Wasserbomben und Dosenbrot - Rosemarie Eichinger - E-Book

Wasserbomben und Dosenbrot E-Book

Rosemarie Eichinger

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Beschreibung

Heinrich wohnt neuerdings in einer Villa mit Garten und drei älteren Herrschaften plus Haustier: mit seinem Großvater, Großtante Klara, Frieda Rost und der hässlichen Nacktkatze Helmut. Anna aus der Nachbarschaft klettert in den Bäumen von Klaras Garten herum. So lernt Heinrich sie kennen und die beiden werden Freunde. Im Nachbarhaus wohnt Herr Schebesta, der auf jede Annäherung an sein Grundstück panisch reagiert und Heinrich über die Gartenmauer hinweg mit allen möglichen Dingen bombardiert. Er hat einen Bunker, in dem er Vorräte aufbewahrt, falls „etwas Schreckliches" passiert. Dieser Bunker übt eine magische Anziehungskraft auf Anna und Heinrich aus - nur zu gern würden sie wissen, wie es da drin aussieht. Sie schleichen sich ein, werden trotz großer Vorsicht erwischt und zum Glück von der versammelten Senioren-WG befreit. Und schließlich entspannt sich sogar die Beziehung zum Nachbarn.

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Seitenzahl: 158

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Rosemarie Eichinger

Wasserbomben und Dosenbrot

Rosemarie Eichinger

zog für ihr Geschichtestudium vor 20 Jahren nach Wien, wo sie immer noch lebt. Mit dem Schreiben begann sie erst nach dem Studium.

Die Spezialisierung auf Kinder- und Jugendliteratur ergab sich dann einfach so. Sie bekam für ihre Arbeit verschiedene Auszeichnungen und Stipendien (u.a. Schreibzeit-Jugendbuch-Wettbewerb, Mira-Lobe-Stipendium 2009), nach und nach folgten die ersten Publikationen.

Bei Jungbrunnen ist folgender Titel lieferbar: Essen Tote Erdbeerkuchen? (2013, ausgezeichnet mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis)

ISBN 978-3-7026-5892-2

1. Auflage 2015

Einbandgestaltung: Ruth Cortinas

© Copyright 2015 by Verlag Jungbrunnen Wien

Alle Rechte vorbehalten

Rosemarie Eichinger

Wasserbomben und Dosenbrot

Jungbrunnen

Kapitel 1

In dem Heinrich umzieht, nach einem passenden Hut für seine Sichtweise sucht und eine besonders hässliche Katze kennenlernt

So hat es angefangen oder geendet. Je nachdem, wie man es betrachtet. Als der Wagen in die Straße einbog und sich Heinrichs Magen zusammenkrampfte. Nicht besonders, nur ein bisschen, als würde er in der Achterbahn sitzen und kopfüber nach unten rasen. Ein flaues Gefühl in der Magengegend, ein Flattern, ein Kribbeln vielleicht. Oder eine seltsame Vorahnung, dass sein Leben nicht mehr so sein würde wie zuvor.

Und genau genommen traf das ja auch zu. Nicht nur der Wagen bog ab, auch Heinrichs Leben. Einfach so. In einem Schwung, fast ohne zu bremsen.

Natürlich war er schon öfter hier entlang gefahren. Vorbei an den knorrigen Kastanien und Buchen, an den ehrwürdigen Häusern und an der Stille, die über den Gärten liegt. Zu Besuch bei Großtante Klara und ihrem Mann Josef. Nichts Besonderes. Nichts Aufregendes. Aber das mit dem Besuchen sollte nun vorbei sein. In Zukunft würde Heinrich hier leben. In diesem Haus mit seinem Großvater Paul bei dessen Schwester Klara.

Und warum das Ganze? Weil das Leben nun mal kein Wunschkonzert ist, wie ihm sein Großvater erklärt hat. Das war der eine Grund. Der andere war Josef Pucks plötzlicher Tod. Im Schlaf, ohne Vorwarnung.

Von einem Moment auf den anderen war Klara Witwe. Ein Schock nach über fünfzig Jahren Ehe. Und dann auch noch das große Haus! Mit seinen unzähligen Zimmern, den Giebeln und Türmchen und dem großen Wintergarten an der Südseite zum Garten hin.

