Essen Tote Erdbeerkuchen? - Rosemarie Eichinger - E-Book

Essen Tote Erdbeerkuchen? E-Book

Rosemarie Eichinger

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Beschreibung

Emma verbringt den größten Teil ihrer Freizeit auf dem Friedhof. In der Schule halten sie die meisten deshalb für sonderbar. Aber so ungewöhnlich ist das gar nicht. Schließlich ist ihr Vater Totengräber und sie wohnt in einem Haus gleich an der Friedhofsmauer. Peters Zwillingsbruder Martin ist bei einem Unfall ums Leben gekommen. Seitdem geht Peter täglich zum Friedhof, sitzt an Martins Grab und starrt vor sich hin. Das kann nicht so bleiben, beschließt Emma und freundet sich mit ihm an. Gemeinsam finden beide ein Stück aus dem Friedhof hinaus und ins Leben hinein. Österreichischer Kinder- und Jugendbuchpreis 2014

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Seitenzahl: 137

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Rosemarie Eichinger

Essen Tote Erdbeerkuchen?

Rosemarie Eichingerzog für ihr Geschichtestudium vor 20 Jahren nach Wien, wo sie immer noch lebt. Mit dem Schreiben begann sie erst nach dem Studium.

Die Spezialisierung auf Kinder- und Jugendliteratur ergab sich dann einfach so. Sie bekam für ihre Arbeit verschiedene Auszeichnungen und Stipendien (u.a. Schreibzeit-Jugendbuch-Wettbewerb, Mira-Lobe-Stipendium 2009), nach und nach folgten die ersten Publikationen.

EPUB ISBN 978-3-7026-5881-6

1. Auflage 2013Einbandgestaltung: Ruth Cortinas© Copyright 2013 by Verlag Jungbrunnen Wien

Alle Rechte vorbehalten – printed in Austria

Rosemarie Eichinger

Essen Tote Erdbeerkuchen?

Inhalt

Zwischen den Gräbern

An der Friedhofsmauer

Beim Pinkeln vom Schlag getroffen

Bouillabaisse und Borschtsch

Sturz vom Garagendach

Emma und Peter

Kuchen für die Toten

Eine Fahrkarte ins Unbekannte

Was es über den Tod zu wissen gibt

Mumien und ein Wikingerbegräbnis

Zwischen Himmel und Erde

Ertappt!

Unerfreuliche Neuigkeiten

Ein langer Nachmittag

Ein unerwünschter Gast

Nachts auf dem Friedhof

Bis Sonnenaufgang

Der Tag danach

Blonder Haarschopf mit rosa Gießkanne

Montag

Zwischen den Gräbern

Die Kälte kommt immer zuerst von unten. Sie kriecht die Beine hinauf, langsam, aber stetig, bis selbst die angenehmsten Gedanken unter einer kratzigen Gänsehaut verschwinden. Emma mag das Gefühl. Sie streicht über ihre Waden.

Sie kommt fast täglich hierher. Selbst an Tagen wie heute. Der Regen prasselt auf das Dach der steinernen Gruft, die Wand schwitzt dünne Rinnsale aus. Sie holt eine Kerze aus dem Rucksack, zündet sie an, zieht einen Polster hervor und setzt sich zwischen die Särge von Lambert Goldberg und seiner Tochter Leontine. Das Licht fällt durch das kleine Spitzbogenfenster über ihrem Kopf. Gerade genug, dass sie die Zeilen ihres Tagebuchs erkennen kann. Die Füllfeder kratzt über das Papier und zerschneidet die Stille in staubige Häppchen.

Emma liebt den Friedhof. Hier ist sie zu Hause. Ihr Vater hebt die Gräber aus, sie spielt zwischen den aufragenden Grabsteinen. Das ist schon so, seit sie sich erinnern kann. Heutzutage spielt sie natürlich nicht mehr so oft. Nicht richtig zumindest. Sie ist schließlich schon zwölf! Sie setzt sich meistens irgendwohin und liest, zeichnet oder spielt mit ihrem Nintendo. Aber das ist ja etwas anderes.

Emma weiß alles über den Friedhof. Sie weiß, dass Gräber mindestens zwei Meter tief sind, je nachdem wie viele Menschen dort begraben liegen. Je mehr Verstorbene, desto tiefer die Grube. Sie weiß, dass die meisten Menschen hierzulande eine Erdbestattung vorziehen. Das ist gut, denn so hat ihr Vater immer Arbeit.

