Eugen Aram - Edward Bulwer-Lytton - E-Book

Eugen Aram E-Book

Edward Bulwer Lytton

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Beschreibung

Im Mittelpunkt der Kriminalerzählung Eugen Aram des englischen Autors Edward Bulwer-Lytton aus dem Jahre 1831 steht der Gelehrte Eugen Aram, der in Yorkshire in der Nähe des Gutes des Grafen Rowland Lester ein einsames Anwesen bewohnt. Aram, ein allseits geschätzter Mann, scheint den Freuden des Lebens abgeschworen zu haben und nur für seine Wissenschaft und Philosophie zu leben. Als Aram der schönen Madeline, der Tochter des Grafen Lester begegnet, gewinnt er fast gegen seinen Willen die Liebe der jungen Frau. Durch den Besuch eines unheimlichen Fremden fällt schon bald ein Schatten auf die Hoffnungen und Erwartungen der beiden Liebenden. Aram scheint zwielichtige Bekannte zu haben und in dunkle Machenschaften verstrickt zu sein; was die junge Madeline beunruhigt, ihrer Liebe zu dem von ihr auserwählten Mann aber keinen Abbruch tut. Einzig Madelines Cousin, der junge Walter Lester, der eifersüchtige Gefühle gegenüber Aram empfindet, mißtraut dem Gelehrten. Um sich von der Enttäuschung in seiner Liebe zu Madeline abzulenken, macht Walter sich zusammen mit dem Korporal Jakob Bunting auf die Suche nach seinem verschwundenen Vater, von dem man seit vierzehn Jahren nichts vernommen hat. Die abenteuerliche Reise der beiden Männer hat ungeahnte Folgen. Der Text der vorliegenden Ausgabe folgt in sorgfältiger Überarbeitung den Übersetzungen von Friedrich Notter aus dem Jahr 1832 und von Theodor Roth aus dem Jahr 1840.

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Inhaltsverzeichnis

Ein Dorf und seine Geheimnisse

Der Fremde

Eine unheimliche Begegnung

Ein einsamer Gelehrter

Ein Spaziergang

Arams Unterredung mit Walter

Die Macht der Liebe

Das Vorrecht des Genies

Ein Angler und Weltkundiger

Der Streit der Nebenbuhler

Der Korporal und sein Liebling

Walters Verdruß

Heiratspläne

Ein Edelmann mit Schwächen

Ein tieferer Blick in das Herz des Gelehrten

Walter und der Korporal

Sir Peter in seiner wahren Gestalt

Überraschende Nachrichten

Die Kümmernisse eines Korporals

Betrug und Gewalt

Aram und der Fremde

Neuer Schrecken im Dorf

Kriegerische Vorbereitungen

Die Schwestern allein

Aram auf den Bergen

Eine furchtbare Nacht

Pertinax Fillgrave

Eine weitere Expedition

Neue Spuren

Briefe und dunkle Gewalten

Die Straßen von London

Die Themse bei Nacht

Eine Wiederkehr

Der Fatalist vergißt das Fatum

Die Zigeunerzelte

Der Wirt und der Geistliche

Ein Geständnis

Der Hochzeitsmorgen

Die Unterbrechung

Aram im Gefängnis

Die Bruderskinder

Das Gericht

Der Tod

Das Schicksal

Des Wanderers Wiederkehr

Impressum

Ein Dorf und seine Geheimnisse

In der Grafschaft *** liegt ein einsames Dörfchen, das ich oft Gelegenheit hatte zu durchwandern, und woraus ich immer nur ungern und nicht ohne ein gewisses Widerstreben schied. Nicht bloß, daß es wirklich der Ort einer Geschichte ist, die mir trotz ihrer Furchtbarkeit von besonderem Interesse erscheint, sodass sie eine magische Gewalt auf meine Phantasie ausübt: – der Schauplatz selbst ist von der Art, daß er keiner darangeknüpften Sage bedarf, um die Aufmerksamkeit des Reisenden zu fesseln. In keinem Teile der Welt, wohin mich mein Schicksal geführt hat, kenn' ich eine so durchaus liebliche und malerische Landschaft, wie diejenige, welche auf jeder Seite des Dorfes, wovon ich rede, dem Auge sich darbietet. Das Örtchen, dem ich hier den Namen Grassdale geben will, liegt in einer Vertiefung, die sich ungefähr eine halbe Stunde weit, zwischen zwei Ketten sanfter, fruchtbarer Hügel, durch Gärten und fruchtbelastete Obstanlagen hinzieht.

Einzeln oder gruppenweise erblickt man da Bauernhäuser, die eine Behaglichkeit, einen ländlichen Luxus verraten, der im allgemeinen lange nicht so oft, als unsere Dichter meinen, das Abzeichen des englischen Landvolkes ist. Wo man Blumen in einem Bauerngärtchen oder einen Vogelkäfig am Fenster sieht, darf man versichert sein, daß die Bewohner des Hauses besser und verständiger als ihre Nachbarn sind. Dergleichen bescheidene Andeutungen eines über die nackte Plage des Lebens hinausreichenden Sinnes traf man – um uns sofort in eine bereits vergangene Zeit zu versetzen – fast an jeder der anspruchslosen Hütten Grassdales. Hier rankten Jasmin, dort wilde Reben über den Thürpfosten, nicht so durcheinander, daß man hätte annehmen können, sie wären gänzlich sich selbst überlassen gewesen, aber auch nicht so dicht, daß sie den Bewohnern die Luft abhielten, sondern wie zur Durchwürzung von dieser bestimmt. Jedes Häuschen hatte hinter sich eine Strecke Gartenland für die nützlichen und nahrungschaffenden Naturerzeugnisse, während die Mehrzahl sich von der wenig betretenen Landstraße noch durch ein kleines Beet für Wolfsbohnen, spanische Wicken oder die mannigfachen Spielarten der englischen Rose abgrenzte. Die Bienen flogen in größeren Schwärmen nach Grassdale, als nach irgend einem anderen Teil des reichen, wohlbebauten Bezirks.

Ein kleiner Anger, von einem Bach durchschnitten, den Bandweiden und gestutzte, wunderlich gestaltete Zwergbäume einfaßten, bot Futter für einige Kühe und das gefährtenlose Pferd des einzigen Kärrners. Das Bächlein selbst war nicht ohne einen gewissen Ruf unter der edeln Anglerzunft, der Brüderschaft, welche unsere Vereine der englischen Barmherzigkeit gegen die Tierwelt zum Trotz in Schutz nehmen; und dieser Ruf zog dem Dorf willkommene zeitweilig wiederkehrende Wanderer zu, durch welche es sein bißchen Kenntnis von der großen Welt geliefert bekam, sowie durch sie die einzige kleine Herberge des Ortes für anständigen Gebrauch geeignet erhalten wurde. Nicht als hätte Peter Dealtry, der Eigentümer des »Scheckigen Hundes,« sich mit dem Gewinn seiner Gastwirtschaft zufrieden gegeben; vielmehr verband er damit noch die leichten Mühen für eine kleine Pachtung, die er von einem reichen, leutseligen Herrn übernommen hatte, und da er überdies mit der Würde eines Kirchenschreibers bekleidet war, so galt er bei seinen Nachbarn als eine Person von nicht geringen Gaben und bedeutender Würde.

Er war ein kleines, dünnes Männchen, eher zur stillen Betrachtung als zum Scherz aufgelegt; den Kopf voller Phrasen aus Psalmen und geistlichen Liedern, auf welchen letztern, da sie dem Ohr der Dorfbewohner weniger bekannt klangen als die erstern, starker Verdacht ruhte, daß sie sein eigenes Werk seien. Dies gab seinem Gespräch mitunter eine dichterische, halb religiöse Färbung, die eher seiner Würde in der Kirche als seiner Stellung im »Scheckigen Hund« entsprach. Gleichwohl schien er auch den Späßen des letzteren nicht gram, wenn sie nur feiner und anständiger Natur waren; ja er verschmähte auch nicht, sich mit minder zarten und begabten Gästen zum eigenen Wein niederzusetzen.

In der Mitte des Dorfes stieß man auf ein frisch geweißtes Haus, an welchem die beschnittene Hecke, sowie das nette, neu ausgebesserte Geländer, welches zu der Wohnung führte, auf eine strenge Ordnungsliebe des Besitzers schließen ließen. Hier wohnte der Stutzer und Hagestolz des Örtchens, der trotz seines Alters immer noch Gegenstand großer Aufmerksamkeit und einiger Hoffnung von seiten der betagteren Jungfrauen der Nachbarschaft war, was gleichwohl den jüngeren Teil der Gemeinde nicht hinderte, sich ein wenig über ihn lustig zu machen. Jakob Bunting, so hieß dieser Ehrenmann, hatte viele Jahre in königlichen Diensten gestanden, worin er es bis zum Rang eines Korporals gebracht und ein kleines Vermögen mühsam zusammengespart hatte, wovon er nun die Miete für sein Häuschen entrichtete und nach seinem Gefallen lebte. Er hatte einen guten Teil der Welt gesehen und die Erfahrung einen verschlagenen Kopf aus ihm gemacht; alle überflüssige Frömmigkeit aber war von ihm zugleich mit seinen Vorurteilen weggewischt worden, und obwohl er öfter als irgend ein anderer mit dem Wirt vom »Scheckigen Hund« trank, haderte er doch auch am häufigsten mit ihm und zeigte am wenigsten Nachsicht mit den Psalmenfragmenten des Gastwirts.

Jakob war eine stattliche, kerzengerade Persönlichkeit; der Rock, an dem man die Fäden zählen konnte, auf's sorgfältigste gebürstet; das Haar zu beiden Seiten mit strenger Genauigkeit in zwei harte, standhafte Locken, auf dem Scheitel aber in einen Hahnenkamm gekleistert, wie er das Ding zu nennen pflegte, das eigentlich einem Dachziegel weit ähnlicher sah. Seine Art sich auszudrücken hatte etwas Eigentümliches; gewöhnlich bediente er sich einer schnellen, kurzen, abgebrochenen Weise, die ohne jeden Überfluß an Vor- und Bindewörtern im Sturmschritt auf der Rede Sinn losging und einen soldatenhaften und spartanischen Charakter an sich trug; Beweis genug, wie schwer es oft für einen Mann wird, zu vergessen, daß er Korporal gewesen. Gelegentlich freilich verlor er sich in eine breitere, weniger heidnische Manier, mit des Königs Englisch umzugehen, doch war solches hauptsächlich nur dann bemerkbar, wenn er vom Sprechen ins Predigen geriet, eine Schwelgerei, welcher sich hinzugeben der edle Krieger gar sehr liebte, denn er hatte vieles gesehen und über einiges sich seine Gedanken gemacht. Und da er sich, sonderbar genug für einen Korporal, auf seine Weltkunde mehr als selbst auf seine Kriegskunde zu gute that, so ließ er nicht leicht eine Gelegenheit vorüber, einen geduldigen Hörer mit dem Ergebnis seiner Beobachtungen zu erbauen.