Die Villa, beinahe ein kleines Schloss, wurde in einer Zeit gebaut, da trugen die Männer noch Zylinder und Spazierstöcke und die Frauen lange Röcke. Karamellbonbons gab es einzeln zu kaufen und Dienstboten sorgten dafür, dass es den Bewohnern an nichts fehlte.

Das ist aber lange her. Schon über hundert Jahre. Übrig geblieben ist nur mehr Klara. Allein in dem riesigen Kasten. Einmal die Woche kommen zwei Frauen zum Saubermachen und alle zwei Wochen kommt der Gärtner. Das wars.

Eines Tages, als Klara so in ihrem Wintergarten saß, bei einer Tasse Tee, und sich einsam und verlassen fühlte, fiel ihr Paul ein, ihr kleiner Bruder Paul. Er ist zwar beinahe eins neunzig groß und auch schon 73, aber ihr kleiner Bruder wird er dennoch immer bleiben.

Paul, der mit seinem Enkel Heinrich in einer Wohnung lebte, wo doch jeder weiß, dass ein Junge mit viel Energie genügend Auslauf braucht, um sich prächtig entwickeln zu können. So ein großes Haus mit Garten wäre da geradezu ideal.

Also ließ sie ihren Tee ausnahmsweise einmal kalt werden und griff zum Telefon. Lange musste sie ihren Bruder nicht überreden. Man wird ja schließlich nicht jünger und könnte sich gegenseitig unterstützen.

„Alte Knacker müssen zusammenhalten“, sagte Klara zu ihrem Bruder. Damit war die Sache besiegelt.

Ehe Heinrich sichs versah, parkte sein Großvater schon den Wagen vor dem schmiedeeisernen Tor ihres neuen Zuhauses. Schließlich ist in der Villa wirklich genug Platz und der Garten drum herum ein Paradies für einen Jungen. Eben. Genau. Was soll man da auch sagen? Heinrich fiel nichts ein.

An seine Eltern dachte er, die er nur von Fotos kennt, weil sie kurz nach seiner Geburt bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Dass er seitdem bei seinem Großvater lebt, was toll ist, weil sie so gut miteinander auskommen. Mit Großtante Klara sind sie zu dritt und da ist das Miteinanderauskommen schon viel schwieriger als zu zweit.

Bestimmt gibt es Schlimmeres als in eine Villa zu ziehen, sagte sich Heinrich also. Und Umzüge sind nichts Besonderes. Menschen ziehen andauernd um. Trotzdem blieb da dieses seltsame Gefühl in der Magengegend.

Bis Klara ihn begrüßte, überschwänglich und aufgeregt. Sie drückte Heinrich so fest an sich, dass sie das flaue Gefühl fast oben rausgedrückt hätte. Aber eben nur fast.

„Willkommen!“, rief sie. „Herzlich willkommen, ihr zwei.“ Sie schob Heinrich auf Armeslänge von sich, betrachtete ihn von oben bis unten. „Was für ein stattlicher junger Mann“, stellte sie schließlich fest, und Heinrich war das furchtbar peinlich. Dann nahm sie eine seiner Taschen, legte ihm den linken Arm um die Schulter und zog ihn die Einfahrt hinauf.

„Wir vier werden eine Menge Spaß haben“, sagte sie und lachte.

Und Heinrichs Magen fuhr wieder Achterbahn. Bestimmt hatte er sich verhört. Oder Klara hatte sich versprochen. Bei alten Menschen kann so etwas schon vorkommen.

„Wir vier?“, fragte Heinrich deshalb.

„Ja. Frieda Rost wohnt seit zwei Wochen bei mir.“

„Frieda Rost?“ Heinrich hatte keine Ahnung, wer das sein sollte. Niemand hatte diesen Namen je erwähnt.

„Ich kenn sie schon seit der Schulzeit. Wir waren damals wie Pech und Schwefel. Vor Kurzem ist sie gestürzt und hat sich die Hüfte verletzt und da ich ja den ganzen Platz habe … Du weißt schon.“

„Ja, ich weiß“, sagte Heinrich. „Alte Knacker müssen zusammenhalten.“

„Genau. Außerdem: Je mehr, desto lustiger“, fügte Klara dann noch augenzwinkernd hinzu. „Wir werden dich schon überzeugen.“

