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Wie schnell fallen Grundwerte im Wettlauf gegen die Zeit?
Es sollte der krönende Abschluss einer Politik-Projektwoche sein: Sechs Schülerinnen und Schüler der achten Klasse, ein Escape Game zum Thema Demokratie und fünf Stunden Zeit, das Spiel zu gewinnen. Doch das Spiel verlangt nicht nur Wissen und Geschick von den Jugendlichen, sondern sie werden selbst Teil des Experiments, indem ihre tiefsten Überzeugungen auf die Probe gestellt werden. Nach und nach gewinnen Missgunst, Rivalität und Machtmissbrauch die Oberhand. Als auch noch private Konflikte hochkochen, steht die Gruppe an einem Scheidepunkt: Schaffen sie es, sich auf ihr gemeinsames Ziel zu besinnen, bevor die Situation völlig aus dem Ruder läuft?
Vom »Rot oder Blau«-Autor Manfred Theisen – ein spannungsgeladener Roman über die Grundwerte unserer Demokratie und was passiert, wenn diese Werte fallen
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Seitenzahl: 202
Veröffentlichungsjahr: 2025
MANFRED THEISEN
Der Schlüssel sind wir
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Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-32996-9V002
www.cbj-verlag.de
»Habt ihr zu trinken dabei?«
»Nein«, sagte Marc.
»Essen?«, fragte Klara.
»Nein.«
Marc hielt seine Baseballkappe locker in der Hand, den anderen Arm hatte er lässig um Ceylins Schultern gelegt. Er trug Stoppelbart und rasierte sich täglich, seit er mal gehört hatte, das würde den Bartwuchs verstärken. Die Ärmel seines T-Shirts mit dem Hamilton-Tiger-Cats-Logo hatte er bis zu den Schultern hochgeschoben, damit seine Oberarmmuskeln besser zur Geltung kamen. Der Sommer war heiß und Marc fast fünfzehn. Die anderen fünf Auserwählten Ceylin, David, Josh, Sarah und Emma waren jünger, denn Marc war sitzen geblieben.
»Und du?« Klara richtete ihren Blick gezielt auf David.
Er sagte unschuldig: »Ich? Warum, um Himmels willen, fragst du mich?«
Marc mischte sich ungefragt ein: »Ob du was zu rauchen dabeihast, will sie wissen. Sag schon: Vape, Zigaretten, Gras?«
»Nicht mal ’n Feuerzeug. Nur mein Handy. Ihr könnt mich durchsuchen. Ich lüg nicht.«
»Wer will dich schon durchsuchen?«, konterte Marc und schaute auf Davids Bauch, der sich leicht unter dem grün-weißen Fußballtrikot wölbte.
Klara war genervt von den beiden, die sich ständig in den Mittelpunkt spielten – vor allem von Marc, der auch noch auf Davids Gewicht rumhackte. Sie drückte ihren Dutt mittig und schaute zu Julia Leendertse. Doch die Psychologin der Stiftung Demokratie wollte sich nicht einmischen. Schließlich sollten die Schülerinnen und Schüler beim Escape-Game im Mittelpunkt stehen – und nicht die Leiterin der Studie. Sie wollte lediglich beobachten. Darum waren auch keine Lehrer vor Ort, sondern nur die sechs Kandidaten und die Controller aus der Neunten oben im Kontrollraum.
Klara sagte vorwurfsvoll zu Marc: »Das Ganze ist kein Scherz. Es ist zwar ein Spiel, aber ihr solltet es ernst nehmen.«
»Jawohl«, warf Sarah aus der zweiten Reihe ein. »Hier geht es um Demokratie. Da wird gehorcht und ernst genommen. Da kann nicht jeder machen, was er will. Da müssen alle gleich sein, stimmt’s, Marc?«
Der sagte ebenfalls »Jawohl« und sie lachten.