Kam man zufällig der Thür des Veteranen nahe, wo er gewöhnlich, falls er nicht mit Nachbar Dealtry trank oder seinen Thee mit Gevatter So oder Meister So schlürfte, oder ein paar lernbegierige Jungen im Gebrauch des Säbels unterrichtete oder Forellen in dem Bache fing, – nicht selten auf einer rauhen Bank saß und mit halb geschlossenen Augen, gekreuzten Beinen, aber stets unweigerlich gerader Stellung, im Genuß seiner Pfeife schwelgte, – dann schlenderte man aufs Geratewohl vollends über einen hölzernen Steg, unter welchem, klar und bescheiden, das schon erwähnte Bächlein hinrann, und gelangte nach einem Gange von wenigen Minuten vor einem mäßig großen, altertümlich geformten Gebäude, dem Herrenhause des Kirchspiels an. Es stand hart am Fuß des Hügels; dichtes, altes Weiden- und Erlengebüsch im Hintergrund hob die ausnehmende Frische und den grünen Glanz eines Fleckchens Wiese heraus, das unmittelbar vor dem Thor lag. Der Garten wurde auf der einen Seite vom Dorfkirchhof mit seinen einfachen Grabhügeln und wenigen niederen Denksteinen begrenzt. Die Kirche war sehr alt, und nur von einer einzigen Stelle aus bekam man mehr als einen Schimmer ihres grauen Turms und dessen zierlich auslaufender Spitze zu sehen, so dick und dunkel schlossen sich Eiben- und Lärchenbäume um das Gebäude her. Dem Thor gegenüber, durch das man in das Schloß gelangte, war die Aussicht reich an Gehölz und Weidegrund und durch einen Hügel geschlossen, der Schafherden auf seinem Rücken trug; ganz in der Nähe sah man das dunkelnde, fortrieselnde Bächlein, bis es dem Auge, wenn auch nicht dem Ohr, unter dem Buschwerk entschwand.

An dem gebräunten Lattenwerk zu beiden Seiten des Thors waren Spaliere ländlicher Obstarten hinaufgezogen, während Früchte und Blumen, in deren Anpflanzungen grüne und gewundene Baumgänge nicht ohne geschmackvolle Anlage hinliefen, durch ihr kräftiges gesundes Aussehen die Sorgfalt bekundeten, welche man auf sie zu verwenden pflegte. Der Stolz des Gartens war auf einer Seite ein gewaltiger Roßkastanienbaum, der dickste im ganzen Dorfe; auf der anderen eine nach außen mit Geißblatt bedeckte, inwendig mit Moos ausgekleidete Laube. Das Haus selbst, ein graues, wunderliches Gebäude aus der Zeit Jakobs I., mit vorspringenden Steingesimsen und einem Giebeldach, hätte in jetziger Zeit kaum als ein geeigneter Aufenthalt für den Gutsherrn scheinen dürfen. Fast die ganze Mitte desselben wurde durch die Halle eingenommen, wo die Familie gewöhnlich zu speisen pflegte: außer jener waren vom Baumeister nur noch zwei anständige Zimmer von sehr mäßigem Raum der Bequemlichkeit oder Prunksucht des Besitzers vorbehalten worden. Ein großes Portal sprang vom Hauptgebäude vor, welches ganz mit Epheu überzogen war, wie die Fenster mit Jasmin und Geißblatt; innerhalb des Portals standen Sitze umher, bedeckt mit manchem roh eingeschnittenen Anfangsbuchstaben und dem Datum längst verflossener Tage.

Der Herr des Schlößchens hieß Rowland Lester. Seine Vorfahren, ohne ein hohes Alter der Familie in Anspruch zu nehmen, hatten doch schon seit zwei Jahrhunderten die Würde der Squires von Grassdale inne, und Rowland Lester mochte leichtlich der erste des Stammes gewesen sein, der über fünfzig Meilen von dem Hause weggekommen, worin der Reihe nach jeder seiner Ahnen geboren worden, und von dem grünen Kirchhof, worin eines jeden Todestag noch jetzt verzeichnet stand. Der nunmehrige Besitzer war ein Mann von gebildetem Geschmack. Anlagen, die ihrer Natur nach nicht weit übers mittelmäßige hinausgingen, hatte er durch Reisen und Studien gehoben. Er und ein jüngerer Bruder waren früh Herren ihres Schicksals und ihrer verschiedenen Erbteile geworden. Im Jüngern, Geoffrey, ließ sich bald ein unstäter, zur Verschwendung neigender Hang bemerken. Kühn, zügellos, ausschweifend, ohne Grundsätze, erschöpfte sein Lebenswandel bald das spärliche Vermögen eines jüngeren Sohnes aus dem Hause eines Landedelmanns. Schon früh geriet er in sehr mißliche Umstände, aber nie schienen diese ganz Meister über ihn zu werden; eine unerwartete Wendung, ein günstiger Zufall hatte sich jedesmal eben im Moment eingestellt, wo man glauben mußte, das Glück sei gänzlich von ihm gewichen.

Zu diesen günstigeren Strömungen in der Flut seiner Angelegenheiten gehörte, als er ungefähr vierzig Jahre alt war, die plötzliche Heirat mit einer jungen Dame, deren äußere Glücksumstände im Verhältnis zu Geoffrey Lesters Rang und den mäßigen Ausgaben jener Zeit, ganz zureichend und hübsch genannt werden konnten. Unglücklicherweise jedoch war diese Frau weder von schöner Gestalt noch von sanfter Gemütsart, und nach wenigen Jahren des Streites und Zankes schied eines Morgens der ungetreue Gatte, nachdem er alles, was von dem Vermögen noch übrig war, zusammengerafft, ohne vorherige Anzeige noch Abschied vom ehelichen Herde. Seiner Frau ließ er nichts als sein Haus, seine Schulden und sein einziges Kind, einen Knaben. Von dieser Zeit bis auf die Periode, welche uns jetzt beschäftigt, hatte man über den Entwichenen wenig erfahren, obwohl manche Vermutung aufgestellt worden war. In den ersten Jahren nach seinem Verschwinden kam man seinem Schicksal soweit auf die Spur, als sich ergab, er sei einmal in Indien gesehen worden und noch vorher einem Verwandten in England unter einem angenommenen Namen begegnet; Beweis genug, daß seine Beschäftigung, worin sie auch bestehen mochte, schwerlich sehr ehrenhaft sein konnte. In der letzten Zeit dagegen war durchaus nichts mehr über den Herumschwärmer bekannt geworden. Einige hielten ihn für tot; die meisten hatten ihn vergessen. Die, welche in näherem Verhältnis zu ihm standen, vor allen sein Bruder, nährten den geheimen Glauben, daß wo immer Geoffrey Lester wieder hervortreten möge, seine Schuhe – um den bezeichnenden sprichwörtlichen Ausdruck zu gebrauchen – besohlt sein würden und das gewohnte Glück des Taugenichtses dafür Sorge trüge, daß der Verlorene dereinst aus Ostindien zurückkehrte, beladen mit der Ausbeute des Morgenlandes und eifrigst beflissen, auf seine Verwandten zur Entschädigung für sein langes Herumstreichen »mit reichster Hand Gold und Perlen« auszustreuen.

Doch wir müssen zu der verlassenen Gattin zurückkehren. In der plötzlich hereingebrochenen Not blieb Mistreß Lester bloß der Ausweg, sich an ihren Schwager um Hilfe zu wenden, von welchem der Flüchtling allerdings nicht geschieden war, ohne ihn bei mehreren Gelegenheiten für ein solches Ansinnen vorbereitet zu haben. Schnell und edelmütig folgte Rowland dem an ihn ergangenen Ruf, nahm Kind und Frau in sein Haus auf, befreite die letztere von der Verfolgung aller gesetzlichen Schuldforderungen, und nach Verkauf alles übrig gebliebenen Eigentums überließ er den ganzen Erlös der verlassenen Familie, ohne seine Ausgaben für sie in Anschlag zu bringen, so wenig er selbst auch in Verhältnissen lebte, die für eine solche aufopfernde Selbsthintansetzung geeignet waren. Die Frau bedurfte der Freistätte an seinem Herd nicht lange; wenige Monate nach Geoffreys Entweichung starb die Unglückliche an einem schleichenden Fieber, das Entrüstung und Kummer ihr zugezogen hatten. Ihren Sohn der Fürsorge des gütigen Oheims zu empfehlen hatte sie nicht erst nötig.

In Rowland, dem älteren Bruder des Verschollenen, erschien die wilde Art des jüngeren Bruders so weit gemäßigt, daß sie in ihm bloß den Charakter eines aufbrausenden Temperaments und fröhlichen Sinnes annahm. Seine Grundsätze waren ebenso streng, als sein Herz warm, und sein feines, festes Ehrgefühl unzugänglich für jede Versuchung war. Keine Stunde konnte man mit ihm zusammen sein, ohne wahrzunehmen, daß er ein Mann sei, der Achtung verdiene, und ebensowenig konnte man eine Woche mit ihm verleben, ohne zu fühlen, daß er ein Mensch sei, den man lieben müsse. Auch er hatte sich vermählt, ungefähr ein Jahr nach seinem Bruder, aber nicht wie dieser um äußerer Glücksgüter willen. Seine Neigung hatte sich auf die vermögenslose Tochter eines Mannes seines Standes aus der Nachbarschaft geworfen. Er warb um sie, erhielt ihre Hand und genoß einige Jahre lang jene höchste Glückseligkeit, welche die Welt zu geben vermag – den Umgang und die Liebe eines Wesens, in welchem man keinen Zug anders wünscht und über welches hinaus man keinen Wunsch hat! Aber was Bosheit nicht verderben kann, wird vom Schicksal selten verschont. Wenige Monate nach der Geburt ihrer zweiten Tochter starb Rowland Lesters junge Frau, und im Hause eines Witwers hatten die Gattin und das Kind seines Bruders Hilfe gesucht. Rowland war ein Mann von vollem, innigem Gefühl. Zerbrach ihn auch jener Schlag nicht, so veränderte er ihn doch. Von Natur sprudelnd und feurig, ward seine Stimmung jetzt nüchtern und ruhig. Er entzog sich den ländlichen Festen und Gesellschaften, die er sonst belebt hatte, und zum erstenmal in seinem Leben empfand der Trauernde die Heiligkeit einsamer Stille, während sein Neffe und seine mutterlosen Töchter seinem abgeschiedenen Treiben einen Trost gaben. Er fand ein reines, nie versagendes Vergnügen darin, die Entfaltung der jungen Gemüter zu beobachten und ihre verschiedenen Neigungen zu leiten; und als ihr Alter sie endlich befähigte, seine Liebe zu erwidern und seine Fürsorge zu schätzen, da begann er von neuem zu fühlen, daß er noch eine heimatliche Stätte habe.

