EUROCAN 2033 - Christian Gruenler - E-Book

EUROCAN 2033 E-Book

Christian Gruenler

5,0

Beschreibung

Im Jahr 2033 ist Sophie Hartmann als junge Ministerin Teil des Kabinetts der Bundeskanzlerin Annalena Baerbock und dort für Europafragen zuständig. Als die Kanzlerin nach einem Attentat durch serbische Nationalisten zurücktritt, wird Sophie Hartmann mit den Stimmen der GRÜNEN und der CDU/CSU zur Nachfolgerin gewählt. Die Unionsparteien hoffen, dass sich die 39-jährige Politikerin in den vier Monaten bis zur nächsten Bundestagswahl gründlich blamiert und dann ein Unionskandidat die Wahl gewinnt. Genau in dieser Zeit entwickelt sich ein internationaler Konflikt, in dem Sophie eine Schlüsselrolle zufällt. Im Jahr davor, im Oktober 2032, feiert Wladimir Putin seinen 80. Geburtstag, und er ist immer noch an der Macht. Die deutsche Firma Hydro-Bakt hat eine Technologie zur kostengünstigen Produktion von grünem Wasserstoff auf der Meeresoberflache entwickelt – für Russlands Geschäft mit fossilen Brennstoffen eine strategische Bedrohung. Putin entschließt sich daher im Frühjahr 2033, ein russisches U-Boot zu den Versuchsfeldern der Firma Hydro-Bakt zu schicken, um mit einem Sabotageakt diese Technologie zu diskreditieren. Bei Island wird das U-Boot entdeckt und manövrierunfähig geschossen, die Besatzung beantragt Asyl in den USA, die geheime Operation fliegt auf. Russlands Regierung leugnet den Sabotageakt und schickt Seestreitkräfte Richtung Island. In den USA ist gerade eine Präsidentin ins Weiße Haus eingezogen, die ihren Wählern versprochen hat, sich vor allem um die USA zu kümmern und das internationale Engagement der Vereinigten Staaten zurückzufahren. Die Europäer müssen den Konflikt mit Russland also weitgehend selbst in den Griff bekommen. Als Russlands Truppen die Färöer-Inseln und Island besetzen, steht Sophie Hartmann als deutsche Bundeskanzlerin vor der größten Herausforderung ihres Lebens …

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Ähnliche


CHRISTIAN GRUENLER

EUROCAN2033

ROMAN

Inhaltsverzeichnis

Karten

2032

2033

2034

Der »Hartmann-Plan«

Liste der Romanfiguren

Danksagung

EUROCAN als Idee

Konfliktherde in der Handlung dieses Romans

Europa und Russland

Nordeuropa

Reiseroute des russischen Sabotage-U-Boots »Andrej Kolesnikov«

Island

Arktis

Seehandelsrouten

Die »GIUK-Lücke«

Westbalkan

Die Suwalki-Lücke

Ost-Provinzen Russlands und Kurilen

Distanz Taiwan – Australien

2032 Sept 10, FreitagMoskau

Wladimir Wladimirowitsch Putin schob den schweren Vorhang ein Stück zur Seite und hatte nun einen guten Blick nach unten auf den Innenhof des Kremls. Er schaute den Touristenmassen, die sich, wie jeden Tag, über den Hof wälzten, zufrieden zu. Der Himmel war blau und nur ein paar malerische Wölkchen waren zu sehen, die Touristen genossen den schönen und milden Septembertag. Es war noch früh am Tag, aber der Kreml war schon geöffnet für Reisegruppen, die in geführten Touren die Rüstkammer, den Glockenturm »Ivan der Große« und die Diamantenschmucksammlung der Zaren, die wichtigsten Sehenswürdigkeiten in diesem geschichtsträchtigen Gebäude also, sehen durften. Die Touristen, die unten im Innenhof des Kremls herumstanden und warteten, bis ihre Führung begann, machten ständig Fotos und Videos mit ihren Handys, so wie Touristen das eben machen. Er hatte die Fenster des gesamten Stockwerks verspiegeln lassen – zum Entsetzen der Bauabteilung des Kremls, die auch für den Denkmalschutz zuständig war.

Er fand es gut, dass sich die Leute der Bauabteilung Sorgen um den Kreml machten, um das gemeinsame Erbe des Vaterlandes. Aber er war nun einmal der Präsident und der Kreml war damit sein Palast. Als ihm einer seiner Informanten zugetragen hatte, dass in der Bauabteilung Kritik über die Verspiegelung der Fenster geflüstert wurde, hatte er nur gelächelt und nichts weiter unternommen. Man musste natürlich aufpassen auf solche Entwicklungen, das wusste Putin aus jahrzehntelanger Erfahrung sehr genau. Kritik am Präsidenten war gefährlich und musste im Prinzip sofort im Keim erstickt werden. Aber die Kritik an der Verspiegelung der Fenster war okay, denn darin sah er auch Vaterlandsliebe. Die Leute in der Bauabteilung wollten das historische Erbe Russlands bewahren, und solange sie nicht generell an seiner Person oder an seiner Präsidentschaft herummeckerten, hatten sie nichts zu befürchten.

Jedenfalls konnte er seit der Verspiegelung der Fenster sicher sein, dass keiner der Besucher ihn sehen konnte. Trotzdem zuckte er unwillkürlich immer wieder leicht zurück, wenn einer in seine Richtung nach oben schaute und seine Handykamera auf das Fenster richtete, hinter dem er stand. Er wollte auf keinen Fall dabei gesehen werden, wie er die Touristen beobachtete. Wenn schon, dann würde er irgendwann einmal ganz hinuntergehen und eine geeignete Reisegruppe mit einem plötzlichen und jovialen Auftritt überraschen. Eine Teenagergruppe aus Europa vielleicht, und natürlich müsste dann alles minutiös vorbereitet sein und mehrere Kameras müssten das Ganze filmen, damit der Videoclip danach in die internationalen Medien eingespielt werden könnte.

Noch hatte er bis zu seiner Besprechung etwas Zeit und er ließ seine Gedanken weiter dahinschwimmen. Dieser verdammte Ukrainekrieg vor zehn Jahren hätte ihn beinahe Kopf und Kragen gekostet. Militärisch war alles sehr schlecht gelaufen damals. Nie wieder würde er den Fehler machen, nur auf diese speichenleckenden und unfähigen Generäle in Moskau zu vertrauen. Nie wieder würde er eine solche militärische Operation durchführen, ohne direkten Kontakt mit den Offizieren vor Ort und ohne einen Informanten vom FSB, dem Inlandsgeheimdienst, direkt an der Front. Am Ende hatte er sich mit einem miesen Kompromiss zufriedengeben müssen. Gerade noch hatte er das als einen Sieg darstellen können, beinahe wäre es auch noch zu einem Kommunikationsdesaster innerhalb von Russland gekommen.

Immer noch bestanden im Jahr 2032 diese sogenannten Sanktionen des Westens unverändert weiter, so wie sie damals von den NATO-Ländern beschlossen worden waren. Aber auf der wirtschaftlichen Seite hatte Putin, seinem eigenen Empfinden nach, den anhaltenden Konflikt mit dem Westen eindeutig gewonnen. Sein Land hatte im Vorjahr, im Kalenderjahr 2031, mehr Öl, Gas, Kohle und andere Rohmaterialien exportiert als jemals zuvor in einem Jahr und viel mehr als 2021, also im Jahr vor dem Ukrainekrieg. Die Weltbevölkerung war ständig am Wachsen und der Anteil Europas und Nordamerikas am weltweiten Bruttosozialprodukt sank langsam, aber beständig. Der Rest der Welt hatte den Ausfall der Käufer aus Europa und Nordamerika schon nach wenigen Jahren kompensiert und heute, im September 2032, lief das Geschäft besser als je zuvor. Im Gegenteil, es war zu einer willkommenen Entkoppelung vom Westen gekommen: Wer von Russland etwas kaufen wollte, der musste seit ein paar Jahren über CIPS bezahlen, das chinesische Konkurrenzunternehmen zum westlichen Bankensystem SWIFT. Die Regierung in Peking hatte das Hauptquartier von CIPS vor ein paar Jahren klugerweise nach Singapur verlagert und seitdem war es eine allgemein akzeptierte Alternative zu SWIFT geworden. Ja, es fehlten schon einige Hightech-Produkte, die der Westen nicht mehr liefern wollte. Aber Russland musste ohnehin lernen, selbst diese Technologien zu entwickeln und das brauchte zwar Zeit, aber letztendlich würde es nach Putins fester Überzeugung doch gelingen. Im militärischen Bereich war Russland schon lange ein Hochtechnologie-Land, warum also nicht auch in allen anderen Bereichen?

Auch die Schmutzkampagne gegen ihn persönlich, die ätzenden Versuche des Westens, ihn als Monster darzustellen, waren in seinen Augen krachend gescheitert. All das Geschwätz von Kriegsverbrechen, von Bürgerrechten und Diktatur waren an ihm abgetropft und den weltweiten Medien war es irgendwann langweilig geworden, darüber zu berichten. Keine der nicht-westlichen Regierungen verweigerte im Jahr 2032 noch eine Zusammenarbeit mit ihm. Alle waren sie Realisten genug, um zu erkennen, dass letztendlich Stärke über die Machtverteilung auf der Welt bestimmte und sein Russland war stark, davon war er überzeugt. Die Touristen da unten waren eine Bestätigung, dass auch im Westen die moralische Hysterie nur noch in den Blasen der politischen Eliten weiterbestand, denn die meisten dieser Besucher, die unten auf dem Hof herumstanden und die den Kreml sehen wollten, kamen aus den EU-Ländern.