»Bis wann müssen wir noch mal fertig sein?«, wollte Josh wissen. Er war der klassische Außenseiter der Gruppe – zu schlau, zu zurückhaltend, überhaupt zu pflichtbewusst und vor allem: zu leicht verletzlich. Das ließ er sich allerdings nicht anmerken. Zum Schutz hatte er sich vielmehr Wissen und Überheblichkeit angefressen.
Klara sagte: »Das haben wir doch längst durchgekaut.«
»Habe es draußen vor der Halle wegen Marcs Gejammer über seine Mutter nicht verstehen können.«
Marc fuhr herum. »Ey, ChatGPT? Willst du mich provozieren?«
»Nein, aber was haben wir mit den zerstochenen Reifen deiner Mutter zu tun? Ich glaube nicht, dass es dich interessieren würde, wenn einem unserer Eltern die Reifen zerstochen worden wären.«
»Was laberst du da?« Marc machte einen Schritt auf Josh zu, doch Ceylin sagte ruhig: »Lass ihn. Lohnt nicht.« Sie strich sich dabei mit der Rechten über den Kopf. Vorgestern hatte sie sich die Haare auf sechs Millimeter rasiert und im Leo-Muster gefärbt. Marc mochte das nicht, er hatte ihr glattes langes schwarzes Haar geliebt. Vielleicht hatte Ceylin es genau deswegen abrasiert. In jüngster Zeit tat sie häufig Dinge, die er nicht mochte.
Klara versuchte mit einem »Ooookay« die Gruppe und sich selbst zu beruhigen. »Dann sage ich es noch einmal. Marc und David sind bitte still.« Sie wartete eine Sekunde, bis es wirklich still war. »Ihr habt fünf Stunden Zeit. Punkt siebzehn Uhr ist Schluss.«
»Wir sollen also in fünf Stunden zu guten Demokraten werden, weil es davon zu wenige gibt?«
Klara war baff über Marcs scharfe Beobachtung.
Der fuhr fort: »Was heißt das für uns?« Er schaute in die Runde seiner Mitstreiter und gab sich selbst die Antwort: »Schnell rein in den Escape-Room und schnell wieder raus. Desto eher kann ich auch den Typen suchen, der meiner Mutter die Reifen auf dem Lehrerparkplatz zerstochen hat.«
»Jetzt fang nicht schon wieder davon an, Marc«, sagte Ceylin. »Das nervt.«
»Ich will mal deine Mutter sehen, wenn sie morgens zur Arbeit gekommen ist, noch mal kurz rausmuss, weil sie was im Wagen vergessen hat – und schon sehen darf, dass ihr jemand innerhalb von einer halben Stunde die Reifen platt gestochen hat. Das ist doch nicht normal.«
»Du weißt schon, dass meine Mutter Homeoffice macht, oder?«
Ja, das wusste Marc. Er hatte keine Lust mehr, Ceylin im Arm zu halten. Haut auf Haut führte ohnehin nur zu Schweiß. Er setzte die Kappe auf. Ceylin wusste genau, wie knapp seine Mutter und er bei Kasse waren, da sie als angestellte Lehrerin weniger verdiente als ihre verbeamteten Kolleginnen. Mit der Miete und den Preisen im Discounter konnte sie nicht mithalten. Jetzt kamen auch noch vier neue Reifen hinzu.
Er sagte: »Ich frage mich, welcher Irre es ausgerechnet auf uns abgesehen hat.«
»Sie unterrichtet halt Mathe«, warf Sarah ein. Die Einser-Schülerin trug genauso schwarzes langes Haar, wie Ceylin es bis vor wenigen Tagen noch getragen hatte. Sie warf es sich locker über die Schulter, als sie fortfuhr: »Und deine Mutter ist streng. Wer weiß, wen sie hat durchfallen lassen.«
»Kein Grund, den eigenen Frust an ihren Reifen auszulassen«, verteidigte Ceylin nun ihren Marc. Jeden Satz von Sarah empfand sie prinzipiell als Angriff. Sie mochte ihre Mitschülerin nicht, sie mochte überhaupt kein Mädchen, das Marc auch nur anlächelte. Und schon gar nicht Sarah. Nicht, nachdem Marc sie nach ihrem Friseurbesuch darauf hingewiesen hatte, dass sie vermutlich nun nie wieder so schöne Haare haben würde wie Sarah. Das war dumm von ihm gewesen, aber er sagte manchmal dumme Dinge, die sie verletzten.