Die ältere seiner Töchter, Madeline, hatte zur Zeit, wo unsere Geschichte beginnt, ihr achtzehntes Jahr erreicht. Sie war der Schmuck und der Stolz der ganzen Umgegend. Über die gewöhnliche Größe hinausragend, erschien ihre Gestalt nach reichen, herrlichen Verhältnissen geformt. So durchsichtig rein und zart war ihre Hautfarbe, daß man sie, ohne die frische hochrosige Lippe und den weißen Perlenglanz der Zähne, für ein Zeichen schwächlicher Gesundheit hätte nehmen können. Die tiefblauen Augen hatten einen nachdenkenden, aber heiteren Ausdruck; die Stirn, höher und breiter, als bei Frauen die Regel ist, verhieß einen gewissen geistigen Adel und fügte eine – wenn auch ganz in den Grenzen der Weiblichkeit gehaltene – Würde den zarteren Merkmalen ihrer Schönheit bei. Und wirklich entsprach Madelinens eigentümliche Gemütsrichtung der Andeutung ihrer Züge, indem sie außerordentlich sinnig und stets nur auf Hohes gerichtet war. Früh hatte sie eine auffallende Liebe zu den Studien, und nicht nur ein Verlangen nach Wissen, sondern eine Verehrung für die, welche im Besitz desselben waren, bewiesen. Der abgelegene Winkel der Grafschaft, in welchem die Familie wohnte, und die nur selten unterbrochene Abgeschlossenheit, worin Lester seinen wenigen da und dort zerstreuten Nachbarn gegenüber sich gewöhnlich hielt, mußte natürlich jedes Glied des kleinen Kreises auf seine eigene Hilfsquellen beschränken. Ein Unfall hatte Madeline vor etwa fünf Jahren für mehrere Wochen, ja Monate im Hause gehalten, und da die alte Halle mit einem ziemlich ansehnlichen Bücherschatz ausgerüstet war, so hatte sie damals jenen Hang zum Lesen und Nachdenken, der sich schon in früheren Jahren vorzeitig ausgesprochen, zur vollen Reife und Ausbildung gebracht. Die weibliche Neigung zum Romanhaften lieh ihren Ansichten den eigentümlichen Anstrich, sie erhob ihren Sinn über das Gemeine, verlieh ihm aber zugleich eine besondere Sanftheit.

Ihre um zwei Jahre jüngere Schwester Ellinor, war von ebenso sanftem, aber von weniger schwungvollem Gemüt. Sie blickte zu Madeline wie zu einem Wesen höherer Art empor. Ohne einen Schatten von Mißgunst war sie auf die großartigere, überstrahlende Schönheit der Schwester selbst stolz und ließ sich in Beschäftigung und Neigung von einem Geist leiten, den sie freudig als dem eigenen überlegen anerkannte. Gleichwohl hatte auch Ellinor ihre Ansprüche auf besondere Liebenswürdigkeit – Ansprüche, die von ihrem eigenen Geschlecht vielleicht sogar mit mehr Bereitwilligkeit anerkannt werden mochten als diejenigen ihrer Schwester. Der Sonnenschein eines frohen, schuldlosen Herzens schimmerte auf ihrem Gesicht und gab ihrem schnell bewegten nußbraunen Auge und ihrem aus tausend Grübchen brechenden Lächeln einen Glanz, dessen Anblick erquickte. Sie war minder hoch gewachsen als Madeline, und obwohl nicht so schmächtig, um die Rundung und Fülle weiblicher Schönheit zu entbehren, erschien ihre Gestalt doch dünner, schwächer und in ihren Verhältnissen minder reich als diejenige der Schwester. Wohl mochte der in ihrer körperlichen Bildung begründete Trieb, sich an fremde Hilfe anzulehnen und nicht auf die eigene Kraft zu vertrauen, auch auf ihr Gemüt einwirken, ihr die Liebe und die Abhängigkeit der Liebe mehr zum Bedürfnis machen, als der gedankenvollen, hochsinnigen Madeline. Die letztere hätte durchs Leben wandeln können, ohne je den einzigen zu finden, dem ihr Herz allein sich zu eigen geben konnte; während vielleicht jedes Dorf einen Helden besaß, den Ellinors Phantasie mit eingebildeten Reizen hätte umkleiden, und dem ihr Liebebedürfnis seine Neigung hätte zuwenden können. Beide besaßen übrigens jene Stärke und Reinheit des Herzens in ausgezeichnetem Grade, wonach sie, vielleicht in gleichem Maße, dem einmal ergriffenen Gegenstande ihrer Wahl, allen Wechseln der Zeit und dem Rande des Grabes zum Trotz, mit unerschütterlicher Treue und Ergebenheit angehangen haben würden.

Ihr Vetter Walter, Geoffrey Lesters Sohn, stand jetzt im einundzwanzigsten Jahre, sein Wuchs war schlank und stark, und sein Gesicht, wenn nicht regelmäßig schön, anziehend genug, um für ersteres zu gelten. Hochstrebend, kühn, feurig, ungeduldig; eifersüchtig auf die Zuneigung derer, welchen er wohlwollte; dem äußeren Schein nach fröhlich, innerlich aber unruhig, die Veränderung liebend, jener trüben selbstquälerischen Stimmung unterworfen, die man bei jungen heftigen Gemütern so oft findet: – so war Walter Lesters Charakter.

Die Güter der Familie Lester vererbten sich in der männlichen Linie und mußten deshalb auf ihn fallen. Gleichwohl gab es Augenblicke, wo er seine verwaiste, einsame Stellung tief fühlte und mit Schmerz daran dachte, daß, während sein Vater vielleicht noch lebe, er mit seinem Liebesbedürfnis, vielleicht gar mit seinem Unterhalt, an die Güte anderer Leute verwiesen sei. Dergleichen Betrachtungen gaben seinem Benehmen bisweilen einen Anstrich von Starrheit und Trotz, der ihm in Wirklichkeit nicht eigen war. Denn was drückte wohl einem Menschen, der seinen eigenen Wert empfand, einen so unliebenswürdigen Schein auf, als das Gefühl von Abhängigkeit?

Der Fremde

An einem Abend zu Anfang des Sommers saßen Peter Dealtry und der weiland Korporal unter dem Zeichen des »Scheckigen Hundes« und leerten einen Becher auf gute Kameradschaft. Der eine kurz, ausgedörrt und ärmlich, und durch Art, wie er sich mit dem Stuhl auf und nieder wiegte, seine Liebe zur Gemächlichkeit andeutend; der andere aufrecht, gravitätisch und so fest auf seinem Sitz, als wäre er angenagelt.

Es war ein schöner, stiller Abend; die Sonne verschwand eben hinter den fernen Bergen; noch hing an den Wolken die Rosenfarbe, die ihr scheidender Strahl ihnen mitgeteilt; da und dort sah man die Bauernhäuschen zwischen den umgebenden Bäumen hervorlugen, oder den Rauch von den mit Moos und Hauswurz übergrünten Dächern in zierlichen Schlangenwindungen hinauf in die klare milde Luft steigen.

Zu Dealtrys Füßen lag sein schäbiger, steinfarbiger Kläffer, den er einen Dachshund nannte, und unter der Thür der kleinen Herberge saßen zwei alte Gevatterinnen in Häubchen und Halstuch, die sich in vertraulichem Geplauder mit auf der Schwelle weilenden Wirtin befanden – es war ein malerisches, englisches Bild.

»Nun wahrlich,« sagte Peter Dealtry, indem er den braunen Krug dem Korporal zuschob, »so hab' ich's gerne; es gemahnt mich –«

»An was?« fragte der Korporal.

»An die lieblichen Verse in jenem Lied, Master Bunting: ›Wie schön ihr kleinen Hügel seid, ihr Feldlein auch dabei, ihr Murmelbäch' in stillem Lauf, ihr Weiden in der Reih'.‹ Es ist was gar Tröstliches in den heiligen Liedern, Master Bunting; aber Ihr seid ein Spötter.«

»Pah, pah!« sagte der Korporal, den rechten Fuß streckend und sich mit halbgeschlossenen Augen und vorgestrecktem Kinn zurücklehnend, wobei er einen langen Zug aus der Pfeife that. – »Pah! Rechts um mit 'n Versen! Gut für'n Mädel, das in die Sonntagsschule geht! Ausgewachsene Männer schnupfen lieber. Bin in der Welt gewesen, Meister Dealtry, in der Welt! Verdamm mich Gott!«

»Pfui doch, Nachbar, pfui! Was kommt Gutes heraus bei Unheiligkeit, Übelrede und Lästern? ›Die Flüche sind die Schuld, die schwer wird ausgeglichen, zum Rechnungstag sind all' der Seele angestrichen.‹ – Wartet 'n bißchen, Nachbar, wartet, bis ich meine Pfeife angezündet habe.«

»Sag Euch was,« entgegnete der Korporal, nachdem er aus der eigenen Pfeife dem Gefährten den freundlichen Funken mitgeteilt – »sag Euch was – dummes Zeug! Der kommandierende General ist kein Paradenarr – haben wir uns all' brav gehalten im Feuer, so wird er wegen eines oder ein Paar mitgelaufener Wörtlein 'n Auge zudrücken. Kommt! Keine Schnacken! Schweigt mir! Schwerenot! Glaubt Ihr, Gott wolle lieber 'n Kümmerling wie Euch in seinem Regiment, als 'nen Mann wie mich, gutgegliedert, bolzsteif, sechs Fuß 'n Zoll, ohne Schuhe! – Still!«

Dieser Gedanke des Korporals, wonach er das Himmelreich der Leibgarde des Königs von Preußen verglichen und die Erwählten nur nach dem Zollmaß zugelassen haben wollte, kitzelte des Wirtes Einbildungskraft dergestalt, daß er sich in seinem Stuhl zurücklehnte und in ein langes, trocknes, möglichst lautes Gelächter ausbrach.