Das ist mittlerweile zwei Wochen her und bis jetzt ist Heinrich nicht überzeugt. Der Altersdurchschnitt in seinem neuen Zuhause liegt bei über 58 Jahren. Lustig ist anders, wenn man ihn fragt. Nicht zuletzt deshalb, weil das Haus zwar riesig ist, aber allen Ernstes nur über ein einziges Fernsehgerät verfügt. Nach zwei Wochen fragt sich Heinrich langsam, wie viele Schlagerparaden ein Elfjähriger ertragen kann, bevor sein Hörvermögen irreparable Schäden davonträgt? Und dann sind da noch jede Menge Kochsendungen, Gesundheitsratgeber und Talkshows mit unendlich langweiligen Teilnehmern. Da Frieda wegen ihrer Hüfte noch nicht wieder vollständig mobil ist und Heinrich Rücksicht nehmen muss, bestimmt die alte Frau, was läuft.

So ein Umzug ist eben eine große Umstellung. Nicht nur für Heinrich, auch für seinen Großvater.

„Weiberhaushalt!“, erklärt er seinem Enkel immer wieder. „Daran müssen wir zwei uns erst gewöhnen.“

In ihrer alten Wohnung hingen schon mal nasse Socken zum Trocknen über Stuhllehnen, und Kakaopulver wurde direkt aus der Dose gelöffelt, wenn einem danach war. Jetzt gehören nasse Socken auf die Wäscheleine, und aus der Dose löffeln ist unhygienisch. Dasselbe gilt für Milch aus der Packung trinken und Jacken, die an dafür vorgesehene Haken gehören, schmutzige Schuhe, die vor der Tür abgeklopft werden müssen und, und, und. Jede Menge Regeln für die beiden Männer.

Manchmal schaut Paul Kramer seinen Enkel an und fragt sich, ob es tatsächlich die richtige Entscheidung war. Schließlich hat er den Jungen von seinen Freunden weggeholt, aus seiner gewohnten Umgebung. Er denkt an den Spaß, den sie beide in der alten Wohnung hatten. Wenn Heinrich sich in der Küchenbank versteckte oder im großen Wandverbau im Vorzimmer. Wie er mit drei Jahren seine Hände in Farbe tauchte und die Wand seines Zimmers mit Handabdrücken verzierte. Schließlich hatte er seinen Enkel damals sogar hochgehoben, damit ein johlender Heinrich auch noch grüne Fußabdrücke an der Wand hinterlassen konnte.

„Wir sind ein gut funktionierendes Team“, denkt Großvater Paul dann und lächelt. Bestimmt wird es bald wieder so sein. Kinder sind ja zäh und anpassungsfähig.

„Weiberhaushalt!“, wiederholt er fest und Heinrich nickt wissend. Oder: „Man muss sich im Leben immer wieder anpassen.“

Und Heinrich passt sich an, was das Zeug hält, wenn man ihn fragt. Das finden die anderen aber ganz und gar nicht und so lernt Heinrich, dass jeder seine eigene Sicht der Dinge hat.

„Die Kunst“, sagt sein Opa dann, „ist es, diese verschiedenen Sichtweisen unter einen Hut zu bringen.“

Von Hüten hält Heinrich allerdings nicht viel, weil es den Hut, unter den auch seine Sicht der Dinge passen könnte, anscheinend nicht gibt. Seine Sicht der Dinge kann schließlich nur auf elf Jahre Lebenserfahrung zurückschauen, erklärt man ihm, und die Sicht der anderen schon auf über siebzig Jahre. Die zählen im Zweifel natürlich mehr, auch wenn jeder weiß, dass das Sehvermögen im Alter nachlässt. Für logische Argumentation scheint in diesem Haus aber niemand so recht empfänglich zu sein.

Und dann der Geruch. Nach Mentholsalbe und Lavendel. Eine seltsame Mischung, der Heinrich nicht besonders viel abgewinnen kann. Potpourris aus getrockneten Blumen stehen auf jeder einzelnen der dreiundzwanzig Kommoden in dem Haus. Heinrich hat sie gezählt. Glänzend polierte Antiquitäten allesamt. Dagegenstoßen verboten.

