Ethan Frome - Edith Wharton - E-Book

Ethan Frome E-Book

Edith Wharton

4,5

Beschreibung

In dem freudlosen, abgeschiedenen Ort Starkfield in Neuengland, der die meiste Zeit des Jahres im Schnee versinkt, sind auch die Gefühle der Menschen zu Eis erstarrt. Die Pulitzerpreisträgerin Edith Wharton erzählt von einer untergegangenen Welt, die in den Figuren ihres berührenden Romans erschreckend lebendig wird. Den Farmer Ethan Frome verbindet eine Dreiecksbeziehung mit seiner Frau und deren jüngerer Cousine Mattie. Ihr Leben ist geprägt von Liebe und Einsamkeit, von sexueller Frustration und moralischer Verzweiflung. Eine archetypische Geschichte von leidenschaftlichem Aufbegehren und tragischer Passivität, von Sprachlosigkeit und der Unfähigkeit, dem Schicksal zu entrinnen. Ein kompositorisches Meisterwerk, pure Erzählmagie!

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Seitenzahl: 188

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Edith Wharton, als Tochter vermögender Eltern 1862 in New York geboren, rebellierte gegen die Zwänge der amerikanischen Upper Class, von denen sie sich schon als junges Mädchen eingeengt fühlte. Sie wollte ihren eigenen Weg gehen, als Schriftstellerin und als Frau. Für ihren berühmtesten Gesellschaftsroman »Zeit der Unschuld« erhielt sie 1921 den Pulitzerpreis und 1923 die Ehrendoktorwürde der Yale University – beide Male als erste weibliche Preisträgerin. Sie hinterließ ein Werk von 47 Romanen sowie zahlreiche Erzählungen und Reiseberichte.

Claudia Wenner, promovierte Literaturwissenschaftlerin, Literaturkritikerin, Herausgeberin, übersetzte u. a. Virginia Woolf, Katherine Mansfield und Raymond Carver. Sie lebt im südindischen Pondicherry und in Frankfurt.

Edith Wharton

Ethan Frome

Aus dem amerikanischen Englischund mit einem Nachwort von Claudia Wenner

Inhalt

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Edith Whartons Einleitung von 1922

Nachwort

Kontakt zum Verlag

Mir war die Geschichte nach und nach von verschiedenen Seiten zu Ohren gekommen, und wie so oft in solchen Fällen war es nie dieselbe Geschichte.

Wer Starkfield, Massachusetts kennt, kennt das Postamt. Und wer das Postamt kennt, hat gewiss Ethan Frome gesehen: Wie er vorfuhr, die Zügel auf das Hohlkreuz seines Braunen fallen ließ, und sich über das Backsteinpflaster zu dem weißen Säulengang schleppte. Und jeder, der ihn gesehen hat, muss sich gefragt haben, wer der Mann sei.

Just an diesem Ort sah ich ihn vor ein paar Jahren zum ersten Mal, und sein Anblick bewirkte, dass ich jäh stehen blieb. Zwar war er schon damals nur noch ein Wrack, jedoch auch die bemerkenswerteste Gestalt in ganz Starkfield: nicht so sehr wegen seines hohen Wuchses, der typisch für die Einheimischen war, die im Unterschied zu den stämmigeren Zugereisten groß und hager waren, sondern weil er achtlos und stark wirkte, trotz einer Lähmung, die bei jedem Schritt wie eine schwere Kette an ihm ruckte. In seinem Gesicht lag etwas Düsteres, Unnahbares, und er war so steif und grau, dass ich ihn für einen alten Mann hielt und verblüfft war, als ich erfuhr, dass er erst zweiundfünfzig war. Das hatte mir Harmon Gow erzählt, der, bevor es Straßenbahnen gab, die Leute von Bettsbridge nach Starkfield kutschierte und daher sämtliche Familiengeschichten auf dieser Route kannte.

»Schon seit seiner Karambolage sieht er so aus; und die ist jetzt fast vierundzwanzig Jahre her, im nächsten Februar«, brachte Harmon hervor und legte dabei ein paar Erinnerungspausen ein.