Dieser Mangel an Ehrerbietung mißfiel dem Korporal sehr. Er blickte das Männchen recht sauer an und sagte in seiner unsanftesten Betonung: »Was – Teufel – für 'n Gackern? Immer Kich! Kich! Kich! Kach! Kach! Kach! He?«

»Na! Wahrlich, Nachbar,« erwiderte Peter sich fassend, »Ihr müßt einen Mann mitunter lachen lassen.«

»Mann!« rief der Korporal. »Mann ist 'n edles Tier. Mann ist eine Muskete, Pulver auf der Zündpfann', geladen, bereit, einem Freund zu Hilf' zu kommen wie 'nen Feind niederzumachen – Ladung nicht nach jeder Meise verpufft! Ihr aber seid keine Muskete, nur 'n Pulverhäuflein! Macht viel Lärm, trifft nicht! – Nur angerührt, gleich geht Ihr los, puff, paff, ins Gesicht! Schwerenot!«

»Nun!« sagte der Wirt, der nicht aus seiner guten Laune zu bringen war, »da wäre Master Aram, der große Gelehrte im Thal drunten', ein Mann nach Eurem Herzen. Der ist ernsthaft genug, um Euch recht zu sein. Ich glaube, der lacht nicht so leicht.«

»Nach meinem Herzen? Krümmt sich ja wie 'n Fiedelbogen!«

»Ja, er sieht beim Gehen immer zu Boden, wenn ich nachdenke, mach' ich es ebenso. Aber was für 'n Wunder von einem Menschen! Ich höre, er liest die Psalmen hebräisch. Er ist recht leutselig und weichherzig für einen solchen Gelehrten!«

»Sag Euch was, Master Dealtry! Weiß auch das eine und andere. Ein scheuer Hund ist allezeit bissig. Ich will 'nen Mann, der mir oder 'ner Kanone gleich fest ins Gesicht schaut!«

»Oder einem Mädchen,« sagte Peter verschmitzt.

Der grimmige Korporal lächelte.

»Da Ihr von Mädel sprecht,« hub er, seine Pfeife von neuem stopfend, an – »was für 'n Ding Miß Lester ist! Was für Augen! Was für 'ne Nase! Gemacht für 'nen Oberst, bei Gott! ja 'nen Generalmajor!«

»Was mich anlangt, so kommt mir Miß Ellinor fast ebenso hübsch vor; nicht so hoch hinaus, aber liebenswürdiger!«

»'n nettes Dingelchen!« bemerkte der Korporal zustimmend. »Aber wer zum Teufel kommt da?«

Letztere Frage bezog sich auf einen Mann, der langsam von der Straße nach dem Gasthof einbog. Der Fremde war von kräftiger, gedrungener Gestalt, mittlerer Größe. Sein Anzug konnte Ansprüche auf etwas mehr als den niedrigsten Rang machen, aber er war bis zur Durchsichtigkeit abgetragen und von Staub und langem Wandern beschmutzt. Kleine, eingesunkene Augen von hellbrauner Farbe und unruhigem, fast trotzigem Ausdruck, eine dicke, platte Nase, hohe Backenknochen, ein breites knöchernes Kinn, von dem das Fleisch zurückwich, ein Stierhals, der auf große Stärke deutete – machten seine eben nicht großen Ansprüche auf freundlichen Empfang aus.

Der stattliche Korporal hielt, ohne sich zu rühren, ein wachsames Forscherauge auf den Ankömmling und murmelte Peter zu: »Gast für Euch; saubrer Gast dazu – mein' Seel!«

Damit war der Fremde bis zu dem kleinen Tisch gekommen, stand still, faßte den braunen Krug ohne Umstände oder Vorrede und leerte ihn auf einen Zug.

Der Korporal stierte ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an, aber ehe er noch Zeit hatte, seinem Ärger Luft zu machen – denn er war ein etwas langsamer Redner – sagte der Unbekannte, den Mund am Ärmel abwischend, in ziemlich höflichem, entschuldigendem Ton: »Ich bitte um Vergebung, meine Herren; ich hab' einen langen Marsch gemacht und bin sehr ermüdet.«

»Hm! Marsch!« sprach der Korporal etwas besänftigt. »Nicht in Seiner Majestät Diensten – he?«

»Jetzt nicht,« entgegnete der Reisende, und sofort sich zu Dealtry wendend: »Sind Sie der Wirt hier?«

»Zu dienen!« sagte Peter Dealtry in der gleichgültigen Weise eines wohlhabenden Mannes, der nicht viel nach einem halben Penny fragt.

»Na! So macht vorwärts! Holla!« rief der Reisende, indem er ihn auf den Rücken klopfte. »Bringt mehr Gläser, einen neuen Krug Oktoberbier und was Eure Speisekammer sonst noch vermag. Hört Ihr?«

Peter, keineswegs erbaut über diese barsche Anrede, schaute den staubigen, wegemüden Fußgänger von oben bis unten an, und sich fester auf seinem Stuhl zurechtsetzend sagte er mit einem Blick über die Schulter nach der Hausthür: »Dort steht meine Frau unter der Thür, Freund; sagt der, was Ihr haben wollt.«

»Wißt Ihr,« entgegnete der Reisende mit langsamem, abgemessenem Ton, »wißt Ihr, Master Nußknacker, daß ich mehr als halbe Lust verspüre, Euch für Eure Unverschämtheit den Schädel einzuschlagen. Ihr ein Wirt! Ihr, einen Gasthof halten! Wahrlich! Fort! Tummelt Euch, oder –«

»Korporal! Korporal!« schrie Peter, hastig von seinem Stuhl aufspringend, als der gebräunte Wanderer ihm drohend nahte. »Ihr werdet den Landfrieden nicht gebrochen sehen wollen. Nehmt Euch in acht, Freund, nehmt Euch in acht! Ich bin Kirchenschreiber, Kirchenschreiber bin ich, Sir, und werd' Euch des Sakrilegs anklagen!«

Buntings hölzerne Züge verzogen sich zu einer Art Grinsen bei seines Freundes Angst. Er schmauchte fort, ohne eine Silbe zu erwidern.

Unterdessen benutzte der Fremde Peters hastiges Aufgeben seiner professorenhaften Stellung, faßte den leeren Stuhl, rückte ihn heran, warf sich hinein, legte den Hut auf den Tisch und trocknete sich die Stirn mit der Miene eines Menschen, der entschlossen ist, zu thun, als ob er völlig zu Hause wäre.

Peter Dealtry war gewiß ein Mann von friedfertiger Gemütsart, aber er besaß auch den einem Gastwirt und Kirchenschreiber zukommenden Stolz. Sein Gefühl war ausnehmend verletzt durch solche Behandlung, vollends vor den Augen seiner Ehehälfte – welch ein Beispiel! Die Hände tief in den Hosentaschen, das Gesicht in grimmige Falten gelegt, trat er mit energischem Schritt auf den Reisenden zu und begann: »Hör Er, guter Freund! Das ist nicht die Art hierzulande, mit den Leuten umzugehen. Weiß Er, daß ich ein Mann bin, dessen Bruder Konstabler ist?«

»Ganz schön, mein Wertester!«

»Ganz schön. Wertester? In der That? Schön? Ich sag' Ihm, daß es nicht schön ist, auf keine Weise; wenn Er für das Bier, das Er getrunken, nicht zahlt und ruhig seines Weges geht, so soll Er mir als ein Landstreicher ins Loch!«

Diese, die drohendsten Worte, welche man je von Peter Dealtry vernommen, wurden mit so viel Feuer gesprochen, daß der Korporal, der streng an pünktliche Disziplin gewöhnt war und sich deshalb nicht unnötigerweise in Händel einmischte, sich umwandte und dem erbosten Peter, so gut es die steife Halsbinde erlauben wollte, zuwinkte, indem er ausrief: »Recht so! Ihr habt 'n Herz, Nachbar, 'n Herz wie's sich fürs zweiundvierzigste Regiment gehört! meiner Treu! – 'n Herz über fünf Fuß zwei Zoll!«

Es fehlte nicht an Hohn im Aussehen des Fremden, als er jetzt, Dealtry anblickend, wiederholte: »Ein Landstreicher? – So! Und was ist denn ein Landstreicher, wenn ich bitten darf?«

»Was ein Landstreicher ist?« rief Peter etwas verlegen.

»Ja! Antwort' Er mir darauf!«

»Na! Ein Landstreicher ist ein Mensch, der wandert und kein Geld hat!«

»Wahrhaftig,« sagte der Fremde lächelnd, wiewohl das Lächeln seine Physiognomie keineswegs verschönerte, »eine vortreffliche Erklärung, die jedoch, wie ich Ihm beweisen will, keine Anwendung auf mich findet.« Damit zog er eine Handvoll Silbermünzen aus dem Schubsack, warf sie auf den Tisch und rief: »Nun kommt, nichts mehr davon! Ihr seht, ich kann bezahlen, was ich verlange; Ihr aber denkt jetzt daran, daß ich müd' und hungrig bin.«

Kaum hatte Peter das Geld erblickt, als eine urplötzliche Besänftigung sein empörtes Herz beschlich; ja, ein gewisses wohlwollendes Mitleid mit der Müdigkeit und dem Hunger des Reisenden trat auf einmal, wie durch Zaubergewalt, an die Stelle der Erbitterung, die noch eben in ihm gebraust hatte.

»Müd' und hungrig,« entgegnete er; »warum haben Sie das nicht früher gesagt? Das wäre genug gewesen für Peter Dealtry. Ich bin – Gott sei Dank – ein Mensch, der was fühlt für seinen Nächsten. Ich hab 'n Herz, wahrhaftig, ich hab 'n Herz. Müd' und hungrig! Im Augenblick sollen Sie bedient werden. Mag ich auch was hastig oder dergleichen sein, so bin ich im Inneren doch 'n guter Christ. – Fragen Sie nur den Korporal. Und was sagt der Psalmist, Psalm 147? ›Er schenkt der Erde selbst die Gaben, dadurch sie die Geschöpfe nährt; hört das Geschrei der jungen Raben, und giebt, was ihr Geschrei begehrt.‹«

Mit diesem passenden Citat seine Rührung anfeuernd, entschwand Peter nach dem Hause.

Jetzt brach der Korporal das Stillschweigen; der Anblick des Geldes war auf ihn so wenig ohne Wirkung geblieben als auf den Wirt.

»Warmer Tag heut, Sir! Ihre Gesundheit! – Ja, so! Ich vergaß, daß Sie den Krug geleert haben! Sagten, Sie stünden jetzt nicht in den Diensten Seiner Majestät. Um Vergebung: – standen Sie je darin?«

»Jawohl, stand ich drin, vor vielen Jahren.«

»Ach, und in welchem Regiment? Ich war im zweiundvierzigsten. Vom zweiundvierzigsten gehört? Oberst hieß Dysart, Hauptmann Trotter, Korporal, zu dienen, Bunting!«

»Sehr verbunden für Ihr Zutrauen,« entgegnete trocken der Unbekannte. »Ich wette, Sie haben manches Jahr gedient.«

»Gedient? Das darf ich sagen; – dreiundzwanzig Jahr hart gedient und doch nicht reicher! 'n Mann, der sein Vaterland liebt, ist zu 'ner Pension berechtigt – meine ich – aber die Welt lächelt nicht auf die Korporale! He?«

Hier erschien Peter wieder mit einer neuen Ladung von Oktoberbier und der Versicherung, die kalte Küche werde sogleich nachfolgen.