Viel mehr als die Küche und einen Salon bekam Heinrich bei seinen früheren Besuchen ja nicht zu Gesicht. Jetzt schaut er sich genauer um. Und das Haus ist beeindruckend. Das kann Heinrich nicht leugnen. Wohnzimmer gibt es keines, dafür einen blauen Salon und einen grünen. Eine Bibliothek mit Büchern bis an die Decke, einer Leiter, die oben eingehängt ist und unten Rollen hat. Die spießt auch nicht und läuft wie geschmiert – wenn man genug Schwung holt – von einer Seite des Raumes bis zur anderen.

Im Empfangszimmer hängt ein Tigerschädel über dem Kamin. Der ist fast hundert Jahre alt. Die Motten haben ihm in all der Zeit arg zugesetzt. Staubig und löchrig ist er und ein wenig verblichen. Aber er hängt eben praktisch schon immer da. Tradition nennt man das. Und deshalb bleibt es so. Damals wusste man ja noch nicht, dass man sich keine ausgestopften Viecher an die Wand hängt, hat Klara ihm erklärt. Schon gar keine, die hundert Jahre später vom Aussterben bedroht sind.

Es gibt noch ein Arbeitszimmer mit einem riesigen Schreibtisch, fünf Gästezimmer, drei Bäder und eine verschlossene Tür. Ganz wie sich das für so ein altes Haus gehört. Ein verbotenes Zimmer, das Heinrich nicht betreten darf, über das er nichts wissen darf, weshalb Klara auch kein Wort darüber verlieren wird. Keine einziges. Damit das klar ist.

Alles also gar nicht so schlimm. Wäre Frieda Rost nicht Frieda Rost. Die erste Begegnung mit ihr verhieß schon nichts Gutes. Heinrich hatte gerade seine Koffer in sein neues Zimmer gebracht und war in die Küche gegangen, um sich ein Keks zu holen. Da saß sie. Am Tisch, die knotigen Finger ineinander verschränkt, und starrte ihn an.

„Aha!“, sagte sie.

„Guten Tag!“, erwiderte Heinrich, weil „Aha“ keine richtige Begrüßung ist.

„Wie heißt du?“, fragte Frieda Rost.

„Heinrich.“

„Heinrich?“, wiederholte sie. „Wer nennt sein Kind denn heutzutage noch Heinrich?“

„Meine Eltern wohl“, sagte Heinrich, weil ihm nichts Besseres einfiel.

Frieda schüttelte missbilligend den Kopf. Weil er frech geantwortet hatte oder weil sie den Namen doof fand. Das war Heinrich nicht ganz klar.

„Kannst Tante Frieda zu mir sagen“, schlug sie vor.

Ihr Tonfall klang dabei mehr nach einer heftigen Rüge. Wie: „Spuck gefälligst nicht auf den Küchenboden!“ oder „Iss nicht deine Popel!“ Also zuckte Heinrich zusammen.

„Sie sind nicht meine Tante“, wandte er schnell ein. Nur, damit das klar war.

„Dann eben Frieda“, blaffte sie.

Heinrich nickte.

„Was ist das?“, wollte er wissen und zeigte auf den Stuhl neben ihr.

„Helmut!“, sagte sie. „Das ist Helmut.“

Heinrich stand eine Weile unschlüssig da.

„Helmut?“, wiederholte er schließlich. Mit dieser spärlichen Information konnte er nicht viel anfangen.

„Hab ihn nach meinem seligen Mann benannt. Ist genauso hässlich. Riesige Ohren, kleines verschrumpeltes Gesicht, Falten über Falten und immer dieser mürrische Blick. Ganz wie mein seliger Mann.“

Dann nahm sie Heinrich ins Visier. „Wenn ich es recht bedenke, hast du auch ganz schön große Ohren. Du musst aufpassen, dass du nicht auch irgendwann so aussiehst.“ Sie wurde laut. „Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!“

„Gewarnt? Wovor?“ Heinrich war wirklich verwirrt.

„Vor großen Ohren“, rief sie.

Heinrich wich ein bisschen zurück, schaute zwischen Helmut und Frieda hin und her.

„Okay“, sagte er und räusperte sich. „Aber was ist das?“

„Eine Katze“, behauptete Frieda.

Heinrich kniff die Augen zusammen. „Bist du sicher?“, hakte er nach.

„Natürlich“, sagte sie. „Weil es der Tierarzt gesagt hat, und der muss es ja schließlich wissen. Das Vieh ist eines Tages in meinem Garten gehockt. Zitternd, unter der Veranda. Ich dachte, ein Verrückter hätte die arme Kreatur geschoren.“ Sie streicht Helmut über den faltigen Schädel. „Es gibt ja so viele Verrückte“, fügte sie hinzu. „Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!“

„Wovor?“ Heinrich hatte das gar nicht fragen wollen. Es rutschte ihm einfach heraus.