Er ging langsam zu dem kleinen Besprechungsraum zurück, in dem schon bald sein erstes Treffen an diesem Tag stattfinden würde. Immer noch nachdenklich schaute er über den perfekt geputzten, glänzenden Marmorboden dieses Raumes. Er mochte das. Sauberkeit, Ordnung und Kontrolle lagen für ihn in der gleichen emotionalen Kategorie und sie gaben ihm Balance und Zufriedenheit. Wenn seine Mutter das sehen könnte! Wie würde sie wohl reagieren auf den Kontrast zu dem schäbigen Gebäude mit den schimmligen Wänden, in dem sie in seiner Jugend gewohnt hatten und wo sie sich den Lebensraum mit Ratten und anderem Ungeziefer hatten teilen müssen? Mehr als sechzig Jahre war das schon her.

Er wurde durch ein Klopfen an der Tür aus seinen Gedanken gerissen und eine seiner Assistentinnen steckte den Kopf durch den Türspalt.

»Ihre Gäste sind da, Herr Präsident«, sagte sie mit leiser Stimme.

»Sie sollen noch warten«, sagte er und setzte sich an den Tisch, auf dem zwei dünne Aktendeckel lagen.

Wladimir Putin war mit Papierakten aufgewachsen und er sah keinen Grund dafür, an seiner Gewohnheit, Informationen auf Papier zu lesen, grundsätzlich etwas zu ändern.

Er hatte schon vor vielen Jahren die weitere Gewohnheit entwickelt, kurz vor einem Gespräch noch einmal die Personenprofile von Gesprächspartnern zu studieren. Natürlich nicht von denen, die er schon lange und gut kannte, nur von denen, die er zum ersten Mal empfing, oder die er lange nicht gesehen hatte. Von den beiden Besuchern, die draußen warteten, hatte er den einen vor längerer Zeit schon einmal gesprochen, aber er erinnerte sich nur vage an ihn. Es war der Direktor des Instituts für Meeresbiologie in Wladiwostok, der östlichsten russischen Großstadt an der Pazifikküste, dessen Akte er zuerst anschaute. Er legte sie bald wieder zur Seite. Die andere Akte war interessanter: Eine jüngere Mitarbeiterin des Instituts: Valentina Tomaskova, einunddreißig Jahre alt, zwei ältere Brüder, unverheiratet, Studium der Meeresbiologie, Doktorarbeit über Meeresbakterien und – dies ließ ihn kurz stocken und lächeln – sie hatte sich freiwillig gemeldet zu einer Ausbildung als Kampfschwimmerin und war eine der ersten Frauen überhaupt, die sich zum harten Dienst in dieser Einheit gemeldet hatten. Ihr Bild zeigte eine hübsche junge Frau mit leicht mongolischem Einschlag, schwarze Haare, hohe Backenknochen. Er mochte die Frau schon bevor er sie das erste Mal persönlich gesehen hatte. Er klappte die Aktendeckel zu, ließ sie aber auf dem Tisch liegen. Auch das gehörte zu seiner Routine beim Empfang von russischen Besuchern, die er noch nicht kannte: Die Demonstration absoluter Kontrolle. Die Leute sollten aus dem Gespräch den Eindruck mitnehmen, dass ihr Präsident alles über sie weiß. Er ging kurz ins Bad nebenan, kämmte sich die wenigen Haare, die er noch hatte, und rückte seine Krawatte zurecht. Denn die Besucher sollten auch einen Präsidenten erleben, der alles unter Kontrolle hatte, inklusive seiner äußeren Erscheinung. Jedes Treffen war wichtig für den Erhalt seiner Machtbasis, keine Besprechung war in dieser Hinsicht unwichtig.

Er drückte auf den Knopf der Sprechanlage, die ihn mit seiner Vorzimmerassistentin verband. »Sie sollen hereinkommen«, sagte er und setzte sich in den Stuhl am Kopfende des Tisches.

Der Direktor des meeresbiologischen Instituts war ein großer und fülliger Mann und sein Verhalten passte überhaupt nicht zu seinem Körper. Er kam schwer atmend in den Raum und verbeugte sich so, wie es in Japan üblich war. »Herr Präsident, es ist eine große Ehre, hier sein zu dürfen«, stieß er hektisch atmend hervor.

Seine Mitarbeiterin stand unsicher neben ihm, eine Tasche hing an ihrer Schulter. Sie schaute ihren Chef an und überlegte offenbar, was sie zur Begrüßung tun sollte. Sie entschied sich schließlich dafür, auch eine Verbeugung zu machen, aber sagte nichts.

Putin sah der Szene aufmerksam zu. Was dachte Valentina wohl über ihren Chef? War da eine Spur von Verachtung in ihrem Blick oder war das nur Unsicherheit?

»Ich sehe, die Nähe zu Japan hat einen Einfluss auf Sie«, sagte Putin schließlich und lächelte süffisant. Mit einer ausladenden Armbewegung machte er dem Direktor klar, dass er links neben ihm sitzen sollte, Valentina Tomaskova wies er den Stuhl rechts neben sich zu.

»Wie war der Flug von Wladiwostok?«, fragte Putin. »Und wie geht es dem meeresbiologischen Institut?«

Die beiden setzten sich und entspannten sich etwas. Der Direktor nahm ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sich den Schweiß von der Oberlippe, obwohl es im Raum keineswegs heiß war.

»Danke, Herr Präsident, das Institut für Meeresbiologie ist immer noch eines der führenden Institute der Welt und das Dank Ihrer persönlichen Unterstützung und Dank der Tatsache, dass Russland das größte Meeresbiosphären-Reservat der Welt an seiner Pazifikküste eingerichtet hat. Leider ist es eben sehr weit weg von Moskau.«

Putin wusste nichts von einer Unterstützung, die er dem Institut am anderen Ende Russlands gegeben haben sollte, er war nur einmal vor vielen Jahren an der Küste dieses Meeresgebietes zu Besuch gewesen, das schon zu Sowjetzeiten zu einer Art maritimem Nationalpark im Japanischen Meer deklariert worden war. Er beschloss, die Plauderei zu beenden und zum Kern des Gesprächs zu kommen.

»Was können Sie mir über das Hydro-Bakt-Projekt erzählen?«, fragte er und schaute zuerst zum Direktor und dann zu Valentina, wo er seinen Blick verweilen ließ, was Valentina als Zeichen nahm, dass sie etwas sagen sollte.

»Ich habe eine Reihe von Unterlagen dabei …«, begann Valentina.

»Frau Tomaskova hat sich seit drei Monaten intensiv mit dem Projekt beschäftigt und war sogar auf Einladung der deutschen Regierung zu einem Forschungsaufenthalt in einem der Versuchsfelder im Atlantik bei Madeira«, unterbrach der Direktor seine Mitarbeiterin.

»Na, dann lassen wir sie doch erzählen«, sagte Putin mit einem leichten Lächeln an den Direktor gerichtet, der sofort einen knallroten Kopf bekam und verstummte.

»Wie lange waren Sie beim Versuchsfeld im Atlantik und was haben Sie dort gesehen?«, fragte Putin an Valentina gerichtet.

Valentina räusperte sich, ihre Kehle war hörbar trocken.

Putin nahm ein kleines Gerät in die Hand, das vor ihm lag, und drückte auf einen Knopf. Sofort meldete sich seine Vorzimmerassistentin: »Ja, Herr Präsident?«

»Olga soll Tee und Wasser bringen.«

Zu Valentina gewandt sagte er dann: »Ja bitte, fahren Sie fort.«

Valentina räuspert sich noch einmal. »Ich war im letzten Monat dort für drei Tage. Ich wurde einem deutschen Wissenschaftler zugeordnet, der mir Fragen beantwortet hat, der aber auch aufgepasst hat, dass ich nicht zu viel erfahre.«

Putin zog die Augenbrauen hoch, lächelte wissend und hörte weiter zu.

»Allerdings war ich nur an dem bei Madeira gelegenen Versuchsfeld im Atlantik und nun werden gerade neue Versuchsfelder in einer kälteren Zone angelegt, nämlich bei Island«, sagte Valentina Tomaskova.

»Bevor wir zu diesen Feldern im Norden kommen, Valentina, erklären Sie doch noch einmal genau, wie diese Technologie funktioniert«, sagte Putin. Es machte ihm einen enormen Spaß zu sehen, wie es dem Direktor missfiel, dass seine junge Mitarbeiterin dem Präsidenten berichten durfte und der sie sogar noch vertrauensvoll mit dem Vornamen ansprach, während er selbst, mehrere Hierarchiestufen über Valentina stehend, still danebensitzen musste.

Putin hatte eine diebische Freude an Spielen dieser Art, aber solche Gesprächstaktiken hatten durchaus auch ganz rationale Gründe. Die Russen, nein eigentlich alle Menschen auf der Welt, waren in Putins Kopf in drei Kategorien unterteilt: Entweder waren sie Gegner, und dann mussten sie vernichtet werden. Oder sie waren seine Gefolgschaft, dann mussten sie mit kleinen Belohnungen immer wieder bei guter Laune gehalten werden. Den Direktor zählte er zu diesen Gefolgsleuten und würde ihm beizeiten irgendwelche Belohnungen zukommen lassen. Es gab aber auch Menschen, die waren ihm gegenüber neutral eingestellt, und die mussten unbedingt und so schnell wie möglich entweder zu Gefolgsleuten umgewandelt werden – oder als Gegner enttarnt und dann vernichtet werden. Valentina schien ihm bisher neutral zu sein. Sie war vielleicht zu unpolitisch, um ein Gegner von ihm zu sein. Aber trotz ihrer Kampfschwimmer-Ausbildung – die er als Vaterlandsliebe interpretierte – und obwohl nicht das geringste Anzeichen von Illoyalität bei ihr zu erkennen war, meinte er doch, so etwas wie Aufmüpfigkeit an ihrer Haltung feststellen zu können. Ja, das war es, sie war nicht respektvoll genug oder besser gesagt, sie war nicht so eingeschüchtert von ihm und von ihrem Chef, wie es hätte der Fall sein sollen.