„Nichts ist so sicher wie der Tod“, sagt er oft.

Einen kleinen Urnenfriedhof gibt es hier aber trotzdem. Manche Leute lassen sich nämlich verbrennen. Bei einer Verbrennung kommt der Leichnam allerdings nicht mit Feuer in Berührung. Das weiß Emma auch. Lediglich heiße Luft, um die 1000 Grad, wird in den Ofen geblasen. Nach einer Stunde ist nur mehr Asche übrig. Die wiegt dann bloß ein bis zwei Kilogramm. Eine Stunde und alles ist vorbei! Legt man einen Körper in die Erde, dauert es fünf bis zehn Jahre bis er zersetzt ist.

„Das hängt vom Boden ab“, sagt ihr Vater. Als Totengräber kennt er sich in diesen Dingen aus. Hier gibt es sandigen Boden, in dem das Verwesen nur ein paar Jahre dauert. Über all das weiß Emma Bescheid. Sie ist schließlich die Tochter eines Totengräbers.

Auf Emmas Friedhof gibt es 181 Gräber, drei Grüfte, eine Kapelle, zehn Fichten, drei Tannen und zwei Eichen, drei Heckenmauern, neun Büsche, zwei Komposthaufen, acht friedhofseigene Gießkannen, zwei Wasserleitungen, ein kleines Häuschen mit Werkzeug und Pausenplatz für ihren Vater, ein schmiedeeisernes Tor mit vielen Schnörkeln dran und eine rissige Mauer um all das herum.

Neben den toten Menschen kommt natürlich auch eine Reihe lebende zum Friedhof. Sie zupfen, gießen, putzen, kehren, pflanzen und zünden Kerzen an. Lichter für die Seelen der Toten. Vor allem im Frühling herrscht Hochbetrieb. Da werden die Gräber herausgeputzt. Primeln, Osterglocken und Stiefmütterchen sind besonders beliebt. Die Leute stehen beisammen oder sitzen auf Bänken und tratschen.

Oft auch über Emma. Die Leute finden sie seltsam. Nicht die Toten, mit denen kommt sie hervorragend aus, aber die Lebenden. Vor allem die schwarzen Witwen! Emma nennt sie so, obwohl sie Frau Meier, Frau Kern und Frau Gehbauer heißen. Sie findet, das passt, auch wenn sie niemals Schwarz tragen, sondern Kleider mit riesigen bunten Blumen drauf, Karomustern oder Streifen, Wollwesten auch im Sommer und ausgesprochen hässliche Brillengestelle auf ihren Hakennasen. Die drei zerreißen sich bei jeder Gelegenheit die zahnlosen Mäuler. Natürlich gehen sie nicht wirklich ohne Zähne aus dem Haus. Sie tragen Prothesen, ebenmäßig und blitzblank.

Emma kümmert das nicht weiter. Sie kann sie ebenso wenig ausstehen. Sollen sie doch tot umfallen allesamt! Nein, besser doch nicht, dann würden sie ja auf ihrem Friedhof landen. Darauf will sie lieber verzichten.

„Bleib immer freundlich, Emma!“, sagt ihr Vater.

Der hat leicht reden! Wozu soll man zu jemandem freundlich sein, der Freundlichkeit nicht mal erkennt, wenn sie vor ihm steht? Reine Energieverschwendung, findet Emma.

„Keineswegs“, sagt ihr Vater. „Wenn du freundlich bist, werden sie sich ärgern!“

Aha! Das versteht Emma zwar nicht, aber sie probiert es trotzdem aus. Frau Gehbauer schleppt gerade eine überschwappende Gießkanne zum Grab ihres Gatten. Eine günstige Gelegenheit. Emma stellt sich ihr in den Weg, ein fettes Grinsen im Gesicht.

„Guten Tag, Frau Gehbauer“, grüßt sie. „Darf ich Ihnen die schwere Gießkanne tragen?“ Ein Vorbild an Wohlerzogenheit!

Der armen Frau bleibt der Mund offen stehen, sie umklammert die Kanne, als wär es ihre Handtasche samt Rente drin und Emma eine ruchlose Straßenräuberin.

„Geh mir aus dem Weg! Über eine alte Frau macht man sich nicht lustig!“

Ihr Vater hat recht! Frau Gehbauer ist tatsächlich verärgert. Da versteh einer die alten Leute! Zumindest die boshaften unter ihnen, alle sind ja nicht so.