»Ich hoffe, Sie und der Gentleman da werden mir Gesellschaft leisten,« sagte der Reisende, den Krug dem Korporal zuschiebend; und nach wenigen Minuten hatte sich das Trio gegenseitig dermaßen befreundet, daß der Schall ihres Gelächters oft und laut zum Ohr der Hausfrau in der Küche drang.

Der Fremde schien jetzt dem Korporal und dem Wirt ein recht munterer, aufgeweckter Gesell zu sein. Gleichwohl nahm er eigentlich keinen bedeutenden selbstthätigen Anteil am Gespräch; er kam der Heiterkeit seiner neuen Bekannten mehr zu Hilfe, als daß er die leitende Rolle dabei übernommen hätte. Herzlich lachte er über Peters Schwänke und des Korporals Erwiderungen, und letzterer hatte es – das gewöhnliche Vorrecht, das er in den Kreisen des Dorfes ausübte, allgemach auch hier auf sich übertragend – noch ehe das Essen auf dem Tisch stand, dahin gebracht, daß er die ganze Unterhaltung allein beherrschte.

Das Essen gewährte dem Fremden einen neuen Entschuldigungsgrund für seine Einsilbigkeit. Er aß mit höchst wunderbarem, selbst die übrigen ansteckenden Appetit, sodaß nach wenigen Sekunden Messer und Gabel des Korporals ebenfalls so emsig beschäftigt waren, als blieben ihm zwischen Mahlzeit und Abmarsch nur drei Minuten übrig.

»Ein hübsches einsames Örtchen!« hub endlich der Reisende an, als er sein Mahl beendigt hatte und sich in seinem Stuhl behaglich zurücklehnte – »ein recht hübsches Örtchen. Wem gehört das saubere altertümliche Haus auf dem grünen Platz, mit den Giebelfeldern und den Blumengeländen vorne?«

»O! Dem Squire,« antwortete Peter, »'n gar braver Gentleman, Squire Lester!«

»Ein reicher Mann für diese Gegend, will mir's scheinen; das beste Haus, das ich auf einige Meilen getroffen!« bemerkte der Unbekannte obenhin.

»Reich – ja; er hat Vermögen; er lebt so, daß er immer etwas Geld zurücklegen kann.«

»Familie?«

»Zwei Töchter und einen Neffen.«

»Und der Neffe ruiniert ihn nicht? Glücklicher Oheim! Dem meinigen ward's nicht so gut!« entgegnete der Fremde.

»Des Teufels Gesellen, wir Soldaten in unsrer grünen Zeit!« bemerkte bedeutsam der Korporal. »Ne! Squire Walter ist 'n artiger junger Mensch, der Stolz des Onkels!«

»So,« erwiderte der Wanderer, »sie sind demnach nicht genötigt, ein großes Hauswesen zu führen und sich durch einen Haufen Dienerschaft ums Geld zu bringen? – Den Krug, Korporal!«

»Nein!« sagte Peter, »Squire Lesters Thor steht dem Armen jederzeit offen, aber was das vornehme Wesen betrifft, so überläßt er das dem Lord im großen Schloß.«

»Das große Schloß, wo ist das?«

»Etwa drei Stunden von hier. Gewiß haben Sie von Mylord *** gehört?«

»Ach, von dem Höfling! Freilich! Wer lebt aber sonst noch hier? Ich meine die bedeutenderen Personen, außer dem Korporal und Ihnen, Mr.  Eelpry, nannte Sie, glaub' ich, Ihr Freund da?«

»Dealtry, Peter Dealtry, ist mein Name, Sir! – Nun, der bemerkenswerteste Mann hier, müssen Sie wissen, ist 'n großer Gelehrter, ein wunderbar studierter Mann. Dort drüben können Sie gerade was von dem hohen Dings da – wie soll ich's nennen – ins Aug' fassen, das er oben auf sein Haus gebaut hat, damit er den Sternen näher ist. Gläser hat er sich angeschafft, durch die man, hör ich, die Leute im Mond auf den Köpfen gehen sieht: aber ich kann nicht sagen, daß ich alles glaube, was ich höre.«

»Ich bin überzeugt, daß Sie dafür zu viel Verstand besitzen. Aber dieser Gelehrte ist wohl nicht sonderlich reich? Viel Wissen schafft den Leuten heutzutage noch keinen Rock – he, Korporal?«

»Wie sollt's auch? Zounds! Kann's einen lehren, wie er's Vaterland verteidigen soll? Alt-England braucht Soldaten, hol' mich der Henker! Sonst ist der Mann recht ordentlich, das muß ich sagen, höflich, bescheiden –«

»Und keineswegs 'n Bettler!« setzte Peter hinzu. »Vergangenen Winter gab er den Armen so viel wie der Squire selbst!«

»Wirklich?« sagte der Fremde, »der Bücherwurm ist also reich?«

»So, so; weder eins noch das andere. Aber wär er so reich wie Mylord, er könnte in keinem höheren Ansehen stehen. Die vornehmsten Leute im Lande kommen mit Vieren bei ihm vorgefahren, um ihm einen Besuch abzustatten. So wahr uns Gott helfe, kein Name wird in der ganzen Grafschaft mehr genannt, als der von Eugen Aram.«

»Was!« schrie der Fremde, mit schneller Veränderung der Gesichtszüge vom Stuhl aufspringend. »Was! Aram! Aram, sagt Ihr? Großer Gott, wie wunderbar!«

Peter, nicht wenig betroffen über die jähe Heftigkeit seines Gastes, starrte ihn mit offenem Munde an, und selbst der Korporal zog die Pfeife unwillkürlich von den Lippen. »Wie?« sagte der erstere, »Sie kennen ihn? Sie haben von ihm gehört? He?«

Der Fremde antwortete nicht, wie es schien in einen tiefen Traum verloren. Zwischen den Zähnen murmelte er unverständliche Worte. Jetzt trat er, die Hände geballt, zwei Schritte vorwärts; jetzt lächelte er grimmig; dann kehrte er wieder zu seinem Stuhl zurück, warf sich hinein und schwieg immer noch.

Der Kriegsmann und der Kirchenschreiber wechselten Blicke miteinander, und endlich begann der Korporal: »Mord alle Welt! Hat der Mann Ihnen die Großmutter gefressen?«

Aufgeweckt vielleicht durch eine so passende und zarte Frage, hob der Unbekannte den Kopf von der Brust und sagte mit erzwungener Heiterkeit: »Sie haben mir, ohne es zu wissen, einen großen Dienst erwiesen, mein Freund. Eugen Aram war ein früherer vertrauter Bekannter von mir; seit vielen Jahren haben wir uns nicht gesehen; nimmer hätt' ich mir's einfallen lassen, daß er in dieser Gegend lebe; sein Aufenthalt war mir wirklich unbekannt. Es freut mich im Ernst, so ganz unerwartet auf ihn gestoßen zu sein.«

»Wie? Sie kannten seinen Aufenthalt nicht? Hätt' ich doch gedacht, jedermann kenne den! Was! Leute von Universitäten sind expreß hergereist, nur um den Ort zu sehen.«

»Gut möglich,« entgegnete der Fremde; »aber ich bin kein Gelehrter, und was bei den einen Ruhm ist, ist Dunkelheit bei den anderen. Überdies bin ich früher nie in diese Weltgegend gekommen!«

Peter wollte antworten, als er die kreischende Stimme seiner Frau hinter sich hörte: »Was stehst du nicht auf, alter Faulpelz? Wo hast deine Augen? Siehst die jungen Damen nicht?«

Dealtrys Hut war im Augenblick vom Kopf, der Korporal erhob sich gerade wie eine Muskete; der Fremde wäre sitzen geblieben, wenn nicht Dealtry einen mahnenden Ruck in seinen Kragen gethan hätte. So stand er denn ebenfalls auf, mit dem Ansatz zu einem Fluch zwischen den Zähnen, der jedoch beim Gewahrwerden der Ursache, die ihm eine Höflichkeit abgezwängt, auf seinen Lippen erstarb.

Durch ein Thürchen neben Peters Wohnung war Madeline mit ihrer Schwester eben zu einem Abendspaziergang herausgetreten, und beide waren mit der gutmütigen Zutraulichkeit, welche man an ihnen kannte, einen Augenblick stehengeblieben, um die Wirtin vom »Scheckigen Hund« zu begrüßen, die jetzt nach vollbrachter Küchenarbeit strohflechtend an der Thür saß, und von dort auf das Gespräch ihrer Gäste horchte.

Die ganze Familie Lester war so beliebt, daß wir zweifeln, ob Mylord selbst, wie man ihn immer nannte, als gab' es nur einen Lord in der Grafschaft, dieselben Beweise von Ehrerbietung erhalten haben würde, als dies jederzeit bei ihnen der Fall war.

»Laßt euch nicht stören, gute Leute,« sagte Ellinor, als die Mädchen jetzt auf die lustige Gesellschaft zukamen.

Plötzlich aber fiel ihr Auge auf den Fremden, und schnell unterdrückte sie jedes weitere Wort.

Es war etwas im ganzen Aussehen dieses Menschen, besonders aber in dem Ausdruck, den sein Gesicht in diesem Augenblick annahm, das beim ersten Anblick jedem Besorgnis und Argwohn eingeflößt haben dürfte. Dabei begegneten die jungen Damen in diesem abgelegenen Orte so selten einem unbekannten Gesicht, daß die Wirkung, welche das Wesen des Fremden auch auf andere hervorbringen mußte, für sie leicht bis zu einem an Furcht grenzenden, peinlichen Grade gesteigert werden mochte.

Der Reisende bemerkte sogleich den Eindruck, welchen er gemacht; er senkte den Kopf, und dasselbe unangenehme Lächeln oder vielmehr Grinsen, dessen wir vorhin erwähnten, verzerrte seine Lippen, während er sich mit erkünstelter Ehrerbietung verbeugte.

»Was das für ein Fremder sein mag!« sagte Madeline, der Schwester Empfindung – wenn auch in geringerem Grade – teilend, und nach einer Pause fügte sie mit einem flüchtigen Blick auf seinen Anzug hinzu: »Hoffentlich kein Notleidender!«

»Nein, Madam!« erwiderte der Unbekannte, »wenn Sie unter Not den Bettelstand verstehen. Ich bin vielleicht in jeder Beziehung mehr als ich scheine.«

Der Korporal, der Wirt und dessen Frau konnten sämtlich ein Kichern nicht unterdrücken, als der Reisende über seine wenig einnehmende Erscheinung diesen halben Scherz hinwarf, Madeline aber, ein wenig aus der Fassung gebracht, verbeugte sich hastig und zog ihre Schwester mit sich fort.

»Eine hochmütige Vettel!« sagte der Fremde, nachdem er wieder Platz genommen hatte und dem Paar über den Anger hin nachsah.

Im Nu war jeder Mund gegen ihn geöffnet. Es wurde ihm nicht leicht, die Eintracht wiederherzustellen, und so rief er denn, noch ehe es ihm damit vollständig gelungen, nach seiner Zeche, zahlte und erhob sich, um weiterzugehen.