Es klopfte an der Tür, die Assistentin öffnete sie ohne eine Antwort abzuwarten von außen, und herein kam eine gut aussehende, gepflegte, etwa vierzigjährige Frau, die einen Wagen hereinschob, auf dem eine große Teekanne, einige Flaschen Wasser sowie Tassen und Gläser standen. Putin nickte ihr freundlich zu und winkte sie heran, damit sie das Geschirr auf den Tisch stellen konnte. Während die Frau ihre Arbeit machte, waren alle am Tisch Sitzenden still, bis Putin sagte: »Olga, ich trinke Tee und Wasser, probiere doch, ob alles die richtige Temperatur hat.«

Olga sagte nichts, lächelte nicht und schenkte sich etwas Tee in eine der Tassen, die sie mitgebracht hatte, und trank. Dann goss sie in ein Glas etwas Wasser ein und trank es ebenfalls. Daraufhin nickte sie dem Präsidenten schweigend zu und schenkte allen Anwesenden Getränke ein.

Putin ließ seit dreißig Jahren alle seine Speisen und Getränke von Vorkostern probieren, bevor er selbst einen Bissen oder einen Schluck in den Mund nahm. Nicht dass er es für besonders wahrscheinlich hielt, dass jemand in seiner gut geprüften Entourage versuchen würde, ihn zu vergiften, aber sicher war sicher.

»Danke, Olga«, sagte Putin zu der Frau, die gerade serviert hatte, und die schon auf dem Weg zur Tür war und dann den Raum verließ, ohne ein einziges Wort gesprochen zu haben.

»Also«, sagte Putin und wandte sich wieder Valentina zu, »zurück zu den Wasserstoffbakterien. Wie funktioniert das?«

Valentina nahm dankbar einen Schluck von dem Wasser und setzte dann neu an zu berichten.

»Herr Präsident, das Prinzip ist eigentlich ganz einfach. Im Institut für Meeresbiologie in Porto, in Portugal, haben Wissenschaftler vor etwa zwei Jahren Bakterien entdeckt, die mithilfe von Salz und Licht Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff aufspalten können. Eine seltene Unterart dieser Bakterien formt dabei klebrige kleine Kugeln, etwa so groß wie ein Tischtennisball, und entlässt dabei den Wasserstoff in das Innere der Kugel, den Sauerstoff nach außen. Aber diese Kugeln sind nur lose Zusammenschlüsse dieser Bakterien, das Gas entweicht normalerweise vollständig aus dem Inneren der kleinen Kugeln in die Luft und zum größten Teil verbinden sich Wasserstoff und Sauerstoff dann sofort wieder zu Wasser. Bisher hat kaum jemand diesen Bakterien Beachtung geschenkt, es bestand kein Grund dafür. Die portugiesischen Forscher haben nun durch eine gentechnische Manipulation die Bakterien dazu gebracht, die Außenhaut ihrer kleinen Kugelkolonie so dicht zu schließen, dass der Wasserstoff im Inneren verbleibt und damit ›geerntet‹ werden kann. Das Feld in der Nähe der Insel Madeira, das ich zu sehen bekommen habe, bestand aus vielen Millionen solcher kleinen Kugeln, die auf der Wasseroberfläche schwammen. Ein großes Schiff ist gekommen und hat die Bälle aufgenommen und mir wurde erklärt, dass die Bälle im Inneren des Schiffs ausgepresst werden. Der Wasserstoff wird gesammelt, gekühlt und als Flüssiggas nach Portugal transportiert, die Bakterien werden dann einfach wieder ins Wasser geworfen, wo sie wieder zu produzieren anfangen.«

Valentina hatte sich heiß geredet und machte nun bewusst eine Pause. Sie war sich der unsichtbaren Respektsgrenzen durchaus bewusst und wollte keine davon überschreiten und dann später dafür Schwierigkeiten mit ihrem Direktor bekommen. Sie nahm einen Schluck Wasser, um die Pause natürlich erscheinen zu lassen.

Putin wandte sich an den Institutsdirektor. »Das haben Sie sehr gut gemacht, dass Sie sofort reagiert haben und Ihre Mitarbeiterin dorthin geschickt haben. Bravo, es ist immer gut, wenn jemand mitdenkt!«

Der Direktor machte ein Gesicht, als hätte er gerade eine angenehme, warme Dusche zu spüren bekommen. Bevor er etwas sagen konnte, schaltete sich Valentina wieder ein:

»Die Europäer haben es uns Gott sei Dank bis zu diesem Punkt sehr einfach gemacht, weil sie ohnehin vorhaben, diese Technologie gratis an die ganze Welt zu verteilen. Aber trotzdem haben wir bisher leider die wesentlichen Teile des Know-hows nicht. Wir wissen nicht, wie die Bakterien zu Kugelkolonien gemacht wurden, wir wissen nicht, wie sie geerntet werden, wie sie die Kühlung überstehen bei der Ernte und so weiter.« Erschreckt sah sie in die Gesichter von Putin und ihrem Direktor. Sie hatte es doch gemacht, hatte eine Respektsgrenze überschritten. Sie schwieg sofort.

»Ja, so ist es, Herr Präsident«, schaltete sich der Direktor ein. »Auch wir werden diese Technologie irgendwann bekommen, aber bis dahin haben wir sie eben nicht und wir werden dann technologische Almosenempfänger sein. Außerdem ist diese Technologie eine Bedrohung für Russland.«

»Diese letzte Aussage habe ich schon von meinem Sicherheitsberater gehört, der ja auch dieses Treffen empfohlen hat.« Putin sprach von Yuri Sorokin.

»Aber das müssen Sie mir jetzt genauer erklären – worin genau besteht hier die Bedrohung? Wasserstoffproduktion gibt es doch an vielen Orten der Welt, aber trotzdem hängt die Welt immer noch an Öl und Gas.«

Der Direktor zögerte kurz. »Nun, diese Bakterienkugeln, die mit Wasserstoff gefüllt sind, wachsen von ganz allein. Man muss sie nur aus dem Wasser fischen und dann auspressen, so wie Frau Tomaskova das gesagt hat. Ich habe mit einem Experten darüber gesprochen, wie sich die Produktionskosten dieses Wasserstoffs mit den Produktionskosten von einem Fass Erdöl vergleichen lassen, und er hat mir vorgerechnet, dass das so wäre, als könnte man ein Fass Erdöl für unter 10 Dollar produzieren.«

Putin fing an zu verstehen, wo das Problem lag, das ihm Yuri Sorokin hatte nahebringen wollen, denn die Produktion von einem Fass russischen Erdöl kostete derzeit rund 30 US-Dollar, also das Dreifache davon! Ein Konkurrent auf dem globalen Energiemarkt, der praktisch unbegrenzte Mengen Energie mit Kosten produzieren konnte, die weit unter den russischen Produktionskosten lagen – das war in der Tat ein sehr gefährliches Problem, denn damit wäre nicht nur der russische Verkauf von Öl und Gas erledigt, sondern auch der gesamte russische Staat, dessen Haushalt von diesen Exporten in hohem Maße abhing.

»Aber man muss zuerst die Schiffe haben, die die Wasserstoffkugeln aus dem Wasser schöpfen, und man braucht Wasserstoffpipelines und Verladestationen, und dann muss man auch Heizungen, Motoren und Geräte haben, die den Wasserstoff nutzbar machen«, wandte Putin ein.

»Stimmt«, sagte der Direktor, der sich nun, im Verlauf des Gesprächs zunehmend wohler zu fühlen schien als zu Anfang. »Aber das ist natürlich eine Sache der Amortisationsrechnung. Das ist nicht mein Spezialgebiet, aber ich denke, dass bei einem Preis von unter 10 Dollar für die Energie, die in einem Fass Öl stecken würde, auch sehr hohe Investitionen für die gesamte Wasserstoffinfrastruktur sehr schnell amortisiert werden könnten. Das müsste ein Experte durchrechnen. Und ist es nicht auch so, dass die Leitungen für Erdgas, die schon bestehen, auch für Wasserstoff genutzt werden könnten? Auch das ist nicht mein Spezialgebiet, auch das müsste jemand anders prüfen.«

»Habe ich richtig verstanden«, fragte Putin, »dass diese Technologie gratis an die ganze Welt vergeben werden soll? Warum das denn, wenn es wirklich so ein gutes Geschäft ist?«

»Das liegt an den Deutschen«, meldete sich Valentina zurück. »Mein Begleiter war Angestellter eines deutschen Industriekonglomerats, das von dem Labor in Porto die Patente gekauft hat und dann nach ausführlichen Tests auf der ganzen Welt verteilen will. Die Lizenzgebühr dafür wird dann die deutsche Regierung bezahlen, das eigentliche Industriegeschäft besteht im Bau der Infrastruktur auf der ganzen Welt.«

»Der Wasserstoffinfrastruktur meinen Sie?«, fragte Putin.