»Offensichtlich ist es ein Grund«, konterte Sarah.
Ceylin antwortete mit einem Kuss auf Marcs Wange. Sie hatte einen Freund, Sarah nicht. Da konnte ihr Haar noch so schneewittchenlike sein, Marc würde sie trotzdem nicht kriegen.
Nun wurde Julia Leendertse das Gerede zu lang, und sie mischte sich ein, um die Aufmerksamkeit wieder auf das Escape-Game zu lenken. Die riesige weiße Kiste füllte nahezu die gesamte runtergerockte Turnhalle aus. Die Stiftung Demokratie hatte das portable Escape-Game, in dem sich die Räume befanden, von Schreinern, Elektrikern und einem Schlosser aufbauen lassen.
Seit mehr als einem Jahr fuhr die Stiftung mit dem Projekt von Schule zu Schule, um neue Erkenntnisse in Sachen Demokratieforschung zu erlangen und Jugendlichen das Thema Demokratie näherzubringen.
Julia Leendertse war erst seit einigen Wochen mit dabei. Ihre Vorgängerin, die das Projekt Escape – The Democratic Game aufgebaut hatte, war jetzt in Elternzeit – und würde es vielleicht für Jahre bleiben. Das war Julias Chance auf einen dauerhaften Job.
Sie schaute Klara auffordernd an. Die fischte einen Schlüssel aus ihrer Jeans und sagte: »So, jetzt geht es los. Es ist für euch die Stunde Null, in der alles anfängt, ab der die neue Zeit beginnt.« Sie ignorierte das Gekicher der anderen. Sie hatte sich den Spruch lange vorher ausgedacht, nicht ahnend, wie unernst die Probanden die Situation nehmen würden. Klara drehte den Schlüssel im Schloss und drückte die Klinke.
Die Tür klemmte, was zu noch mehr Gekicher führte.
»Das Holz muss sich wegen der Hitze der letzten Tage verzogen haben«, sagte Julia Leendertse, während Klara nur noch genervt war. Ihr Dutt wankte, wie ihre Stimmung schwankte.
»Lass mich mal probieren.« Nun versuchte sich Frau Leendertse vergeblich an der Tür.
David wollte wissen: »Gibt es da drin zumindest Essen? Ich krieg pünktlich um 13.20 Uhr Kantinenhunger. Durst habe ich übrigens jetzt schon, falls ich das sagen darf.«
Marc drückte ihn mit einem Augenrollen zur Seite und schob sich mit einem ironischen »Darf ich mal« nach vorn, wobei die Betonung auf »ich« lag. Er riss an der Klinke, während Frau Leendertse zur Seite trat. Sie hatte sich ihrer Meinung nach ohnehin schon zu sehr ins Experiment eingemischt.
Ein letzter Ruck von Marc und die Tür flog auf.
»Soooo«, sagte er triumphierend. Kühle Luft strömte aus dem dunklen Raum dahinter. Positiv überrascht hob er eine Augenbraue. »Klimaanlage?«
Frau Leendertse nickte.
Marcs Blick schwenkte zu Emma, die hinter ihm stand und die sofort die Augen nach unten schlug. Er sagte: »Du als Erste! Bitte sehr.«
Emma zögerte. Sie kratzte sich am Unterarm. Immer wenn sie nervös war, juckte sie die Schuppenflechte. Ihre Verhaltenstherapeutin hatte gesagt, dass sie sich nicht drängen lassen solle, von keinem Menschen, sie solle sich ihre Zeit nehmen. Jeder Mensch brauche seine Zeit. Der eine sei schneller, der andere eher bedächtig. Sie musste sich an neue Situationen langsam gewöhnen.