»Na!« schloß er und streckte dem Korporal die Hand hin; »wir kommen wohl wieder einmal zusammen und lassen uns Ihre lustigen Geschichten schmecken. Einstweilen aber: wie komme ich zu diesem – diesem – diesem berühmten Gelehrten? Hm?«

»Sie sahen, welche Richtung die jungen Damen beim Weggehen einschlugen,« sagte Peter, »dieselbe müssen Sie nehmen. Gehen Sie über den Steg, den Sie rechter Hand finden werden, schreiten am Fuße des Hügels ein starkes Viertelstündlein hin, dann werden Sie mitten auf einer weiten Fläche ein einzelnes graues Haus erblicken mit einem Dings oben darauf, so 'nem Speklatorium wie sie's nennen. Dort wohnt Master Aram.«

»Ich danke Ihnen.«

»Und 'n recht schöner Spaziergang ist's,« setzte die Wirtin hinzu, »der schönste hier herum, nach meinem Geschmack, bis Sie am Haus stehen. So meinen's auch die jungen Damen, denn 's ist ihr gewöhnlicher Weg jeden Abend!«

»So? Dann begegne ich ihnen vielleicht!«

»Ja! Und wenn's so kommt, so schauen's so christlich drein, als Sie's können,« erwiderte die Frau.

Abermals folgte auf Kosten des unerquicklichen Wanderers ein Kichern, unter welchem er von dannen zog.

»Wunderlicher Kauz, der!« sagte Peter, der untersetzten Figur nachblickend, »möchte wissen, wer er ist: scheint gut erzogen; weiß zu sprechen.«

»Was kommt's darauf an?« rief der Korporal, der denn doch eine Art kameradschaftlicher Hinneigung zu dem schroffen Wesen seines neuen Bekannten empfand – »was kommt's drauf an, wer er ist? Dem Vaterland gedient – ist genug. – Teufel auch! Hat mir's Regiment nicht gesagt, ließ mich immerfort schwatzen und gab selber nichts von sich! 'n alter Soldat, jeder Zoll an ihm!«

»Weiß sich alles zu sichern!« sagte Peter. »Wie er den Krug leerte! Und du mein Himmel, was für 'n Appetit!«

»Pst!« sagte der Korporal. »Mund gehalten! Mann von Welt, Mann von Welt – so viel ist klar.«

Eine unheimliche Begegnung

Die beiden Schwestern setzten ihren Spaziergang durch eine Gegend fort, die allerdings verdiente, von ihrer Wahl begünstigt zu werden. Nicht sobald waren sie über den Steg, als das Dorf wie in die Erde versunken zu sein schien, so ruhig, so einsam, so fern von jeder Mahnung an das Leben lag die Landschaft, durch welche sie hingingen. Zur Rechten senkte sich ein grüner stiller Hügel herab, der, ausgenommen den dunkelnden Abendhimmel, jede Fernsicht neben sich abschloß; links und unmittelbar ihren Pfad entlang, lag zerbrochenes Gestein mit Moos bedeckt oder beschattet von wildem Gesträuch, das bald sich zu kleinen Gebüschen zusammenschloß, bald, sich mit einem Mal von dem üppigen Rasen verlierend, offene Räume ließ, zwischen welchen man lange Strecken Waldland gewahrte, oder auch das plätschernde Büchlein sah, das in seinem steinigen Bette sich in tausend kleine Wasserfälle oder scheinbare Strudel brach. Ja, dermaßen abgeschieden war der Schauplatz und so ohne alle Hindeutung auf Anbau, daß man gar nicht glaubte, menschliche Wohnungen könnten in der Nähe sein; aber gerade dieser Eindruck vollkommener Einsamkeit und Ruhe war nur ein Reiz mehr für den Ort.

»Aber ich versichere dir,« sagte Ellinor, in einem begonnenen Gespräch eifrig fortfahrend, »daß ich mich nicht getäuscht habe; ich sah es so deutlich, wie ich dich sehe.«

»Wie? In der Brusttasche?«

»Ja, als er das Schnupftuch herauszog, sah ich den Lauf der Pistole ganz genau.«

»Wirklich; ich denke, wir sollten's dem Vater sagen, sobald wir nach Hause kommen; es kann nichts schaden, wenn wir auf unserer Hut sind, obwohl man in Grassdale gewiß seit zwanzig Jahren nichts von Räuberei gehört hat.«

»Aber zu was sonst, als zu einem schlimmen Zweck, kann er in so friedlichen Zeiten und an einem so friedlichen Ort ein Feuergewehr bei sich tragen? Und welch ein Gesicht! Bemerktest du sein scheues und doch wildes Auge, ganz wie dasjenige eines Tieres, das gern auf dich einspringen möchte, aber doch nicht recht den Mut dazu hat.«

»Wahrhaftig, Ellinor,« entgegnete Madeline lächelnd, »du bist nicht besonders nachsichtig mit Fremden. Bei alledem mochte der Mann die Pistole, die du gesehen, aus einer ganz natürlichen Vorsicht beigesteckt haben. Bedenke, daß ihm als Fremden gar füglich unbekannt sein konnte, wie sicher diese Gegend in der Regel ist; dabei kommt er vielleicht von London, in dessen Nähe neuerdings häufige Räubereien verübt worden sein sollen. Was sein Aussehen betrifft, so ist dieses freilich unverzeihlich; für solche Häßlichkeit kann es keine Entschuldigung, geben. Hätte der Mann so hübsch dreingesehen wie Vetter Walter, so wärst du in deinem Schreck über die Pistole vielleicht nicht so ganz erbarmungslos gewesen.«

»Unsinn, Madeline!« sagte Ellinor errötend und das Gesicht abwendend.

Es entstand eine augenblickliche Stille, welche sofort die jüngere Schwester wieder brach. »Wir scheinen keine großen Fortschritte im Umgang mit unserem wunderlichen Nachbar zu machen,« sagte sie. »Ich weiß niemand, welchem der Vater mit solcher Zuvorkommenheit begegnet wie Mr. Aram, und doch siehst du, wie selten er bei uns einspricht; ja, es kommt mir oft vor, er suche uns zu vermeiden. Kein großes Kompliment für unsere Anziehungsgabe, Madeline.«

»Ich bedaure diesen Mangel an Geselligkeit um seiner selbst willen,« erwiderte Madeline, »denn er scheint ebenso schwermütig als gedankenvoll zu sein, und führt dabei ein so abgeschiedenes Leben, daß ich immer denke, das Gespräch und die Gesellschaft des Vaters würden, wenn er nur ein wenig entgegenkommen wollte, seine Einsamkeit erträglicher machen.«

»Auch scheint er wirklich Vergnügen am Umgang mit dem Vater zu haben,« bemerkte Ellinor, »und wer sollte das auch nicht? Wie sein Gesicht beim Reden sich aufhellt! Es ist eine Freude, darauf achtzugeben. Ich find' ihn wirklich schön, wenn er spricht.«

»O, mehr als schön!« rief Madeline begeistert aus. »Mit seiner hohen, bleichen Stirn, und diesen unergründbar tiefen Augen!«

Ellinor lächelte und das Erröten war jetzt an Madeline. »Ja,« sagte erstere, »er hat etwas an sich, das ihn interessant macht: und sein Benehmen, wenn auch bisweilen kalt, ist doch immer so sanft!«

»Und ihn sprechen hören,« sagte Madeline, »ist wie Musik. Seine Gedanken, ja seine Worte selbst scheinen so verschieden von der Sprache und den Vorstellungen anderer Menschen. Wie schade, daß er immer so schweigsam ist!«

»In seinem düsteren Wesen liegt das Besondere, daß es nie Argwohn einflößt,« sagte Ellinor; »ihn hätt' ich unter Umständen bemerken können wie den unheimlichen Fremden, ohne daß mir's bei ihm angst geworden wäre.«

»Der Fremde geht dir noch immer durch den Kopf. Wenn wir ihm nur an dieser Stelle begegneten.«

»Da sei der Himmel vor!« rief Ellinor, sich hastig umwendend – und siehe! – als wäre die Schwester eine Prophetin gewesen, erblickte sie den Menschen, von welchem sie sprachen, in kleiner Entfernung hinter ihnen, mit raschen Schritten auf sie zukommend.

Sie stieß einen leisen Schrei der Überraschung und des Grauens aus, und selbst Madeline, die auf diesen Laut sich umwandte, ward im Augenblick von der Angst mitergriffen.

Der Ort hatte ein so verlassenes, einsames Aussehen, und die Phantasie beider Mädchen war durch Ellinors Furcht und ihre Vermutungen über die drohende Waffe so aufgeregt worden, daß tausend Schreckbilder von Gewaltthat und Mord zugleich auf ihre Seele einstürmten. Ohne jedoch ihr Entsetzen mit Worten gegeneinander auszudrücken, verdoppelten beide, wie in einer plötzlichen und unwillkürlichen Eingebung, ihren Schritt, immerfort zurückschauend, ob der vermeintliche Räuber nicht näher komme. Auch er, glaubten sie bald zu bemerken, ging schneller, was ihre Besorgnis vermehrte und wirklich größere Berechtigung zu derselben zu geben schien.

Endlich, als sie durch eine plötzliche Biegung des Weges den schrecklichen Fremdling aus dem Gesicht verloren hatten, gab ihnen die Furcht nur für einen Entschluß Raum: – in vollem Lauf, so schnell als ihre Gemütsbewegung es immer gestattete, flogen sie dahin.

Das nächste und wirklich das einzige Haus in dieser Richtung war dasjenige Arams, beide Schwestern aber glaubten, wenn sie desselben nur erst ansichtig geworden, seien sie außer Gefahr. Jeden Augenblick sahen sie zurück; noch wurden sie ihren eingebildeten Verfolger nicht gewahr; – jetzt kam auch er wieder zum Vorschein – jetzt – ja, jetzt lief auch er!

»Schneller, schneller, Madeline, um Gottes willen! Er ist hart an uns!« schrie Ellinor.

Der Pfad ward wilder, die Bäume wurden dicker und häufiger; bei jedem Gebüsch, um welches sie weiter kamen, sahen sie auch den Fremden näher und näher hinter sich. Endlich eine plötzliche Öffnung – eine ebenso schnelle Veränderung der Landschaft – eine weite Fläche glänzte ihnen entgegen und in der Mitte das einsame Haus des Gelehrten!

»Gott sei Dank, wir sind sicher!« rief Madeline. Noch einmal wandte sie sich nach dem Fremden um, darüber stieß jedoch ihr Fuß an einen Stein und sie fiel mit Heftigkeit zu Boden. Sie wollte aufstehen, war aber im ersten Augenblick unfähig, sich von der Stelle zu bewegen. In diesem Zustande sah sie gleichwohl von neuem zurück und bemerkte den Verfolger in geringer Entfernung; aber auch er hielt an, und nachdem er einen Augenblick überlegt zu haben schien, wandte er sich seitwärts und war schnell im Dickicht verschwunden.