Was es noch über Emma zu sagen gibt? Sie ist nicht größer als der Fliederbusch neben der Kapelle, 1,56 Meter um genau zu sein. Sie hat streichholzkurze schwarze Haare, braune Augen und einen schlanken Körper, mit dem sie Räder schlagen kann von einem Ende des Friedhofs bis zum anderen, ohne eine Pause einzulegen. Gescheit ist sie obendrein und hübsch dazu. Das findet auch der Oscar Brehm aus ihrer Klasse. Das sagt er ihr aber nicht. Niemandem sagt er das. Emma ist schließlich eine Außenseiterin. Mit ihren Mitschülern redet sie nicht viel, und die reden nicht viel mit ihr. Über sie aber schon. Grufti und Totengräberin nennen sie die anderen Kinder. Nie laut oder gar direkt. Sie gehen ihr, wenn möglich, aus dem Weg. Emma flößt ihnen ein bisschen Angst ein, als ob sie über eine Armee von Untoten gebieten würde.

Das ist in Ordnung, findet Emma. Solange man sie in Ruhe lässt. Sie hat ihren Vater. Das reicht! Und damit jeder sehen kann, wie wenig sie die anderen kümmern, trägt sie fast immer Rot. Rot! Wie ein Scharfrichter im Mittelalter! So kann sie nicht in den abgewandten Blicken der Leute verschwinden. Weithin sichtbar, damit jeder ausweichen kann, wenn er eine Begegnung vermeiden will. Mit einem Henker wollten die Leute genauso wenig zu tun haben wie mit einem Totengräber. Außer, wenn er gerade dabei war, sein Amt auszuüben. Wenn Köpfe rollten, strömten die Massen nur so zu den Richtstätten. Man gönnt sich ja sonst nichts, wie ihr Vater immer sagt.

Emma gönnt sich schon etwas. Geschichten über die Bewohner dieses Friedhofs. Die saugt sie sich nicht etwa aus den Fingern. Nein! Sie ist schließlich keine Dichterin, mehr so etwas wie eine Chronistin. Sie führt Buch über all die Toten, ähnlich wie die Friedhofsverwaltung. Nur eben von der anderen Seite, aus Sicht der Toten gewissermaßen. Wie gefällt es ihnen im Jenseits? Sind sie glücklich? Langweilen sie sich? Sind sie mit ihren Nachbarn zufrieden, oder wollen sie lieber neben jemand anderem liegen? Kann man die Radieschen wirklich von unten sehen? Geschichten, die das Leben schreibt eben, oder, in diesem Fall, wohl eher Geschichten, die der Tod schreibt. Von Abenteurern und Kleingeistern, Feiglingen und Helden, Pechvögeln und Glückspilzen, von kleinen Jungen und von alten Männern. Oder auch Geschichten von Mädchen, die viel zu früh gestorben sind.

Wie Leontine Goldberg, an deren Sarg sie gerade lehnt. Sie wurde lediglich vierzehn Jahre alt, nur wenig älter, als Emma nun ist. Am 12. Mai 1875 geboren, fiel sie schon am 13. September 1889 von einem Pferd und brach sich den Hals. So steht es auf der kleinen Tafel an ihrem Sarg. Das mit dem Hals steht nicht darauf. Das weiß Emma von Leontine selbst.

Emmas Leontine hat blonde Locken, mit blauen Schleifen aus dem Gesicht gebunden. Ein knöchellanges, weißes Spitzenkleid, mit ebensolchen blauen Schleifen geschmückt, dazu hohe weiße Schnürstiefel und einen gerüschten Sonnenschirm. Als Tochter eines Fabrikanten konnte sie sich solche schönen Kleider leisten. Die Goldbergs hatten nämlich eine Zwirnfabrik am Rande der Stadt. Die kennt Emma auch. Manchmal schleicht sie sich in das alte Gemäuer und streift durch die verfallenen Hallen. Dann setzt sie sich ganz still in eine Ecke und wartet. Sie schließt die Augen, bis die geschäftige Betriebsamkeit längst vergangener Zeiten in ihrer Fantasie wieder aufersteht. Schnatternde Arbeiterinnen, strenge Aufseher und der wachsame Blick von Lambert Goldberg, der oben auf der Balustrade das emsige Treiben beobachtet.