David schubste sie spaßend von hinten. »Los, Emma! Ab ins Gefrierfach!«
Emma wandte sich kurz um: »Lass den Scheiß!« Und sah David böse in die Augen. Unbeeindruckt schob David sie weiter an Marc vorbei durch die Tür. Dann schoben alle, alle fanden es lustig und waren laut – und Sekunden später standen die sechs Kandidaten dicht beieinander in der engen, dunklen Kammer. Es war, als seien sie in einer Kapsel, die gleich in ein neues Universum starten sollte.
Klara drückte die Tür von außen zu. Als ihr Blick nun auf den kritischen Blick von Julia Leendertse traf, sagte sie: »Die haben es so gewollt.«
Von einer Sekunde auf die andere war es dunkel. Die sechs Probanden hörten, wie sich der Schlüssel im Schloss hinter ihnen drehte. Dann war es totenstill.
Marc versuchte die Tür wieder aufzudrücken. »Die hat uns echt eingesperrt. Kackdreist.«
Wieder Stille.
Sarah hörte Emma neben sich schwer atmen.
Josh sagte: »Stunde Null. Das bezeichnet die Stunde nach dem Zweiten Weltkrieg. Sechzig Millionen Menschen waren gestorben, danach mussten sich die Deutschen die Zivilisation erst wieder aus der Dunkelheit zurückholen.«
Emma suchte nach Sarahs Hand. In engen, dunklen Räumen hatte Emma Angst – unkontrollierbare Angst. Ihre Therapeutin hatte ihr geraten, ihren Ängsten Namen zu geben. So könne sie sich diesen besser entgegenstellen. Die Angst vor engen Räumen nannte sie Nina. Geh weg, Nina, sagte sie sich innerlich. Nina blieb. Sarah erwiderte den Händedruck, was Emma ein wenig beruhigte. »Keine Panik, Emma. Wir finden schon einen Ausweg.«
Josh redete derweil weiter und weiter: »Wie in einem Sarg ist es hier, denn …«
Sarah: »Sei endlich still. Bitte. Du machst mich wahnsinnig.«
Josh: »Ich muss reden, mein Hirn denkt und die Gedanken müssen …«
David legte Josh die Hand auf die Schulter. »Klappe, Josh. Hörst du? Emma kriegt sonst gleich einen Herzinfarkt und Sarah dreht auch durch. Willst du das?«
»Ich …« Josh wollte trotzdem weitersprechen, da legte ihm David die Hand auf den Mund, woraufhin Josh ihn wegstieß – direkt gegen Sarah, die gegen Emma knallte und deren Kopf wiederum gegen das Holz böllerte.
Sarah schimpfte: »Seid ihr eigentlich nur bescheuert?! Könnt ihr nicht ein Mal ruhig sein.«
Wieder Stille.
Sarah schaltete die Handyleuchte ein.
Auch die anderen knipsten die Handys an. Sofort war es nicht mehr so gruselig. Etwa zwei auf zwei Meter maß der winzige Raum, der ganz aus Holz war – eine Kiste.
Josh sagte: »Im Escape-Room, in dem ich zum Geburtstag gewesen bin, gab es Hinweise, die …«
»Hier aber nicht«, unterbrach ihn Marc. »Hier gibt es nicht mal ’ne Türklinke. Ich fühle mich wie beim Viehtransport.«
»Das ist gruselig«, meinte Sarah. »Kannst du bitte damit aufhören? Das hier ist kein Viehtransport, das ist eine Kiste voller Menschen und diese Menschen sind wir.«
Emma schluchzte und drückte sich mit dem Rücken fest in die Ecke, in der sie ohnehin schon stand.