„Vor den Verrückten“, rief sie.

„Okay. Danke!“, sagte er dann.

„Ist eine Nacktkatze, meinte der Arzt. Und die haben kein Fell und auch keine Schnurrhaare. Das gehört so.“ Sie schaute Helmut verächtlich an. „Von wegen“, blaffte sie. „Das kann ja wohl nicht so gehören. Wer würde denn so ein hässliches Vieh züchten? Du etwa?“

„Nein!“, stellte Heinrich umgehend klar. Einerseits weil er Mitleid mit dem komischen Tier hatte. Helmuts Ohren sind länger als sein Gesicht und jedes ist beinahe genauso breit. Seine Augen sind von einem wässrigen Hellblau, umrahmt von unzähligen Falten, und an den Flanken schlägt seine Haut regelrechte Wellen. Die Knochen ragen trotzdem überall heraus, so dürr ist das Tier. Und dann der Blick! Unverhohlene Verachtung und Abscheu. So etwas zu züchten, wäre Heinrich im Traum nicht eingefallen. Davon abgesehen wollte er sich mit Frieda auf keinen Fall anlegen. Er schüttelte nachdrücklich den Kopf.

„Bestimmt nicht“, bekräftigte er.

„Das will ich dir auch geraten haben“, knurrte sie und tätschelte Helmut den Kopf. „Ich hab ihn also behalten. Hab ja meinen Mann auch nicht ausgesetzt, nur weil er mit den Jahren immer hässlicher geworden ist. Der arme Kerl kann ja nichts dafür.“

Heinrich war nicht klar, ob mit dem armen Kerl nun ihr Mann Helmut oder der Kater Helmut gemeint war. Fürs Erste hatte er genug.

Heinrich lebt jetzt also in einer Seniorenwohngemeinschaft. Jünger als er selbst ist lediglich Klaras Fußmassagegerät, eine Hightech-Kaffeemaschine und Helmut, Falten hin oder her. Nach einer Menge Spaß sieht das nicht aus, wenn man ihn fragt. Aber es fragt eh keiner.

Das ist auch gut so, weil er sich fest vorgenommen hat, dass er explodiert oder so, wenn er zum fünfzigsten Mal hört, dass er Geduld haben muss. Im Moment steht er bei Nummer achtundvierzig. Noch zweimal und dann puff! Heinrichschnitzelchen. Verteilt auf den Teppichen und den dreiundzwanzig blankgeputzten Kommoden.

Nach zwei Wochen hat er nämlich langsam genug von dem ganzen Anpassen und Rücksichtnehmen. Er weiß ja noch nicht, dass Frieda nicht die Verrückteste in seiner Umgebung ist, weil Ludwig Schebesta, der Nachbar, noch viel verrückter ist. Das wird er aber bald herausfinden und dann ist es vorbei mit der Langeweile und mit dem Rücksichtnehmen auch.

Kapitel 2

In dem Heinrich Blickkontakt mit einem Hühnerauge hat und im Garten Mädchen auf Bäumen wachsen

Heinrich sitzt in seinem Zimmer. Es ist sein Zimmer. Irgendwie. Und irgendwie auch nicht. Seine alten Möbel sind da. Damit er sich gleich zu Hause fühlt, meinte Klara. Extra ausgeräumt hat man hier alles. Nur für ihn. Die anderen Möbel stehen nun auf dem Dachboden, unter weißen Laken, wegen des Staubs. Stilmöbel. Kirschholz. Sehr edel. Aber für Heinrich hat man sie gegen seine gewohnte Umgebung ausgetauscht.

So eine Umstellung dauert ja. Man hat Verständnis. So viel Verständnis. Im Gegensatz zu Heinrich. Er versteht nicht, was dieses Zimmer mit seinem alten zu tun haben soll. Sein Bett, sein Schreibtisch, sein Regal, sein Schrank. Das schon, aber das Zeug verschwindet einfach in dem Raum, nimmt sich richtig mickrig aus. Fast doppelt so groß wie sein altes Zimmer ist das neue. Vor dem Fenster ist nicht der Kiosk mit den Comics und Sammelkarten, wie es immer war. Und dabei gibt es hier gleich drei Fenster. Doch wenn man rausschaut: Garten. Nur Garten.