Emma kaut nachdenklich an ihrer Füllfeder und lauscht Leontines Schritten, die laut und deutlich durch ihre Gedanken hallen. Ist sie zufrieden mit ihrer letzten Ruhestätte? Ein Mädchen aus reichem Hause, das vielleicht gerne die Welt gesehen hätte und wahrscheinlich gestorben ist, ohne aus dieser kleinen Stadt herausgekommen zu sein. Leontine selbst äußert sich nicht dazu.

„Eine Frau“, sagt sie, „muss ihre Geheimnisse haben.“ Sie tut ziemlich erwachsen für ihr Alter.

In ihrem Tagebuch entwirft Emma das Bild einer hochnäsigen Leontine, die schon zu Lebzeiten auf ihre gewöhnlichen Nachbarn heruntergesehen hat. Nun muss sie mit diesen uninteressanten Leuten die Ewigkeit verbringen. Dabei könnte sie auf einem großen, mondänen Friedhof in einer Stadt wie Paris oder London mit ihrem Sonnenschirm ganz hervorragend flanieren. Dort würde sie bestimmt aufregende tote Persönlichkeiten kennenlernen, in deren Gesellschaft einem diese Ewigkeit nicht ganz so lang vorkommt.

Emma ist vollkommen in Leontines Geschichte vertieft, bis das Quietschen der Tür die Stille zerreißt. Das Schloss ist schon vor Jahren von irgendwem aufgebrochen worden, und das Tor hängt seitdem ein wenig schief in den Angeln. Emma kann problemlos durchschlüpfen. Nun drängt sich ihr Vater durch den Spalt, einen Schwall Tageslicht im Schlepptau.

„Du sollst doch nicht hier drinnen sein, Emma!“ Der Tadel ihres Vaters hallt halbherzig von den steinernen Wänden wider.

Als ob sie das nicht wüsste! Emma richtet sich auf und streckt ihren Rücken ordentlich durch. Vom Schreiben ist er ganz krumm und verspannt.

„Los, pack zusammen, bevor man dich hier erwischt! Das würde dem Jugendamt gefallen, denkst du nicht?“

Jetzt schon! Das Mädchen aus der Gruft! Sie sieht die Schlagzeile deutlich vor sich. Jugendamt musste einschreiten! Der Text unter dem Foto, auf dem Emma von zwei Sozialarbeitern flankiert ins Heim gebracht wird. Sie scheucht das Bild aus ihrem Kopf, löscht die Kerze und folgt ihrem Vater nach draußen unter einen wolkenverhangenen Himmel. Ein beinahe tägliches Ritual zwischen den beiden. Emma wird morgen wieder in die Gruft der Goldbergs gehen. Auch wenn ihr das Auftauchen der Sozialarbeiterin noch immer in den Gliedern steckt wie das Rheuma der alten Frau Meier. Sie folgt ihrem Vater ohne weiteren Widerspruch. Ist ohnehin Zeit fürs Abendessen.

An der Friedhofsmauer

Emma lebt mit ihrem Vater in einem kleinen Haus, das altersschwach an der Westmauer des Friedhofs lehnt. Etwas windschief ist es, der Putz bröckelt an manchen Stellen, aber das Dach ist noch dicht.

„Das ist das Wichtigste“, sagt ihr Vater.

Das findet Emma nicht. Das Wichtigste ist eine funktionierende Heizung. Frieren ist unzumutbar. Wenn aber das Dach leckt, braucht man nur Töpfe aufzustellen, oder man spannt einfach einen Regenschirm über das Loch.

Überhaupt gibt der Mann bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit Weisheiten von sich. Das geht Emma manchmal ziemlich auf die Nerven.

„Ein Küsschen in Ehren, kann niemand verwehren!“, zum Beispiel, und schon schmatzt er sie ab. Unfassbar! Sie ist zwölf! „Ich nehme mir fest vor, das in Zukunft zu unterlassen“, sagt er dann, „aber wie du ja weißt, sind die Wege zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert.“ Selbstverständlich weiß sie das. Er sagt es ihr ja oft genug.