Die »Karambolage« hatte, das entnahm ich den Worten desselben Gewährsmannes, nicht nur eine tiefe, rote Kerbe in Ethan Fromes Stirn geschnitten, sondern seine rechte Seite so verkürzt und verkrümmt, dass ihn die paar Schritte vom Pferdewagen zum Postschalter sichtlich Mühe kosteten. Jeden Tag fuhr er um die Mittagszeit von seiner Farm zum Postamt, und da auch ich meine Post immer zu dieser Zeit abholte, ging ich in der Säulenvorhalle oft an ihm vorbei oder stand neben ihm, während wir verfolgten, wie die Briefe verteilende Hand sich hinter dem Gitter bewegte. Obwohl Frome immer sehr pünktlich war, bekam er, wie ich bemerkte, meist nur den Bettsbridge Eagle, den er unbesehen in die ausgebeulte Hosentasche steckte. Doch hin und wieder händigte ihm der Postmeister einen Umschlag aus, der an Mrs. Zenobia – oder Mrs. Zeena – adressiert war und an der linken oberen Ecke den Absender eines Markenarzneiherstellers trug sowie den Namen des jeweiligen Heil-Spezifikums. Auch diese Dokumente steckte mein Nachbar unbesehen in die Tasche, als sei er so an sie gewöhnt, dass er gar nicht mehr wissen wollte, wie viele es waren oder wie sie sich unterschieden. Dann nickte er dem Postmeister stumm zu und wandte sich ab.

Alle in Starkfield kannten Ethan und grüßten ihn auf eine Art, die zu seiner ernsten Miene passte; doch respektierte man seine Verschlossenheit, und nur ganz selten hielt ihn einer der älteren Männer an, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Dann hörte er gewöhnlich ruhig zu, blickte den Sprecher mit seinen blauen Augen an und gab so leise Antwort, dass ich nie richtig verstand, was er sagte; dann stieg er steifbeinig in seinen Pferdewagen, sammelte mit der linken Hand die Zügel ein und fuhr langsam zurück zu seiner Farm.

»War es eine schwere Karambolage?«, fragte ich Harmon, während ich der verschwindenden Gestalt Fromes nachblickte, und dachte, wie prächtig sein schmales braunes Haupt mit dem hellen Haarschopf einst auf seinen starken Schultern gesessen haben musste, bevor sie sich so verformten.

»Ganz schlimm«, erklärte mein Gewährsmann. »Die meisten anderen hätten nicht überlebt. Aber die Fromes sind zäh. Ethan wird sicher mal hundert.«

»Lieber Gott!«, rief ich. In dem Augenblick hatte Ethan Frome seinen Sitz erklommen und sich nach hinten gebeugt, um sicherzustellen, dass die Holzkiste, die er im hinteren Teil des Wagens abgestellt hatte – und auf der ebenfalls ein Apothekeretikett klebte – nicht verrutschen konnte; sein Gesichtsausdruck wirkte, als fühlte er sich unbeobachtet. »Dieser Mann soll hundert Jahre werden? Er sieht aus, als sei er mausetot und schmore bereits in der Hölle!«

Harmon holte ein Stück Tabak aus der Tasche, schnitt eine Ecke ab und steckte sie sich in die ledrige Backentasche. »War wohl zu viele Winter in Starkfield. Wer gescheit ist, geht weg.«

»Und warum ist er dageblieben?«

»Einer musste ja nach seinen Leuten sehen. Außer ihm war keiner da. Erst sein Vater – dann seine Mutter – dann seine Frau.«

»Und dann die Karambolage?«

Harmon lachte sardonisch. »So ist es. Er konnte damals nicht fort.«

»Ach so. Und seitdem mussten sie sich um ihn kümmern?«

Harmon schob den Tabak nachdenklich in die andere Backe. »Oh, was das angeht: Ich glaub’, gekümmert hat sich immer nur Ethan.«

Auch wenn Harmon Gow die Geschichte so erzählte, wie es ihm seine Geistesgaben und sein Moralempfinden gestatteten, so gab es doch merkliche Lücken in der Faktenabfolge, und ich hatte das Gefühl, dass der tiefere Sinn der Geschichte in diesen Lücken lag. Doch ein Satz blieb mir im Gedächtnis und diente als Nukleus, um den herum ich meine späteren Schlussfolgerungen gruppierte: »War wohl zu viele Winter in Starkfield.«