Da muss er jetzt durch. So ein Umzug ist eigentlich auch nichts Besonderes. Schließlich hat Heinrich ja nicht das Land gewechselt oder gar den Kontinent. Nur von einer Stadt in die nächste ist er gezogen. Das ist kein Weltuntergang, meint Klara.

Für einen Elfjährigen aber schon. Kontinent, Land, Stadt. Das macht in dem Alter keinen großen Unterschied. Seine Freunde sind mehr oder weniger unerreichbar. Als Kind kann man nicht einfach in den nächsten Zug steigen, wenn einem danach ist, oder ins Auto. Ich bin dann mal weg, hören Erwachsene nicht gern. Von wegen Verantwortung und was es da sonst noch für Ausreden gibt. Noch dazu, wo der Bahnhof am anderen Ende der Stadt liegt. Für einen Elfjährigen ist die nächste Stadt praktisch eine Weltreise entfernt.

Dann noch Ferien und keine neuen Freunde in Sicht. Mit Urlaub ist es auch Essig. So ein Umzug kostet nämlich eine Menge Geld, hat sein Großvater erklärt. Nächstes Jahr aber dann bestimmt. Dieses Jahr muss es der Garten tun.

Früher hielt er sich nie mehr als ein paar Meter rund um das Haus auf. Jetzt schaut er auf dieses riesige Grundstück. Der Garten hat schon was zu bieten. So ist es nicht. Ist ja auch eher ein Park als ein Garten. Weitläufig, mit vielen alten Bäumen und dichtem Gestrüpp. Der Gärtner ist ein Anhänger des verwilderten Stils. Ob aus Bequemlichkeit oder weil es ihm tatsächlich besser gefällt, lässt sich schwer sagen. Heinrich findet es aber auch schöner mit all den Sträuchern und verwachsenen Wegen. Die akkurat gestutzten Rasenflächen, wo das simple Betreten schon mittlere Nervenzusammenbrüche bei den Besitzern auslösen kann, sind ohnehin langweilig.

So passt der Garten auch gut zum Haus. Eine alte, etwas düstere Villa inmitten eines verwunschenen Gartens. Wäre Heinrich acht, fände er das alles sicher noch toller, mit elf muss er sich da schon etwas anstrengen. Aber weil Jammern einen im Leben nicht weiterbringt, wie man Heinrich tagtäglich aufs Neue versichert, will er sich zumindest ein wenig umsehen. Ein paar Kekse können dabei nicht schaden.

In der Küche sitzt Frieda Rost am großen Tisch. Ein Fuß in ihrem roten Plüschpantoffel, einer nackt auf einen Stuhl drapiert.

„Aha!“, ruft sie, als Heinrich die Küche betritt.

„Hallo!“, erwidert er und vergisst im selben Moment die Keksdose.

Mit Füßen hat er es nicht so. Die riechen manchmal und schauen mitunter komisch aus. Wie Friedas Fuß. Schorfig, rissig, krumme Zehen, gelbliche Nägel und auf dem Ballen des großen Zehs ein Hühnerauge so groß wie ein Zweicentstück.

„Ferdinand schon wieder“, keift sie.

„Heinrich“, antwortet er. „Ich heiße Heinrich.“

„Heinrich?“, echot sie. „Wer nennt denn sein Kind heutzutage noch Heinrich?“

„Schon klar“, sagt Heinrich. Er will den Rückzug antreten. Schnell. Blickkontakt mit einem Hühnerauge ist ihm einfach zu viel.

„Noch nie ein Hühnerauge gehabt?“, will sie wissen.

„Nein!“

„Da hast du Glück gehabt. Ist nichts für Weicheier. Tut höllisch weh. Eine wahre Pein. Gib acht, dass du so etwas nicht bekommst.“ Sie starrt Heinrich abwartend an.

„Okay. Werde ich. Ich schreib es mir gleich auf. Kein Hühnerauge bekommen.“

„Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“

„Nein. Schon klar.“

„So ein Hühnerauge ist eine Hornschwiele mit einem Sporn in der Mitte“, fährt sie fort. „Und der drückt zum aus der Haut fahren.“ Sie schabt mit einer Art Messer daran herum.