»Bitte, Emma, hör auf«, sagte Sarah und drückte Emmas Hand. »Die aus der Neunten haben sich gut überlegt, wen sie hier reinstecken. Wir haben alle unsere Fähigkeiten.«
»Was für Fähigkeiten soll denn Emma haben?«, fragte Marc mitleidlos. »Die Heulkraft, oder was?«
»Hör auf«, sagte Sarah. »Lass sie einfach in Ruhe. Wir brauchen Ruhe.«
Emma sank langsam zu Boden und hielt sich die Hände vors Gesicht. Doch dann schreckte sie mit einem kurzen Schrei hoch und leuchtete sogleich hektisch in die Ecke hinter sich. Ihre Finger umklammerten das Handy wie einen Schutzschild. Sie hatte sich auf etwas Spitzes gesetzt: Eine handgroße Pyramide aus Holz stand da in der Ecke.
Ehe Emma sich beruhigen konnte, hatte schon Sarah die Pyramide aufgehoben.
»Nicht aufmachen«, sagte Marc. »Vielleicht ist da …?«
»… eine Bombe drin?«, nahm Sarah ihm die Worte aus dem Mund. »Was für ein Schisser du doch manchmal bist.« Marc musste selbst über ihre Bemerkung lachen. Ceylin ärgerte das. Irgendwie schien da was zwischen den beiden zu sein, so ein leichtes Knistern. Sie spürte es.
Sarah schüttelte die Pyramide. Es klackerte darin. »Irgendwas muss aber drin sein. Ich glaube, es geht hier auf.« Sarah klappte eine Seite der Pyramide vorsichtig hoch. Sie war enttäuscht, als sie nur mehrere zusammengefaltete Zettel, zwei Filzstifte, der eine blau, der andere lila, und eine Rolle durchsichtiges Klebeband herauszog.
David faltete einen der Zettel auseinander: »Hier steht: Erst wenn du das Dunkel nicht mehr sehen kannst …«
»Bei mir steht was anderes«, ergänzte Ceylin. »Was sonst stets hell …«
Josh meinte, er habe auch einen Spruch auf seinem Zettel. Und der lautete: »… im Licht der Dunkelheit lebst …«
Sarah schlug vor, die Sätze nebeneinanderzulegen. Es galt, ein Rätsel zu lösen, und sie liebte Rätsel. Doch die Sätze ergaben keinen Sinn.
Josh überlegte: »Wir brauchen die richtige Reihenfolge.«
»Und die wäre?«, fragte Marc. Er leuchtete Josh ins Gesicht. Es war schmal und blass. »Sag schon, GPT. Was ist die richtige Reihenfolge?« Er konnte Josh mit seinem Flaum von Bart, dem karierten kurzärmeligen Hemd und den kurzen schwarzen Jeanshosen nicht wirklich ernst nehmen. Josh war für Marc ein Nerd, wie er sonst nur in Serien auftrat.
Der schlug vor, sich nach der »Interpunktion« zu richten. »Wenn ein Punkt am Ende des Satzfetzens steht, ist es das Ende des Satzes. Das wäre logisch. Und wenn da ein und steht, wissen wir, dass vorher ein Satz und nachher ein Satz oder eine Aufzählung folgt, und bei einem Komma folgt noch folgerichtig …« Marc unterbrach ihn: »Ich krieg Ohrenbluten, wenn du nicht aufhörst. Wir …«
Er wurde wiederum von Sarah unterbrochen: »Ich hab’s.«
Sie hatte die Satzstücke hin und her geschoben und las das Ergebnis vor:
»Erst wenn schwarz, was sonst stets hell.Erst wenn du das Dunkle nicht mehr sehen kannstund du nur noch im Licht der Dunkelheit lebst,kann das Spiel beginnen.«
Marc zuckte mit den Schultern. »Was soll das? Bin ich hier bei den drei Fragezeichen? Ich denke, es geht im Escape-Game um Demokratie.«
»Geduld. Alles, was wir hier und jetzt brauchen, ist Geduld«, sagte Sarah. »Wir befinden uns in der Stunde Null. Wir müssen alles neu denken. Also bleib ruhig.«
Marc war vieles: aufbrausend, intuitiv, sportlich, manchmal – vor allem, wenn es seine Mutter betraf – sogar liebevoll, aber niemals ruhig oder geduldig.