»Ja genau«, sagte der Direktor. »Aber für die deutsche Regierung ist das nicht nur ein Geschäft, die sehen das vor allem als einen Durchbruch beim Klimaschutz.«

Klimaschutz! Putin ging das Thema schon seit mehr als zwanzig Jahren gewaltig auf die Nerven. Ja, sicher gab es eine Klimaveränderung, es wurde messbar immer wärmer auf der Welt. Aber es war in seinen Augen nicht klar erwiesen, ob das nicht auch ohne Menschen und fossile Brennstoffe passieren würde, denn das Klima hatte seit Milliarden von Jahren immer schon geschwankt. Und statt das Klima zu »schützen«, das heißt, seine Veränderungen verhindern zu wollen und statt so gegen die Natur ankämpfen zu wollen, hielt es Putin für viel klüger, Geld zu investieren, um mit den Folgen der unvermeidbaren Klimaveränderung umzugehen. In Sibirien jenseits des Ural hatten nach einem streng geheimen Bericht, den er erst vor einigen Tagen gelesen hatte, bereits mehr als die Hälfte aller Gebäude Schäden, weil der Permafrostboden auftaute, auf dem sie gebaut waren. Es gab überall schon Risse in den Wänden, weil der Untergrund weich wurde, und in Tausenden von Fällen war es so schlimm, dass die Häuser unbewohnbar geworden waren. Die Reparaturen würden viele Milliarden kosten und diese Entwicklung würde wahrscheinlich das ganze 21. Jahrhundert so weitergehen. Das waren die wirklichen Probleme, die man mit Investitionen angehen musste und nicht der blödsinnige Versuch, Klimaveränderungen aufzuhalten und CO2-Ausstoß zu vermeiden. Putin sagte aber nichts und ließ sich auch in seinem Gesicht nicht anmerken, was er wirklich dachte, denn bei Wissenschaftlern wusste man nie genau, auf welcher Seite sie beim Thema Klimaschutz standen.

»Ich habe viele Fotos gemacht, Herr Präsident, wollen Sie sie sehen?«, fragte Valentina.

»Ja natürlich, zeigen Sie sie her!«, sagte Putin und er beugte sich zu Valentina, sodass er die Fotos sehen konnte, aber auch den Geruch ihrer Haare und ihrer jungen Haut in die Nase bekommen konnte. Ach, wenn er doch nur noch etwas jünger wäre! Im nächsten Monat war sein achtzigster Geburtstag und seine Libido war »seinem Alter entsprechend«, wie sein Leibarzt es ausgedrückt hatte.

Sie sahen die Fotos der Versuchsfelder auf dem Atlantik an, Fotos von Schiffen bei der »Wasserstoffernte«, Ausdrucke von wissenschaftlichen Artikeln, in denen mit Grafiken der Produktionszyklus von »Hydro-Bakt«, erklärt wurde, und Zahlentabellen zu den Ernteerträgen, den Wasserstoffmengen pro Quadratkilometer Meeresoberfläche, etc. Ein Foto, auf dem vier riesige Schiffe zu sehen waren, die vor dem Versuchsfeld warteten, um Wasserstoff zu ernten, empfand Putin als besonders beunruhigend. Die Schiffe hatten große Gastanks an Deck und erinnerten ihn an die LNG-Schiffe, mit denen vor zehn Jahren Flüssiggas aus den USA in Europa ankam und die wesentlich dazu beigetragen hatten, den Ausfall der russischen Gaslieferungen an Europa zu kompensieren.

»Sie haben gesagt, dass jetzt auch Versuchsfelder im nördlichen Atlantik angelegt werden?«, fragte Putin.

»Ja genau«, antwortete der Direktor und kam damit Valentina zuvor. »Wenn das Gleiche auch in nördlichen Meeren gelingt, dann können Länder wie die USA, Kanada, Korea, Japan und China direkt vor ihrer Küste produzieren und dann sind die Transportwege und die Kosten noch geringer als derzeit.«

Vor allem als er das Wort China hörte, gab das Putin einen kleinen Stich.

»Warum können wir das nicht einfach nachmachen?«, fragte Putin.

Der Direktor ließ diesmal mit einer galanten Handbewegung seiner Mitarbeiterin den Vortritt bei der Antwort.

»Nun, wir müssten dazu herausfinden, welche Genmanipulationen vorgenommen wurden und wir müssten eine Anfangskolonie der Bakterien züchten können, und das ist hochkomplex. Ich habe heimlich einige der Bakterienkugeln mitgenommen, aber bisher sind wir im Labor nicht wirklich darauf gekommen, wie es geht. Es stellt sich auch die Frage, ob das sinnvoll ist, denn wie gesagt, bald bekommen wir das ohnehin gratis geliefert als fertiges Produkt.«

Putin dachte ein paar Sekunden nach und stand dann auf.

»Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Ich habe für heute genug gehört, ich komme auf Sie zu, wenn ich weitere Fragen habe«, sagte er und streckte seine Hand zuerst Valentina entgegen und dann dem Direktor. Das Treffen war damit beendet.

Nachdem die beiden Besucher eilig ihre Unterlagen zusammengekramt hatten und dann mit Verbeugungen die Tür hinter sich geschlossen hatten, setzte sich Putin noch einmal an den Tisch und ließ das Gespräch Revue passieren.

Valentina war wie ein Wildpferd. Dynamisch, intelligent, energiegeladen, und das war wertvoll, solche Leute brauchte er dringend für Russland. Aber Wildpferde müssen gezähmt werden, erst dann können sie wirklich effizient genutzt werden.

Wieder einmal bedauerte er nun sein Alter.

Alina, seine langjährige Freundin, hatte zu seinem achtzigsten Geburtstag am 7. Oktober 2032 zunächst ein großes Fest für ihn organisieren wollen, und er konnte nicht glauben, dass dieser Termin schon in vier Wochen war. Sie war dann Gott sei Dank von dieser Idee abgekommen und es sollte jetzt nur ein ganz kleines Fest mit dreißig Vertrauten geben. Am liebsten hätte er die Freisetzung der Information, dass er achtzig Jahre alt werden würde, ganz unterbunden, aber das war wohl nicht möglich, er konnte nur die Verbreitung dieser Nachricht möglichst weitgehend eindämmen. In Russland konnte er das.

Seine Sorgen bezüglich seines achtzigsten Geburtstags hatten nicht nur mit seiner Rolle als Mann und mit seiner Libido zu tun, sondern es gab durchaus Grund zu ganz handfesten, politischen Ängsten. Denn seine Widersacher – und vor allem seine heimlichen Widersacher – warteten nur darauf, dass ihm Fehler passierten, die sie dann »verständnisvoll« mit seinem Alter erklären konnten. Seine Macht beruhte bisher auf einem sorgsam gepflegten Macho-Image. Würde er als über Achtzigjähriger dieses Image immer noch glaubhaft repräsentieren können?

Noch hatte er vier Jahre Präsidentschaft vor sich, aber dann, 2036, würde er vierundachtzig sein und er würde es wohl nur mit brutaler Gewalt schaffen, danach noch weiter an der Macht zu bleiben. Er hatte sich schon insgeheim dazu entschlossen, in spätestens ein bis zwei Jahren einen Nachfolger zu präsentieren und dann würde das Schwierigste beginnen: Er musste seinen Wohlstand, den Respekt der Menschen – und auch schlicht sein physisches Überleben – sichern, ohne dass er dann noch den Machtapparat eines Präsidenten zur Verfügung hatte. Noch hatte er dafür kein schlüssiges Konzept gefunden, auf das er tatsächlich vertrauen wollte.

Er disziplinierte seinen Geist und führte seine Gedanken zurück zum Thema des Gesprächs, das soeben stattgefunden hatte.

Hydro-Bakt war in den internationalen Medien ein Hype sondergleichen. Große Berichte, große Begeisterung. In den russischen Medien hatte er seine Kommunikationsleute bisher nur erwähnen lassen, dass diese Bakterien entdeckt worden waren und dass dies ein neuer Versuch der westlichen Länder sei, »Klimaschutz« zu betreiben. Aber das war eben die vorläufige Sprachregelung, es war klar, dass schon bald ein komplettes Narrativ gefunden werden musste, das die zu erwartende reale Entwicklung so erklären konnte, dass es dem russischen Reich nützen konnte. Was konnte dieses Narrativ sein? Und dieser Frage vorgelagert war ja die Frage, wie viel Gefahr wirklich in dieser Entdeckung steckte. Wenn es wirklich so war, dass die Produktionskosten der gewonnenen Energie so unglaublich niedrig waren, dann war das, wie gesagt, durchaus ein Problem. Es stimmte, was der Direktor gesagt hatte: Dann würde sich eine Umstellung der Energieinfrastruktur hin zu Wasserstoff auf der ganzen Welt sehr schnell amortisieren und damit würden konventionelle Brennstoffe von einem Tag auf den anderen zu Ladenhütern werden. Nach wie vor waren fossile Brennstoffe aber die wichtigste Einnahmequelle des russischen Staates, ohne diese Einnahmen würde Russland bankrottgehen und in der Bedeutungslosigkeit versinken. Vor zehn Jahren, während des Ukrainekrieges, als die Öl- und Gasimporte von Europa und Nordamerika immer mehr ausfielen, hatten seine Experten schon einmal in streng geheimen Berichten Szenarien zu den russischen Staatseinnahmen durchgerechnet, die zum Teil erschreckend waren. Es war dann ganz anders gekommen, weil der Weltmarkt nach wie vor hungrig war nach Öl und Gas. Vor allem Indien und China kauften gewaltige Mengen aus Russland und alles war wieder gut. Aber nun? Was, wenn Asien und der ganze Rest der Welt lieber auf den billigen Wasserstoff umschwenkte, den vielleicht bald alle vor der eigenen Küste produzieren konnten? Was, wenn damit alle Länder der Welt zu Energie-Selbstversorgern werden würden? Wer würde dann noch russisches Öl und Gas kaufen? Würden die riesigen Vorräte, die noch unter der Erde Russlands und in der Arktis lagen, plötzlich wertlos werden? Wie sollte dann der russische Staat finanziert werden? Und die russischen Streitkräfte?

Er wälzte diese Gedanken in seinem Kopf hin und her und je mehr er darüber nachdachte, desto klarer wurde für ihn: Hydro-Bakt musste verhindert werden und wenn das nicht ging, dann musste der »Roll-out« an alle Länder der Welt so lange wie möglich hinausgezögert werden. Russland brauchte dringend mehr Zeit, um sich eine Lösung des Problems zu erarbeiten.