Mit großer Anstrengung half Ellinor Madeline sofort aufstehen. Ihr Knöchel war gewaltsam verrenkt und sie vermochte den Fuß nicht auf den Boden zu setzen. So zaghaft sie sich aber bei der Erscheinung des Fremden bewiesen, mit so vieler Festigkeit trug sie jetzt ihren Schmerz.

»Ich habe wenig Schaden genommen, Ellinor,« sagte sie mit sanftem Lächeln, um ihrer Schwester Mut zu machen, die sie sprachlos vor Schrecken unterstützte; »aber was anfangen? Ich kann auf diesen Fuß nicht treten; wie sollen wir nach Haus kommen?«

»Gott sei Dank, wenn du nur nicht stark beschädigt bist!« erwiderte die arme Ellinor; »lehne dich auf mich, stärker, ich bitte dich! Versuch' es nur, bis zum Hause dort zu kommen; da können wir warten, bis Mr. Aram unsere Kutsche hat holen lassen!«

»Aber was wird er denken? Wie wunderlich wird es erscheinen!« sagte Madeline, indem ihre eben noch totenbleiche Wange wieder Farbe bekam.

»Haben wir Zeit zu Bedenklichkeiten und Ceremonien?« fragte Ellinor. »Komm, ich bitte dich, komm; wenn du so lange zauderst, kann der Mensch Mut fassen und uns anfallen. – So ist's recht! – Hast du große Schmerzen?«

»Es ist mir nicht um den Schmerz,« murmelte Madeline, »aber wenn er dächte, wir drängen uns ihm auf. Er ist so zurückhaltend, so menschenscheu, wahrlich, ich fürchte –«

»Aufdrängen?« unterbrach sie Ellinor. »Denkst du so übel von ihm? Glaubst du, er habe, weil er ein Einsiedler ist, die Gefühle der allgemeinen Menschenliebe verloren? – Aber lehne dich mehr auf mich, Beste, du weißt nicht wie stark ich bin.«

So abwechselnd ihre Schwester schmälend, liebkosend und ermutigend, führte Ellinor die Leidende weiter, bis sie, wenn auch langsam und mühevoll genug, über den Platz hinübergekommen waren und vor dem Thor des Einsiedlers standen. Von Zeit zu Zeit hatten sie sich umgesehen, aber ihre Furcht kam nicht wieder zum Vorschein. Eben dies nahmen sie für einen genügenden Beweis, daß ihre Besorgnisse nicht unbegründet seien.

Madeline hätte noch jetzt gern der Schwester Hand von der Klingel zurückgehalten, die vor dem Thor, halb überdeckt von Epheu, hing; aber Ellinor, ungeduldig, wie sie's wohl werden durfte, über solch' unzeitige Förmlichkeit, widersetzte sich jeder längeren Zögerung. So ausnehmend still und einsam war's um das Haus her, daß der plötzliche Glockenton etwas Schreckhaftes hatte und mit seinem gellenden Klange wie eine Entweihung der tiefen Ruhe des Ortes erschien. – Sie warteten nicht lange; ein Tritt ließ sich vernehmen, das Thor wurde langsam aufgeriegelt und der Gelehrte selbst stand vor ihnen.

Es war ein Mann, der etwa seine fünfunddreißig Jahre zählen mochte, aber auf den ersten Blick würde man ihn für bedeutend jünger gehalten haben. Sein Wuchs ging über die gewöhnliche Größe, obwohl eine sanfte, nicht ungefällige Beugung des Nackens mehr als der Schultern der vorteilhaften Höhe einigen Eintrag that. Die Gestalt war dünn und mager, aber wohlgefügt und in schönen Verhältnissen. Die Natur hatte diese Formen ursprünglich nach einem athletischen Maßstab entworfen, aber durch sitzende Lebensweise und geistige Anstrengung schien ihre Gabe etwas Abbruch erlitten zu haben. Seine Wange war bleich und zart, doch deutete sie eher das Durchschimmern des Geistes als Schwäche der Gesundheit an. Das lange, reiche, dunkelbraune Haar lag von Antlitz und Schläfen zurückgestrichen und ließ eine breite, hohe, prächtige Stirn gänzlich frei und offen; diese Stirn zeigte nicht eine einzige Runzel; sie war noch so glatt, als sie fünfzehn Jahre früher gewesen sein mochte. Aus ihrer klaren Wölbung sprach beredt eine ungemeine Ruhe und sozusagen Unergründlichkeit des Denkvermögens und ließ auf einen Mann schließen, der sein Leben mehr unter ernster Betrachtung als unter Gemütsbewegungen hingebracht hatte. Es war ein Gesicht, auf welches ein Physiognomiker gern geblickt hätte, so stark deutete es auf Feinheit wie auf Adel des geistigen Vermögens.

So war – wenn Abbildungen als getreue Träger der Wirklichkeit zu nehmen sind – die Persönlichkeit eines Mannes beschaffen, der in Bezug auf vielseitige und tiefgehende Wissenschaft leicht den ersten Rang unter seinen Zeitgenossen einnehmen mochte; dabei ein nur durch sich selbst gebildeter Geist, der sich aber nie erlaubte, auf den wundervollen Schätzen auszuruhen, die er mühsam zusammengerafft hatte.

Schweigend und augenscheinlich überrascht stand er jetzt vor den beiden Mädchen. – Und dieser epheuumrankte Thorweg – die stille Gegend – Madelinens auf die Schwester gelehnte, schüchterne Gestalt mit den gesenkten Augen – Ellinors lebhafter Ausdruck, während sie Umstände und Beweggrund ihres Kommens erzählte – endlich der bleiche Bewohner des Hauses selbst, so plötzlich aus einsamem Forschen aufgeschreckt und zum Beschützer der Schönheit gemacht – all das dürfte wohl kein unwürdiger Gegenstand für den Pinsel eines Malers gewesen sein.

Nicht sobald hatte Aram aus Ellinors abgerissenem Bericht die allgemeinsten Züge ihres Begegnisses und des Unfalls, welcher Madeline betroffen, vernommen, als sein Gesicht und ganzes Benehmen die lebhafteste, tiefste Teilnahme zu erkennen gaben.

Madeline war unaussprechlich gerührt über die gefühlvolle, ehrerbietige Sorglichkeit, womit der einsame Gelehrte – sonst so kalt und verschlossen – ihr jetzt den hilfreichen Arm bot und sie ins Haus führte; über das Mitleid, das er für ihren Schmerz ausdrückte, die Wahrheit der Empfindung, welche sich unzweideutig in seiner Stimme, seinen Augen aussprach. Und als diese dunklen – und um ihren eigenen Gedanken zu gebrauchen – unergründbar tiefen Augen bewundernd und doch so sanft auf sie gerichtet waren, da fühlte sie ihrem Schmerz zum Trotz einen unnennbar süßen Schauer im Herzen, den sie zuvor noch in niemandes Gegenwart empfunden hatte.

Aram rief jetzt die einzige Bedienung, die in seinem ganzen Hause zu finden war, herbei. Sie erschien in Gestalt einer alten Frau, die er aus der ganzen Nachbarschaft als diejenige ausgewählt zu haben schien, welche am besten zu seiner strengen Zurückgezogenheit paßte. Sie war im höchsten Grade taub und im Dorfe wegen ihrer Schweigsamkeit zum Sprichwort geworden. Die arme alte Margaret, längst Witwe, hatte zehn Kinder durch frühzeitigen Tod verloren; aber einst gab es eine Zeit, wo sie sich im nämlichen Grade durch ihre Munterkeit bemerkbar machte, wie jetzt durch ihre Zurückhaltung. Ungeachtet ihrer Harthörigkeit begriff sie den Unfall, der Madeline zugestoßen, schnell; und mit einer Eilfertigkeit, welche zeigte, daß ihr Unglück die natürliche Herzensgüte nicht ertötet hatte, tummelte sie sich, Umschläge und Bandagen für den verletzten Fuß zurecht zu machen.

Unterdessen übernahm es Aram, der niemand an seiner Statt hätte schicken können, selbst nach dem Schlosse zu gehen und die alte Familienkutsche, welche wohl seit einem halben Jahre ungebraucht im Schuppen geruht hatte, für die Patientin herbeizuholen.

»Nein, Mr. Aram,« sagte Madeline errötend; »ich bitte, gehen Sie nicht selbst; bedenken Sie, daß jener Mensch noch immer auf dem Wege herumschleichen kann. Er ist bewaffnet – guter Gott, wenn er Ihnen begegnete!«

»Fürchten Sie nichts, Madam!« erwiderte Aram mit sanftem Lächeln; »auch ich habe, so unbekannt und sicher dieser einsame Ort ist, Waffen, und um Sie zu beruhigen, will ich nicht unterlassen, sie mitzunehmen.«

Damit faßte er zwei große Reiterpistolen, die an der Wand hingen, befestigte sie mit einem ledernen Gurt um den Leib, nahm, um minder gefährlichen Wanderern, denen er etwa begegnen möchte, einen so beunruhigenden Anblick zu ersparen, einen langen Mantel, wie man sie damals bei rauher Witterung zu tragen pflegte, als Umhang und wandte sich zur Thür.

»Sind sie auch geladen?« fragte Ellinor.

Aram antwortete mit einer kurzen Bejahung. Daß ein Mann von so friedfertiger Beschäftigung, der überdies keine die Habgier verlockenden Kostbarkeiten zu besitzen schien, an diesem Ort, wo man nie von einer Frevelthat gehört, solche Vorsicht auch in gewöhnlicher Zeit beobachten sollte, hatte etwas Eigenes, das übrigens den Schwestern damals nicht auffiel.

Als die Thür hinter ihm wieder geschlossen war und nun die alte Frau durch warme Umschläge, in deren Bereitung sie sich keineswegs unkundig gezeigt, den Schmerz der Verrenkung mit leichter Hand linderte, sah sich Madeline mit Interesse und Neugier in dem Zimmer um, in welches zu gelangen sie das seltene Glück gehabt hatte.

Das Haus hatte einer nicht unangesehenen Familie gehört, deren Vermögen jedoch von späteren Erben durchgebracht worden war. Lange stand es darauf einsam und unbewohnt, und als sich Aram in dieser Gegend niederließ, war der Eigentümer froh, der Bürde eines unbenutzten Gebäudes gegen eine bestimmte Miete los zu werden. Die Einsamkeit des Platzes war es hauptsächlich, was jenen anzog, und da seine Büchersammlung, selbst nach dem Maßstab der jetzigen Zeit, für sehr ansehnlich gelten konnte, so brauchte er allerdings einen größeren Raum, als er in einer beschränkteren, seinem Vermögen und seiner sonstigen Lebensweise entsprechenderen Wohnung füglicherweise hätte finden können.