Das ist aber nicht das Auffälligste an Severin Blum. Auch nicht seine imposante Größe. Er kann Glühbirnen an der Deckenleuchte wechseln, ohne sich auf einen Stuhl zu stellen. Nicht sein rabenschwarzes Haar, seine braunen Augen oder seine bemerkenswert bleiche Haut. Nicht einmal die Narbe, die sich in einem Bogen über seine linke Wange zieht. Und die schaut wirklich gruselig aus. Der Totengräber verströmt einen schweren Duft von Erde, als wäre sie nach der jahrelangen Schaufelei in jede Pore seiner Haut eingedrungen. Emma weiß stets, wo im Haus er sich gerade aufhält. Sie muss nur seiner Duftspur folgen. Am Friedhof jedoch ist er praktisch unsichtbar. In der frisch umgegrabenen Erde löst er sich auf wie ein Regentropfen im Meer.

Auch die anderen scheinen seinen Geruch wahrzunehmen. Golem nennen sie ihn insgeheim. Emma hat im Lexikon nachgeschlagen, was das bedeutet. Golem, steht dort, kommt aus dem Hebräischen und bedeutet „Klumpen“. Ein künstlicher Mensch aus Lehm, durch Zaubersprüche von gelehrten Juden zum Leben erweckt. Daraus soll einer schlau werden!

Im Großen und Ganzen haben sie aber nicht viel Kontakt zu anderen Leuten. Außer zu Ewald Kranz, einem der wenigen Auserwählten. Er ist der einzige Freund des Totengräbers und arbeitet beim Leichenabholdienst. Das gibt es tatsächlich. Nicht nur Pakete wollen von der Post geholt werden oder Kinder aus dem Kindergarten, auch Leichen wollen aus Wohnungen geholt werden. Obwohl es den Leichen wahrscheinlich egal ist, den Nachbarn dafür nicht.

„Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr Leichen stinken können“, sagt Ewald immer.

Vor allem, wenn sie schon eine Zeit lang tot sind. Es kommt ja vor, dass Menschen von niemandem vermisst werden, wenn sie sterben. Dann liegen sie auf ihrem Küchenboden, Sofa oder Bett und verwesen langsam vor sich hin. So was kommt vor. Emma liest schließlich die Zeitung.

Jeden dritten Freitag im Monat steht Ewald pünktlich um sieben Uhr abends auf der Matte. Dann gibt es Bouillabaisse.

„Niemand kocht so gute Fischsuppe wie dein Vater“, sagt er dann zu Emma.

Es gibt zwar ein französisches Restaurant in der Stadt, aber der Koch, behauptet Ewald, würde eine gute Bouillabaisse nicht einmal erkennen, wenn man ihn darin ersäufen würde. Jetzt kommt er alle vier Wochen, schlürft vier Teller Fischsuppe und isst eine ganze Stange Baguette zum Eintunken dazu. Emma wird nur vom Zuschauen schlecht!

Emmas Vater redet nicht gern.

„Wer nichts Gescheites zu sagen hat, der soll lieber den Mund halten!“ Das ist sein Motto. Mit seiner Tochter ist das etwas anderes. Ihr hat er immer etwas Gescheites zu sagen. Und wenn es nicht gescheit ist, dann ist es eben spannend, lustig oder sonst wie interessant.

Severin Blum schreibt keine Geschichten wie Emma, er erzählt sie ihr lieber. Und er hat eine Menge davon auf Lager. Man fragt sich vielleicht, was ein Totengräber schon groß zu erzählen hat? Nicht viel, möchte man meinen. Aber Severin Blum ist ja nicht als Totengräber zur Welt gekommen. Man soll sich von seinem Geruch nicht täuschen lassen. Die Dinge sind nicht immer das, was sie scheinen! Den Spruch kann Emma auch nicht leiden.

Früher einmal war Severin Blum Seemann! Schiffskoch, um genau zu sein. Schwankenden Kombüsenboden unter den Füßen, dann wieder fremde Kontinente. Das war, bevor er Emmas Mutter Lena getroffen hatte und wegen ihr an Land geblieben war, und bevor sie bei Emmas Geburt gestorben war. Die Toten kamen erst danach ins Spiel.

Ein Seemann erlebt natürlich mehr als ein Totengräber. Wie heißt es so schön? Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen! Und Severin Blum hat mehr als nur eine Reise gemacht. Wie Perlen hat er seine Geschichten gesammelt, die er in Emmas Mansardenzimmer nach und nach zu einer schillernden Kette auffädelt. Sie mag ja schon zwölf Jahre alt sein, aber für wildgewordene Lamas, blutsaugende Fledermäuse, Schrumpfköpfe oder Wale, so groß wie ihr Haus, ist sie noch nicht zu alt.