Und er brauchte Verbündete. Die natürlichen Verbündeten in diesem Fall waren alle Länder, die mehr Öl, Gas und Kohle verkauften als sie selbst verbrauchten, die also – so wie Russland – Nettoexporteure waren. Und vielleicht auch die Länder, die keinen eigenen Zugang zum Meer hatten, denn Hydro-Bakt war ja ein maritimes Projekt.

Er drückte den Knopf an seiner Sprechanlage und als seine Assistentin sich meldete, gab er knapp und in scharfem Ton die Anweisung: »Sicherheitsberater Yuri Sorokin soll zu mir kommen.«

✫ ✫ ✫

Valentina und ihr Chef waren von einem Palastangestellten aus dem Gebäude begleitet worden, vor der Tür stand bereits eine Limousine bereit, die sie ins Hotel brachte. Die beiden saßen schweigend im Auto. Das Innere des Fahrzeugs war ihrem Empfinden nach noch immer ein Teil der Sphäre ihres Präsidenten und beide waren daher stillschweigend der gleichen Meinung, dass es unpassend, vielleicht sogar riskant sein könnte, sich hier über das Gespräch auszutauschen, das gerade hinter ihnen lag. So saßen sie schweigend auf dem Rücksitz der Luxuskarosse und ließen gedankenversunken die Stadt an sich vorbeirauschen.

Fast gleichzeitig gab das Handy von Valentina einen Summton ab, und das Telefon ihres Chefs klingelte.

Während ihr Chef den Anruf beantwortete, las Valentina die Nachricht, die gerade eingetroffen war:

»Hallo Valentina,

ich bin nach Reykjavík versetzt worden und ich hoffe, ich kann dir auch das Versuchsfeld, das hier bald schon existieren wird, einmal zeigen. Hier ist es allerding nicht so warm wie auf Madeira. Außer in den Thermalbädern, von denen es in Island einige gibt.

Hoffentlich bis bald

Thomas«

Sie klickte die Nachricht weg und atmete tief durch. Was sollte sie nur tun? Sie hatte Thomas Breitling bei der Besichtigung der Hydro-Bakt-Felder nahe Madeira kennengelernt, er war als ihr wissenschaftlicher Begleiter eingeteilt worden. Er war eigentlich in Frankfurt zu Hause, hatte er erzählt, und Experte für Mikrobiologie und so zu der Position in Madeira gekommen. Ihm war auf dem Schiff furchtbar schlecht geworden und er hatte ihr gestanden, dass er sehr leicht seekrank wurde, was er aber verheimlichen wollte, um seine Karriere bei Hydro-Bakt nicht zu gefährden. Valentina half ihm, das zu verbergen, denn sie hatte in ihrer Reiseapotheke ein gut wirksames Mittel gegen Seekrankheit. Sie half ihm, weil er nett und sensibel und jung und lustig war. Er sah nicht besonders gut aus, aber das wusste er wohl auch. Eher der Typ »schüchterner Nerd«, aber auf eine ganz eigenartige Weise sexy. Irgendwas hatte sie dazu bewegt, ihm nicht nur ihre Handynummer zu geben, sondern sich auch abends am Strand in eine heftige Schmuse-Session verwickeln zu lassen. Noch heute spürte sie seine nassen und unbeholfenen Küsse, die sie furchtbar erregt hatten, als sie sich im warmen Sand Madeiras in den Armen lagen. Aber wie sollte das weitergehen? Die praktischen Umstände sprachen total gegen eine solche Beziehung, so etwas würde am Ende nur Unglück und Schmerz bringen. Und sie hatte ihn auch in gewisser Weise belogen und betrogen, denn natürlich war sie nicht nur als einfache Wissenschaftlerin dort gewesen, sondern als Informationsbeschafferin für den russischen Staat. Thomas hatte schon mehrere Nachrichten geschickt, sie hatte alle unbeantwortet gelassen. Irgendwann würde er hoffentlich aufgeben, dann könnte sie anfangen, ihn zu vergessen.

Ihr Chef hatte inzwischen sein Telefonat beendet und wandte sich mit überraschtem Gesichtsausdruck und hochgezogenen Augenbrauen an seine Assistentin: »Valentina, das war ein Mitarbeiter des Kremls. Sie sollen noch in Moskau bleiben, ich soll schon zurückfliegen nach Wladiwostok.«

Valentina wusste nicht, was sie sagen sollte. Beide setzten daher die Fahrt schweigend fort.

2033 Feb 17, DonnerstagStuttgart, München

Der baden-württembergische Wirtschaftsminister hatte das Treffen im Schloss Rosenstein arrangiert, das zugleich das Stuttgarter Naturkundemuseum war. Es war ein ausgesprochen schöner Tagungsort und die Gespräche waren konstruktiv und spannungsfrei gewesen, aber trotzdem war Sophie Hartmann völlig erschöpft und froh, endlich in dem Van zu sitzen, der sie nun ins Wochenende brachte. Stuttgart war die sechste Station ihrer Bundesländer-Tour. Hamburg, Bremen, Hannover, Düsseldorf und Wiesbaden hatte sie davor hinter sich gebracht auf dieser langen Reise in dem schwarzen Van der Bundesregierung.

Der Van war als mobiles Büro mit Tischen, gesicherter Internetfunkverbindung und ebenfalls gesichertem Telefon ausgestattet und von daher sehr praktisch. Außerdem bot er genug Platz für Sophie, für ihre Assistentin, für die beiden Sicherheitsleute und für das Gepäck. Natürlich handelte es sich um einen Van mit Elektroantrieb und das war ein kleiner Nachteil, denn das etwas ältere Akkumodell, hatte eine längere Ladezeit und nur begrenzte Reichweite. Aber bisher hatte der Fahrer es prima hinbekommen, die Ladezeiten mit ihren Gesprächsterminen optimal zu koordinieren.

Wie immer begann ihre junge Assistentin, die neben ihr saß und die bereits ihren Laptop aufgeklappt hatte, mit dem Verfassen des Protokolls sofort nach dem Gespräch. Sophie beobachtete lächelnd die begeisterte Beflissenheit der jungen Frau und lehnte ihren Kopf müde an die gepanzerte und abgedunkelte Fensterscheibe des Regierungsfahrzeugs. Das Glas war eisig und sie schaute sich um, ob sie irgendwo ein Kissen oder wenigstens eine Jacke entdecken konnte, auf die sie ihre Backe drücken konnte, ohne dass sie sofort kalt wurde. Sie sah eine Decke hinten im Gepäckraum und öffnete ihren Sitzgurt, um sie zu holen. Prompt ertönte ein Warngeräusch und sie beeilte sich genervt, schnell wieder auf ihrem Platz zu sitzen und den Sitzgurt wieder einklicken zu können. Sie faltete die Decke an die Fensterscheibe und lehnte ihren Kopf an. Draußen nieselte es, oder war das schon Schneeregen? Der Fahrer hatte die Heizung angemacht und langsam wurde es wärmer im Auto. Sie hatte ein enges Kostüm angezogen und erkannte jetzt, dass das ein Fehler war. Sie saß unbequem und hätte gerne ihren Rock nach oben gezogen, aber das ging natürlich nicht mit all ihren Mitarbeitern um sie herum. Der Wagen surrte fast lautlos dahin und dem Fahrer schien der kräftige Elektromotor einigen Spaß zu machen.

Timur hatte ihr immer wieder prophezeit, dass Elektroautos irgendwann von Wasserstoffautos abgelöst werden würden, und sie hatte sich immer wieder gewundert, wie er als Ingenieur bei Tesla eine solche Meinung haben und trotzdem seinen Beruf begeistert ausfüllen konnte. Sie hatten sich eine Wohnung im Berliner Szeneviertel Friedrichshain gekauft, genauer gesagt hatte Sophie die Wohnung gekauft, und zwar mit dem Geld, das ihr Vater ihr dafür gegeben hatte. Vielleicht war das ja auch ein Teil des Problems gewesen. Möglicherweise hatte auch der Unterschied in der Finanzkraft zwischen ihr und Timur, dem Emporkömmling mit Migrationshintergrund, wesentlich zu ihrer Trennung beigetragen? Es hatte eine Zeit gegeben, da hatten sie schon überlegt, wo sie den Kinderwagen im Hausflur abstellen sollten, wenn es so weit war und ob es nicht schlauer gewesen wäre, statt einer Altbauwohnung in der Innenstadt lieber eine moderne Neubauwohnung etwas außerhalb zu kaufen. Doch dann versauerte ihre Beziehung zusehends und Sophie fragte sich heute noch, wie es dazu hatte kommen können. Irgendwann war dann jede Kleinigkeit ein Grund zum Ärger. Sie schrie ihn an, weil er immer vergessen hatte, die Zahnpastatube wieder zuzuschrauben, er behauptete irgendwann, dass sie im Schlaf immer reden würde, und von da an schlief er auf dem Sofa in seinem Büro. Vor einem Jahr war er ausgezogen und der Gedanke daran trieb ihr immer noch die Tränen in die Augen. Sie hatte überlegt, die Wohnung zu verkaufen, auch um psychologisch Abstand zu gewinnen, aber sie hatte schlicht keine Zeit, einen Makler zu kontaktieren, eine andere zu finden und den Umzug zu organisieren.

Ihre Position als Staatsministerin im Kanzleramt mit dem Zuständigkeitsbereich »Europa-Angelegenheiten« ließ ihr kaum Raum für solche privaten Großprojekte und daher wohnte sie immer noch in dieser Wohnung.