Das Zimmer, worin sich die Schwestern befanden, war das größte im Hause und wirklich von ansehnlichen Verhältnissen. Nach vorn zu hatte es ein einziges großes vorspringendes Fenster, ihm gegenüber ein altes, hohes Kamingesims von schwarzem Eichenholz. Der Rest der Wände war vom Boden bis zur Decke mit Büchern besetzt; Bände in allen Sprachen, ja man hätte ohne viele Übertreibung sagen können, über alle Wissenschaften, lagen auf Stühlen, Tischen, dem Boden umher. Neben dem Fenster stand das Schreibpult und ein großer, altmodischer, eichener Stuhl. Einige Papiere mit astronomischen Rechnungen lagen auf dem ersteren; das waren die einzigen Anzeichen eines praktischen Ergebnisses der gepflogenen Studien. Und in der That scheint Aram nicht der Mann gewesen zu sein, der zu weiterer Anwendung des erlangten Wissens sonderlich geneigt war; was er schrieb, stand in sehr geringem Verhältnis zu dem, was er las.

So groß und bedeutend war der Ruf, den er erworben, daß das einsame Heiligtum so vieler der Wissenschaft geweihten Stunden selbst für den anziehend gewesen wäre, der höhere Bildung nicht zu schätzen vermochte; auf Madeline aber mußte – nach der eigentümlichen Richtung ihres Geistes und Gemütes zu schließen – das Zimmer einen mächtigen, höchst angenehmen Reiz ausüben.

Während sie umhersah, suchte Ellinor die alte Frau ins Gespräch zu ziehen. Sie hätte gern einiges Nähere über das tägliche Leben und Treiben des Einsiedlers von ihr herausgelockt, aber die Taubheit der Dienerin war so hartnäckig und unbezwinglich, daß sie zuletzt verzweifelnd sich genötigt sah, ihren Versuch aufzugeben. »Ich fürchte,« sagte sie endlich, ihrer natürlichen Gutmütigkeit durch Ungeduld soweit entfremdet, daß sie ein leichtes Gähnen nicht unterdrücken wollte, »ich fürchte, die Zeit wird uns lang werden, bis der Vater kommt. Denke, daß die dicken schwarzen Stuten, die ohnehin nicht zu schnell sind, auf dem holperigen Feldwege – denn eine Straße ist da nicht – höchstens kriechen können. Es wird ganz Nacht werden, ehe die Kutsche ankommt.«

»Ich bedaure, liebe Ellinor, daß dir meine Ungeschicklichkeit einen so ungemütlichen Abend machen muß,« entgegnete Madeline.

»Ach!« rief Ellinor, die Arme um der Schwester Nacken schlingend, »nicht an mich hatte ich gedacht; ja mich freut sogar der Gedanke, daß wir in die Höhle dieses Zauberers gelangt sind und die Werkzeuge seiner Kunst sehen durften. Hoffentlich wird deshalb Mr. Aram dem schrecklichen Menschen nicht begegnen müssen.«

»Nun,« sagte die kühnere Madeline, »er ist bewaffnet und Mann gegen Mann. Ich achte ihn zu hoch, um hier einer ernstlichen Besorgnis Raum geben zu können!«

»Doch sind solche Buchmenschen in der Regel keine Helden!« bemerkte Ellinor lachend.

»Schäme dich,« erwiderte Madeline, bis in die Stirn hinauf errötend. »Weißt du nicht mehr wie letzten Sommer Eugen Aram das Kind der Witwe Grenfeld im buchstäblichen Sinne mit eigener Lebensgefahr von dem Stier errettete? Und als voriges Jahr die niederen Gründe bei Fairleigh überschwemmt wurden, wer als Eugen Aram kam Tag für Tag zur Rettung der Menschen, ja sogar um das Eigentum der armen Leute aus den Fluten zu schaffen, herbei, und das zu einer Zeit, wo selbst die mutigsten Dorfbewohner sich nicht aufs Wasser getrauten? – Aber, um Gottes willen, Ellinor, was giebt's? Du wirst blaß, du zitterst?«

»Bst!« sagte Ellinor, den Atem anhaltend; damit stand sie, den Finger auf die Lippen gelegt, auf und schlich leise ans Fenster. Sie hatte bemerkt, daß ein Mann vorbeiging, den sie, als sie sofort ans Fenster gekommen, am Thorweg stillstehen sah und in welchem sie den furchtbaren Fremden erkannte. In demselben Augenblick ward die Klingel gezogen und die alte Frau, mit dem gellenden Ton vertraut, erhob sich aus ihrer knieenden Stellung neben der Patientin, um dem Rufe zu folgen.

Ellinor sprang hinzu und hielt sie auf; die arme Alte starrte sie verdutzt an, ganz unfähig, die unzusammenhängenden Gebärden und raschen Worte zu verstehen. Nur mit großer Schwierigkeit und nach wiederholten Versuchen machte sie endlich den stumpfen Sinnen des Mütterchens die Ursache ihres Schreckens und die Notwendigkeit, den Fremden nicht ins Haus zu lassen, begreiflich.

Inzwischen hatte die Glocke wieder und wieder und endlich zum drittenmal mit einer lange anhaltenden Heftigkeit geklungen, welche auf die Ungeduld des Einlaßsuchenden schließen ließ. Sobald das gute Weib über Ellinors Meinung verständigt war, konnte man sie einer unnatürlichen Schweigsamkeit keineswegs mehr beschuldigen. Die Hände ringend, ergoß sie sich in einen Strom von Wehklagen und Schreckensrufen, welcher Ellinor von der Besorgnis, ihre Ermahnung möchte nicht ordentlich verstanden worden sein, aufs wirksamste befreite. Zufrieden, soviel geleistet zu haben, eilte diese sofort selbst zum Thor und sicherte den Zugang durch Vorschiebung eines zweiten Riegels, kehrte dann, indem ein neuer Gedanke in ihr aufblitzte, zu der Alten zurück und machte ihr, deren Sinn jetzt durch die Furcht geschärft war, mit leichterer Mühe als zuvor begreiflich, daß es durchaus notwendig sei, auch die Hinterthür auf gleiche Weise zu verschließen. Beide eilten zur Vollziehung dieser Vorsichtsmaßregel fort und Madeline, die Ellinor selbst gebeten hatte, die alte Frau zu begleiten, blieb allein zurück.

Mit einem entsetzlichen Angstgefühl, in so hilfloser Lage allein gelassen zu sein, hielt sie den Blick aufs Fenster geheftet. Obwohl ein doppelt verriegeltes Thor von ungewöhnlicher Stärke zwischen ihr und dem Anstürmenden lag, erwartete sie doch in atemloser Furcht, jede Sekunde die Gestalt des Bösewichts ins Zimmer stürzen zu sehen.

Während sie so saß und vor sich hinstarrte, bemerkte sie plötzlich mit Grauen, wie der Mann, müde vielleicht, noch länger erfolglos zu läuten, sich dem Fenster näherte und forschend hereinsah. Ihre Augen begegneten sich; sie hatte nicht die Kraft zu schreien. Würde er durchs Fenster brechen? Das war ihr einziger Gedanke, der sie der Sprache und beinahe des Bewußtseins beraubte. Mit einem grimmigen Lächeln der Verachtung betrachtete jener eine Zeitlang das Entsetzen, das sich in ihren Zügen malte, klopfte dann ans Fenster und seine Stimme unterbrach rauh eine Stille, die noch furchtbarer war als die Unterbrechung.

»Ho, ho! Regt sich da noch was Lebendiges! Ich bitt' um Verzeihung, Madam, ist Mr. Aram – Eugen Aram zu Haus?«

»Nein,« sagte Madeline leise und wiederholte sofort, bemerkend, daß ihre Rede nicht zu ihm gedrungen, die Antwort in lauterem Ton. Der Mann, wie damit zufrieden, machte eine kurze Verbeugung des Kopfes und ging vom Fenster weg.

Ellinor kehrte jetzt zurück und mit Schwierigkeit fand Madeline Worte, dieser zu erzählen, was geschehen war. – Man wird sich leicht vorstellen, daß die beiden jungen Damen mit heißer Sehnsucht der Ankunft ihres Vaters entgegensahen. Der Fremde kam gleichwohl nicht mehr zum Vorschein, und nach ungefähr einer Stunde vernahmen sie zu ihrer unaussprechlichen Freude das Gerassel der alten Kutsche, die auf das Haus zupolterte. Das Thor aufzuriegeln ward diesmal nicht gezögert.

Ein einsamer Gelehrter

Als Aram der schönen Madeline in die Kutsche half – als er hinhörte auf die süße Stimme, den Ausdruck des Dankes in ihren sanften Augen las und den leichten, aber warmen Druck ihrer feengleichen Hand fühlte, da ergriff zum erstenmal in seinem einsamen, freudlosen Leben jenes unbestimmte Entzücken seine Brust, das der Vorbote der Liebe ist.

Lester reichte ihm die Hand mit einer zutraulichen Herzlichkeit, welcher der Gelehrte nicht zu widerstehen vermochte.

»Seien wir nicht Fremde gegen einander, Mr. Aram,« sagte er warm, »ich dränge mich nicht viel nach Umgang außerhalb meines eigenen Kreises; aber in Ihrer Gesellschaft würde ich ebensoviel Vergnügen als Belehrung finden. Lassen Sie uns das Eis keck und mit einem Schlage brechen. Kommen Sie morgen zu mir zu Tisch, auf den Abend soll dann Ellinor etwas singen.«

Die Entschuldigung erstarb auf Arams Lippen; ein zweiter Blick auf Madeline besiegte, was noch von Zurückhaltung in ihm war; er nahm die Einladung an und bemerkte mit einer ungewohnten Bewegung des Herzens, daß Madelines Auge bei seiner Zusage aufleuchtete.

In tiefen Gedanken, die Arme über der Brust gekreuzt, sah er dem Wagen nach, bis die Biegung des Thales ihn seinen Blicken entzogen hatte. Aus seiner Träumerei plötzlich auffahrend, kehrte er sofort ins Haus zurück und stieg, nachdem er das Thor wohl verschlossen und verriegelt hatte, langsamen Schrittes in das höhere Gemach, das er für astronomische Forschungen oben auf seiner einsamen Wohnung hatte anbringen lassen.

Es war jetzt dunkel geworden, der Himmel breitete sich um ihn in all der liebenden, hehren Ruhe der Jahreszeit und der Stunde; die Sterne badeten die belebte Atmosphäre in ein feierliches Licht, und über ihm und um ihn war heilige Zeit, so still wie eine Nonne in atemloser Andacht. Er blickte hinaus auf das tiefe Schweigen der Nacht und überließ sich ganz den Betrachtungen, welche es einflößte.