Was das bedeutete, sollte ich noch vor Ablauf meines dortigen Aufenthalts erfahren. Doch war ich in jenen dekadenten Tagen gekommen, da Straßenbahnen, Fahrräder und Postzustellungen auf dem Land die Regel geworden waren. Die Kommunikation zwischen den verstreuten Bergdörfern war leicht, und größere Städte in den Tälern – wie Bettsbridge und Shadd’s Falls – besaßen Bibliotheken, Theater und Y.M.C.A.-Säle, wo die Bergjugend sich amüsieren konnte. Als aber der Winter Starkfield einschloss, und das Dorf unter einer Schneedecke lag, auf die es aus bleichem Himmel ständig neu schneite, verstand ich allmählich, wie das Leben – oder vielmehr seine Verneinung – dort gewesen sein musste, als Ethan Frome ein junger Mann war.

Meine Arbeitgeber hatten mich beauftragt, Arbeiten für das große Kraftwerk in Corbury Junction auszuführen, und da sich der Streik der Zimmerleute in die Länge zog, hatte sich die Arbeit so verzögert, dass ich auf einmal für den Großteil des Winters in Starkfield feststeckte – dem nächsten bewohnbaren Fleck. Das ärgerte mich zuerst, doch unter der hypnotisierenden Wirkung der Alltagsroutine fand ich das Leben dort allmählich auf trostlose Art zufriedenstellend. Zu Anfang fiel mir der Gegensatz zwischen dem höchst belebenden Klima und der Leblosigkeit der Dorfgemeinschaft auf. Als die Dezemberschneefälle vorüber waren, ergossen sich Tag für Tag Ströme von Licht und Luft aus dem leuchtend blauen Himmel über die weiße Landschaft, die dann noch intensiver glitzerte. Man sollte meinen, solch eine Atmosphäre begünstige Gefühlswallungen und wecke die Lebensgeister; doch anscheinend bestand die einzige Veränderung darin, dass der träge Pulsschlag von Starkfield noch langsamer wurde. Als ich ein bisschen länger dort war, und erlebt hatte, wie auf diese Phase kristalliner Klarheit lange Kälteperioden ohne einen Sonnenstrahl folgten; wie die Februarstürme ihre weißen Zelte um das treu ergebene Dorf aufschlugen und die wilde Kavallerie der Märzwinde zu ihrer Unterstützung losstürmte, da wurde mir allmählich klar, warum Starkfield nach der sechsmonatigen Belagerung kapitulierte wie eine ausgehungerte Garnison ohne Quartier. Dagegen Widerstand zu leisten, muss vor zwanzig Jahren noch viel schwieriger gewesen sein, zumal der Feind fast alle Zufahrtswege zwischen den belagerten Dörfern kontrollierte; in Anbetracht all dessen spürte ich die unheilvolle Kraft in Harmons Äußerung: »Wer gescheit ist, geht weg.« Doch wenn dem so war, was hatte dann einen Mann wie Ethan Frome daran gehindert, die Flucht zu ergreifen?

Während meines Aufenthalts in Starkfield wohnte ich bei einer Witwe mittleren Alters, die alle nur als Mrs. Ned Hale kannten. Mrs. Hales Vater war der Dorfadvokat der älteren Generation gewesen, und »Anwalt Varnums Haus«, in dem meine Vermieterin immer noch mit ihrer Mutter wohnte, war das stattlichste Herrenhaus im Dorf. Es befand sich am Ende der Hauptstraße, hatte einen klassischen Portikus und Fenster mit kleinen, unterteilten Fensterscheiben, durch die man auf einen mit Steinplatten belegten Weg zwischen Fichten blickte, der zum schlanken, weißen Turm der Kirche der freien Gemeinden führte. Das Vermögen der Varnums war offensichtlich zur Neige gegangen, doch die beiden Frauen taten ihr Bestes, um ihre Würde zu wahren; besonders Mrs. Hale war von einer gewissen matten Vornehmheit, die durchaus mit ihrem blassen, altmodischen Haus harmonierte.