Ihre persönliche Website zeigte den Werdegang eines strahlenden Erfolgsmenschen: Abitur 2012, B. A. in Internationaler Politik 2015, dann M. A. und dann Promotion, Eintritt ins Berufsleben 2018, bis dahin hatte sie schon einige Praktika im Auswärtigen Amt und im Auswärtigen Dienst der EU in Brüssel gemacht. Schon vor dem Abitur war sie Parteimitglied bei den GRÜNEN geworden und war ein Jahr nach Abschluss ihrer Promotion, im Jahr 2019, erstmals ins Europa-Parlament gewählt und 2024 wiedergewählt worden. Bei der Kandidatenaufstellung für die Europawahl im Juni 2029 musste sie mit einem relativ schlechten Listenplatz antreten, nachdem sie in einem Interview einige unkluge Sätze über die europäische Nuklear-Verteidigung ausgesprochen hatte und so verlor sie ihren Sitz im EU-Parlament.

Doch sie rutschte schon kurz darauf nicht nach unten, sondern nach oben: Jahre davor, im Mai 2022, hatte sie Annalena Baerbock bei deren damals fast historisch zu nennender Reise in die Ukraine begleitet. Diese Reise der frischgebackenen Außenministerin in ein Land, das sich im Krieg mit Russland befand, prägte die Beziehung der beiden Frauen, die sich auch in den Jahren danach immer wieder trafen und einen sehr guten Draht zueinander entwickelten. Annalena Baerbock blieb Außenministerin auch unter dem CDU-Kanzler, der ab 2025 ins Amt gewählt wurde. Bei der Bundestagswahl im September 2029 war es dann zu einer Umkehrung der Mehrheitsverhältnisse gekommen, nicht mehr die CDU war nun stärkste Partei in der schwarz-grünen Koalition, sondern die GRÜNEN, und so wurde Annalena Baerbock im November 2029 als Bundeskanzlerin vereidigt.

Bei der Ernennung der Minister Ende 2029 erhielt Sophie Hartmann das Amt, das sie jetzt innehatte: Staatsministerin im Kanzleramt für Europa-Angelegenheiten. Nachdem sie sich davor fast zwanzig Jahre lang mit Europapolitik befasst hatte, war das ein logischer, aber trotzdem natürlich sehr exklusiver Karriereschritt gewesen. Bei ihrem Amtsantritt kannte sie alle relevanten Themen und sie kannte fast alle Personen, die in der europäischen Politikszene eine Rolle spielten, zumindest dem Namen nach, viele von ihnen hatte sie schon persönlich getroffen.

Bei ihrer Ernennung zur Staatsministerin war sie vor Stolz und vor Tatendrang fast geplatzt. Endlich war sie der Mühle des EU-Parlaments entkommen, in dem viel geredet wurde, aber das wenig Handlungsbefugnisse hatte. Endlich war sie in einer echten Machtposition gelandet, denn ein Ministerposten in einem der reichsten Länder der Welt, in der größten Volkswirtschaft der EU – das war doch sicherlich eine Position mit Gestaltungspotenzial? Doch schon bald musste sie sich eingestehen, dass sie sich Illusionen gemacht hatte. Dass sie naiv gewesen war und sich Träumereien hingegeben hatte.

Denn da war zunächst einmal der Konflikt mit dem seit Ende 2029 CDU-geführten Auswärtigen Amt (AA). Die Jahre davor hatte es dort unter der Außenministerin Annalena Baerbock einen parlamentarischen Staatssekretär für die Koordination mit der EU gegeben, der CDU-Mitglied war. Diese Stelle hatte Kanzlerin Annalena Baerbock nach ihrer Wahl der CDU in den Koalitionsgesprächen abverhandelt, sie hatte die Kompetenz der Koordination mit der EU ins Kanzleramt verlagert und es so dem neuen CDU-Außenminister und Vizekanzler Gregor Kubini weggenommen. Immer wenn es seitdem ein außenpolitisches Thema mit der EU zu besprechen gab, ließ die Führung des AA ihren ganzen Groll an Sophie Hartmann aus. Informationen wurden nicht weitergegeben, Kontakte zu anderen EU-Ländern hinter ihrem Rücken gepflegt, Botschaften subtil daran gehindert, mit ihr in vollem Umfang zu kooperieren. Immer wenn sie einen Auftritt in den Medien hatte, nach jedem Interview in einer Nachrichtensendung, nach jeder Talkshow, war es besonders schlimm. Mehrmals schon hatte ihre Mentorin Annalena ein Machtwort sprechen müssen.

Für Kanzlerin Baerbock lief es prächtig, ihre Zustimmungswerte waren fantastisch und man bezeichnete sie schon als zweite Angela Merkel. Im Mai 2032 war noch dazu ihr langjähriger politischer Wegbegleiter Robert Habeck zum Bundespräsidenten gewählt worden und wenn Annalena Baerbock die nächste Wahl im September 2033 wieder gewinnen sollte, dann wäre es tatsächlich ihr alter politischer Partner (und freundlicher Rivale), der ihr den Amtseid abnehmen würde.

Aber trotzdem hatte die Unterstützung, die Annalena Baerbock ihrer Staatsministerin Sophie Hartmann geben konnte, natürlich ihre Grenzen und so wurde Sophie immer mehr damit beauftragt, sich mit weniger großen und weniger kontroversen Themen zu beschäftigen. Die Kanzlerin wollte sie damit, so dachte Sophie, aus der Schusslinie halten, aber damit raubte sie ihr natürlich auch die Möglichkeit, sich zu profilieren. Dadurch hatte Sophie deutlich an faktischer Macht verloren.

Auch jetzt gerade war diese Ochsentour zu allen deutschen Landesregierungen eine wenig befriedigende Mission: In der EU wurde gerade heftig darüber diskutiert, wie die Auswirkungen der Hydro-Bakt-Technologie sein würden und vor allem, wie man ein koordiniertes Leitungsnetz für den gewonnenen Wasserstoff zustande bringen könnte. Sophies Aufgabe war es unterdessen, den Bedarf der deutschen Landesregierungen abzufragen, um dies danach mit den EU-Partnern zu besprechen. Eine zähe Mission und nicht gerade sexy.

In letzter Zeit hatte sie sich schon gefragt, ob sie sich Sorgen machen sollte. Vielleicht würde ihr Job ja nach der nächsten Bundestagswahl im September 2033 doch wieder ins Auswärtige Amt verlagert? Das wäre dann das endgültige Aus für sie. Wenn dann die CDU bei den Koalitionsverhandlungen wieder das AA bekommen würde, würde der zukünftige Außenminister sicher jemand aus der CDU für die Position auswählen, die gerade Sophie »gehörte«. Aber noch war ja einige Zeit bis dahin.

Dass die Boulevardpresse ausführlich über Sophies Trennung von Timur berichtet hatte, war auch nicht gerade hilfreich für ihr Reputationsmanagement gewesen. Und zudem sehr schmerzhaft für sie. Sie arbeitete seitdem eine absurde Zahl von Stunden pro Tag und das an sechs bis sieben Tagen pro Woche. Aber trotz der hohen Arbeitsbelastung hatte sich in ihrem Aufgabenbereich doch so etwas wie eine Routine eingestellt, so etwas wie Langeweile und das war frustrierend. Auf hohem Niveau, gewiss, aber trotzdem …

Die Tatsache, dass in der EU traditionell die Dinge nur sehr langsam und in homöopathischen Dosen vorangingen, verbesserte ihre Situation auch nicht gerade. Trotz des anhaltenden Konflikts mit Russland waren die Westbalkanländer, die Republik Moldau und die Rest-Ukraine zwar noch nicht als Vollmitglieder aufgenommen worden, aber sie wurden jetzt immer zu den EU-Treffen mit eingeladen und konnten auch ohne Stimmrecht mitreden. Damit waren bei diesen Treffen fünfunddreißig unabhängige Teilnehmer dabei, mit jeweils eigenen Themen, Prioritäten, Sprachen, Mentalitäten.

Das Letzte, was sie wahrnahm, als sie mit ihrer Backe auf der zusammengeknüllten Decke sinnierend in dem Van saß, war, dass sie an den Daimler-Werken in Untertürkheim vorbeifuhren, und danach versank sie in einen unruhigen Schlaf. Als sie die Augen wieder öffnete waren sie auf der Autobahn A8 schon kurz vor München. Sie hatte für heute ein Hotelzimmer in der Stadtmitte gebucht, morgen, am Freitagvormittag, war dann das Gespräch mit dem bayerischen Wirtschaftsminister und danach war für sie endlich Wochenende. Sie hatte sich fest vorgenommen, sich diesmal ein »echtes« Wochenende zu gönnen. Sie freute sich auf ihren Vater, bei dem sie Samstag und Sonntag verbringen wollte. Vielleicht konnte sie wenigstens dabei einmal ihre politische Karriere kurz vergessen.

2033 Feb 18/19, Freitag/SamstagMünchen

Als der Van auf dem Parkplatz vor dem vierstöckigen Wohngebäude zum Stehen kam, in dem Sophies Vater wohnte, da kam wieder einer dieser Momente, in denen Sophie Hartmann alle ihre Mitarbeiter um deren Anonymität beneidete. Sie wurden von niemand wirklich wahrgenommen. Dagegen wenn sie selbst nun aus dem Auto stieg, musste sie immer damit rechnen, erkannt zu werden und dann musste sie lächeln, freundlich plaudern und Selfies mit fremden Menschen über sich ergehen lassen, auch wenn sie dazu gar keine Lust hatte. Sie war fast froh darüber, dass es kalt und windig war und dass daher auf dem kleinen Platz vor dem Gebäude nur ein paar wenige Menschen zu sehen waren.