Josh: »Da steht nicht nur hell, sondern stets hell. Und immer hell ist Licht. Aber das Licht ist laut den Zeilen in diesem Fall nicht mehr hell. Es ist sogar das Gegenteil von hell, es ist schwarz. Dabei kann Licht nicht schwarz sein. Folglich …«
»Natürlich kann Licht schwarz sein«, sagte Ceylin. »Es gibt doch Schwarzlicht, wie beim Minigolf.«
Da hielt Josh triumphierend die Filzstifte und den Tesafilm hoch. »Ich denke, ich weiß, was das bedeutet.«
Marc: »Ich auch. Filzstifte und Tesafilm bedeutet das.«
Alle lachten über Marcs billigen Witz.
»Sehr witzig«, sagte Josh. Während alle rätselten, befragte Josh sofort seine KI, wie er aus Filzern, Tesafilm und Handy ein Schwarzlicht basteln könne. Dann befahl er Sarah: »Gib mir ein Stück Tesa.« Dabei zeigte er die Länge an. Etwa zwei Zentimeter.
Sarah fand seinen Befehlston »unverschämt« und drückte ihm die ganze Rolle Tesa in die Hand. »Mach selbst.«
Josh war unbeeindruckt. Er fragte: »Hat jemand eine Schere oder ein Messer?«
Natürlich hatte niemand Schere oder Messer dabei.
Marc schlug vor, Josh solle sich schlicht ein Stück Band abbeißen. Der lehnte ab. »Mir zu ekelig. Wenn ihr hier rauskommen wollt, müsst ihr schon was für mich tun.«
Marc nahm das Band und gab es David. »Mach du das für ihn. Beiß schon.« Ohne ein Widerwort biss David ein Stück vom Klebeband ab. Josh überklebte die Leuchte seines Handys und übermalte sie mit dem blauen Filzer. Danach klebte er noch ein Stück Klebeband darüber und übermalte es wiederum. Das Gleiche machte er ein drittes Mal, nur griff er nun zum lilafarbenen Stift. Am Ende sagte er: »Handylampen aus. Alle. Sonst wird es nicht funktionieren.«
Sie gehorchten. Sogar Marc.
Josh spürte die Macht des Wissens, das er hatte. Es war wieder finster in der Kiste. Josh schaltete seine Handylampe an, die jetzt ein lila-bläuliches Licht ausstrahlte.
Der weiße Tiger auf Marcs T-Shirt sprang ihnen sofort grell ins Auge, Ceylins weiß lackierte Fingernägel leuchteten noch heller. Selbst die weißen Turnschuhe von Emma und der Saum ihres Rockes strahlten. Josh schaute sich um. Er entdeckte einen daumengroßen QR-Code an der Decke der Box.
Ehe Josh noch etwas sagen konnte, hielt schon Marc das Handy über sich und scannte den Code. Auf dem Bildschirm erschien die Frage, ob er die App Escape – The Democratic Game herunterladen wolle.
»Ja, klar«, sagte Ceylin. Und ehe noch die Installation auf Marcs Handy abgeschlossen war, hatten sich schon alle die App gescannt und installierten sie.
Selbst Emma war so gespannt, dass ihre Tränen versiegten und die Enge gar nicht mehr so bedrückend war.
Alle schauten nun auf ihre Handys.