Im »Salon« mit dem Mahagoni und den schwarzen Rosshaarbezügen, den eine gluckernde Carcellampe schwach beleuchtete, lauschte ich jeden Abend einer anderen, jeweils feiner schattierten Version der Starkfieldchronik. Nicht dass Mrs. Ned Hale sich den anderen überlegen gefühlt oder sich dünkelhaft benommen hätte; sie hatte nur zufällig mehr Feingefühl und ein wenig mehr Bildung, und konnte sich deshalb so weit von ihren Nachbarn distanzieren, dass sie imstande war, sie unvoreingenommen zu beurteilen. Sie war durchaus willens, von diesem Talent Gebrauch zu machen, und ich hegte große Hoffnungen, all die Dinge von ihr zu erfahren, die in Ethan Fromes Geschichte noch fehlten, oder vielmehr einen Schlüssel zu seinem Charakter zu erhalten, der mir helfen würde, die mir bereits bekannten Fakten richtig anzuordnen. Mrs. Ned Hale hatte eine Schatzkammer an harmlosen Anekdoten im Kopf, und wenn man sie nach ihren Bekannten fragte, erhielt man Details in Hülle und Fülle; kam die Rede jedoch auf Ethan Frome, fand ich sie wider Erwarten wortkarg. Ihre Reserviertheit hatte nichts Missbilligendes; ich spürte nur ihren unüberwindlichen Widerwillen, über ihn oder seine Angelegenheiten zu sprechen, und ein leises »Ja, ich kannte die beiden … es war furchtbar …« schien in ihrer Pein das äußerste Zugeständnis zu sein, das sie an meine Neugierde machen konnte.

Ihr Verhalten veränderte sich jedes Mal so merklich, und löste etwas so Tieftrauriges in ihr aus, dass ich, an meinem Taktgefühl zweifelnd, den Fall noch einmal meinem Dorforakel Harmon Gow vortrug – der meine Bemühungen jedoch nur mit einem verständnislosen Grunzen quittierte.

»Ruth Varnum war schon immer ein nervöses Hinkel; dabei fällt mir ein, dass sie die Erste war, die die beiden zu Gesicht bekam, nachdem man sie geborgen hatte. Es ist direkt unterhalb von Anwalt Varnums Haus passiert, unten in der Corbury Road an der Kurve, ungefähr zu der Zeit, da Ruth sich mit Ned Hale verlobte. Die jungen Leute waren alle miteinander befreundet, und ich schätze, sie kann einfach nicht darüber reden. Sie hatte selber genug Scherereien.«

Wie die Einwohner namhafterer Gemeinden, so hatten auch die Starkfielder genügend eigene Scherereien, weswegen ihnen die Nöte der Nachbarn verhältnismäßig gleichgültig waren; und obwohl alle zugaben, dass Ethan Fromes Nöte jedes Maß überstiegen, hatte keiner eine Erklärung für seinen Gesichtsausdruck, der, wie ich beharrlich denken musste, weder durch Armut noch körperliches Leiden entstanden sein konnte. Dennoch hätte ich mich vielleicht mit einer aus Andeutungen zusammengestückelten Geschichte zufriedengegeben, wäre da nicht Mrs. Hales provozierendes Schweigen gewesen, und wäre ich nicht – etwas später – dem Mann durch Zufall persönlich begegnet.

Denis Eady, der reiche irische Lebensmittelhändler, der in Starkfield eine Art Fuhrunternehmen besaß, hatte bei meiner Ankunft mit mir vereinbart, mich täglich nach Corbury Flats zu fahren, wo ich den Zug nach Corbury Junction nehmen musste. Doch mitten im Winter erkrankten Eadys Pferde an einer Seuche, die in der Gegend ausgebrochen war. Sie verbreitete sich auch auf andere Ställe in Stark-field, und ein, zwei Tage lang suchte ich händeringend nach einer Beförderungsmöglichkeit. Harmon Gow meinte dann, Ethan Fromes Brauner sei noch auf den Beinen, und sein Besitzer fahre mich sicher gerne.