Während einer der Sicherheitsleute ihren Koffer aus dem Auto holte, ging sie schon zum Eingang und läutete an der Klingel, auf der der Nachname stand, den sie mit Ihrem Vater teilte: »Hartmann«. Der Sicherheitsmann kam nach und rollte ihren Koffer in den Aufzug. Er hatte auch für sich selbst einen kleinen Koffer dabei, denn der Plan war, dass er, wie schon mehrere Male davor, in einem der Gästezimmer ihres Vaters die beiden folgenden Nächte verbrachte. Am Sonntagmorgen wollten sie dann weiterfahren in die östlichen Bundesländer.

Stefan Hartmann öffnete die Tür und begrüßte seine Tochter mit einem breiten Grinsen und einer festen Umarmung.

»Kommt rein«, sagte er und seine Stimme war laut und er hüpfte fast vor Freude.

Sophie wusste, ihr Vater war einsam und es war kein Wunder, dass er sich jedes Mal so überschwänglich über ihren Besuch freute. Der Sicherheitsmann bekam sein Zimmer zugewiesen, zog sich diskret zurück und war danach bis zur Abfahrt nicht mehr zu sehen.

Stefan Hartmann war ein wohlhabender Mann und ihm gehörte das gesamte obere Stockwerk des Gebäudes. Die beiden Gästezimmer waren eigentlich kleine Einzimmerapartments, jeweils mit einer Miniküche und eigenem Bad ausgestattet. Sophies Eltern hatten optimale Bedingungen dafür geschaffen, dass ihre beiden Töchter so oft wie möglich zu Besuch kommen konnten und hatten die riesige Wohnung entsprechend gestaltet. Aber Sophie wohnte inzwischen in Berlin und ihre Schwester war mit einem Franzosen verheiratet, mit dem sie in Paris lebte. Vor fünf Jahren war Sophies Mutter nach einer Krebsdiagnose innerhalb von wenigen Monaten verstorben und ihr Vater war davon immer noch leicht traumatisiert. Nun lebte er allein in der riesigen Wohnung und nur an Weihnachten kamen sie alle zusammen, ansonsten besuchten die Töchter ihren Vater nur sehr sporadisch.

Sophie sah ihn genauer an. Er war trotz seines Alters immer noch einigermaßen schlank und sah fit aus. Er hatte gerade eine Südafrika-Reise gemacht und war braungebrannt. Aber seine Augensäcke waren größer geworden und das machte Sophie Sorgen. Das letzte Mal als sie ihn besuchte, zum üblichen Weihnachtsbesuch vor etwa acht Wochen, da hatte er seinen Töchtern plötzlich einen Whiskey on the Rocks angeboten und als sie beide überrascht ablehnten, hatte er sich trotzdem selbst einen eingeschenkt und recht zügig getrunken. Die Whiskeyflasche war halb leer gewesen und sie hatte sich gefragt, ob er wohl auch trank, wenn niemand zu Besuch war.

Sie überlegte, wie alt er jetzt war, und dabei wurde ihr auch schlagartig klar, dass am 10. Januar, vor etwa fünf Wochen, sein zweiundsiebzigster Geburtstag gewesen war. Sie hatte das total vergessen und hatte ihm wieder einmal nicht gratuliert.

»Alles Gute zum Geburtstag nachträglich«, sagte sie nun, als er sie aus der Umarmung losließ. »Leider habe ich dein Geschenk im Hotel vergessen«, log sie.

Ihr Vater sah sie lächelnd an. »Danke, Sophie. Und wegen dem Geschenk: Schau dich hier um – sieht es für dich so aus, als ob ich noch irgendetwas brauche?« Er machte eine ausladende Bewegung mit seinen Armen.

In der Tat war seine Wohnung gut gefüllt mit teuren Möbeln, mit wertvollen Bildern, Porzellanvasen und Statuen, die vor allem Sophies Mutter auf den vielen gemeinsamen Reisen gekauft hatte. Stefan Hartmann hatte Politikwissenschaft studiert, so wie auch Sophie einige Jahrzehnte später, und er war dann zwanzig (oder waren es dreißig?) Jahre lang für einen Versicherungskonzern als »Political Risk Analyst« tätig gewesen. Diese Funktion brachte viel Reisetätigkeit mit sich, aber auch viele Kontakte zu Politikern und Militärs, von denen Sophie das eine oder andere Mal schon profitiert hatte, wenn es z. B. darum ging, passende Referenten für eine Veranstaltung zu finden. Aber reich geworden waren ihre Eltern nicht durch die berufliche Tätigkeit ihres Vaters, sondern durch private Immobilienspekulationen, die Stefan Hartmann nebenbei betrieben hatte, und das äußerst geschickt und erfolgreich.

»Ich brauche keine Dinge, Sophie, aber du kannst mir trotzdem einen Gefallen tun, einen Gefallen schenken also«, sagte Stefan Hartmann. »Aber das erzähle ich dir später, ich lass dich zuerst einmal auspacken und zur Ruhe kommen und dann sehen wir uns in der Küche.«

Stefan Hartmann hatte eine komplette Mahlzeit mit Salat, Lasagne und Nachspeise vorbereitet und Sophie stellte erstaunt fest, dass er offenbar die Liebe zum Kochen entdeckt hatte, nachdem er bisher sein ganzes Leben lang zu Hause nur Obst, Sandwiches oder andere Snacks gegessen hatte und für eine gute Mahlzeit lieber ins Restaurant gegangen war. Sie verbrachten einen wunderbaren, entspannten Abend damit, zuerst gemütlich zu Essen, und dann schauten sie gemeinsam einen Spielfilm an und lachten und scherzten viel. Sophie schlief in dieser Nacht wie ein Stein und wachte erst spät am nächsten Morgen auf.

Es war Samstag. Draußen hatte es leicht geschneit und es war ein Tag zum Zuhausebleiben. Sie ging im Schlafanzug und Bademantel in den großen Raum, der gleichzeitig Küche, Esszimmer und Wohnzimmer war, und ihr war es egal, dass der Sicherheitsmann auch in der Wohnung war. Wenn er tatsächlich aus seinem Zimmer herauskommen sollte, dann sah er sie eben im Bademantel. Ihr Vater hatte schon Feuer im Kamin gemacht und es war wohlig warm in dem großen Raum. Sie setzte sich an den großen Esstisch, wo ihr Vater schon mit einem iPad saß und E-Mails oder Nachrichten las. Als sie kam, nahm er die Brille ab und grinste wieder breit. Der Kaffee stand schon bereit und auch Früchte und Müsli standen auf dem Tisch und sie setzten sich zum gemeinsamen Frühstück.

Nach dem Frühstück war eine Videokonferenz mit ihrer Schwester in Paris geplant und sie plauderten dabei zu dritt eine ganze Stunde lang über dies und das. Sie versprachen sich gegenseitig, für den Sommer Pläne für ein Treffen zu machen, vielleicht ja diesmal in Paris?

Ihre Schwester war taktvoll genug, nicht nach Sophies Job zu fragen, und Sophie war dankbar dafür. Leider war ihr Vater nicht so sensibel und sobald sie aufgelegt hatten, es war schon fast Mittag, sah er ihr tief in die Augen und fragte ganz direkt: »Wie geht es dir in Berlin?«

»Gut«, sagte Sophie. »Es geht mir gut.«

Ihr Vater sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Papa, es gibt in der Politik immer Konflikte und es ist sehr anstrengend, aber ich bin immerhin Staatsministerin, du behandelst mich manchmal, als hätte ich nichts erreicht, als wäre ich gescheitert.«

»Das stimmt überhaupt nicht, Sophie, ich denke natürlich ganz und gar nicht, dass du gescheitert bist.« Ihr Vater rang nach den richtigen Worten. »Aber ich sehe, dass du nicht glücklich bist.«

Sophie senkte den Kopf. Natürlich hatte ihr Vater recht. Aber sie wollte sich nicht auch noch an einem Wochenende, und noch dazu an einem der seltenen Wochenenden mit ihm, die Stimmung verderben lassen, indem sie ihm die Misere erklärte, in der sie im Moment steckte. Denn was konnte er schon tun? Was sollte es nutzen, ihm zu erklären, was alles in ihrem Arbeitsleben los war?

»Du brauchst nicht erklären, wie es dir geht und was deine Schwierigkeiten sind, ich lese genug Medienberichte und das, was nicht darinsteht, das kann ich mir zusammenreimen«, sagte ihr Vater.

Er konnte meistens ihre Gedanken lesen, immer wenn sie bei einem ernsten Gespräch zusammensaßen, und auch das nervte Sophie ganz furchtbar an ihrem Vater.

»Hat dich gestern in der bayerischen Staatskanzlei nur der Wirtschaftsminister empfangen oder kam auch der Ministerpräsident von Bayern und hat dich begrüßt?«

Der Ministerpräsident hatte sich nicht blicken lassen und es war ein schmerzliches Signal dafür, wie weit sie inzwischen in der faktischen Wichtigkeitshierarchie der Politikelite nach unten gerutscht war: Auf das Niveau des bayerischen Wirtschaftsministers. Sophie war erstaunt über den politischen Instinkt ihres Vaters, eine Seite, die sie bisher an ihm nicht wahrgenommen hatte.

»Willst du jetzt mein Coach sein?«, fragte sie bissig. »Ich dachte, ein Coach braucht immer ein Mandat von dem, der gecoacht werden will?«

Ihr Vater hatte nach dem Tod ihrer Mutter Coaching-Stunden genommen und ihr davon erzählt. Sie bereute sofort, das gesagt zu haben und damit bei ihm in ein unangenehmes Gefühlsknäuel hineingestochert zu haben. Aber er reagierte überhaupt nicht, so als hätte er es gar nicht gehört.

»Ich will nicht über Probleme, sondern über Lösungen mit dir reden«, sagte ihr Vater und schwieg dann bedeutsam.