Ein Erklärvideo tauchte auf: Eine Zeichentrickfigur erschien. Sie trug ein römisches Gewand, Nikes und einen Dreispitz mit einer Feder. Komisch sah die Figur aus, so als wäre sie durch die Weltgeschichte gereist und von den Jahrhunderten eingekleidet worden. Den Dreispitz setzte die Figur galant ab, verbeugte sich und lobte die Spieler dafür, dass sie das erste Rätsel Dunkelheit in der Stunde Null gelöst hätten. »Ihr könnt mich Easy Democracy nennen.« Dabei zeigte Easy mit einem Zauberstab auf den Vorhang hinter sich, auf dem nun der Schriftzug Escape – The Democratic Game erschien. »Ab sofort bin ich euer Guide, und diese App ist die einzige App, die noch auf euren Handys bedient werden kann. Wir haben weder Kosten noch Mühen gescheut, um diese App zu generieren, ihr müsst sie unbedingt probieren. Mit EscapeSpeech könnt ihr telefonieren …« Er zeigte ihnen sämtliche Möglichkeiten. So konnten sie sich Nachrichten, Fotos und Videos mit EscapeMessage senden, es gab die Suchmaschine EscapeSearch, selbst eine K.I. namens Escapism war vorhanden, genauso wie ein Escape-Wallet. In dieses erhielt jede und jeder mit zwei kurzen Pling zwei Coins Democracy-Startguthaben. »Wenn ihr den Escape-Room wieder verlasst, verlasse ich euch wieder, und mit mir auch diese App.«
Damit verschwand Easy.
»Beeindruckend«, sagte Josh. »Wirklich beeindruckend.«
»Na prima. Und was kann ich mir mit den Coins kaufen?«, fragte David.
»Ist doch ein nettes Geschenk«, sagte Sarah. »Du musstest ja nichts dafür tun.«
»Ich schon«, erklärte Josh. »Ich habe das Schwarzlicht gebastelt. Ohne mich hättet ihr …« Und als hätte Easy Joshs Argument gehört, machte es mehrmals pling in seinem Wallet. Acht Coins. Josh sagte: »Damit habe ich jetzt zehn Goldstücke.«
David fand das nicht in Ordnung. »In einer demokratischen Gesellschaft muss jeder die gleichen Chancen haben.«
»Haben sie aber nicht«, erklärte Josh. »Reiche haben immer bessere Chancen als Arme. Stell dir vor, deine Eltern sind Millionäre, dann haben die schon mal keinen Stress wegen der Miete und so.«
»Das ist nicht gerecht.«
»Das ist das Leben.«
»Dann ist das Leben nicht gerecht.«
Sarah nickte: »Wir können ja eine Demokratie gründen, die gerechter ist.«
»Aber erst mal müssen wir hier raus«, erklärte Marc. »Hier drin ist es ein bisschen eng für Demokratie. Dazu brauchst du schon Platz.«
»Oder Geld«, sagte David, der sich durch die App geklickt hatte und einen Pay-to-Win-Button entdeckt hatte: »Die wollen hier drei Coins, damit es weitergeht.«
Alle sahen Josh an.
»Ne, ne, ne«, sagte der.
»Doch«, sagte Marc und David wiederholte Marcs »Doch«.
Die beiden standen vor und hinter Josh, der nun brav zahlte.
Da machte es klick.
An einer Seite der Holzkiste tat sich ein heller Spalt auf. David drückte vorsichtig gegen das Holz.
Unerwartet blickten die Probanden in ein Arbeitszimmer à la Sherlock Holmes: Ein massiver Schreibtisch, ein gepolsterter Drehstuhl davor und überall waren Bücherregale an den Wänden, eine Leiter aus Holz wartete eingeklappt daneben, und an der Decke prangte ein Leuchter, sechs Glühbirnen, gekleidet in spitze Tüten aus Stoff.
Wohnte hier jemand oder war es ein Museum?