Ich blickte Harmon erstaunt an. »Ethan Frome? Aber ich habe noch nie ein Wort mit ihm gewechselt. Warum um alles in der Welt sollte er sich wegen mir Umstände machen?«

Über Harmons Antwort war ich noch erstaunter: »Das weiß ich auch nicht; aber ich weiß, dass er sich gern ein paar Dollar verdient.«

Ich hatte gehört, dass Frome arm war, und dass die Sägemühle und das unergiebige Farmland kaum genug abwarfen, um seinen Haushalt durch den Winter zu bringen; aber ich hätte nie gedacht, dass er so bedürftig war, wie Harmons Worte nahelegten, und ich machte aus meiner Verwunderung keinen Hehl.

»Na ja, es ist ihm nicht gerade gut ergangen«, sagte Harmon. »Wenn jemand über zwanzig Jahre lang wie ein Wrack herumsitzt und lauter Dinge sieht, die getan werden müssten, dann nagt das an ihm und er verliert allen Mumm. Die Frome Farm war schon immer blank wie eine Milchschale, wenn die Katze da war; und Sie wissen ja, wie viel so eine alte Wassermühle heutzutage wert ist. Als Ethan noch von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang geschuftet hat, hat er mit Ach und Krach seinen Lebensunterhalt verdient; aber seine Leute haben ihm schon damals die Haare vom Kopf gegessen, und ich versteh’ nicht, wie er jetzt über die Runden kommt. Erst hat sein Vater beim Heuen einen Tritt bekommen und den Verstand verloren – hat vor seinem Tod mit Geld um sich geworfen als seien es Bibelsprüche. Dann ist seine Mutter wunderlich geworden und hat sich jahrelang dahingeschleppt, schwach wie ein Säugling; und seine Frau Zeena, die war schon immer gut darin, sich überall in der Gegend von Ärzten behandeln zu lassen. Krankheit und Sorgen: davon hat Ethan mehr als genug abgekriegt, und zwar seit jeher.«

Als ich am nächsten Morgen aus dem Fenster blickte, sah ich den Braunen mit dem Hohlkreuz zwischen den Fichten der Varnums: Ethan Frome schlug das abgewetzte Bärenfell zurück und machte mir neben sich Platz im Schlitten. Eine Woche lang fuhr er mich jeden Morgen nach Corbury Flats und wenn ich nachmittags wiederkam, holte er mich ab und fuhr mich durch die eisige Nacht nach Starkfield zurück. Pro Strecke waren es nicht einmal drei Meilen, doch der alte Braune war nicht der Schnellste, und selbst wenn der Schnee unter den Kufen fest genug war, brauchten wir jedes Mal fast eine Stunde. Ethan Frome fuhr schweigend, die Zügel lose in der linken Hand, und sein braunes, zernarbtes Profil unter dem helmartigen Kappenschirm hob sich von den Schneewällen ab wie das Bronzebild eines Helden. Er wandte mir nie das Gesicht zu, und antwortete höchst einsilbig auf meine Fragen oder auf die harmlosen Scherze, die ich mir erlaubte. Er wirkte wie ein Teil der stummen, melancholischen Landschaft, wie die Verkörperung ihres gefrorenen Leids, während er alles, was warm und empfindungsfähig an ihm war, tief in sich verschnürt hatte. Sein Schweigen hatte jedoch nichts Unfreundliches: Ich spürte einfach, dass er innerlich abgrundtief isoliert war, und dass niemand leicht Zugang zu ihm bekam. Auch hatte ich das Gefühl, dass seine Einsamkeit nicht nur auf seine persönliche, missliche Lage zurückzuführen war, so tragisch diese auch sein mochte, sondern dass sie zudem, wie Harmon Gow angedeutet hatte, die gespeicherte Eiseskälte vieler Starkfield-Winter in sich barg.

