nicht für großen Langmut anderer Leute Kindern gegenüber zuständig zu sein.

Ich war nie besonders kinderlieb. Es kommt eben aufs Kind an. Wie bei allen anderen Lebewesen ja auch. Ich mag keine kleinen Hunde, keine jovialen Männer, keine piepstimmigen Frauchen und keine Kinder, die sich in der Reihe vor mir mit Cola bespucken. Und ganz besonders schwer tue ich mich, ehrlich gesagt, mit Eltern.

Ich wohne sowohl in Hamburg als auch in Berlin in Stadtteilen, in denen einem die Lust aufs Kinderkriegen leicht vergeht, sobald man sich die dort prototypischen Mütter und Väter näher anschaut.

Im Prenzlauer Berg sind die Eltern so lässig, dass es einen graust. Ich habe den Verdacht, dass die Eltern dort ihren kleinen Mädchen absichtlich Dreck ins Gesicht und auf die Latzhose schmieren, damit sie aussehen wie coole Gören.

Babys gehören dort zur Gattung der Traglinge, stecken in bunt bedruckten Tüchern und tragen Mützchen, die schon aus zehn Metern Entfernung so aussehen, als würden sie kratzen und nach feuchtem Schaf stinken.

Das neugeborene Berlin-Baby wird gerne überallhin mitgenommen, auf Lesungen, Demos und Partys, wo es in seinem Beutel an Leuten baumelt, denen du schon an ihrem Tanzstil ansiehst, dass sie gegen Atomkraft sind, aber nichts gegen Ausländer haben.

Alle irre tolerant. Aber wehe, du erzählst, dass eine Freundin von dir ihrem Kind Gläschenkost gibt. Dann sind die drauf und dran, das Jugendamt zu informieren.

Das Neugeborene aus dem noblen Hamburg-Harvestehude hingegen wird gerne im panzerartigen «Audi Q7» von Frauen herumgefahren, die irgendwo einen Eid abgelegt haben, nur in zweiter Reihe zu parken und dadurch Straßen zu blockieren.

Komplett in Prada oder Burberry gekleidete Kinder werden aus diesen Autos gehoben von Müttern, die alle gleich aussehen – von hinten wie fünfzehn und von vorne genauso alt und diätzerfressen, wie sie sind.

Werde ich eine dieser Mütter sein? Ehrgeizig, verblendet, unlocker und unsympathisch? Werden meine dann dünnen Knöchel-Beinchen in Ugg-Boots stecken, werde ich heimlich auf dem Spielplatz versuchen, einer anderen Familie die Nanny abzuwerben, werde ich dem Kindergarten ein neues Klettergerüst spenden, damit mein Kind auf der Warteliste vorrückt, und werde ich irgendwann auch vergessen, dass nur Kackbratzen in der zweiten Reihe parken?

Ich habe da einige sehr unschöne und völlig unerwartete Mutterschafts-Mutationen im Bekanntenkreis miterleben müssen.

Aus witzigen, aufmerksamen, lässigen Frauen waren nach der Niederkunft verspannte Glucken geworden, die ihrem Kind einen unmöglichen Vornamen gaben und ständig Still-, Kack- und Baby-Anekdoten erzählten – von denen nahezu einhundert Prozent nicht mal ansatzweise lustig waren.

«Du, der Franz-Leander sagt immer Briefei statt Grießbrei, und statt Fahrrad sagt er A A!»

Aha. Ja und? Was wird da erwartet? Dass ich schallend lachend zusammenbreche oder mir den Mords-Witz aufschreibe, damit ich ihn auf keinen Fall vergesse?

Viele Mütter, die ich erlebe, sind ständig übermüdet und gestresst. Einige regelrecht verblödet, weil ihnen der Schlaf fehlt und ein Gegenüber, mit dem man in ganzen, vernünftigen Sätzen sprechen kann.

Mütter halten sich zwar für ganz normale Menschen, aber das sind sie nicht. Mütter werden zu befremdlichen Wesen, die nichts dabei finden, beim Kuchenessen über klumpig-blutige Nachgeburten, Babys Durchfall, Babys Nasenschleim und Babys Koliken zu sprechen. Sie vergleichen ihre Kaiserschnittnarben, tauschen Tipps aus, mit welchem Schleim man wunde Brustwarzen behandelt und wie oft man die Dammschnittnarbe mit welchem Öl einmassieren sollte.

Es ist auch immer wieder erstaunlich, festzustellen, wie ein eben noch kritischer, ironischer, weltoffener Mensch auf einen Schlag jegliche Objektivität verliert, sobald man ihn mit einem selbstgezeugten Baby konfrontiert.