Selbst die Decke hatte etwas von längst vergangener Zeit, denn sie war aus Holz und wie ein riesiges Mosaik aus braunen Karos. Darüber hinaus leuchtete in einer Ecke eine Stehlampe, die einer griechischen Göttin glich, davor ein ausladender Sessel neben einem Tischchen mit verschnörkelten Beinen, darauf eine leere Kaffeetasse. Alles wirkte so, als sei der Bewohner des Zimmers nur kurz ausgetreten und würde gleich in einem gepflegten Anzug zurückkehren.
Ceylin ging zum Schreibtisch und strich über die grüne Tischauflage. Sie wollte sich setzen, da kam ihr David zuvor und drehte eine Runde auf dem Bürostuhl. Er griff sich die Bild-Zeitung, die ebenfalls auf dem Tisch lag. »Hab ich schon mal gesehen. Biiiiild-Zeiiiitung. Ist die sonst nicht bunter?« Gerade als er übermütig das Datum vorlesen wollte, riss ihm Ceylin die Zeitung aus der Hand und ließ sie in den Papierkorb fallen.
»Hey, spinnst du?! Die Zeitung ist uralt, ist bestimmt wertvoll. Da war ’n Foto von ’ner Barbie drauf. Die will ich haben. I’m a Barbie Girl, in a …«
Marc schlug seinem Klassenkameraden freundschaftlich von hinten auf den Kopf.
»Hey, lass den Scheiß, Marc!«
»Ich denke, du liest nur Bibel. Seit wann liest du denn Zeitung, David?«
David schwieg.
Dabei las er Zeitung – entweder selbst auf dem Handy oder über die Schulter seines Vaters hinweg, wenn dieser sich auf dem Tablet über die Neuigkeiten aus dem Kongo informierte.
»Ich will die Zeitung zurück«, erklärte David noch einmal und streckte die Hand zum Papierkorb.
»Nein.« Sarah schob den Korb mit dem Fuß zur Seite.
David ließ sie, er hatte den Tischglobus entdeckt. »Google Maps für Opas.« Er drehte ihn. Er war selbst wie aufgedreht, als würde ein Sturm in seinem Kopf wirbeln.
»Diese Weltkugel ist richtig vintage.« Das Wort »vintage« sprach David aus wie ein Franzose. »Bestimmt teuer.« Schon verpasste er dem Globus einen Klaps, der ihn aus den Angeln hob. Er sauste über den Schreibtisch und knallte aufs Parkett. David spannte seine Rechte zur Pistole, visierte über seinen ausgestreckten Zeigefinger die handballgroße Kugel an und schoss: »Peng! Asien versenkt. Peng! Emma versenkt!«
»Das ist nicht witzig«, sagte Emma, die er gleich neben dem Schreibtisch mit seiner imaginären Waffe abgeschossen hatte. David lachte nur. »Kopfschuss! Killermodus!«
»Hör auf, du Idiot!« Emma war unerwartet sauer und laut. David schien beeindruckt, jedenfalls schwieg er und sie legte sich das blonde Haar kämpferisch hinters Ohr.
Sarah hob den Daumen. Endlich wehrte sich Emma mal.
Davids Ruhe hielt nicht lange, vielmehr drehte er sich jetzt auf seinem Stuhl. »Das ist hier wie im Oval Office, totale Nervenzentrale. We all living in Americaaaaa!«
Ceylin konnte es nicht fassen: »Mensch, David. Lass uns lieber mal nach Hinweisen suchen, damit wir weiterkommen. Das hier ist nicht das Oval …«
»Das weiß ich. Sonst würde hier eine US-Fahne hängen.«
Er erblickte auf einem der Fotos, die am Rande des Schreibtisches in Bilderrahmen standen, ein bekanntes Gesicht und griff nach dem Foto, reckte es in die Höhe und rief: »Black Power!« Er erhob sich, rappte: »Das ist Martin Luther King, ich sing in seinem study room, boom.«