Nur ein-, zweimal ließ sich die Distanz zwischen uns einen Augenblick lang überbrücken; und der so entstandene, flüchtige Eindruck bestärkte mich in dem Wunsch, mehr zu erfahren. Einmal erzählte ich beiläufig, dass ich im Jahr zuvor als Ingenieur in Florida gearbeitet hatte. Ich sprach über den Gegensatz zwischen der Winterlandschaft ringsum und der Umgebung, in der ich mich letztes Jahr befunden hatte, und zu meiner Überraschung sagte Frome plötzlich: »Ja, da bin ich auch mal gewesen. Und hinterher hatte ich das Bild noch lange vor Augen – als hier längst wieder Winter war. Aber das ist jetzt alles zugeschneit.«

Mehr sagte er nicht, und ich musste den Rest aus seinem veränderten Tonfall erraten und aus seinem Schweigen, in das er plötzlich wieder verfiel.

Als ich ein andermal in Corbury Flats in den Zug stieg, vermisste ich ein populärwissenschaftliches Buch – über eine kürzlich in der Biochemie gemachte Entdeckung – das ich mir als Lektüre für unterwegs eingesteckt hatte. Das Buch fiel mir erst wieder ein, als ich abends in den Schlitten stieg und sah, dass Frome es in der Hand hielt.

»Das hab’ ich gefunden, als Sie schon fort waren«, sagte er.

Ich steckte das Buch in die Hosentasche und dann verfielen wir wieder in unser gewohntes Schweigen; als wir jedoch den langen Weg von Corbury Flats zum Bergkamm von Starkfield hinaufkrochen, merkte ich in der Abenddämmerung, dass er mir das Gesicht zugewandt hatte.

»In diesem Buch stehen Dinge, von denen ich noch nie gehört habe«, sagte er.

Nicht so sehr seine Worte, sondern der seltsame Unmut seines Tons erstaunten mich. Er war ganz offensichtlich über seine Unwissenheit überrascht und auch ein wenig betrübt.

»Interessiert Sie sowas denn?«, fragte ich.

»Früher mal.«

»In dem Buch stehen ein, zwei recht neue Sachen: Auf diesem Forschungsgebiet ist man kürzlich ein paar große Schritte weitergekommen.« Ich wartete kurz auf eine Antwort, die jedoch ausblieb, und sagte dann: »Wenn Sie das Buch durchgehen möchten, lass ich es Ihnen gerne da.«

Er zögerte, und ich hatte den Eindruck, er sei nahe daran, sich einer Trägheit zu überlassen, die ihn unmerklich überflutete; dann sagte er kurz angebunden: »Danke – ich nehme es mit.«

Ich hoffte, wir würden uns fortan direkter verständigen. Frome war so schlicht und aufrichtig, dass das Buch, daran hegte ich keinen Zweifel, seine Neugier geweckt hatte, weil er sich ernsthaft für das Thema interessierte. Derlei Neigungen und Kenntnisse bei einem Mann in seiner Verfassung erhöhten den Kontrast zwischen seiner äußeren Lage und den Bedürfnissen seines Innenlebens beträchtlich, und ich hegte die Hoffnung, dass die Chance, letzterem Ausdruck zu verleihen, ihn endlich zum Sprechen bringen würde. Doch offenbar hatte ihn etwas in seiner Vergangenheit oder in seinem jetzigen Leben so tief in sich selbst hineingetrieben, dass keine beiläufige Regung ihn veranlassen konnte, zu seinen Mitmenschen zurückzukehren. Als wir uns das nächste Mal begegneten, erwähnte er das Buch mit keinem Wort, und unser Umgang schien dazu verdammt zu sein, weiterhin unergiebig und einseitig zu bleiben, als hätte Frome seine Reserviertheit nie unterbrochen.

Er hatte mich etwa eine Woche lang jeden Tag nach Corbury Flats gefahren, als ich eines Morgens durchs Fenster in dichtes Schneetreiben blickte. Die sich in Wellen vor dem Gartenzaun und entlang der Kirchmauer auftürmenden weißen Schneeberge zeigten, dass der Sturm die ganze Nacht gedauert haben musste, und dass die Schneewehen über Land bestimmt heftig sein würden. Wahrscheinlich würde mein Zug Verspätung haben; doch musste ich an jenem Nachmittag für ein, zwei Stunden ins Elektrizitätswerk und beschloss, falls Frome auftauchte, nach Flats vorzudringen und dort auf meinen Zug zu warten. Ich weiß jedoch gar nicht, warum ich »falls« sage, denn ich hatte keinerlei Zweifel, dass Frome kommen würde. Er war nicht der Mann, der sich durch Wetterkapriolen von seinen Geschäften abhalten ließ; und tatsächlich kam sein Schlitten zur verabredeten Stunde durch den Schnee geglitten, als erschiene er hinter immer dichter werdenden Gazeschleiern auf einer Bühne.