Wie anders ist es zu erklären, dass die Mehrzahl der Eltern mit ihren Kindern recht zufrieden zu sein scheint?

Mütter sind schlichtweg nicht in der Lage, Optik und Verhalten ihrer Kinder der Realität entsprechend wahrzunehmen. Hals- und profillose Mondgesichter werden als «Charakterköpfe» bezeichnet, unförmige fleischige Kartoffelgummeln als «Charakternasen». Unausgeglichene Schreihälse mit erhöhtem Aggressionspotenzial werden als «besonders aufgeweckt» beschrieben, während verschüchterte Angsthasen mit Hang zu Koliken und Brechdurchfall gerne als «besonders sensibel» und «intelligent» hochgejubelt werden.

Man kann mit Müttern nicht wie mit normalen Menschen reden und umgehen. Sie haben völlig vergessen, wie schauerlich es für einen normal empfindenden Menschen ist, in einem Café zu sitzen, das angesteuert wird von vier Müttern, vier Kinderwagen, vier überdimensionalen Wickeltaschen und vier Babys – drei davon schreiend. Sie haben vergessen, dass der Geruch einer gutgefüllten Windel nur für Verwandte ersten Grades des Geruchsverursachers erträglich ist und dass eine Mutter befremdlich wirkt, wenn sie sich im überfüllten Bus plötzlich über ihr Kind beugt und verzückt schreit: «Haddi Mami das kleine Pullemätzchen so liiiiiep!»

Neulich hatte ich bei einem sehr offiziellen Abendessen das Pech, an einem Tisch mit drei frischgebackenen Elternpaaren zu sitzen. Zunächst unterhielten sie sich darüber, wo Baby schon überall hingekotzt hatte – «Leopold liebt Papas Smokinghemd!» – und wie man Baby am besten zum Schlafen bringt: «Meiner braucht im Schnitt drei ‹La le lus› und zweieinhalb ‹Weißt du, wie viel Sternlein stehen?›.»

Schließlich fragte jemand: «Wie nennt ihr denn eigentlich das große Geschäft eurer Kinder?»

Das große Geschäft? Ich dachte, ich höre nicht richtig. Würde ich jetzt, so kurz vor der Hauptspeise, einem Gespräch über Kinderscheiße lauschen müssen?

Die Tischgesellschaft stieg mit Elan auf die Thematik ein.

«Puhpuhpuh», rief Olaf Hildebrandt, renommierter Steueranwalt.

«Stinkistink», konterte Walter Berg, Unternehmenssprecher eines Energiekonzerns. «Oder Pupsipup. Je nach Geruch und Konsistenz.»

«Fuffi», zwitscherte Karen Kemmer, die einen Doktor in Biophysik hat.

«Fuffi?», fragte daraufhin Herr Berg erstaunt. «So heißt unser Au-pair.»

Nein, was hat die Runde da gelacht.

Bis jemand fragte: «Warum sagen Sie denn nicht einfach Kacke?»

Das war ich.

«Die schönsten Zeiten in meinem Leben

waren immer die, in denen ich schwanger war.

Da brauchte ich keinem etwas vorzuspielen,

musste nicht schöner sein, als ich bin.»

JANE BIRKIN

9. September

Schwangerschaftswoche: 6 + 6 Tage

Gewicht: Tendenz: steigend.

Zustand: Ich ringe mit mir, meinen Gynäkologen zu bitten, in unser Gästezimmer einzuziehen. Nur zur Sicherheit und bloß für die nächsten acht Monate.

Vor einer Stunde habe ich eine kurze Sammel-SMS an drei Freundinnen, meinen besten Freund und meine Schwiegermutter geschickt. Ganz entgegen meinem festen Vorsatz, die Schwangerschaft zunächst für mich zu behalten, schrieb ich:

«DAS HERZCHEN SCHLÄGT!!!»

Nach dem Besuch bei meinem Frauenarzt – ich gehe jetzt davon aus, dass er in den nächsten Monaten eine zentrale Rolle in meinem Leben spielen wird – saß ich zunächst zehn Minuten benommen im parkenden Auto.

Es lebt.

Ich bin nicht gerade eine Spitzenkraft, wenn es darum geht, auf Ultraschallbildern etwas zu erkennen. Ob Milz oder Gallenblase, Bauchspeicheldrüse oder Nierchen – für mich sieht alles aus wie verkochtes Gulasch. Aber ein pulsierendes Herz bleibt selbst mir nicht lange verborgen.