»Was willst du von mir hören?«, fragte sie. »Welche Problemlösungen soll ich dir bieten?« Wieder war ihr Ton schärfer gewesen als sie das eigentlich wollte, aber sie war einfach sauer, dass er sich selbst zu ihrem Problemtherapeuten erklärt hatte, ohne dass sie darum gebeten hatte. Sie war achtunddreißig Jahre alt, hatte es bereits zur Staatsministerin im Kanzleramt gebracht und brauchte sicher nicht mehr Papas Ratschläge und warnenden Zeigefinger, um den Weg aus einer Lebenskrise zu finden.

»Du musst dir keine Ratschläge von mir anhören, wenn du nicht willst«, (wieder hatte ihr Vater genau erraten, was sie dachte), »oder genauer gesagt, ich werde dir schon Ratschläge geben, aber du musst nicht darauf antworten«.

»Ist das der Gefallen, den ich dir schenken soll?«, fragte Sophie und sie versuchte diesmal, nicht so bissig und ablehnend zu klingen.

»Ja, das ist der Gefallen, den ich gerne als Geburtstagsgeschenk von dir hätte«, sagte ihr Vater. »Ich habe etwas für dich vorbereitet und hätte gerne, dass du es liest und mir deine Meinung dazu sagst. Und ich hätte gerne, dass du überlegst, ob nicht so etwas dein Befreiungsschlag sein könnte.«

Er zog eine Plastikmappe unter dem iPad hervor, das vor ihm lag, und Sophie nahm erst jetzt diese Mappe richtig wahr. Er reichte sie Sophie über den Tisch. In der Mappe war ein zusammengehefteter Stapel Papier. Auf der obersten Seite stand in großen Buchstaben »EUROCAN« und am oberen Rand stand »S. Hartmann, Januar 2033«.

Sophie nahm das dünne Papierpaket heraus und blätterte durch die eng bedruckten DIN A4 Seiten, auf der letzten Seite stand die Seitenzahl 28.

»Was ist das?«, fragte sie. »Kannst du mir nicht einfach kurz sagen was drinsteht? Hast du das geschrieben?«

»Ja, das habe ich geschrieben«, sagte Stefan Hartmann und atmete tief ein. »Ich glaube, die Europäische Union ist in einer Sackgasse und du bist in einer Sackgasse, und die beiden Sackgassen haben etwas miteinander zu tun. Für beides, für dich und für die EU, brauchte es einen radikalen Schritt, um dort herauszukommen.«

Sophie schaute ihren Vater mit großen Augen ungläubig an.

»Du übergibst mir hier am Küchentisch ein politisches Konzept, mit dem du die EU und meine Karriere radikal verändern willst?«, fragte sie mit Staunen und deutlich zynisch.

»Ja genau«, sagte ihr Vater unbeirrt. »Ich habe erwartet, dass du so reagierst. Aber bitte schenk mir einfach dieses eine Geburtstagsgeschenk, dass du dieses Papier von vorne bis hinten liest, dass du mir deine Meinung dazu schreibst und dass du dann, wenn du es gut findest, überlegst, ob du damit nicht ganz cool an die Öffentlichkeit gehen willst.«

Sophie blätterte erneut durch die 28 bedruckten Seiten. Sie konnte ihrem Vater diesen Geburtstagswunsch nicht einfach so abschlagen, aber sie hatte eigentlich keine Zeit dazu, seine geistigen Ergüsse zu lesen. Nicht wenn sie 28 DIN-A4-Seiten lang waren.

»Du könntest mir mündlich zusammenfassen, was drinsteht und ich könnte dir dann jetzt schon eine Meinung dazu geben«, bot sie mit milderer Stimme an.

Ihr Vater zögerte. »Nun gut«, sagte er schließlich, »also ganz knapp zusammengefasst steht in etwa das Folgende in diesem Papier:

Erstens, dass die EU zu heterogen geworden ist, um in den nächsten hundert Jahren zu einem Bundesstaat zu werden.

Zweitens, dass wir aber einen machtvollen europäischen Bundesstaat mit nur einer einzigen Regierung bräuchten, um gegen die anderen Giganten der Weltpolitik bestehen zu können.

Drittens, dass daher eine Gruppe von europäischen Ländern gefunden werden muss, die sehr homogen zueinander sind und die bereit sind zu einer Fusion zu einem Bundesstaat.

Und viertens, dass auch Kanada zu dieser Fusion eingeladen werden sollte, obwohl es kein europäisches Land ist.

Außerdem sollte es sich um die reichen Länder Europas handeln, also neben Deutschland die Beneluxstaaten, Frankreich, Skandinavien, Österreich, Irland zum Beispiel. Nicht aber Staaten wie Albanien, Bulgarien, Griechenland – mit denen können wir ja einfach gemeinsam Partner in der EU bleiben.

Außerdem steht in dem Papier, dass diese Fusion sofort stattfinden sollte. Anders als bisher also sollten wir nicht versuchen, jahrzehntelang Gesetze und Standards zu harmonisieren, sondern wir brauchen zuerst eine gemeinsame Regierung und dann kann die sich um die Harmonisierung von Details kümmern – im Fall der Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland haben wir das ja auch so gemacht.

Diese neue Großmacht muss dann ihren Platz in der Welt sehr schnell sehr präzise definieren.«

Ihr Vater hatte rote Backen bekommen beim Reden. Sophie sah ihn an und überlegte, wie sie nun reagieren sollte. Sie wollte ihn nicht verletzen, sie wollte nicht einfach laut loslachen und sich über diese Visionen lustig machen.

»Das ist eine topinteressante Theorie«, sagte sie dann diplomatisch vorsichtig. »Vielleicht das Thema für ein Buch?«, schlug sie vor. »Aber wie glaubst du, dass ich das verwenden sollte für meine Karriere?«

Ihr Vater sah sie schweigend an und zuckte die Schulter.

»Meinst du etwa …«, Sophie suchte nach Worten. »Wenn ich dich zu meinem Coach ernennen würde – wäre dann deine Empfehlung, dass ich diese Vision für meine Arbeit aktiv benutze? Und wenn ja wie genau?«

»Du könntet einfach eine Rede zu diesem Thema halten, oder du könntest das in einem Interview oder bei einem Auftritt in einer Talkshow präsentieren«.

»Also wenn überhaupt, dann könnte ich das als Antrag bei einem Parteitag einbringen«, sagte Sophie, »aber da würde es wohl zerrissen und zerfleischt werden. Ich könnte in einem Interview andeuten, dass das meine persönliche Meinung ist, aber solange ich das nicht mit der Kanzlerin und in den Parteigremien abgestimmt habe, wird das sicher nicht Realität werden und würde meine Karriere eher beenden als fördern. Also wie genau soll ich das nutzen, sodass es einerseits überhaupt wahrgenommen wird, ohne dass es gleichzeitig meiner Position schadet?«

Ihr Vater zog seine Schultern hoch.

»Das weiß ich nicht genau, Sophie, damit hast du mehr Erfahrung als ich. Aber was ich weiß, ist, dass es Politikern immer wieder gelingt, große Visionen nach draußen zu bringen und es gelingt ihnen, das unter ihrem Namen zu vermarkten und davon auch zu profitieren, auch wenn bei großen Visionen sicher nicht alle mit allem einverstanden sein werden!«

Sophie war immer noch wütend über die unerbetene Einmischung ihres Vaters. Aber sie wusste, dass er es gut meinte. Und er hatte leider auch ein bisschen recht.

Sie war als Abgeordnete ins EU-Parlament gewählt worden, weil sie in ihrer Partei gut vernetzt und beliebt war. Sie war zur Staatsministerin geworden, weil Annalena Baerbock sie mochte und sie mitgezogen hatte. Aber nun war sie in einem Haifischbecken von begnadeten Selbstdarstellern gelandet, in dem sie selbst farblos und blass erschien. Sie erschien dem Publikum als brave Dienerin des Staates, aber das war in dieser Position nicht genug. Sie musste Initiative ergreifen und Aufsehen erregen, eigene Positionen haben und dafür kämpfen, denn sonst würde sie als weitgehend unbekannte Ministerin im politischen Showgeschäft nicht lange überleben. Ihr Vater hatte das klar erkannt und jetzt, wo sie vor ihm saß und die Wahrheit ausgesprochen war, war ihr das klarer als je zuvor. Natürlich waren die absurden Vorschläge ihres Vaters so realitätsfern, dass sie sicher nicht als Karriere-Booster geeignet waren. Fusion mit anderen Staaten! Und mit Kanada! Sie lachte innerlich über diese erfrischend naive Denkweise ihres Vaters.

»Was du mir sagst, ist letztlich, dass du alle reichen EU-Länder zu einem einzigen Staat zusammenschweißen würdest, auch wenn das ein Auseinanderbrechen der EU bedeuten würde?«, versuchte Sophie ihrem Vater von der inhaltlichen Seite her die Absurdität seines Geburtstagswunsches klarzumachen.

»Ist das wirklich zwangsläufig so?«, fragte er. »Vielleicht wären ja alle EU-Länder froh, einen klaren Leader in der EU zu haben, auch wenn sie nicht alle bei der Fusion zu einem Bundesstaat mit dabei sein können?«

Sophie überlegte, wie sie ihm das Problem erklären konnte. »Das, was du da meinst, das ist das Europa der zwei Geschwindigkeiten, das immer wieder vorgeschlagen wird aber dann doch nicht gemacht wird, weil es zu viele Gefühle verletzt.«

»Ach ja, ist das so?«, fragte ihr Vater. »Gibt es das denn nicht schon längst in vielerlei Beziehung? Von der Währungsunion über den Sonderstatus von Norwegen und Schweiz bis hin zum Schengenraum oder der militärischen Kooperation über PESCO gibt es