Ich kannte Frome mittlerweile gut genug und brachte daher weder mein Erstaunen noch meine Dankbarkeit dafür zum Ausdruck, dass er unsere Verabredung eingehalten hatte; doch als ich sah, dass er sein Pferd nicht in die Corbury Road, sondern in die entgegengesetzte Richtung lenkte, stieß ich einen Überraschungsschrei aus.

»Die Gleise sind von einem Güterzug blockiert, der unterhalb von Flats in einer Schneewehe steckt«, erklärte er, während wir gemächlich in das stechende Weiß davontrabten.

»Warten Sie – wo fahren Sie mich denn hin?«

»Direkt zur Junction, auf kürzestem Weg«, gab er zur Antwort, und deutete mit seiner Peitsche zum Schulhausberg hinauf.

»Zur Junction – bei dem Sturm? Das sind ja gute zehn Meilen!«

»Der Braune schafft das, wenn wir ihm Zeit lassen. Sie meinten, Sie hätten dort heute Nachmittag etwas zu erledigen. Ich sorge dafür, dass Sie hinkommen.«

Er sagte es so leise, dass ich ihm nur antworten konnte: »Damit tun sie mir einen Riesengefallen.«

»Schon gut«, erwiderte er.

Auf der Höhe des Schulhauses gabelte sich die Straße, und wir tauchten nach links in eine Gasse, zwischen Hemlocktannen hindurch, deren Äste sich unter der Schneelast zu den Stämmen bogen. An Sonntagen war ich den Weg oft gegangen und wusste deshalb, dass das einsame Dach, das man durch die kahlen Zweige am unteren Ende des Hügels sah, zu Fromes Sägemühle gehörte. Mit ihrem stillstehenden Rad, das über dem schwarzen, von gelb-weißem Schaum durchsetzten Bach aufragte, und den sich dort drängenden Schuppen, die sich unter der weißen Last niedersenkten, wirkte sie recht leblos. Als wir daran vorbeifuhren, würdigte Frome sie keines Blickes, und wir fuhren stumm wieder bergauf. Auf einer mir ganz unbekannten Straße gelangten wir nach etwa einer Meile zu einem Obstgarten, wo sich verkümmerte Apfelbäume über den Hang krümmten, zwischen denen Schiefernasen hervorlugten, die sich durch den Schnee wühlten wie nach Atem ringende Tierschnauzen. Hinter dem Obstgarten lagen ein, zwei Felder, deren Ränder unter Schneewehen verschwanden; und oberhalb der Felder kauerte vor der weißen Weite aus Land und Himmel eine einsame Neuengland-Farm, durch die die Landschaft noch einsamer wirkte.

»Das ist mein Hof«, sagte Frome und ließ seinen lahmen Ellenbogen zur Seite schnellen; der Anblick war so ungemein bedrückend, dass ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Es hatte aufgehört zu schneien, und die Sonne lugte einen Moment lang fahl hervor, sodass das Haus am Hang über uns in seiner ganzen traurigen Hässlichkeit zu sehen war. Der schwarze Schemen einer laublosen Kletterpflanze bewegte sich an der Veranda hin und her, und die dünnen Holzwände schienen unter der abblätternden Farbe im Wind zu zittern, der bereits wehte, seit es nicht mehr schneite.

»Als mein Vater noch gelebt hat, war das Haus größer: das ›L‹ hab’ ich vor kurzem abreißen müssen«, fuhr Frome fort und zog am linken Zügel, weil der Braune ganz offensichtlich vorhatte, durch das eingestürzte Tor zu biegen.